Leseprobe Der Mädchensammler

Kapitel 1 – Die Sache mit der Neugier

Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, dachte Philine. Leider war die junge Adelige zu stur, um einen einmal gefassten Entschluss für ein dummes Bauchgefühl über den Haufen zu werfen. Voller Unbehagen folgte sie dem fahlen Schein der Taschenlampe, der sie nur noch tiefer in das Gemäuer hineinführte. Die einzigen Geräusche waren das leise Klicken ihrer High Heels und ihr eigener Atem.

Stufe um Stufe stieg sie tiefer hinunter, aber die Treppe schien nirgendwohin zu führen. Wie in einem Albtraum. Statt eines Bodens wartete unter ihr nur ein undurchdringlicher Schlund aus Dunkelheit. Für einen irrationalen Augenblick fürchtete Philine, dass die alte Stiege nur dazu diente, ihre Opfer möglichst weit von der rettenden Oberfläche zu entfernen. Der Schlund wollte seine Opfer ungestört verschlingen.

„Ja, dann sind draußen die Kaugeräusche nicht so gut zu hören“, zog sie sich auf.

Philine schmunzelte über sich selbst. Wenn man nicht die Nerven für eine Geisterjagd hatte, durfte man nachts nicht allein in Ruinen herumkriechen. Sie musste sich schon zwischen Angst und Sturheit entscheiden. Wie immer gewann die Sturheit.

Selbst die Ruine beugte sich ihrem Dickkopf. Schon nach wenigen weiteren Stufen schälte das Licht der Taschenlampe das Ende der Treppe aus dem Nichts. Kurz darauf stand sie auf einem uralten Boden aus dunklem Naturstein. Die gähnende Dunkelheit wurde von gemauerten Wänden und einem kleinen Torbogen ersetzt. Dem Hall ihrer Schritte nach zu urteilen wartete dahinter ein großer, aber überschaubarer Raum.

Philine wollte schon erleichtert aufatmen, als sie das Summen bemerkte. Der Ton lag nur knapp oberhalb der Hörschwelle und klang beinahe wie ein Flüstern.

„Aus“, raunte sie sich selbst zu, als rede sie mit einem Hund. In dieser Situation Angst zu haben, war einfach dumm. Sie war schließlich hier, um unheimliche Vorgänge zu untersuchen. Ein Flüstern war da ein guter Anfang. Besonders wenn man als aufgeklärte Mitteleuropäerin wusste, dass Gespenster nicht flüstern konnten. Sie existierten nämlich nicht. Ärgerlich überwand sie die abergläubische Furcht und durchschritt den Torbogen.

Tatsächlich lauerte keine gemarterte Seele in der Dunkelheit, sondern die Errungenschaften der Neuzeit. Das Blinken blauer Dioden markierte den Standort eines Computers. Es gab weder einen Monitor noch eine offensichtliche Bedienmöglichkeit. Dafür war das Gerät in Begleitung mehrerer turmartig gebauter Maschinen, deren Zweck Philine nicht einmal ansatzweise erahnen konnte. Es war genau die Art Technik, die man im Labor von Dr. Frankenstein oder Dr. Doom erwarten würde.

Die beiden Herren gibt es aber ebenso wenig wie Gespenster, rief sie sich erneut zur Ordnung. Offenbar waren Kinobesuche für fantasiebegabte Menschen mit gewissen Nebenwirkungen verbunden. Ihre überreizte Einbildungskraft war aber keine Erklärung dafür, was diese wahrscheinlich sündhaft teure Ausstattung in einer verfallenen Ruine zu suchen hatte. War das eine Art Spukausstattung, mit der irgendein Spaßvogel diese Phänomene erzeugte? Immerhin entdeckte Philine den Ursprung des unheimlichen „Flüsterns“. Es war nur das leise Summen diverser Gerätelüfter, das unheimlich verzerrt von den Wänden zurückgeworfen wurde.

Der Maschinenpark war beachtlich. Immer neue Geräte wurden vom Licht der Taschenlampe aus der Dunkelheit geschält. Je länger sie den Raum erkundete, desto durchdringender wurde der Geruch von Ozon. Vergiftete sie sich gerade selbst?

Eine berechtigte Frage, die sie nur einen Herzschlag später wieder vergaß. Ein glitzerndes Augenpaar schien sie aus der Dunkelheit heraus zu beobachten. Philine erstarrte. Das sind keine Augen, versuchte sie sich einzureden.

Sie glaubte sich nicht.

Aber wenn dort wirklich jemand im Dunkeln hockte, durfte sie sich nichts anmerken lassen. Der Gedanke brachte sie immerhin dazu, ruhig weiterzuatmen. Sie tat, als hätte sie den vermeintlichen Beobachter nicht bemerkt, und schwenkte die Taschenlampe in eine andere Richtung. Angespannt horchte sie, ob sich hinter ihr jemand bewegte.

Stille.

Das sind keine Augen, sagte sie sich erneut. Und wenn es welche waren, gehörten sie wahrscheinlich zu einem Tier. Einer Katze vielleicht?

Der Gedanke ließ Philine ruhiger werden und sogar schmunzeln. Als Kind hatte sie sich einmal vor einem Katzenbaby im Dunkeln gefürchtet. Leises Schnaufen und ein glitzerndes Augenpaar hatten ausgereicht, um sie für Stunden in ein ängstliches Bündel unter der Bettdecke zu verwandeln.

Heute war sie erwachsen.

Ansatzlos fuhr sie herum. Erbarmungslos riss das kalte Licht der Taschenlampe den vermeintlichen Beobachter aus der Dunkelheit. Er war eine Sie und konnte ihr noch weit weniger gefährlich werden als ein Katzenbaby. Denn sie war tot.

Wie versteinert sah Philine auf die nackte Leiche eines jungen Mädchens hinab. Jemand hatte sie auf eine mit roter Seide gepolsterte Liege gelegt.

Nein, das war das falsche Wort.

Jemand hatte sie drapiert. Die blonden Locken waren sorgfältig auf dem Seidenkissen ausgebreitet worden. Unaufdringliche Schminke brachte die fein geschwungenen Lippen und die hohen Wangenknochen perfekt zur Geltung. Eine sorgfältig manikürte Hand lag mit elegant gespreizten Fingern auf dem flachen Bauch. Die Beine waren nicht einfach ausgestreckt, sondern um eine Nuance gedreht, als wolle jemand ihre Länge und Biegsamkeit unterstreichen.

Obwohl sie vor Grauen kaum atmen konnte, drang die unirdische Schönheit des Mädchens zu Philine durch. Sie war perfekt. So perfekt, dass die junge Frau daran zu zweifeln begann, eine Leiche vor sich zu haben. Dann bemerkte sie den Blick des Mädchens. Sie schien sie anzuschauen. Philine hatte noch nie einen Toten gesehen, aber sie wusste, dass Leichen niemanden mehr ansahen. Ihr Blick brach. Die leuchtend grünen Augen des Mädchens schienen ihr jedoch direkt in die Seele zu schauen.

Erleichtert begriff sie, tatsächlich eine Puppe vor sich zu haben. Nein, nicht einfach eine Puppe. Ein makelloses, monströs realistisch aussehendes Meisterwerk!

Morbide fasziniert trat sie näher an das Mädchen heran. Zaghaft berührte sie die Schulter der Nachbildung. Die bleiche „Haut“ war weich wie ein Blütenblatt. Philine bemerkte winzige Fältchen um die Augen und sogar Papillarleisten auf den Fingerkuppen. Bei genauem Hinsehen waren feinste Härchen auf den Oberarmen zu erkennen. Alles wirkte so unglaublich echt. Einzig die steil aufgerichteten Brustwarzen schienen nicht zur entspannten Körperhaltung der Kleinen zu passen.

Eine Sexpuppe?

Philine war in ihrem Leben auch schon mal mit Frauen im Bett gelandet und konnte sich der Schönheit des Mädchens nicht entziehen. Dennoch stieß sie die Vorstellung ab, dass jemand derartige Gelüste hegen mochte. Dafür war die Puppe einer Leiche viel zu ähnlich. Sie war ein Kunstwerk. Aber selbst als Kunstwerk erschien sie zu monströs, als dass man ihren Anblick lange ertragen konnte. Es war, als berühre das Mädchen etwas im tiefsten Innern des Betrachters. Etwas, von dem Philine nicht wusste, ob sie es berühren lassen wollte.

Mit gemischten Gefühlen riss sie sich von dem Anblick los und ging an der Liege vorbei. Sie kam nicht weit. Nach kaum drei Schritten nagelte sie das Grauen erneut an Ort und Stelle fest.

Sie sah ein weiteres nacktes Mädchen. Dieses schwamm jedoch in irgendeiner Flüssigkeit und war offensichtlich eine Leiche. Der Blick der toten grauen Augen würde sie noch in hundert Jahren in ihren Albträumen heimsuchen. Aus den Körperöffnungen des Mädchens schien irgendein rotbraunes Zeug in die klare Flüssigkeit des Tanks überzutreten.

Philine überwand ihr Entsetzen und wirbelte zu der „Mädchenpuppe“ herum. Puppe. Die junge Adelige spürte, dass sie kurz vor einer Panikattacke stand. Sie ertrug den Blick der toten Augen in ihrem Rücken nicht, sie wollte aber auch nicht noch einmal so nah an der monströsen „Puppe“ vorbeigehen.

„Mist, Mist, Mist“, murmelte sie hyperventilierend.

Plötzlich hörte sie eine hastige Bewegung hinter sich. Ehe sie sich Gedanken über aus Becken steigende Leichen machen konnte, wurde ihr etwas in die Augen gesprüht. Der Schmerz war so überwältigend, dass Philine sicher war, für immer entstellt zu sein. Sie verlor die Taschenlampe und schlug blind um sich, doch sie traf nur irgendeine Maschine, die scheppernd zu Boden ging.

Wie aus dem Nichts legte sich eine Art Riemen um Philines Hals und wurde gnadenlos zugezogen. Kopflose Panik machte die Gräfin zu einer leichten Beute. Sie zappelte eher, als dass sie kämpfte, aber ihrem Angreifer schien auch das noch zu viel Gegenwehr zu sein. Mit einem Ruck zog er sie noch näher an sich heran. Die junge Frau verlor den Boden unter den Füßen und wurde regelrecht erhängt. Die erschreckende Brutalität ließ ihren Adrenalinspiegel in unerreichte Höhen schießen und schenkte Philine einen Moment allumfassender Klarheit.

Mit aller Kraft trat sie nach hinten aus. Sie traf so heftig, dass ihr linker Absatz im Fleisch des Angreifers stecken blieb und der Schuh von ihrem Fuß glitt. Die Verletzung musste unglaublich schmerzhaft sein. Die einzige Reaktion war jedoch ein dumpfes Schnaufen.

Wie von einem Tier.

Bunte Flecken begannen vor Philines Augen zu tanzen.

Verzweifelt schlug sie hinter sich. Dorthin, wo sie das Gesicht des Angreifers vermutete. Tatsächlich spürte sie, wie ihre langen Fingernägel auf etwas Weiches trafen. Eine Flüssigkeit spritzte über ihre Hand, und ein furchtbarer Schrei zerriss ihr beinahe das Trommelfell.

Plötzlich war sie frei. Ihr verbliebener High Heel knickte einfach unter ihr weg. Blind fiel sie vorwärts, versuchte ihren Sturz mit den Armen abzufangen. Doch dann knallte ihre Stirn mit voller Wucht gegen eine Kante. Die Liege mit der Mädchenpuppe!

Philine lief das Blut über das Gesicht. Irgendjemand schrie mit einer Stimme, die nichts Menschliches an sich hatte, und nur die nackte Todesangst hielt sie bei Bewusstsein. Dennoch drang das Gefühl der leblosen, weichen Hand, die ihr Aufprall in Bewegung gesetzt hatte, überdeutlich zu ihr durch. Seltsam zärtlich schien sie ihr über Kopf und Nacken zu streichen, bis die weichen Fingerkuppen in ihrem Kragen hängen blieben.

Es war das Grauenvollste, was Philine je erlebt hatte. Und zugleich … tröstlich?

Ihrer Panik war Trost egal. Wie ein in sie gefahrener Geist zwang sie die überwältigende Furcht auf die Beine. Blind humpelte sie vorwärts, rannte gegen Maschinen und stolperte über Kabel. Irgendwo verlor sie ihren verbliebenen Schuh und brach sich beinahe die Zehen an den steinernen Stufen. Alles war egal. Auf allen vieren kroch sie die rettende Treppe nach oben und stieß die schwere Tür wie ein Spielzeug beiseite.

Nachtluft! Was für ein Sinne vernebelnder Genuss! Ihre Panik interessierte sich nicht für Nachtluft. Ihr war sogar egal, dass sie noch immer nichts sehen konnte – sie gestattete ihr nicht einmal die Sorge um ihr Augenlicht. Stattdessen trieb sie Philine unbarmherzig vorwärts. Die junge Frau rannte gegen Bäume und brach durch Gestrüpp. Dann fehlte ihr plötzlich der Boden unter den Füßen. Das Gefühl des Fallens war das Letzte, an das sie sich erinnern sollte.

Kopfschmerzen.

Im Rhythmus des in ihren Schläfen pochenden Blutes wummerten sie von innen gegen die Stirn. Fast schien es, als wollten sie Philine die Augen aus dem Schädel drücken. Als erfahrenes Migräneopfer konnte sie jedoch damit umgehen.

Beunruhigender als ihr platzender Kopf war seine Langsamkeit. Ein Salat zerfasernder Gedankengänge zog wie verlaufender Pudding durch ihn hindurch.

Unentwirrbar.

Unerträglich.

Nur langsam setzte sich ein Bild der vergangenen Nacht zusammen.

Ehe es jedoch vollständig war, erwachten endlich ihre Instinkte. Sie konnte nichts sehen! Nackte Panik wollte sie hochfahren lassen, doch ihr Körper reagierte nur schleppend auf Anweisungen. Ungelenk ertastete sie eine dicke Kruste auf ihren Augen. Ihre Hand war kalt und nass. So gefühllos, dass sie auch von einer Fremden stammen konnte.

Schlagartig kamen die Bilder der vergangenen Nacht zurück. Die überirdisch schöne Puppe, die ihr über den Kopf gestrichen hatte. Die Leiche, der Angreifer …

Für einen irrationalen Moment fürchtete sie, dass ihr jemand die Hand einer Fremden angenäht hatte. Es war eine Erlösung, als ihr Verstand wieder einsetzte. Kälte, begriff sie. Es ist nur Kälte. Bis tief in die Knochen war sie der jungen Frau gekrochen. Ihre Hände waren nass, und sie lag im Freien. Deutlich konnte sie das Rauschen von Wasser hören. Auch die Kruste konnte sie endlich einordnen: Dr. Frankenstein hatte ihr etwas in die Augen gesprüht.

Erneut kämpfte sie die Panik nieder. So schnell wird man nicht blind, sagte sie sich. Immerhin konnte sie erkennen, dass es hell war. Wahrscheinlich hatte er nur Reizgas oder Pfefferspray benutzt.

Philine setzte sich mühsam auf und versuchte vorsichtig, die Augen freizubekommen. Blinzelnd erkannte sie das Rheinufer. Die steilen Hänge auf der gegenüberliegenden Seite kamen ihr vertraut vor, doch sie sah zu verschwommen, um sich wirklich orientieren zu können.

Sie selbst saß auf dem schmalen Rand einer steil über ihr aufragenden Klippe. Beim Blick nach oben erkannte sie Bäume und Gestrüpp, die womöglich ihren Sturz gebremst haben mochten. Vermutlich war sie ins Wasser gestürzt und auf den schlammigen Rand gespült worden. Bis eben war ihre Hand ja noch im Wasser gewesen.

Nein, wurde ihr bewusst. Auch wenn sie zu wenig erkannte, um sich orientieren zu können, war ausgeschlossen, dass sie sich noch in der Nähe der Ruine befand. Sie musste in den Fluss gestürzt und weit abgetrieben sein. Damit hatte ihr der geliebte Rhein wahrscheinlich das Leben gerettet.

Beinahe hätte sie gelächelt, doch dann fuhren ihre Fingerkuppen über nackte Haut, wo sie den Stoff ihrer Hose erwartet hätte.

Ihr Herz übersprang einen Schlag.

Ungläubig sah sie an sich hinunter. Sie trug keinen Faden am Körper. Schlimmer noch: Der vertraute feuerrote Streifen zwischen ihren Beinen war fort. Zitternd tastete sie nach ihrem immer sorgfältig frisierten Schamhaar, doch sie fand nur zarte, empfindliche Haut. Als hätte sie nie Schamhaar besessen.

Drei-, vier-, fünfmal blinzelte sie, unfähig, die Tatsachen zu verarbeiten. Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fühlte sich nackt, erniedrigt und vergewaltigt, doch Philine gönnte sich nur einen kurzen Moment der Schwäche. Ihr Überleben mochte davon abhängen, was sie als Nächstes tat.

Die Tränen hatten ihre Augen so weit gereinigt, dass sie wieder ein annähernd scharfes Bild bekam. Ihre Kleidung war fort. Wer auch immer sie genommen hatte, war vermutlich auch für den unglaublichen Übergriff verantwortlich. Allerdings konnte das kaum Dr. Frankenstein gewesen sein – der hätte sie wohl umgebracht. Philine versuchte nachzufühlen, ob sie vergewaltigt worden war, aber die Kälte machte ihren Körper nahezu gefühllos. Womöglich war das ein Segen. Die Flucht und der Sturz hatten zahlreiche Blessuren hinterlassen.

Egal, versuchte sie sich einzureden. Wenn sie sich nicht den Tod holen wollte, brauchte sie etwas zum Anziehen. Und sie musste so schnell wie möglich zur Polizei.

Philine hatte Glück. Ein schmaler, schwer einsehbarer Pfad führte an den Kopf der Klippe. Es gab sogar ein altersschwaches Geländer. Dennoch wusste die junge Frau im Nachhinein nicht mehr, wie sie die Strecke bewältigt hatte. Steif und wackelig kroch sie den steilen Weg eher hinauf, als dass sie ihn ging.

Immer wieder glaubte sie, vorbeirauschenden Verkehr zu hören. Eine Straße? Naheliegend. Fast überall am Rheinufer verliefen Straßen. Die Vorstellung, splitterfasernackt ein Auto anzuhalten, schien ihr jedoch wie die Aussicht auf eine weitere Vergewaltigung. Du wurdest nicht vergewaltigt, versuchte sie sich einzureden. Leider glaubte sie sich nicht.

Tatsächlich stellte sich heraus, dass es nicht erforderlich war, ein Auto anzuhalten. Der Pfad führte direkt zu einem Parkplatz. Derzeit war er bis auf einen Sattelschlepper und einen Reisebus jedoch ungenutzt. Der Busfahrer saß in der offenen Tür und war in seine Zeitung vertieft.

Philine ging unwillkürlich in Deckung.

Was soll das?, fragte sie sich. Irgendjemanden würde sie ansprechen müssen!

Sie nahm allen Mut zusammen und wollte gerade aufstehen, als hinter ihr plötzlich eine Stimme erklang.

„Wow“, hörte sie viel zu nah neben sich.

Philine fuhr wie von der Natter gebissen herum und sah sich einem fetten, vierschrötigen Kerl gegenüber, der sich soeben die Hose zumachte. Offenbar hatte er sich gerade an einem Baum erleichtert. Wie hatte sie den übersehen können?

Der Schreck war zu viel für ihre Beine. Ihre Knie gaben nach und sie drohte, den Pfad wieder hinunterzustürzen. Ehe sie aufschlug, war der Fette jedoch bei ihr. Der Geruch von Rauch und Schweiß ließ die Adelige würgen.

Instinktiv wollte sie sich wehren, aber sie war dem Mann so sehr unterlegen, dass er die Gegenwehr nicht einmal zu spüren schien. Sie wollte schreien, aber die Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Der Schock, wurde Philine bewusst. Du stehst so was von unter Schock.

„Mein Gott, Mädel!“, sagte der Fette. „Ist dir was passiert?“ Er riss sich förmlich das Holzfällerhemd vom Körper und legte es ihr über die Schultern. Der speckige, stinkende Stoff war derartig ekelerregend, dass Philine sich beinahe übergab. Dennoch war die Geste so tröstlich, dass in der jungen Frau alle Dämme brachen. Wahrscheinlich erlitt sie einen Heulkrampf, war aber zu wenig bei sich, um sicher zu sein. Sie bekam kaum mit, wie ihr Retter sie auf die Arme nahm und in seinen Truck setzte.

Er musste wohl den Notruf gewählt und eine Weile mit ihr an Ort und Stelle gewartet haben. Für Philine erschien es aber eher so, als sei schlagartig alles voller Menschen, die ihr Fragen stellten. Sanitäter, Ärzte, Polizisten … Es war wie ein psychedelischer Rausch. In einem wachen Moment begriff Philine, dass ihr Zustand nicht allein mit einem Schock zu erklären war.

Plötzlich, ohne jeden Übergang, befand sie sich in einem Behandlungszimmer und wurde von einer Ärztin untersucht. Eine Krankenschwester hielt ihre Hand und lächelte sie an. Unwirklich helle, grüne Augen. Schwarze, lange Haare. Wunderschön. Als wäre eine der Puppen wieder lebendig geworden.

Es war der letzte Gedanke, an den Philine sich erinnern konnte.

 

Laute Stimmen rissen sie aus dem Schlaf. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie schlagartig hellwach und wusste, wo sie sich befand: in einem Krankenhausbett.

Allerdings hatte sie kaum genug Platz darin, weil sich jemand aufdringlich an sie schmiegte und leise in ihr Ohr schnarchte.

Philine drehte vorsichtig den Kopf. Verblüfft erkannte sie die schmalen Züge ihrer kleinen Schwester. Seit dem Tod ihrer Eltern war der zierliche Teenie eher in sich gekehrt und hatte in den Vollflegelmodus geschaltet. Der Altersunterschied von zehn Jahren machte Philine nun mal eher zu einer Mutter als zu einer Schwester für die Vierzehnjährige. Jemanden, gegen den man rebellieren konnte. Dass Jo sie trotz allem ebenso liebte, wie sie geliebt wurde, war an ihren verheulten Augen zu sehen. Sie musste sich regelrecht in den Schlaf geweint haben.

Plötzlich fiel Philine auf, wie sehr die Kleine aufgeblüht war. Gemeinsam waren ihnen die roten Haare, aber Jo hatte trotz der verquollenen Augen eine elfenhafte Schönheit an sich, die selbst die der Puppe noch in den Schatten stellte. Es war, als wären der gerade Erwachte durch die Horrornacht die Augen geöffnet worden. Für den Hauch des Überirdischen, der mit weiblicher Perfektion einherging.

Philine war bewusst, wie absurd – möglicherweise sogar krank – der Vergleich mit der monströsen Puppe war. Gerade in Bezug auf ihre Schwester. Aber der Gedanke erschreckte sie nicht. Traumatische Erlebnisse gingen an niemandem spurlos vorüber, und sie war rational genug, das einzusehen. Wie sie es gewöhnt war, konnte sie auch ihre bizarren Gedanken einordnen. Endlich wieder über einen rational arbeitenden Verstand zu verfügen, befreite sie sogar vom Gefühl der Hilflosigkeit. Sie war kein Opfer mehr, sondern eine Überlebende. Wenn ihr veränderter Blick auf weibliche Perfektion die einzige Macke blieb, war das ein geringer Preis.

Die lauten Stimmen vor der Tür waren noch immer unverständlich, ihre Besitzer schienen sich aber endlich darauf geeinigt zu haben, zu ihr hereinzukommen. Jedenfalls schloss Philine dies daraus, dass die Klinke heruntergedrückt wurde. Dennoch machte niemand Anstalten, zu klopfen, die Tür aufzuschieben oder das weiterhin in voller Lautstärke laufende Gespräch zu beenden.

Es war eine jener Respektlosigkeiten, die Philine aus ganzem Herzen verachtete. Sie bestand nicht auf ritualisierte Manieren, wie sie heute ohnehin nur noch die wenigsten besaßen. Rücksichtslose Menschen, denen jede Höflichkeit und Selbstreflexion abging, waren der Adeligen aber zu klein, um sich mit ihnen zu befassen.

Statt sich zu ärgern, konzentrierte sich Philine auf die wichtigen Dinge. Sie spürte, wie sie nach den schwierigen Monaten mit einem pubertierenden Teenie den Liebesbeweis ihrer kleinen Schwester gebraucht hatte. Lächelnd fuhr sie Jo durch die verwuschelten Haare. Das Mädchen wurde leise schmatzend wach und brauchte offenbar einen Herzschlag länger, um zu begreifen, wo sie sich befand.

„Philly!“, rief sie außer sich. Gleich darauf brach sie jedoch in Tränen aus und schlang die Arme um sie. Philine wurde so fest gedrückt, dass sie kaum noch Luft bekam.

„Ist ja gut“, flüsterte sie dem Wuschelkopf ins Ohr. „Ich bin hier …“

Das Geräusch der sich öffnenden Tür erklang eindeutig vor dem Klopfen. Die drei Männer standen schneller im Zimmer, als Philine aufblicken konnte. Den ältesten von ihnen wies der Kittel als Arzt aus. Die beiden anderen trugen zerknitterte Anzüge und gehörten sicher nicht zur Krankenhausbelegschaft.

„Was hat das zu bedeuten?“, fuhr der Kittelträger Josephine an. Es entsprach wohl nicht gerade der Hausordnung, wenn Patienten in ihrem Bett besucht wurden.

„Das frage ich mich auch“, ging Philine dazwischen. Sie fühlte, wie das Adrenalin ihre Schläfen kalt werden ließ. „Da Sie Ihre Erziehung offenbar in der Drehtür erhalten haben, will ich über das nachträgliche Klopfen hinwegsehen. Immerhin haben sie uns ja vorsorglich durch Ihr minutenlanges Herumgebrülle geweckt, und das fehlende Klopfen harmonierte gut mit dem Verzicht auf den Gruß, der beim Betreten eines Zimmers obligatorisch sein sollte.“ Sie lächelte kalt. „Zumindest unter zivilisierten Menschen.“ Für einen Moment entließ sie den perplexen Mediziner aus ihrem Fokus, um seine Begleiter mit einem demonstrativen Seitenblick zur Kenntnis zu nehmen. „Auch ohne Vorwarnung Außenstehende an das Bett einer praktisch nackten Patientin zu führen, mag für einen Rüpel nichts Außergewöhnliches sein“, räumte sie großzügig ein. „Wenn Sie aber meine Schwester anfahren, weil sie Angst um mich hatte, werden Sie mich kennenlernen.“ Entgegen ihrer sonstigen Art hatte sie beim letzten Satz sogar die Stimme erhoben.

Nein, sie war kein Opfer, stellte Philine fest. Wie sie am Wechsel der Gesichtsfarbe des Arztes ablesen konnte, wirkte sie für einen Moment sogar einschüchternd. Dann sah sie Wut in den Augen des Mediziners aufflackern.

Jo giggelte leise.

„Ich lehne jede weitere Behandlung ab“, presste der Kittelträger wütend hervor. Er machte auf den Hacken kehrt und verließ den Raum.

„Wir freuen uns, dass es Ihnen wieder besser geht“, begann der jüngere der beiden Anzugträger nach einer peinlichen Pause das Gespräch. Philine schätzte ihn auf Ende zwanzig. Sein kugelrunder Kopf ließ ihn etwas seltsam aussehen. Im Gegensatz zu seinem vielleicht zehn Jahre älteren Begleiter wirkte er aber nicht unsympathisch. „Wir wünschen Ihnen einen guten Morgen“, beeilte er sich hinzuzufügen, als die von ihm Geweckten nicht sofort reagierten. Offenbar legte er keinen Wert darauf, einen ähnlichen Vortrag wie der Arzt zu bekommen.

Jos Giggeln wurde zu leisem Lachen.

Philine erschien die Situation aber eher verwirrend. „Entschuldigen Sie – kennen wir uns?“

„Oh ja, Frau von Montenbrück – die Kommissare Bein“, er wies auf sich, „und Kaltbeisser.“ Der Dumme nannte sich eben immer zuerst. Offenbar waren die elementarsten Höflichkeitsregeln auch bei der Polizei nicht weit verbreitet.

„Oberkommissar Kaltbeisser“, stellte der Ältere mit merkwürdig durchdringendem Blick klar. Er war unangenehm hager. Aussehen und Nachname hätten auch gut zu einem Untoten gepasst, stellte Philine fest.

Erfreulicherweise übernahm der Jüngere nach einem genervten Seitenblick wieder das Reden. „Wir haben uns gestern schon ausführlich miteinander unterhalten, Frau von Montenbrück. Wir bearbeiten Ihre Anzeige.“

„Und wir haben keine Zeit für die Märchen reicher Adeliger, die …“ Kaltbeissers Tonfall war unverschämt. Auch die Tatsache, dass ihn sein jüngerer Kollege unterbrach, machte den Ausbruch nicht entschuldbarer.

„Joseph!“, fuhr Bein seinem Vorgesetzten in die Parade. Der Hagere reagierte mit einem durchdringenden Blick.

Philine brach jede weitere Auseinandersetzung zwischen den beiden ab. „Vielleicht warten Sie draußen, damit meine Schwester und ich uns etwas anziehen können“, schlug sie unterkühlt vor. Bein reagierte wie ein verschüchterter Schuljunge. In Kaltbeissers Blick glaubte sie aber etwas Beunruhigendes aufflackern zu sehen. Fast als würde er den Impuls unterdrücken, sie zu schlagen.

„Gegenüber gibt es eine Bäckerei“, erinnerte Jo fröhlich. „Vielleicht besorgen Sie Frühstück, und wir treffen uns an den Bänken unter der großen Linde vor dem Haus.“ Der Vorschlag war so frech, dass Philine kaum glauben konnte, ihn aus dem Mund ihrer Schwester zu hören. Aber er lockerte die Atmosphäre entscheidend auf. „Du bist doch fit, oder?“, fragte sie ihre große Schwester.

Philine nickte irritiert.

„Das ist eine hervorragende Idee“, fand Bein. „Und das Mindeste, was wir nach unserem missglückten Auftritt hier tun können.“

Die Tür hatte sich kaum hinter den Polizisten geschlossen, als Jo ihr erneut um den Hals fiel. „So was darfst du nie, nie, nie, nie wieder machen, Philly“, flüsterte sie. „Ich brauche dich doch noch.“

 

Als Jo und Philine den Treffpunkt erreichten, warteten die Beamten bereits. Nach Kaltbeissers Miene zu schließen sogar schon einen ganze Weile. Bein war dafür umso freundlicher. Als hätte er die Zeit für einen Blick in den Knigge genutzt, behandelte er die Damen mit ausgesuchter Höflichkeit. Er hatte sogar mehrere Kaffeespezialitäten besorgt, um seinen „Gästen“ eine Auswahl bieten zu können.

Philine wurde so weit besänftigt, dass sie den Mann sogar anlächelte, als sie auf das eigentliche Thema des Treffens zu sprechen kam. „Ich habe leider keine Erinnerung an unser Gespräch von gestern“, gab sie zu. „Meine Schwester erklärte mir jedoch, dass mein Bericht weitgehend kohärent und gut verständlich gewesen sei.“

„Das stimmt“, bestätigte Bein. „In Anbetracht der Tatsachen waren Sie erstaunlich klar und präzise. Nach unseren ersten Ermittlungen haben wir aber noch einige Fragen.“

„Natürlich.“ Philine nickte höflich und nahm ihren ersten Schluck Kaffee.

Kaltbeisser schnaubte, aber ehe der neuerliche Ausbruch zu einer weiteren peinlichen Pause führen konnte, riss Bein das Gespräch wieder an sich.

„Was haben Sie bei der Ruine gemacht?“, fragte er. Als sie nicht sofort antwortete, glaubte er offenbar, die Frage erklären zu müssen. „Immerhin ist Burg Steinwiesen recht unbeliebt. Nicht mal die Jugendlichen trauen sich dorthin. Dann auch noch nachts …“, plapperte er.

„Spukerscheinungen kann man besser nachts untersuchen“, erklärte Philine.

„Sind Sie so eine Art Geisterjägerin?“

Die Adelige zog unwillig die Stirn in Falten. „Ach was. Ich glaube nicht an so einen Unsinn. Meine Kunden leider schon. Ich habe die Anlage für einen Locationscout untersucht.“

„Sie sind die rote Gräfin“, entfuhr es dem Kommissar. Er erinnerte Philine zunehmend an einen kleinen Jungen. Unwillig verzog sie das Gesicht.

„Ja, so hat man mich leider schon häufiger genannt.“

„Aber darauf können Sie doch stolz sein. Sie haben schon eine Menge Scharlatane …“

„Können wir beim Thema bleiben?“, unterbrach Kaltbeisser. Es klang wie die Drohung, irgendeine geheime Abmachung zwischen den Beamten für nichtig zu erklären.

„Ja, natürlich“, riss sich der Jüngere zusammen. Deutlich aus dem Konzept gebracht, blätterte er in seinem Block.

„Das Finanzamt haben Sie aber vorsichtshalber nicht von Ihren Einkünften als Geisterjägerin unterrichtet“, riss Kaltbeißer das Gespräch an sich.

„Soll das hier ein Verhör werden?“, fragte Philine aufgebracht. Versuchte man ihr jetzt Steuerhinterziehung anzuhängen?

„Natürlich nicht“, beschwichtigte Bein und warf seinem Kollegen einen strafenden Blick zu. „Da der Grund Ihrer Anwesenheit aber mit einer Tätigkeit zusammenhängt, von der das Finanzamt nichts weiß …“ Offenbar hoffte er, dass Philine die Frage beantwortete, ohne dass er sie stellte. Als sie ihm den Gefallen nicht tat, beendete er den Satz: „… wirft das natürlich gewisse Fragen auf.“

„Das Finanzamt weiß nichts davon, weil ich kein Geld einnehme. Ich arbeite für Spenden an von mir gewählte Organisationen“, erklärte sie wütend. „Die zugehörigen Spendenquittungen einzureichen, würde mir unanständig vorkommen.“

„Unanständig?“, entfuhr es Kaltbeißer, als hätte sie ein neues Wort erfunden.

„Ja. Unanständig. Unsere Eltern haben uns genug Geld hinterlassen, um den Rest unseres Lebens nicht arbeiten zu müssen. Geld vom Staat zu fordern, das unter anderem Menschen erarbeiten mussten, die am Ende des Monats nicht mehr wissen, wie sie Essen auf den Tisch bringen sollen, empfinde ich als unanständig.“

„Das bedeutet, Sie sind Privatier?“, erkundigte sich Bein.

„Wenn Sie mit dem Finanzamt gesprochen haben, sollten Sie das wissen“, entgegnete Philine kurz angebunden. „Aber vielleicht hätten Sie Ihre Zeit besser in das Aufspüren des Täters und nicht in die Durchleuchtung des Opfers investiert. Diese Art der Befragung scheint mir allgemein eher für das Verhör eines Verdächtigen geeignet zu sein.“

Die Polizisten wechselten einen Blick. Philine schien die Befragungsstrategie der beiden durcheinandergebracht zu haben.

„Haben Sie die Ruine untersucht?“, nutzte sie die Gelegenheit für eine Frage. „Was haben Sie gefunden?“

„Zerstörung“, gab Kaltbeisser mit durchdringendem Blick zurück.

„Die Ruine ist eingestürzt“, konkretisierte sein Kollege. „Offenbar gesprengt.“

Für einen Moment glaubte Philine, dass die Männer sich über sie lustig machten. Dann wurde ihr bewusst, dass eine Sprengung wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen war, innerhalb einer Nacht die Beweise verschwinden zu lassen. Ein Verbrecher hatte vermutlich keine Hemmungen, wenn er zum Verwischen seiner Spuren einen unwiederbringlichen Zeugen der Geschichte zerstören musste. „Oh, mein Gott. Was für eine Barbarei.“

„Das sehen wir auch so.“ Kaltbeisser sah sie so durchdringend an, als wäre sie dafür verantwortlich.

„Dann müssen Sie sofort mit den Ausgrabungen beginnen“, verlangte Jo.

„Selbstverständlich werden wir alle Beweise sichern.“ Bein wirkte vorsichtig, als wüsste er nicht, wie er es den beiden Adeligen beibringen sollte. „Auf Weisung unserer Vorgesetzten ermitteln wir deshalb auch gegen Sie, Frau von Montenbrück.“

„Gegen mich?“ Philine war fassungslos.

Kaltbeisser schnaubte abfällig. „Die Beweise …“

Ehe er den Satz zu Ende bringen konnte, wurde er von seinem jüngeren Kollegen unterbrochen. „Selbstverständlich möchten wir Ihnen gerne glauben“, versicherte Bein. „Aber unsere bisherigen Ermittlungen stellen Ihre Geschichte sehr stark infrage. Und wir haben Beweise dafür gefunden, dass Sie uns nicht alles erzählt haben.“

Kaltbeisser schnaubte erneut, als hätte sein Kollege die Untertreibung des Jahres ausgesprochen.

Jo wollte gerade wütend werden, aber Philine legte ihr die Hand auf den Unterarm. Ihr eigener Zorn wurde von Vorsicht im Zaum gehalten. „Was für Beweise sollen das sein?“, fragte sie unterkühlt.

„Wir haben Ihren Porsche in der Nähe der Ruine gefunden“, erklärte Bein. Er sah sie an, als müsste sie diese Tatsache in Bedrängnis bringen.

Vergeblich wartete Philine darauf, dass er weitersprach. Nach wenigen Augenblicken begriff sie jedoch, dass er seine Darlegung offenbar als Ersatz für eine Frage verstanden wissen wollte. Widerwillig tat sie ihm schließlich den Gefallen. „Wieso ist das belastend? Hätte ich zu Fuß dort hinaufgehen müssen?“

„Nein, aber Sie waren nicht gründlich genug beim Saubermachen“, teilte Kaltbeisser mit. Zum ersten Mal lächelte er. „Wir haben Spuren von Sprengstoff entdeckt.“

Philine konnte ihn für einen Moment nur verblüfft anstarren. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Jemand versuchte ihr den Mist auch noch anzuhängen.

„Ach, kommen Sie“, mischte sich Jo ein. „Meine Schwester fährt aus Jux zu einer Ruine und sprengt sie in die Luft. Im Anschluss ist sie aber zu doof, um eines unserer anderen Autos, mit dem sie keinen Sprengstoff transportiert hat, in der Nähe abzustellen.“

„Wir gehen davon aus, dass Sie vielleicht wegen der Drogen nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren.“ Bein konnte sie nicht ansehen und starrte während des Sprechens auf seinen Block.

„Welche Drogen?“, platzte es aus Philine heraus.

„Das konnten uns die Ärzte leider auch nicht sagen“, räumte der Kommissar ein. „Dass Sie unter Drogeneinfluss standen, war aber offensichtlich. Erweiterte Pupillen, unregelmäßiger Herzschlag, erhöhte Temperatur und Ähnliches.“

„Das muss aber ein beeindruckend potentes Mittel sein“, gab Philine ätzend zurück. Sie spürte, wie der Zorn ihren Kopf heiß werden ließ. „Es versetzt mich in die Lage, ohne jede Vorbildung ein Gewölbe zu sprengen und mir eine unglaubliche Geschichte auszudenken. Zugleich bin ich aber so entrückt, dass ich splitterfasernackt in den Rhein springe und nur durch Zufall, nach einer halben Nacht im Wasser, überlebe.“

„Sie waren keine halbe Nacht im Wasser“, korrigierte Kaltbeisser. Sein Ausdruck passte hervorragend zu seinem Namen. Wie ein Hai, der sie aus toten Augen anstarrte.

Sein Kollege bemühte sich sogleich darum, die Fakten freundlicher zu verpacken. „Die Mediziner sind sich einig: Sie lagen höchstens eine Viertelstunde im Freien auf dem Boden. Die Spurensicherung hat praktisch keine Spuren von Flusswasser auf Ihnen gefunden.“

„Sie waren so sauber, dass die Spurensicherung kaum in der Lage war, überhaupt irgendetwas an Ihnen zu finden“, ergänzte Kaltbeisser.

Diese Auskunft erschreckte Philine bis ins Mark. Wenn der Rhein sie nicht fortgetragen hatte, war es ein Mensch gewesen. Dieser Mensch war bestimmt nicht der Puppenmacher gewesen – der hatte nicht nur alles daran gesetzt, sie umzubringen, sondern hätte sie wohl eher verschwinden lassen, als sein Labor zu vernichten. Gab es etwa noch einen weiteren Verrückten? Und wie lange war sie in seiner Gewalt gewesen?

„Was für ein Quatsch!“, rief Jo. „Wer hat meine Schwester dann vergewaltigt und ihre Schambehaarung entfernt?“

Philine zuckte zusammen. Vergewaltigt … War das für Jo nur ein Wort? Aber fühlte sie sich wirklich, als hätte jemand …?

„Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Vergewaltigung“, schnappte Kaltbeisser.

Kommissar Bein blieb freundlich, beinahe vorsichtig. „Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass Ihre Schwester jemals Schambehaarung besessen hat. Die Ärzte gehen von einer genetischen Anomalie aus.“

Das war ja völlig verrückt! Im ersten Moment wollten Philines Instinkte mit Wut reagieren. Doch dann wurde ihr bewusst, dass es keinen Weg gab, Schamhaare spurlos zu entfernen – wenn es den gäbe, wäre das ein Milliardengeschäft. Diese Technik gab es einfach nicht!

Verunsichert drehte sie den Kopf, um Jo bestätigen zu lassen, dass sie sehr wohl Schamhaar besessen hatte. Aber ihre Schwester wirkte ebenso verunsichert wie sie selbst. Kein Wunder. Philine rasierte sich erst seit einem Jahr nicht mehr vollständig. Jo hatte sie vermutlich noch nie frisiert gesehen.

Plötzlich sah sie die Situation mit den Augen der Polizei. Ihre Geschichte als bizarr zu bezeichnen, war noch untertrieben. Mutterseelenallein schleicht sie sich nachts in eine Ruine und trifft einen unheimlichen Würger im Burgverlies, der aus jungen Mädchen Puppen machte? Sie selbst blieb bis auf ihre Schambehaarung ungeschoren? Das klang schon fast lächerlich. Die Geschichte von einer dekadenten Adeligen, die im Drogenrausch dumme Sachen machte, klang nicht nur glaubwürdiger, sondern wurde auch von den Beweisen gestützt.

Nein, es war schlimmer. Ihre Geschichte war nicht nur unglaubwürdig, sondern ergab auch keinen Sinn: Erst die Geschichte vom Würger und den Mädchenpuppen – dann die Wahl zwischen zwei völlig idiotischen Möglichkeiten, wie das Ganze weitergegangen war.

Möglichkeit eins: Der Würger findet sie – statt sie aber einfach umzubringen, um Spuren zu verwischen, sprengt er lieber seine sündhaft teure Ausrüstung in die Luft. Währenddessen nimmt sich der sicher schwer verletzte Mann die Zeit, sie stundenlang – bis zum Morgen – bei sich zu behalten, sie auszuziehen, ihr Schamhaar auf unbekannte Weise zu entfernen und sie dann am Rhein abzuladen. Nebenher legt er noch ein paar falsche Spuren an ihrem Auto.

Möglichkeit zwei: Die Sache mit dem Schamhaar und der Unterbringung am Rheinufer verdankt sie einem anderen Irren, der ebenfalls zufällig mitten in der Nacht an derselben verlassenen Ruine herumhängt. Dieser Irre Nummer zwei ist aber so außergewöhnlich fortschrittlich in seinen Methoden, dass er über Drogen und medizinische Techniken verfügt, die der modernen Medizin unbekannt sind.

Beides war ebenso wahrscheinlich wie die Entführung durch Aliens. Wobei die Entführung durch Aliens schon fast glaubwürdiger klang, weil bei dieser Möglichkeit wenigstens die unbekannten Drogen und die spurlose Haarentfernung leichter zu erklären wären.

Was bedeutete es, wenn die Fakten nicht mit den eigenen Erinnerungen übereinstimmten?

Philines Herz übersprang einen Schlag. Das erste Mal in ihrem Leben zweifelte sie ernsthaft an der eigenen Wahrnehmung. Wurde sie womöglich verrückt? Sie spürte, wie sich das Blut in ihren Bauch zurückzog. Ihre Hände wurden bleich und kalt wie die einer Vampirin.

„Geht’s dir nicht gut?“, fragte Jo.

„Ich weiß es nicht.“

Allein.

Allein zu sein, machte Philine nichts aus – sich allein zu fühlen, war aber die widerlichste aller Empfindungen. Mit einer Tasse Kakao saß sie auf einer Zinne ihrer Burg und sah den Bulli der sechsköpfigen Putzkolonne durch das Haupttor rollen. Damit war sie wieder allein in dem jahrhundertealten Gemäuer. Gewöhnlich atmete sie in diesen Momenten auf. Sie war gern allein. Mehr noch – sie ließ es sich ein Vermögen kosten, die Burg ohne Tourismus oder Mieteinnahmen zu halten. Zu zweit eine Burg zu bewohnen, war ohne Zweifel verrückt, aber sie wäre wohl auch ohne Jo mieterlos geblieben.

Aber heute … heute konnte sie es kaum erwarten, dass die Kleine aus der Schule kam. Den ganzen Tag über hatte sie nach Ausflüchten gesucht, die Mitglieder der Putzkolonne anzusprechen. Oder zumindest in Hörweite zu bleiben. Fast als fürchte sie, mit sich allein zu sein.

Und vielleicht war das tatsächlich so. Philine fürchtete sich vor sich selbst. Davor, den Verstand zu verlieren. Nicht mehr zwischen Realität und Fantasie unterscheiden zu können.

Sie musste mit jemandem reden, das war ihr klar. Nur mit wem? Es gab nur einen Menschen auf der Welt, dem sie wirklich vertraute, und das war Jo. Aber Jo war erst vierzehn und hatte genug eigene Sorgen. Nicht nur, weil sie ein Teenie war, sondern weil sie seit dem Flugzeugabsturz ihres Vaters unter extremen Verlustängsten litt. Vor nicht ganz drei Jahren hatte sie nicht nur den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren, sondern musste danach hautnah miterleben, wie der Rest ihrer ach so ehrenwerten Verwandtschaft versucht hatte, die Schwestern um ihr Erbe zu bringen. Tante Margaret hatte sogar heimlich versucht, Philine entmündigen zu lassen. Selbst der Familienanwalt hatte dabei mitgemacht. Auch wenn Jo damals noch sehr jung gewesen war, traute sie praktisch niemandem mehr.

Philine würde eher in ein Klärwerk ziehen, als Jo auch nur den Hauch von Instabilität zu zeigen. Sie musste die eine unerschütterliche Säule sein, an der sich ihre kleine Schwester festhalten konnte.

„Aber du musst mit jemandem reden“, murmelte sie zu sich selbst. Die Frage war nur: Mit wem? Sie kannte Gott und die Welt, wurde zu Partys und Empfängen der High Society eingeladen – aber wirklich kennen tat sie niemanden. Nicht mal die Menschen, die sie als ihre Freunde betrachtete.

Ein Freund war jemand, auf den man sich bedingungslos verlassen konnte. Weil man sich mochte. Sie konnte aber nur Beziehungen vorweisen, die zum beidseitigen Vorteil waren. Zumindest glaubte sie das. Niemand konnte sie wirklich um ihrer selbst willen mögen, weil sie niemanden in ihr Innerstes hineinschauen ließ. Daran waren auch ihre beiden Beziehungen gescheitert.

Schlimmer noch. Selbst wenn sie jemandem zutrauen würde, die freundschaftliche Beziehung zu ihr aufrechtzuerhalten, nachdem sie ihn mit ihren seelischen Nöten konfrontiert hatte, würde das Vorhaben an ihr selbst scheitern. Sie konnte sich niemandem öffnen. Sie konnte das nur vorspielen.

Eine normale Person wäre an dieser Stelle zu einem Therapeuten gegangen. Das war auch der Vorschlag, den die Polizei ihr nahelegte.

Philine hatte aber ihre eigenen Erfahrungen mit Therapeuten. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter war sie mit zwölf Jahren einer Horde von Psychiatern und Psychologen in die Hände gefallen. Jeder von ihnen hatte eine andere Diagnose gehabt, dafür war ihr keiner von ihnen auch nur annähernd geistig gesund vorgekommen. Am Ende war sie der Bande nur entkommen, weil sie ihnen gesagt hatte, was sie hören wollte. Jo hatte nach dem Tod ihres Vaters ähnliche Erfahrungen gemacht.

Bevor sie sich wieder in die Hände dieser Quacksalber begab, würde sie nicht nur ins Klärwerk ziehen, sondern auch täglich im Klärbecken baden.

Nein. Sie wusste, was ihr Fels in der Brandung des Lebens war: ihr Verstand. Um in ihre Mitte zurückzukommen, musste sie herausfinden, was wirklich geschehen war. Sie musste einfach sicher sein, sich auf sich selbst verlassen zu können. Und wenn sich herausstellen sollte, dass sie tatsächlich nicht alle Latten am Zaun hatte, würde sie wenigstens eine rationale Irre sein.

Philine fühlte sich schon etwas besser. Der erste Schritt dazu, kein Opfer zu sein, war, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

„Verdammtes Scheißding!“, schrie Philine aus vollem Hals. Völlig außer sich drosch sie auf das Lenkrad ein, konnte sich aber nicht beruhigen. Ihr Wutausbruch schlug mit nie gekannter Wucht über ihr zusammen. Buchstäblich rotsehend, sprang sie aus dem Elektro-Smart und trat immer wieder gegen die Tür.

Zugleich schien die wahre Philine sie von innen heraus zu beobachten. Eine Philine, die kaum fassen konnte, was sie sah. Blinde Wut war nicht Teil ihres Wesens. Schon gar nicht Gewalt. Die junge Adlige war darauf gedrillt worden, niemals die Beherrschung zu verlieren. Sich selbst auf ein unschuldiges Auto eintreten zu sehen, war ebenso surreal wie Puppenmädchen in Spukschlossruinen zu finden.

Vier … fünf … sechs Mal trieb ihr Fuß die Delle tiefer in die Tür hinein. Dann schien Wut-Philine endlich ruhiger zu werden. Der rote Schleier lichtete sich, und sie begann, endlich wieder ihre Umgebung wahrzunehmen.

Schwer atmend realisierte sie, dass der Smart mitten auf einer Kreuzung stehen geblieben war. Ihr Ausbruch schien aber zumindest das obligatorische Hupkonzert verhindert zu haben. Aus Dutzenden von Autos heraus wurde sie angestarrt. Mehrere Fußgänger glotzten sie an wie Kühe, wenn es donnert, und eine Gruppe von Halbstarken hielt ihren Ausbruch für die Nachwelt mit dem Handy fest.

Das konnte doch gerade nicht wirklich passieren. Das war ein Albtraum.

„Ist alles in Ordnung?“

Die Männerstimme ließ sie zusammenfahren. Zugleich drohte die dumme Frage das Pochen in ihren Schläfen wieder hochkochen zu lassen. Na klar. Ich halte meinen Smart jeden Donnerstag auf dieser Kreuzung an, um ihm die Tür einzubeulen.

Im letzten Moment schluckte sie die Antwort herunter und drehte sich zu dem Trottel um.

Aber es war weder ein noch irgendein Trottel. Es waren die Kommissare Bein und Kaltbeisser, die sie mit den ihr bereits vertrauten Gesichtsausdrücken ansahen.

Das auch noch. Ausgerechnet die beiden Nervensägen mussten zufällig ebenfalls auf dieser Kreuzung … Zufällig?

Wohl kaum. Philine spürte, wie ihre Wangen kalt wurden. Die beiden beschatteten sie!

War so etwas denn nicht nur bei Morden oder organisierter Kriminalität üblich? Glaubten sie die Sache mit den toten Mädchen, verdächtigten aber sie? Übersah sie etwas? Wusste sie etwas nicht?

„Haben Sie ein Problem mit Ihrem Auto?“, fragte Bein freundlich.

Bevor die beiden die Zwangsjacke herausholten und sie einweisen ließen, schaltete Philine auf überforderte junge Dame.

„Ja“, gab sie verschmitzt zu. „Ich bin den ganzen Tag mit dem Wagen unterwegs gewesen, und dafür ist ein Elektro-Smart wohl nicht gemacht.“ Philine rang sich ein schuldbewusstes Lächeln ab. „Dass er einfach stehen blieb, hat mich wohl überfordert. Ich bin Benziner gewöhnt und habe mich da wohl bei der Akkuleistung verschätzt.“

Bein lächelte nickend. „Verständlich, dass einem bei dem, was Sie durchgemacht haben, irgendwann die Nerven versagen. Wir sind ja alle nur Menschen. Wir sind bestimmt auch bald mit Ihrem Porsche fertig.“

Philine witterte eine Falle, lächelte aber weiterhin devot. Wahrscheinlich konnte ihr der Polizist sogar den Führerschein wegnehmen. Sie musste zugeben, dass er damit sogar im Recht gewesen wäre. Wer so ausflippte, gehörte nicht hinter das Steuer.

„Was halten Sie davon, wenn ich Sie nach Hause fahre, während sich Oberkommissar Kaltbeisser um Ihr Auto kümmert?“

Irgendein Bauchgefühl warnte Philine davor, zu Bein in den Wagen zu steigen. Kaltbeissers empörter Seitenblick auf seinen Kollegen versöhnte sie aber mit dem Gedanken. Zudem stand noch immer der Entzug des Führerscheins im Raum. Es wäre dumm, es sich mit dem Mann zu verderben. Sie gab sich einen Ruck.

„Sehr freundlich“, antwortete sie mit aufgesetztem Lächeln, das Bein aber nicht zu durchschauen schien.

Im Gegenteil. Sichtlich erfreut öffnete er die Beifahrertür seines Passats und half ihr beim Einsteigen. Formvollendet. Hatte der Mann im Knigge geschmökert? Wollte er sie beeindrucken?

Er wartete, bis sie angeschnallt war, und setzte dann den Wagen in Bewegung. Für einen Moment breitete sich unangenehmes Schweigen aus. Bein lächelte auf schwer zu deutende Weise. Philine bekam zunehmend den Eindruck, dass das Interesse des Polizisten an ihr zumindest teilweise persönlich war. Ein wenig flirten konnte ihr womöglich das Leben erleichtern.

Sogleich schämte sie sich für den Gedanken. Was war nur los mit ihr?

„Sie sind also herumgefahren?“, brach Bein das Schweigen mit einer überflüssigen Frage. Offensichtlich hatte er sie beschattet. Er wusste genau, wo sie gewesen war.

Philine entschied mitzuspielen. „Ich habe alle Krankenhäuser der Umgebung abgeklappert“, sagte sie wahrheitsgemäß.

„Immer noch auf der Suche nach dem Mann mit der Bein- und Augenverletzung?“, fragte Bein betont neutral.

Statt zu antworten sah Philine aus dem Seitenfenster. Natürlich versuchte sie weiterhin, den Angreifer zu finden. Was sollte sie sonst tun? Die Polizei würde nicht nach einem Hirngespinst suchen – die konzentrierten sich offensichtlich auf sie. Irgendjemand musste den Mörder aber zur Rechenschaft ziehen.

Ach Quatsch. Wem machte sie etwas vor? Für sie ging es nicht wirklich um die Mädchen. Es ging um sie selbst. Philine musste sich selbst beweisen, dass sie nicht verrückt war.

Und sie musste den Mann zur Rechenschaft ziehen, der ihr die Schambehaarung genommen hatte.

Verdammt war das armselig.

„Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass Sie uns die Ermittlungen überlassen?“, fragte Bein in ihre Gedanken.

Nein. Hatten sie nicht. Bein hatte darum gebeten, dass sie sich raushielt. Zugesagt hatte sie nichts. Vielleicht sollte er sich auch lieber fragen, warum eine Schuldige auf eigene Faust nach dem Täter suchte.

„Es tut mir leid“, log sie. „Aber ich kann nicht einfach auf den Händen sitzen.“

„Ich bitte Sie.“ Der Kommissar lächelte jovial. „Die Tat ist erst drei Tage her. Geben Sie uns – und vor allem sich – etwas Zeit.“

Wie lange sollte sie denn seiner Meinung nach warten, bis sie untersuchen durfte, ob sie den Verstand verlor?

Ihr Schweigen hinderte Bein nicht daran, das Gespräch aufrechtzuerhalten. „Immerhin darf ich sie beruhigen. Sie haben wahrscheinlich keine Leiche gesehen.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Mehrere Gründe.“ Er lächelte, als würde er jeden Augenblick mit beruhigendem Armtätscheln beginnen. „Zum einen wird niemand vermisst, der auch nur entfernteste Ähnlichkeit mit den mit Ihrer Hilfe angefertigten Phantomzeichnungen hat.“

Philine zog eine Augenbraue hoch. Selbst wenn es einen zuverlässigen Weg gäbe, unzählige Vermisstenfälle mit ihrem Phantombild abzugleichen, konnten die Mädchen ja von sonst wo stammen.

„Zum anderen entspricht auch der von ihnen geschilderte Zustand der Mädchen nicht dem einer Toten. Die Haut …“

„Ich weiß“, kürzte Philine ab.

Erfreut blickte er sie an. „Also geben Sie zu, dass …?“

„Ich gebe zu, dass meine Geschichte keinen Sinn ergibt. Aber ich habe Sie nicht angelogen.“

„Das würde ich Ihnen auch nie unterstellen wollen“, meinte der Ermittler lächelnd. „Vielleicht hat Ihnen jemand ohne Ihr Wissen bewusstseinsverändernde Drogen verabreicht, und Sie glauben nur, das alles erlebt zu haben.“

Als wäre Philine nicht selbst schon auf diese Idee gekommen. Sie zweifelte mittlerweile an allem. Vielleicht hatte sie wirklich niemals Schamhaar besessen und sich die Psychokiller-Episode zusammengesponnen. Möglicherweise war sie auch splitterfasernackt im Drogenrausch den Rhein entlanggestolpert und am Fuß einer Klippe eingeschlafen.

Aber selbst dann passten die Fakten nicht zusammen: Drogen erklärten weder die Sprengstoffspuren an ihrem Auto noch die Zerstörung der Ruine. Sie hatte absolut keine Ahnung von Sprengstoff! Selbst wenn man also unterstellen mochte, dass sie sich freiwillig eine völlig unbekannte Droge eingeworfen hatte, musste es da noch jemanden im Hintergrund geben. Jemanden mit Antworten.

„Wir werden der Angelegenheit schon auf den Grund gehen“, versprach Bein und tätschelte ihr tatsächlich die Hand. Offenbar waren ihr die Selbstzweifel deutlich anzusehen gewesen.

„Danke.“

Endlich erreichte der Passat die Auffahrt zur Burg und arbeitete sich den schmalen Pfad neben der Ringmauer hinauf. Bein war sichtlich beeindruckt von der wuchtigen Anlage. Es wäre wohl sehr einfach gewesen, das Gespräch auf Burg Montenbrück zu lenken, aber Philine wollte den Mann so schnell wie möglich loswerden.

Sie ließ sich am Torhaus absetzen und flüchtete regelrecht hinter die dicken Mauern ihres Familiensitzes.

Als sich das gewaltige Tor hinter ihr schloss, war es wie eine Erlösung. Wenigstens hier war sie sicher.

Philine schreckte hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die nahezu vollkommene Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Einen Moment saß sie einfach verwirrt da und versuchte ihren Herzschlag zu beruhigen. Was war denn nur los?

Ein Albtraum?

Nein … Oder doch? Ein seltsam unbestimmtes Gefühl ließ ihre Hände zittern. So als würde sich etwas Furchtbares aus der Finsternis immer näher an sie heranschieben.

Die Nerven, sagte sie sich. Du bist traumatisiert.

Aber wenn sie sich nicht mal mehr im Schlafzimmer ihrer Burg sicher fühlen konnte – wo dann? Stell dich nicht so an, mahnte sie sich.

Ärgerlich über sich selbst wollte sie sich wieder hinlegen, doch dann stutzte sie. Etwas war anders als sonst. Mehrere Herzschläge lang horchte sie in die Dunkelheit. Bis auf den sanft durch das Gemäuer säuselnden Wind und ihren Untermieter – einen alten Uhu – war alles ruhig. Über eine Minute saß sie mit angehaltenem Atem einfach nur da und lauschte. Dann musste sie fast lachen. Mit einer Mischung aus Belustigung und Ärger schob sie das seltsame Gefühl beiseite und sank langsam in die Laken zurück.

Dann sah sie es.

Besser gesagt: Sie sah es nicht. Die grüne Diode ihrer Überwachungsanlage war erloschen.

Erneut fuhr sie hoch. Das muss nichts bedeuten, versuchte sie sich zu beruhigen. Auch so eine Diode geht mal kaputt.

Mit zittrigen Händen nahm sie ihr Handy vom Nachttisch. Sie war so aufgeregt, dass sie drei Anläufe brauchte, bis sie die Überwachungsapp fand. Leider fand die App nichts. Die scheißteure Superalarm-, Steuerungs- und Überwachungsanlage ihrer Burg gab keinen Pieps von sich. Etwas, was angeblich gar nicht möglich war!

Einbrecher!

Dass ihr dieser Gedanke erst jetzt kam, war irgendwie absurd. Noch surrealer war der Gedanke, dass sie schon fast hoffte, dass es nur Einbrecher und keine Mädchenpuppenmacher oder Schamhaardiebe waren.

Dennoch zögerte sie, die Polizei zu rufen. Wenn das ein Fehlalarm war, würden die Beamten sie erst recht für eine Spinnerin halten.

Egal. Wozu gab es die Polizei, wenn man …? Kein Netz blinkte in ihrem Display. Kein Netz? Was für ein Blödsinn! Ihr Burgfried trug eine gewaltige Mobilfunkantenne, mit der mehrere Ortschaften in der Umgebung versorgt wurden!

Ein Eisklotz bildete sich in ihrem Magen. Sie versuchte gar nicht erst, sich irgendetwas einzureden. Dafür gab es etwas zu viele Zufälle.

Du musst dich beruhigen, mahnte sie sich. Auf keinen Fall darfst du jetzt den Kopf verlieren. Es war nicht so schlimm, wie es aussah. Jo hatte morgen Schule, also übernachtete sie bei ihrer Freundin Katja in der Stadt. Damit war sie außer Gefahr. Sie selbst konnte sich hinter ihrer dicken Schlafzimmertür verbarrikadieren, was zumindest einen gewöhnlichen Einbrecher aufhalten mochte.

Einem gewöhnlichen Einbrecher wäre es wohl kaum möglich gewesen, die Sicherheitsanlage auszuschalten, schoss ihr durch den Kopf. Schon gar nicht hätte er meinen Zugang zum Mobilfunknetz unterbrechen können.

Also war der Killer im Haus?

Egal, wer durch die Burg schlich: Wahrscheinlich war er ihretwegen hier. Sie brauchte eine Waffe! Auf Anhieb fielen ihr nur die Schrotflinten ihres Vaters ein. Sie befanden sich in einem Waffenschrank im Jagdzimmer, nur ein Stockwerk unter ihr. Selbst wenn die Munition nicht mehr funktionieren sollte, könnte sie damit jemanden in Schach halten.

Mit wackeligen Knien sprang sie aus dem Bett und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Um sich möglichst leise bewegen zu können, verzichtete sie auf Hausschuhe. Die Proteste ihrer verwöhnten Füße realisierte Philine nicht einmal. Ihr Kopf war zu sehr damit beschäftigt, sich mordlüsterne Gestalten auszumalen, die auf der Suche nach ihr durch die Burg geisterten. Als ob sie noch nicht genug Angst hätte, jagte ihre Fantasie entstellte Gestalten mit rostigen Messern und irrem Blick durch das alte Gemäuer.

Ihre Schlafzimmertür zeigte sich kooperativer als ihre Fantasie. Das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, öffnete sich das massive Monstrum vollkommen lautlos. Stockdunkel lag der Korridor vor ihr, doch in diesem Fall war die Dunkelheit ihr Verbündeter. Sie war in diesen Räumen aufgewachsen. In diesem verwinkelten Trakt kannte sie jede Nische.

Von neuer Zuversicht erfüllt, wagte sie sich in die Finsternis hinaus. Die Stille war so allumfassend, dass sie beinahe an der Einbruchshypothese zu zweifeln begann.

Beinahe.

Am Kopf der Stiege angekommen, hörte Philine eine Stimme aus dem zweiten Stock. Was für eine Sprache ist das?, fragte sie sich. Ist das deutsch? Sie wusste es nicht, war aber sicher, es mit einem Mann zu tun zu haben. Oder vielmehr einem Mann und einer weiteren Person.

Oder einem Verrückten, der vor lauter Mordlust Selbstgespräche führte.

Nicht hilfreich, stellte Philine fest.

Lautlos wie ein Geist huschte sie die Stufen hinunter. Egal, wie viele Häscher dort lauerten – sie brauchte eine von Papas Flinten. Im Augenblick erschienen ihr die Waffen als einzige Chance, die Nacht zu überleben. Wenn die Häscher sie in die Finger bekämen, würden sie …

Nicht hilfreich, erinnerte sich Philine.

Am Fuß der Stiege angekommen, zerschlug sich ihre Hoffnung jedoch von selbst. Das fahle Licht einer Taschenlampe fiel aus dem Jagdzimmer in den Korridor. Entgegen ihrer Erwartung durchsuchten die Eindringlinge nicht die Schlafzimmer, sondern hatten irgendetwas in Papas Heiligtum zu schaffen.

Also doch einfache Einbrecher?

Auch diese Hoffnung wurde sogleich zunichtegemacht.

„Ich bin hier so gut wie fertig. Geh sie schon mal holen“, verstand Philine undeutlich, aber eindeutig.

Die junge Frau spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Das Grauen war so lähmend, dass sie fast vom Strahl der Taschenlampe getroffen wurde, als einer der Gangster in den Korridor einbog. Im letzten Moment gelang es ihr, hinter der steinernen Stiege in Deckung zu gehen. Schwere Schritte, fast schleppend, arbeiteten sich den Flur entlang und die Stufen hinauf. Philine bildete sich ein, dass der Mann humpelte, was sie sogleich an die kreative Verwendung ihres Stilettos denken ließ. Der Mädchensammler war hier, um die Sache zu Ende zu bringen …

Das ist nur eine Vermutung, sagte sie sich. Und vollkommen scheißegal. Irgendjemand war hier, um etwas mit ihr zu tun, was sie freiwillig nicht tun würde. Es war ihr absolut Wurst, ob es der Mädchensammler, der Schamhaardieb, der Yeti oder Aliens waren. Sie durfte ihren Besuchern auf keinen Fall in die Finger geraten! Und im Augenblick verlor sie wertvolle Zeit, in der ihre Besucher angreifbar – weil allein – waren. Die einzige wichtige Entscheidung war also Angriff oder Weglaufen.

Weglaufen müsste sie allerdings wahrscheinlich den Rest ihres Lebens. Und wenn die Kerle das nächste Mal kamen, geriet vielleicht auch Jo in Gefahr. Nein. Das war keine Option.

Also Angriff.

Die Entscheidung gab ihr eine unerwartete Ruhe zurück. Sie war keine große Kämpferin, schon gar nicht war sie körperlich einem Mann gewachsen.

Aber ich komme aus einer Familie von Kriegern, versuchte sie sich mit einem Blick auf die Rüstungen ihrer Vorfahren, die im Gang Spalier standen, Mut zu machen. Sie alle präsentierten ihre Waffen, als wollten sie ihrer Urahnin die bewährten Mordwerkzeuge anbieten. Fast war es, als stünde sie tatsächlich nicht mehr allein da.

Schon als kleines Mädchen hatte sie das elegante Langschwert von Kuno, dem Kahlen, fasziniert. Aber es bedurfte sehr viel Kraft und Übung, um eine solche Waffe sinnvoll einzusetzen. Handlicher war der Kriegshammer von Herbert, dem Bärenhasser. Aber auch dieser gemein aussehende Totmacher war viel zu schwer für eine zierliche Frau wie sie.

Für ungelernte Kämpfer waren Speere und Spieße die effektivsten Waffen, hatte Papa immer gesagt. Philine entschied sich, ausnahmsweise auf ihren alten Herrn zu hören. Auf Zehenspitzen huschte sie zu einer an der Wand hängenden Saufeder hinüber. Lautlos hob sie die Waffe aus dem Ständer.

Aus dem Jagdzimmer war unterdessen ein seltsames Geräusch zu hören. Irgendetwas knarrte. Zugleich schien etwas gezogen zu werden. Philine kannte alle Geräusche in der alten Burg, aber dieses hatte sie noch nie gehört. Aus irgendeinem Grund lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.

Doch sie hatte keine Zeit. Jeden Moment mochte der andere Scherge die Stufen herunterkommen. Die junge Adelige nahm all ihren Mut zusammen und schlich zur Tür des Jagdzimmers hinüber. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Das Entsetzen strich ihr wie ein eiskalter Finger über den Nacken.

Das Knarzen wurde von dem gemächlichen Hin-und-her-Schaukeln des Kronleuchters verursacht. Philine hatte dieses Geräusch noch nie zuvor gehört, weil das riesige Monstrum viel zu schwer war, um von selbst in Schwingung zu geraten. Wenn man jedoch eine Henkersschlinge daran befestigte und ein großer Mann sich probeweise am Seil hochzog, geriet selbst der antike Deckenschmuck in Bewegung.

Die Kerle wollten sie aufhängen, wurde ihr voller Grauen bewusst. Offenbar mit seiner Arbeit zufrieden, ging ihr Über-den-Jordan-Helfer zu der von ihrem Großvater eingebauten Bar hinüber. Philine brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sich der Mann nicht mit einem Drink belohnen wollte. Nein, der Scherge suchte sich einen Hocker aus. Einen, von dem aus sich auch eine zierliche Frau wie die „zu Versterbende“ bequem die Schlinge um den Hals legen konnte. Es sollte nach Selbstmord aussehen.

Philine hatte so viel Angst, dass ihr Verstand nicht mehr mitkam. Ihr Denken setzte einfach aus. Stattdessen übernahm wohl so etwas wie Panik die Regie. Statt aber wie eine normale angstgesteuerte Person kopflos die Flucht zu ergreifen, tat sie genau das Gegenteil. Immerhin stellte sie sich ähnlich dämlich an. Ohne auf ihre Deckung zu achten, und mit einem völlig überflüssigen Kampfschrei auf den Lippen, rannte sie auf ihren Häscher zu. Immerhin hatte sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.

Sie musste sich förmlich durch den Saal gebeamt haben. Sie war so schnell, dass ihr Häscher sich gerade noch zu ihr umdrehen konnte, bevor Philine ihm die Saufeder durch die Brust trieb. Die Hausherrin traf den Mann mit solchem Schwung, dass sie selbst über die Bar rutschte und in das Weinregal krachte, während ihr Opfer mehrere Hocker umriss und polternd mit ihnen zu Boden fiel.

Hatte der Mann geschrien? Philine wusste es nicht. Sie war so auf Adrenalin, dass sie weder den Aufprall mitbekam noch sich bewusst vom Boden hochrappelte. Ihre nächste Erinnerung war, wie sie vor dem offenen Waffenschrank ihres Vaters stand und den Kipplauf einer doppelläufigen Nitro Express einrasten ließ. Allerdings war sie viel zu fahrig, um wirklich mitzubekommen, was sie tat. Irgendjemand schrie wie am Spieß – vielleicht sogar sie selbst –, jemand rannte mit schweren Schritten den Korridor entlang. Irgendetwas knallte auf den Boden … Philine war unfähig, die Wirklichkeit zu ordnen.

Als würde sie von jemand anders gesteuert, rannte sie auf die Tür zu. Oder war es umgekehrt? Alles ging so schnell. Kaum zwei Schritte trennten sie noch von dem Eingang, als eine hünenhafte Gestalt in den Saal stürmte. Eine Taschenlampe blendete. Nur ein Schatten. Irgendetwas donnerte ohrenbetäubend, als würde die Welt einstürzen. Ein Pferd schien der jungen Frau gegen die Schulter zu treten. Sie fiel. Alles war nass. Dann …

Nichts mehr.

 

Philine erwachte mit brüllenden Kopfschmerzen. Sobald sie den Schmerz zur Kenntnis nahm, meldete sich auch der Rest ihres Körpers zu Wort. Wie ein Chor, der nur darauf gewartet hatte, dass der lauteste Sänger Publikum anlockte, und dann zu einer Kakofonie von brutalen Ausmaßen ansetzte. Ihr war entsetzlich kalt. Jeder Knochen tat ihr weh. Sie konnte ihre Schulter kaum bewegen, ihre Haut spannte überall, als sei sie ihr über Nacht entwachsen, und ihr Gesicht schien eine einzige Wunde zu sein.

Erst als sie die verklebten Augen so weit aufbekam, dass sie ihre Umgebung wahrnehmen konnte, begriff sie, wo sie sich befand. Sie lag auf dem harten Steinboden des Jagdzimmers! Schlagartig erinnerte sie sich an die gedungenen Mörder und an ihren Kampf. Oder vielmehr an das, an was sich jemand erinnerte, der im Adrenalin-Delirium um sein Leben gekämpft hatte. Erneut übernahm das Adrenalin die Führung. Als hätte ihr Körper nicht das kleinste Problem, sprang sie auf die Füße, rutschte aber sofort in einer bräunlichen, schmierigen Masse aus. Nur mit Glück konnte sie sich am Türrahmen festhalten und blieb auf den Beinen.

Dann erst sah sie die Leiche. Ein bulliger Mann ohne Kopf. Es brauchte zwei weitere Herzschläge, bis Philine begriff, dass das nicht stimmte. Der Kopf hat sich nur in winzige weiße Splitter und rotbraune Schmiere verwandelt, erkannte sie. Die Situation war so unwirklich, dass das Grauen zurücktrat und dem Gefühl wich, einen unfreiwillig komischen Horrorfilm anzusehen.

Der alte Kristallspiegel neben der Tür zeigte ihr seltsam verzerrtes Lächeln. Philine erschrak bis ins Mark. Die junge Adelige im Spiegel war nicht sie. Die albtraumhafte Erscheinung war von oben bis unten mit Blut besudelt. In ihrem Haar klebten Brocken seltsam gräulicher Masse, Glas- und Knochensplitter. Aber das Schlimmste waren ihre Augen. Eine schwer zu beschreibende Form von Wahnsinn schimmerte in ihnen, der ihr Angst vor sich selbst machte.

Als fühlte sich die Frau im Spiegel ertappt, näherte sie sich wieder Philines gefühltem Selbst an. Eine kreidebleiche, zutiefst verstörte junge Frau, die sich gerade eher wie ein Mädchen fühlte. Am ganzen Körper zitternd, atmete sie durch. Was wäre passiert, wenn ich keinen Spiegel gehabt hätte?, fragte sie sich. Hätte ich den Rest meines Lebens in der Zwangsjacke zugebracht?

Irrelevant, meldete sich ihr Verstand zurück. Sie musste die Polizei rufen! Sofort! Es war erlösend, endlich wieder klar denken zu können.

Ihr Handy lag irgendwo im Schlafzimmer. Wenn sie da hochging, würde sie das Blut, und damit die Spuren, überall verteilen. Außerdem funktionierte der Mobilfunk wahrscheinlich noch immer nicht. Das einzige Festnetztelefon in diesem Stockwerk war hinter der Bar.

War es noch intakt? Kam sie da hin, ohne Spuren zu verwischen? Sie ertappte sich bei dem Versuch, logisch zu rechtfertigen, warum sie nicht mal dorthin sehen, geschweige denn gehen konnte. Sie wusste warum: Da drüben lag mit Sicherheit noch eine Leiche … und die konnte sie noch ansehen.

Stell dich nicht so an! Ärgerlich über sich selbst wendete sie den Blick zur Bar hinüber. Tatsächlich konnte die Leiche sie noch ansehen. Die Saufeder hatte den Brustkorb durchschlagen, war aber wohl nicht sofort tödlich gewesen. Der Mann hatte offenbar versucht, aufzustehen, war aber nicht weit gekommen. Zusammengesunken lehnte er an der Wand. Der gebrochene Blick ging Philine durch und durch. Allerdings war der Anblick des Toten nicht das Schlimmste an der Situation.

Philine kannte den Mann. Es war der unangenehmere der beiden Polizisten, die sie nach der Begegnung mit dem Mädchensammler befragt hatten. Oberkommissar Kaltbeisser, fiel es ihr wieder ein.

Erneut drohte ihr Denken zu zerfasern. Reiß dich zusammen, fuhr sie sich selbst an. Den Nervenzusammenbruch kannst du dir nehmen, wenn das hier erledigt ist. Erledigt? Was hieß hier erledigt?

Sie war in ihrem Zuhause von gedungenen Mördern überfallen worden und hatte zwei Menschen getötet. Einer von beiden war auch noch Polizist! Was gab es da zu erledigen?

Aber was war, wenn sie sich auch die Mördergeschichte nur einbildete? Was, wenn Kaltbeisser ihr einen dienstlichen Besuch abgestattet hatte? Vielleicht war er als Personenschützer hier gewesen. Oder um nach ihr zu sehen. Dann hatte sie in ihrem Wahn zwei Polizisten ermordet!

Philine spürte, wie sie zu hyperventilieren begann. Langsam, voller Angst um ihren Verstand, wendete sie den Kopf, um zum Kronleuchter hinüberzusehen. Die noch immer auf sie wartende Henkersschlinge war vielleicht der beruhigendste Anblick ihres ganzen Lebens. Nein. Sie hatte sich das nicht eingebildet. Kaltbeisser war tatsächlich hier gewesen, um sie umzubringen.

Sie begriff, was ihr rationales Ich bereits begriffen hatte: Wahrscheinlich war es die Polizei gewesen, die ihr die Sache mit dem Sprengstoff untergeschoben hatte.

Überhaupt hatte sie all die Fakten, die nicht zueinanderpassten, von der Polizei bekommen. Sie war nicht im Wasser gewesen? Unbekannte Droge? Das Gewölbe gesprengt? Sie wusste buchstäblich nichts, was nach ihrer Flucht und ihrem Erwachen am Rheinufer geschehen war, aus erster Hand.

Ihr Blick zuckte zu der kopflosen Leiche hinüber.

Nein. Der Mann war viel zu bullig, um Kommissar Bein gewesen zu sein. Außerdem hatte er doch gehinkt, oder? Hatte sie den Mädchensammler erschossen? Irrelevant, begriff sie. Sie musste sich entscheiden, was sie jetzt tun sollte.

Wenn Kaltbeisser versucht, dich umzubringen, kannst du der Polizei nicht trauen, sagte sie sich. Aber das stimmte natürlich nicht wirklich. Wenn es eine korrupte Zelle in der Polizei gab, betraf das wohl kaum die gesamte Polizei, sondern nur Kaltbeissers Dienststelle.

Leider hatte Philine keine Ahnung von polizeilichen Organisationsstrukturen.

In Filmen riefen die Helden in solchen Fällen immer das FBI, erinnerte sie sich. Allerdings war das wohl kaum für das Rheinland zuständig … BKA, schoss es ihr durch den Kopf. Das Bundeskriminalamt könnte ihr helfen! Das hatte nichts mit der Kripo des Landeskriminalamts zu tun.

Philine überwand sich, zum Festnetztelefon hinüberzugehen. Freizeichen! Gott sei Dank! Dann begriff sie, dass sie eine Telefonnummer brauchte. Für jemanden, der die letzten fünf oder zehn Jahre nur noch mit dem Handy telefoniert hatte, stellte das ein Problem dar. Keine Nummernsuche, kein Telefonverzeichnis …

Sie staunte, als ihr die Nummer der Telefonauskunft wieder einfiel. Gab es die überhaupt noch?

Philine bekam ein Freizeichen. Drei- … sechs- … achtmal klingelte es. Philine wollte schon auflegen, als sich endlich eine Männerstimme meldete.

„Auskunft.“

„Ja! Ich bin so froh, dass ich Sie erreiche!“, brabbelte Philine in einer Mischung aus Heulen und Aufregung. „Ich brauche die Nummer des BKA.“

„Ich verbinde“, sagte ihr Gegenüber emotionslos. Für einen Moment war nichts zu hören. Sie fürchtete schon, ihre Verbindung zur Außenwelt wieder verloren zu haben.

„BKA“, zerstreute eine barsche Männerstimme ihre Befürchtungen.

Es war, als würde ein Damm brechen. Philine begann laut, ohne Punkt und Komma, auf den Mann einzureden. Sie stopfte dem Beamten die Geschehnisse der letzten Nacht wie einen riesigen, verworrenen Brocken aus Hysterie und Grauen ins Ohr.

„Frau von Montenbrück?“, unterbrach der Polizist irgendwann den Redestrom. Es war wohl schon das dritte Mal, dass er zu Wort zu kommen versuchte. Diesmal war er laut genug gewesen, um zu ihr durchzudringen.

„Ja?“

„Wir sind unterwegs. Bleiben Sie, wo Sie sind. Tun Sie nichts. Fassen Sie nichts an. Wir sind gleich bei Ihnen.“

„Okay.“ Die Verbindung zur Außenwelt wurde unterbrochen. Aber das machte nichts. Hilfe war unterwegs. Es war so unglaublich tröstlich, nicht mehr allein vor diesem Wahnsinn zu stehen. Alles würde gut werden.

Leider verdarb ihr langsam wieder erwachender Verstand ihr den Spaß. Gleich?, fragte sie sich. Was bedeutete in diesem Fall gleich? Hatte das BKA einen eigenen Kriminaldauerdienst, der im gesamten Bundesgebiet aktiv war? Oder schickte man ihr jetzt womöglich jemanden vom LKA? Philine lief es eiskalt den Rücken hinunter. Nein, das musste sie doch klar genug gemacht haben.

Und was bedeutete bleiben, wo sie war? Selbst wenn sie nicht in einer Burg wohnen würde, hätte der Beamte sie doch auffordern müssen, ihm die Tür zu öffnen …

Du denkst zu viel darüber nach, sagte sie sich. Bestimmt glaubt er, wie überall, einfach klingeln zu können.

Ja, das war es wohl. Er konnte ja nicht wissen, dass auch die Klingel und der Öffner am Tor Teil des defekten Sicherheitssystems waren. Sie konnte kaum glauben, hier, im Horrorzimmer, überhaupt darüber nachdenken zu können.

Nervös fuhr sie sich durch die verklebten Haare. Mehrere feine Glassplitter blieben an ihren Fingern kleben. Sie zwang sich, das unangenehme Gefühl und die undefinierbaren weichen Brocken auf ihrem Kopf nicht zu nah in ihren Fokus rutschen zu lassen. Sie musste Ruhe bewahren.

Philine wusste nur nicht, wie lange sie das konnte. Die Hysterie nagte an ihrer Seele. Sie ertrug den süßlichen Geruch und den Anblick der Leichen nicht mehr.

Und ihr war so schrecklich kalt.

Zitternd setzte sie sich in Richtung Tür in Bewegung. Der Polizist hatte gesagt, dass sie das Zimmer nicht verlassen sollte, aber sie musste doch sicherstellen, dass die Beamten hereinkommen konnten, rechtfertigte sie ihren Entschluss. Die Mörder sind auch hereingekommen. Bestimmt steht das Tor offen, widersprach eine innere Stimme. Ja, aber ob die Polizei den Weg zu ihr herauf finden würde?

Verzweifelt nach einer Rechtfertigung suchend, warf Philine einen Blick aus dem Fenster. Zu ihrem Erstaunen sah sie zwei Männer im Anzug über den Hof gehen. Die Polizei! Endlich!

Die Erleichterung war ebenso überbordend, wie die darauf folgende Ernüchterung niederschmetternd war.

Seit dem Anruf waren nicht mal fünf Minuten vergangen. Aus Erfahrung wusste sie, dass sogar ein Krankenwagen fast eine Viertelstunde brauchte, bis er hier war. Das BKA saß aber bestimmt nicht in einer Alarmzentrale irgendwo herum, um dann mit Blaulicht zum Einsatz zu fahren. Und das BKA hätte wohl einfliegen müssen. Saßen die nicht in Wiesbaden und Bonn? Zudem schienen die beiden Männer exakt zu wissen, wo sie hinmussten. Zielstrebig passierten sie zwei weitere Türen, nachdem sie auf dem Weg hierher an einem halben Dutzend weiterer Zugänge vorbeigekommen sein mussten.

Philine fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

Warum war eigentlich das Festnetztelefon nicht abgestellt?, fragte sie sich plötzlich. Sie war zwar keine Fachfrau, aber eine Landleitung zu sabotieren war im Vergleich zum Abschalten des Mobilfunks sicherlich banal.

Ihre Rettungsgeschichte fiel wie ein Kartenhaus zusammen. Die Auskunft meldete sich sicherlich nicht mit Auskunft und fragte nach, ob man die Nummer haben oder direkt verbunden werden wollte. Und das BKA hatte bestimmt eine Begrüßungsformel, die über drei Buchstaben hinausging. Zum Beispiel enthielt sie wahrscheinlich den Namen der Person, die den Anruf entgegennahm.

Das Szenario passte eher zu Komplizen, die in der Nähe mit dem Fluchtwagen auf die Mörder warteten. Techniker vielleicht, die die Verbindung nach außen gekappt hatten.

Aber … Es war mittlerweile hell. Wie lange hatten die da draußen gewartet? Wenn es nur darum gegangen wäre, sie umzubringen, hätten die Männer schon lange fliehen oder hereinkommen müssen. Philine konnte sich keine andere Erklärung zusammenreimen, als dass Kaltbeisser beabsichtigt hatte, nach dem Mord nach etwas zu suchen. Aber wonach?

Irrelevant, stellte sie erneut fest. Du verschwendest Zeit. Im Augenblick ging es nur darum, diesen Tag zu überleben. Auf einer neuen Welle Adrenalin reitend, hob sie die Schrotflinte ihres Vaters auf, entfernte die Hülsen der verschossenen Munition und lud nach. Dann verstaute sie den kümmerlichen Rest von vier weiteren Patronen in ihrem Bademantel und rannte aus dem Zimmer. Hoffentlich waren die Männer wirklich nur Techniker. Vielleicht waren sie ja nicht mal bewaffnet, wagte Philine zu hoffen.

Hinter einem Torbogen, der den repräsentativen Korridor in zwei Bereiche teilte, fand sie Deckung. Der Eingang zum Jagdzimmer war vielleicht fünf Schritte entfernt, der Treppenaufgang etwa dreimal so weit.

Philine war kaum in Position, als schwere Schritte und Keuchen hörbar wurden. Die Erkenntnis, dass die Männer offenbar nicht besonders gut in Form waren, ließ die Hände der Hausherrin ruhiger werden.

„Du überlässt mir das Reden“, war undeutlich zu hören.

„Wie … has … efds …“, kam es verzerrt zurück. Aber Philine hatte ohnehin nicht die Ruhe, das Gespräch ihrer Häscher zu analysieren. Ihr Denken war vollkommen darauf fokussiert, den richtigen Moment für ihren Auftritt abzupassen.

Schon kam der Erste der beiden Anzugträger in Sicht. Sein schmales Gesicht wurde von einem penibel gepflegten Bart geziert, als wolle er seine fliehende Haarlinie und den ungesund bleichen Teint kompensieren. Die Kombination aus tonnenförmiger Brust und spindeldürren Beinen ließ ihn völlig verbaut erscheinen. Ein dürrer Mann, der ein Fass unter dem Hemd trug. Viel beunruhigender war jedoch die Waffe, die sich deutlich unter dem Jackett abzeichnete.

Dem Dürren folgte ein kleiner Kerl mit Dutzendgesicht und einem deutlich schäbigeren Anzug. Er schnaufte wie eine Dampflok, als er seinem Kumpan den Flur hinunterfolgte. Er hatte das Jackett ausgezogen, sodass man seine im Schulterhalfter steckende Waffe kaum übersehen konnte.

Philine war so sehr auf die Waffe fixiert, dass sie kaum noch auf dessen Besitzer achtete. Er war stehen geblieben und starrte auf den Boden. Als die junge Frau es ihm gleichtat, schien ihr Herz für einen Moment auszusetzen. Aus dem Jagdzimmer führte eine Spur direkt bis zu ihrem Versteck herüber. Die rötlich braunen Abdrücke ihrer nackten Füße waren wie gemalt. Als wären sie Teil irgendeines absurden Cartoons. Der Blick des Dürren folgte der Spur, bis er sie direkt ansah. Es war wie einer jener Träume, in denen es kein Entrinnen gab.

Philine handelte, ohne nachzudenken. Mit der Flinte im Anschlag rannte sie auf die überraschten Männer zu.

„Hände hoch!“, brüllte sie, als wäre das hier ein Western.

Die Reaktionen fielen jedoch nicht so aus, wie das im Film vorgesehen war.

„Immer mit der Ruhe, Frau von Montenbrück“, bat der Dürre, während er eine Hand hob und mit der anderen eiskalt nach der Waffe griff. Dutzendgesicht drehte sich hingegen um und versuchte offenbar, davonzulaufen.

Beides begriff Philine erst im Nachhinein. Sie war zu sehr darauf fokussiert, beim geringsten Anzeichen von Widerstand den Abzug durchzuziehen. Und in ihrer vom Tunnelblick beherrschten Welt zählte derzeit alles, was nicht Händeheben war, als Widerstand.

Die Waffe brüllte dem Dürren eine Ladung groben Schrots in die Brust und brach Philine beinahe die Schulter. Die alte Munition erzeugte dabei eine Stichflamme, die ihr Opfer fast erreichte. Der Mann fiel rückwärts, als sei er umgeblasen worden, und riss die Rüstung von Herbert, dem Starken, mit sich zu Boden.

Als hätte die Flinte ein blutdürstiges Eigenleben, ruckte sie zum nächsten Ziel herum und spie dem zweiten Häscher eine Schrotladung in den Rücken. War das Mord?, durchzuckte es sie. Der Kerl war weggelaufen – da zählte das wohl nicht mehr als Notwehr.

Fast war sie erleichtert, als die Eindringlinge nicht einfach liegen blieben. Dutzendgesicht schrie auf, schlug der Länge nach hin und versuchte, wimmernd davonzukriechen. Der Dürre erwies sich tatsächlich als dürr. Unter seinem zerfetzten Hemd war eine Schutzweste sichtbar geworden, die das Schrot offenbar zum größten Teil gestoppt hatte. Nur ein einziges Korn hatte ihn getroffen. Er blutete stark aus einem Loch in der Wange.

Sie war also noch keine Mörderin geworden und konnte endlich Antworten bekommen. Sie musste die Männer nur zum Reden bringen. Philine staunte darüber, wie nüchtern ihr Verstand arbeitete. Während der eine Angreifer weiter davonkroch und eine Blutspur hinter sich herzog, rang der Dürre sichtlich geschockt nach Atem. Der ideale Zeitpunkt, Forderungen zu stellen.

Wer auch immer diese Gedanken dachte, schien jedoch keine Gewalt über ihren Körper zu haben. Statt die Pause zum Reden zu benutzen, kippte sie unbeeindruckt den Lauf nach unten und lud die Doppelläufige nach. Wie eine Maschine. Was hatte sie vor? Wollte sie die Männer einfach erschießen?

Den Dürren schienen ähnliche Befürchtungen umzutreiben. Ehe die Hausherrin die Flinte einrasten lassen konnte, warf er den neben seinem Kopf liegenden Rüstungshandschuh nach der Hausherrin und griff nach seiner Waffe.

Philine riss reflexartig die Flinte hoch, konnte jedoch nicht vermeiden, an der Schulter getroffen zu werden. Der schwere Handschuh traf sie so hart, dass ihr die Taubheit wie ein elektrischer Schlag durch den Arm raste. Der Griff glitt ihr aus den kraftlosen Fingern, sodass sie die Flinte nur noch am Lauf hielt. Gleichzeitig riss der Dürre die Pistole aus seinem Halfter. Wie in Zeitlupe sah Philine die Waffe hochkommen. Sah den Tod nach ihr greifen … Sie fühlte sich wie gelähmt. Aber ihr Körper handelte, als hätte er mit ihrem viel zu langsamen Verstand nichts zu tun.

Ansatzlos sprang sie einen Schritt nach vorn und schlug mit der Flinte nach dem Dürren. Der Kerl riss die Hand mit der Waffe hoch, um sein Gesicht zu schützen, konnte einem schmerzhaften Treffer aber nicht entgehen. Die Flinte traf seinen Mittelhandknochen und schlug ihm die Pistole aus der Hand. Leider schleuderte der Treffer der aufgeklappten Doppelläufigen auch die beiden Patronen aus den Kammern. Philine und ihr Gegner waren also beide entwaffnet.

Leider war der Dürre eindeutig kampferfahrener und stärker. Unbeeindruckt riss er Philine die Flinte aus der Hand. Erneut handelte ihr Körper, während ihr Denken versteinerte. Sie trat dem Mann mit aller Kraft, die ihre adrenalingefluteten Muskeln besaßen, zwischen die Beine. Der Schmerz musste so überwältigend sein, dass der Dürre nicht mal schreien konnte. Mit verdrehten Augen bäumte er sich auf. Philine – oder vielmehr der seltsame Kriegergeist, der ihren Körper steuerte – nutzte die Gelegenheit, ihm die Flinte wieder aus den Händen zu reißen. Gleich darauf rammte sie ihm den Schaft mit aller Kraft ins Gesicht. Das Geräusch der brechenden Nase ging der jungen Adeligen durch Mark und Bein. Der Dürre legte sich lang, als sei er von Philines G-Modell überfahren worden. Ihrem Körper reichte das aber noch lange nicht. Immer wieder gab sie dem Mann den Schaft zu fressen, bis sein Gesicht nicht mehr als solches zu erkennen war.

Schwer atmend stand sie über der Leiche. Sie fühlte praktisch nichts.

Doch.

Ihr Hals war rau. Sie begriff, dass sie die ganze Zeit geschrien hatte.

Zu keinem klaren Gedanken fähig, sah sie zu, wie ihre Hände die letzten beiden Patronen aus ihrem Bademantel nahmen und die verschmierte Doppelläufige luden. Dann folgte sie der Blutspur, die zur Treppe hinüberführte.

Dutzendgesicht hatte es fast bis ins nächste Stockwerk geschafft. Wimmernd kroch er weiter vorwärts, aber der Blutverlust hatte ihn sichtlich geschwächt. Der Mann war halb tot. Philine hob die Waffe und hätte beinahe abgedrückt. Nein, nicht einfach abgedrückt. Eher, als sei es die natürlichste Sache der Welt, einen Hilflosen zu exekutieren.

„Bitte …“, röchelte der Kerl plötzlich. „Krankenhaus …“

Ins Krankenhaus wollte der Mann? Diese Männer kamen zu viert in ihr Haus, um sie, eine einzelne Frau, heimtückisch umzubringen, und jetzt sollte sie dem Kerl auch noch das Leben retten?

Ja, antwortete sie sich selbst. Zivilisierte Menschen machten das so. Sie riefen die Polizei und ließen die Behörden das Ganze erledigen.

Na klar. Und die Behörden glaubten natürlich auch nicht den Polizisten, sondern ihr, der Verrückten, die unter Denkmalschutz stehende Ruinen sprengte und sich idiotische Geschichten ausdachte. Wenn sie jetzt die Polizei rief – egal, welche –, wanderte sie entweder lebenslang in den Knast oder in die Klapsmühle.

„Wer seid ihr?“, fragte Philine. Ihre Stimme klang so rau, dass sie kaum zu erkennen war.

„Olaf Meister“, röchelte ihr Gefangener. „BKA.“

Philine glaubte für einen Moment, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Männer waren wirklich vom BKA?

Quatsch, wies eine innere Stimme sie zurecht. Die Eindringlinge hatten offensichtlich versucht, sie umzubringen … Es sei denn, sie war verrückt und bildete sich das Ganze nur ein.

„QUATSCH!“, wiederholte Philine den Redebeitrag ihrer inneren Stimme. Allerdings brüllte sie das Wort so laut, dass es kaum zu verstehen war, und rammte dem Schwerverletzten beinahe die Doppelläufige in den Rachen. Es war seltsam, die Hysterie in der eigenen Stimme zu hören, ohne sich hysterisch zu fühlen.

Der Ausbruch schien den Halbbewusstlosen wieder etwas wacher zu machen. „Wir sind … Es ist nicht meine Schuld … Bitte … Krankenwagen …“ Der weinerliche Tonfall ließ Philine einen seltsamen Ekel empfinden. Das Gefühl war so überwältigend, dass sie beinahe abgedrückt hätte.

„Wer hat euch geschickt?“, fauchte sie den Schwerverletzten an.

„Das darf ich nicht. Bitte …“ Das Gejammer wurden von einem lauten Schmerzensschrei unterbrochen. Nur mit Verzögerung begriff Philine, dass sie dem Mann zwischen die Beine getreten hatte.

„WER?“, schrie sie ihn an.

„Krankenwagen …“ Die Augen des Mannes waren glasig geworden, als würde er durch sie hindurchsehen. Dann begriff sie, dass er tot war.

 

Du stehst unter Schock, wiederholte die innere Stimme, die sich heute Nacht zu einem Plappermäulchen entwickelt hatte. Plappermäulchen. Philine grinste und hoffte im gleichen Moment, dass das nicht ein Zeichen von Wahnsinn war. Aber sie stand nicht nur unter Schock, sondern auch seit mindestens einer halben Stunde unter der Dusche. Es wurde Zeit, sich zusammenzureißen.

Sie hüllte sich in den Bademantel ihrer Schwester und ging in die Küche hinunter, um sich einen Kaffee zu kochen. Ja, wahrscheinlich blieb ihr nicht viel Zeit zum Handeln – die Männer wurden bestimmt bereits vermisst. Aber noch wichtiger als Handeln war, intelligent zu handeln. Sie musste nachdenken. Es ging um ihr Leben, ihre Freiheit und vielleicht auch um das Leben von Jo.

Als die Kaffeemühle zu röhren begann, wurde ihr bewusst, dass es gar nicht viel zu überlegen gab. Ihr blieben im Prinzip nur zwei Optionen: Entweder sie benahm sich wie eine anständige Staatsbürgerin und rief die Polizei – oder eben nicht.

Im ersten Fall würde sie es wahrscheinlich mit einem ebenfalls korrupten Polizisten zu tun bekommen. Vielleicht sogar mit Kommissar Bein. Und selbst wenn nicht. Welcher rational denkende Polizist würde bei den vorliegenden Beweisen ihrer Version der Geschehnisse Glauben schenken? Würde ein Polizist wirklich glauben, dass sich Kollegen von zwei verschiedenen Polizeibehörden zu einem nächtlichen Mord in der Burg verabredet hatten? Oder würde man eher glauben, dass die Verrückte, die sich schon den Mädchensammler eingebildet hatte, im Wahn vier Polizisten umgebracht hatte?

Himmel! Sie war ja selbst verunsichert!

Natürlich hatte sie Beweise: Was hatten die Männer hier mitten in der Nacht zu suchen? Warum war ihre Überwachungsanlage und Telefonverbindung sabotiert? Das Henkersseil …

Andererseits konnte sie das Seil selbst dort befestigt haben. Sie kannte sich auch zu wenig aus, um zu wissen, ob man die Sabotage der Technik nachweisen konnte. Und wahrscheinlich würde ein unabhängiger Ermittler es auch plausibler finden, dass sie die Männer hergelockt hatte, als dass die Kollegen einem Nebenjob als gedungene Mörder nachgegangen waren. Philine würde im Knast oder in der Klapsmühle landen und wahrscheinlich „Selbstmord begehen“. Jo würde auch noch ihren letzten Halt, ihre große Schwester, verlieren und einen Fremden als Vormund bekommen.

Philine hatte sich ihr Leben lang an die Gesetze gehalten und immer versucht, gradlinig durchs Leben zu kommen, aber das war keine Option. Blieb nur noch die zweite Möglichkeit: Sie musste das Ganze vertuschen.

Entschlossen leerte Philine den Kaffeebecher und stand auf. Sie fühlte sich beinahe wieder wie ihr altes, rationales Selbst.

Fünf Minuten später war sie in Blaumann und Arbeitsschuhen zum Haupttor unterwegs, um ihren Tatort zu sichern. Schließlich wäre es schon etwas unerfreulich, wenn Jo, Lieferanten oder sonst wer die Burgherrin beim Wegschaffen von Leichen überraschten. Leider hatte sie auch die Putzkolonne abbestellen müssen. So verführerisch es klang, jemanden dafür zu bezahlen, die Sauerei im und vor dem Jagdzimmer zu entfernen, so sicher würde das unbeantwortbare Fragen nach sich ziehen.

Wie erwartet stand das Tor offen. Wenn man darüber nachdachte, war es wohl auch nicht wirklich ein Hindernis gewesen. Funksteuerungen waren nun mal nicht sicher. Warum hatte Philine es nicht einfach, wie in alten Zeiten, über Nacht mit einem Balken gesichert? Daran hätten sich die Hightech-Einbrecher womöglich schon deshalb die Zähne ausgebissen, weil sie nicht damit gerechnet hätten.

Wenige Minuten später stellte Philine fest, dass ihre eigene Expertise eher zu der ihrer mittelalterlichen Behausung passte. Sie war nämlich zu dämlich, um das Tor zu schließen. Sie begriff natürlich, dass die elektronischen Antriebe blockierten, hatte aber keine Ahnung, was sie dagegen tun konnte. Wahrscheinlich gab es irgendeine manuelle Möglichkeit. Aber wo?

Sie war so konzentriert bei der Arbeit, dass sie das Auto erst bemerkte, als es knirschend auf dem kiesbedeckten Platz unmittelbar vor dem Tor ausrollte.

Philine zuckte zusammen und drehte sich viel zu hastig um. Sicher sah man ihr an, wie sehr sie sich ertappt fühlte. Als sie den Passat von Kommissar Bein erkannte, stieg ihr auch noch das Blut in den Kopf. Sie hätte sich genauso gut ein Schild mit der Aufschrift SCHULDIG über den Kopf halten können.

Der Beamte stieg jedoch mit seinem üblichen Lächeln aus dem Fahrzeug. Wenn er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Guten Morgen, Frau von Montenbrück“, begrüßte er sie freundlich.

„Guten Morgen.“ Philine rasten die Gedanken durch den Kopf. Sie musste den Mann irgendwie abwimmeln. Als er näher an sie herantrat, schien die Situation immer bedrohlicher zu werden. Womöglich wollte Bein ihr nicht wie üblich auf die Nerven gehen, sondern sie unter die Erde bringen … Sie fühlte, wie ihr das eben noch in den Kopf geschossene Blut aus dem Gesicht wich.

„Machen Sie sich keine Gedanken“, bat der Polizist schmunzelnd. „Sie sehen ganz reizend aus.“

Philine brauchte mehrere Herzschläge, bis sie begriff, dass der Beamte ihr seltsames Benehmen auf ihren Aufzug schob. Tatsächlich war sie es nicht gewöhnt, Gäste in Blaumann und Gummistiefeln zu empfangen. Aber hielt er sie wirklich für so eitel, dass sie sich deshalb wie ein beim Knutschen erwischter Backfisch benehmen würde?

„Hätten Sie vielleicht einen Kaffee für einen durstigen Polizisten?“, überspielte Bein ihr verblüfftes Schweigen.

„Das kommt gerade ungelegen“, begann Philine. Sie sprach extra langsam, um mehr Zeit für eine passende Ausrede zu gewinnen. „Wir sprühen den Hof mit Unkrautvernichtungsmitteln ein. Ohne Schutzkleidung ist das nicht ungefährlich.“

Beins Lächeln wurde etwas gezwungener. Er glaubte ihr nicht. Natürlich nicht, musste sie zugeben. Er konnte ja in den Hof hineinsehen. Keine Spur von Unkraut, keine Spur von irgendwelchen Sprühvorrichtungen und auch keine Spur von einer Atemschutzmaske.

Dann fiel sein Blick auch noch auf ihre Hosentasche. Philine sah nicht hin, aber ihr war klar, warum er so überrascht aussah. Sie hatte vorsorglich die Pistole eingesteckt, die sie der Tonnenbrust aus der Hand geschlagen hatte. Zumindest zu dem Zeitpunkt war ihr das als eine gute Idee erschienen. Allerdings musste sich die schwere Waffe überdeutlich abzeichnen.

Nach einem Moment unangenehmer Stille warf der Beamte einen kurzen Blick die Auffahrt hinunter und machte einen vorsichtigen Schritt zurück.

Die seltsame Reaktion ließ bei Philine alle Alarmglocken klingeln. Was hatte der Blick zu bedeuten? War er nicht allein? Oder wollte er sichergehen, dass es im Moment keine Zeugen gab?

„Ich will sie auch nicht lange stören“, versprach Bein deutlich ernüchtert. „Ich vermisse meinen Partner Oberkommissar Kaltbeisser. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen?“

„Wie kommen Sie darauf, dass er hier ist?“ Philine hätte sich ohrfeigen können, aber sie spürte nur zu genau, wie ihr das Blut wieder in den Kopf schoss. Sie war eine grauenvoll schlechte Lügnerin mit einem furchtbar lästigen Gewissen.

Beins Blick wurde kühler. „Sein Auto steht auf Ihrer Zufahrt. Wenn Sie einen Schritt herauskommen, können Sie es sehen.“

„Das ist ja merkwürdig. Ich habe ihn nicht getroffen“, versicherte sie, ohne auch nur daran zu denken, herauszukommen. Dabei versuchte sie, so unschuldig wie möglich auszusehen. Wäre sie nackt gewesen, hätte sie als Streichholz zum Karneval gehen können.

„Möglicherweise ist er unbemerkt hereingekommen und hat sich verlaufen.“ Beins Lächeln war jetzt nicht mehr wächsern, sondern geradezu feindselig. „Vielleicht sollte ich suchen helfen. Nicht dass ihm noch etwas passiert, wenn Sie das Pflanzengift sprühen.“

„Keine Sorge, in Innenräumen ist er außer Gefahr“, versicherte Philine. „Und hier draußen würde ich ihn ja sehen. Der taucht bestimmt wieder auf.“

„Hat er Sie womöglich gestern Abend besucht und das Auto stehen lassen?“

„Nein“, wiederholte die Hausherrin. „Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als er in meinen Smart eingestiegen ist.“ Nach einem Moment lastender Stille beeilte sie sich hinzuzufügen: „Danke noch mal dafür. Meine Werkstatt hat mir schon geschrieben, dass ich den Wagen abholen kann.“

Wieder ein Moment unangenehmen Schweigens.

„Sind Sie sicher?“, fragte er. Es klang wie eine Drohung.

„Bin ich. Danke.“ Philine bedankte sich ständig, wenn sie nervös war. Wieder so eine Schwäche.

Der Beamte warf einen kurzen Blick auf ihre Hosentasche, um ihr danach wieder in die Augen zu sehen.

„Wenn Sie sich doch an etwas erinnern. Oder es sich anders überlegen …“

„Habe ich Ihre Karte. Vielen Dank.“

Nach einem weiteren durchdringenden Blick wandte sich Bein um und ging langsam zu seinem Wagen zurück. Als könne er dadurch doch noch etwas erfahren, ließ er den Blick über die Mauern schweifen, aber die Mauern der von Montenbrücks waren im Gegensatz zur Hausherrin undurchschaubar.

Philine erwartete beinahe, dass er sich in alter Colombo-Manier noch einmal umdrehte und sie mit einer letzten Frage doch noch überführte. Aber dann stieg der Mann endlich ein, wendete den Wagen und fuhr mit missmutigem Blick die Zufahrt hinunter.

Als er außer Sicht war, schien endlich wieder Luft in die Lungen der Gräfin zu passen. Dabei hatte sie keinen Grund zum Aufatmen. Bein würde garantiert sofort zum Staatsanwalt laufen, um einen Durchsuchungsbefehl zu beantragen. Und das würde er unabhängig davon tun, ob er mit drin hing oder nicht. Im ersten Fall würde er Philine aus dem Verkehr ziehen, im zweiten seine Pflicht erfüllen. Sie hatte absolut keine Zeit zu verlieren. Spätestens jetzt würde ihr auch niemand mehr glauben. Ein Beamter, der zu seinem Nebenjob als Killer mit dem eigenen Auto fuhr?

Philine ließ das Tor einfach offen stehen, holte die von den Restaurierungsarbeiten im letzten Jahr übrig gebliebenen Bauplanen aus dem Schuppen und lief so schnell, wie sie den schweren Kunststoff die Stufen hinaufwuchten konnte, zum Tatort.

Die Hektik machte das Wegschaffen der Leichen auf seltsame Weise sogar einfacher. Keine Zeit für Ekel, Zweifel oder Pietät. Zudem schloss die gebotene Eile auch den konventionellen Weg aus. Statt die Männer also ordentlich zu verpacken und Stufe für Stufe nach unten zu befördern, rollte sie die Leichen in ihre Planen, verschnürte sie, zerrte sie zum Fenster und warf sie aus dem dritten Stock in die Pferdekoppel hinunter. Die Angst vor dem Entdecktwerden peitschte ihren Adrenalinspiegel so hoch, dass sie über die eigene Kraft nur staunen konnte.

Kaum waren die Leichen über die Brüstung gehievt, lief Philine in die Garage hinunter und startete das Quad, mit dem ihr Vater während seiner Jagdausflüge unterwegs gewesen war. Im Geist gratulierte sie sich dazu, Jo erlaubt zu haben, mit dem bulligen Mobil über ihr Grundstück zu brettern. Ohne Wartung wäre das Ding wohl sonst nicht mehr angesprungen. Sie kuppelte Vaters alten Anhänger ein und fuhr so eilig aus der Garage, dass sie einen langen, hässlichen Kratzer in der frisch renovierten Wand hinterließ.

Selten war ihr etwas so egal gewesen.

Als sie die Leichen erreichte, wurde ihre Arbeit fast zur Routine. Wie sie es von ihrem Vater mit frisch erlegtem Wild gelernt hatte, schlug sie den Fleischerhaken in ihre Beute und ließ sie von der eingebauten Winde auf den Anhänger ziehen. Was für die kleine Philine ein wirklich traumatischer Vorgang gewesen war, berührte die große Philine nicht mehr. Vielleicht weil die Winde keine unschuldigen Hirsche und Wildschweine, sondern in undurchsichtige Folien verpackte Möchtegernmörder am Haken hatte. Womöglich stand die Adelige auch einfach zu sehr neben sich, um die eigenen Gefühle zu registrieren.

Während sie mit ihrer Ladung zur Außenburg hinunterrumpelte, wurden in der Ferne Sirenen hörbar. Die Polizei! Sie kamen, um die Hausdurchsuchung durchzuführen! Philine begann so sehr zu zittern, dass sie beinahe die Kontrolle über das instabile Fahrzeug verloren hätte. Erst nach mehreren tiefen Atemzügen war ihr Verstand in der Lage, sie zu beruhigen.

Die Polizei kam mit Sicherheit nicht mit Blaulicht zu einer Hausdurchsuchung. Und so schnell mahlten die Mühlen der Justiz auch nicht … hoffte sie. Tatsächlich wurden die Martinshörner kurz darauf leiser, bis sie vollends mit den weit entfernten Verkehrsgeräuschen verschmolzen.

Endlich erreichte Philine den Rand ihres Privatwaldes. Ungeschickt rangierte sie den Anhänger vor das „Feuerchen“. Ein kleines Krematorium, das Philines Vater erbaut hatte, um Tierkadaver und deren Reste zu verbrennen. Morbiderweise war es einem historischen Vorbild aus Frankreich nachempfunden. Inklusive Symbolen und Inschriften. Ihrem Vater hatte es so sehr gefallen, dass er hier verbrannt werden wollte. Leider hatte die Bürokratie die Erfüllung seines Wunsches unmöglich gemacht. Philine fand es ironisch, dass ausgerechnet die Männer, die Vaters Lieblingstochter töten wollten, seinen Wunsch erfüllt bekommen sollten. Wie stillos. Weise Leute ließen doch angeblich die Leichen ihrer Feinde im Fluss an sich vorbeitreiben.

Philine begann lauthals loszulachen. Dabei fand sie den Witz gar nicht lustig. Es klang auch nicht wie ihr Gelächter, was da aus ihrem Hals kam und ihren Körper schüttelte. Etwas Fremdes schien sie zum Ausdruck der eigenen Heiterkeit zu benutzen.

Nein, nicht Heiterkeit. Vergnügen. Etwas Dunkles in ihr genoss es, hier zu sein. Fühlte sich mächtig, weil sie vier Männer getötet hatte und sich nun den Regeln, an die sie sich ihr Leben lang gehalten hatte, widersetzte.

Philine fürchtete um ihren Verstand. Für einen Moment wollte sie in den Rückspiegel des Quads sehen, aber sie wagte es nicht. Sie ahnte, dass sie wieder die Fremde erblicken könnte, die ihr aus dem Spiegel im Jagdzimmer in die Augen geschaut hatte.

Gerade wollte sie sich für diese Feigheit schämen, als sie bemerkte, dass sie bereits die erste Leiche vom Anhänger zerrte. Wie schon beim Kampf gegen ihre Häscher schien ihr Körper ein Eigenleben zu führen.

Vielleicht … vielleicht brauchte sie diese andere Philine. Um nicht ganz allein zu sein. Nur so lange, bis all das ausgestanden war … Nur so lange, dass sie nicht den Verstand verlor.

 

Cyndi Lauper riss Philine aus tiefstem Schlaf. Desorientiert brauchte die Gräfin einen Augenblick, um zu realisieren, dass Cyndi nicht persönlich neben ihr stand. Es war nur ihr Handy, das Girls just wanna have fun zum Besten gab. Den Klingelton, den Philine ihrer kleinen Schwester zugeordnet hatte.

Wieso aus dem Schlaf? Sie hatte sich doch nur umziehen wollen, nachdem sie stundenlang geputzt hatte. Und … ihr Handy funktionierte?

Verwirrt nahm Philine den Anruf entgegen. „Ja?“

„Musstest du erst noch ein paar Kartoffeln für das Abendessen erlegen, bevor du ans Telefon gehen konntest?“, fragte Jo hörbar vergnügt.

„So ähnlich.“

„Und was ist aus Sie sprechen mit Philine von Montenbrück, guten Tag geworden?“ Dabei ließ sie die Philine-Parodie mit näselnder Stimme sprechen.

Es ging Jo gut. Ihre Welt war vollkommen in Ordnung. Philine hätte vor Glück in Tränen ausbrechen können.

„Ich habe meinen Begrüßungsspruch an Hollywood verkauft. Die machen einen Film daraus“, blödelte sie mit.

Jo giggelte in ihrer unnachahmlichen Art. So wie früher. Seit sie neben ihr im Krankenhaus aufgewacht war, waren sich die Schwestern wieder viel näher gekommen.

„Ich würde ja gerne mit dir anstoßen“, beteuerte Jo. „Aber Katja und ich haben Kinokarten …“

„Du willst heute wieder bei ihr übernachten?“

„Ja.“

Eigentlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Jo nur zweimal die Woche bei ihrer Freundin schlief. Aber heute war es Philine ganz recht, wenn Jo nicht hier war. Vor allem freute sie sich, dass Jo von sich aus um Erlaubnis bat. Kein Du bist nicht meine Mutter oder Du hast mir gar nichts zu sagen.

„Dann wünsche ich euch viel Spaß“, sagte Philine aufrichtig. „Die erbeuteten Kartoffeln musst du dann morgen essen.“

„Nein, nein. Morgen schlafe ich ja regulär bei Katja.“ Jo klang so fröhlich, dass es Philines Herz erwärmte.

„Dann lasse ich sie einfach im Ofen, bis sie verbrannt sind“, drohte die ältere Gräfin.

„Sadistin!“

„Ich … Ich hab dich lieb, Jo.“ Der Satz kam Philine einfach über die Lippen und klang unangemessen ernst. Aber er hatte rausgemusst.

„Ich dich auch … bist du okay?“ Jo klang besorgt. „Ich kann auch nach Hause kommen. Wirklich kein Problem.“

„Ach was. Ich denke im Moment nur über vieles nach. Es tut mir gerade ganz gut, allein zu sein“, versicherte Philine.

„Okay. Aber wenn du mich brauchst, musst du nur Bescheid sagen, ja?“

„Mach ich. Versprochen. Grüß Katja von mir.“

Als die Verbindung beendet war, wich das warme Gefühl in ihrem Bauch nach und nach Verwirrung. Sie hatte splitterfasernackt auf ihrer Tagesdecke geschlafen, ohne sich bewusst hingelegt zu haben. Doch das ließ sich erklären: Nach fast sechs Stunden Horrorputzdienst hatte sie ihren Blaumann und ihre Unterwäsche in eine Mülltüte gesteckt und unten stehen lassen. Dann war sie in ihr Schlafzimmer gegangen, um sich wieder anzuziehen. Offenbar war sie so fertig gewesen, dass sie einfach eingeschlafen war.

Aber das Telefon funktionierte wieder. War die Telekom in der Burg gewesen, um die Funkanlage zu reparieren? Oder war womöglich nur ihr Handy vom Netz getrennt gewesen?

Die Diode ihrer Überwachungsanlage leuchtete jedoch noch immer nicht. Sogleich versuchte Philine, sich über die App in das System einzuloggen – was kein Problem war. Laut App hatte sie heute Nacht um kurz vor elf das Tor geöffnet und danach die gesamte Anlage deaktiviert. Also ein Hackerangriff. Wobei sich die Gräfin fragte, warum es überhaupt die Deaktivierungsfunktion gab. Was zum Geier konnte es für eine Situation geben, in der man nicht nur die Alarmanlage und die Kameras, sondern auch die Türbedienung, Gegensprechanlage, Feueralarm und den automatischen Notruf deaktivieren wollte?

Egal. Philine hatte noch viel zu tun, und es dämmerte bereits.

Sie aktivierte die gesamte Anlage, zögerte und schaltete die Kameras wieder ab. Sie wollte nicht bei ihren letzten Aufräumarbeiten gefilmt werden. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett und zog sich an.

Auf dem Weg nach unten rang sie zunächst mit der Erkenntnis, dass ihr Körper auf den Putzdienst noch weit schlechter als aufs Kämpfen reagierte. Beine, Füße und Arme taten ihr so weh, dass sie kaum die Treppe hinunterkam. Dann jedoch setzte das Grübeln wieder ein.

Bein war vor über acht Stunden weggefahren. Bestimmt hätte er schon lange wieder mit einem Durchsuchungsbefehl hier sein können. Wo blieb er? War sie doch nicht verdächtig genug gewesen? Oder brauchte er mehr Beweise? Zum Beispiel ein Logfile, in dem von ihrem Handy aus kurz vor der Ermordung von vier Polizisten die Überwachungsanlage ausgeschaltet und nach ihrem Putzdienst wieder aktiviert worden war? Hatte es vielleicht länger gedauert, ihr Handy wieder mit dem Netz zu verbinden? Stürmte die Polizei gleich das Haus?

Blödsinn, sagte sie sich. Es wäre viel eindeutiger gewesen, die Mörderin mit blutverschmiertem Blaumann beim Reinigen des Tatorts zu erwischen.

Philine warf im Vorbeigehen einen kritischen Blick ins Jagdzimmer und in den Flur. Es war wohl noch nie so sauber gewesen, weil die Familie immer Wert auf sanfte Reiniger zur Schonung des Bodens und der Oberflächen gelegt hatte. Jetzt roch es nach Bleiche. Jo würde staunen. Philine machte sich aber keine Illusionen. Wenn die Spurensicherung hierherkam, würde sie wahrscheinlich auch etwas finden. Sie konnte nur hoffen, dass die Mörderbande ihren Kumpanen nicht gesagt hatte, wo im Schloss man die Gräfin über den Jordan zu bringen gedachte.

Sie griff den Sack mit den blutverschmierten Klamotten und ging in den Hof hinunter. Wahrscheinlich wäre auch ein Kamin mit den textilen Überbleibseln ihres Putzeinsatzes fertiggeworden. Da die Gummistiefel aber sicherlich stinken würden und sie ohnehin nach dem Krematorium sehen musste, schlenderte sie den Weg zu ihrem Privatwald hinunter.

Ja – schlenderte.

Wieso war sie nur so entspannt? Vielleicht, weil es nichts mehr zu tun gab? Sicher nicht.

Sie könnte noch Müll und Abfall zusammenkramen, um ihn ebenfalls im Krematorium zu entsorgen. So hätte sie eine Antwort für neugierige Frager, und wenn die Spurensicherung die Asche untersuchte, würde sie wahrscheinlich nichts Verdächtiges mehr finden. Sie könnte auch andere Bereiche der Burg mit Bleiche putzen, um die Spurensuche zu erschweren.

Und sie könnte einen Sicherheitstechniker anheuern, der ihre Anlage überprüfte. Oder sogar einen Leibwächter. Sie musste auch noch frische Munition für Papas Flinte besorgen. Sicher fielen ihr noch hundert weitere Dinge ein, die sie erledigen konnte oder sogar musste.

So viel zu tun, aber sie schlenderte. Vielleicht war es auch nur die andere Sie, die gerade ihren Körper steuerte.

Als das Krematorium in Sicht kam, stieg kaum noch Rauch aus dem Schornstein. Philine staunte, dass überhaupt noch etwas zu sehen war. Umso einfacher würde es sein, ihre letzte Fracht dem Feuer zu überantworten.

Wenige Augenblicke später stand sie endlich vor dem Gemäuerchen und stutzte. Ein Stück Plastik lag direkt vor dem Eingang. War jemand hier gewesen? Philine fühlte, wie sich ihre Kopfhaut zusammenzog. Die Pistole des mageren Häschers sprang ihr geradezu in die Hand, was, so wurde ihr gleich darauf bewusst, wohl die dämlichste Reaktion von allen war. Schlimmstenfalls hatte die Polizei sie entdeckt. Dann lauerten die Beamten oder sogar das SEK hinter irgendwelchen Bäumen und hätten jetzt eine tolle Ausrede, sie über den Haufen zu schießen. Viel wahrscheinlicher waren es aber wieder irgendwelche Halbstarken, die sich auf ihrem Grundstück herumtrieben. Die würden eher neugierig oder – noch schlimmer – riefen die Polizei, wenn die Eigentümerin gleich zur Waffe griff.

Dennoch blieb das Schießeisen in ihrer Hand. Es gab Sicherheit. Oder die andere Philine mochte das Gefühl von Sicherheit. Von Macht.

Das Stück Plastik war etwa so groß wie eine Kreditkarte, aber bis auf ein Logo und die Zahl 304 unbedruckt. Zögernd hob sie das Ding auf. Es war eine Schlüsselkarte. Offenbar für das Zimmer 304 des Corvus Hotel & Spa.

Philine blinzelte. Dann erst begriff sie, dass ihr Fund von einem ihrer Opfer stammen musste. Zu stürzen, grob in Folie eingerollt und aus dem Fenster geworfen zu werden, mochte das eine oder andere aus den Taschen zutage fördern. Wahrscheinlich war die Karte schon lose innerhalb der Folie herumgeflogen und hatte sich beim Ausladen selbstständig gemacht.

Warum zum Teufel hast du die Leichen nicht durchsucht?, fragte sie sich. Nein: schrie sie sich an. Sie hätte wichtige Spuren und Beweise finden können! Und womöglich hatte sie jetzt auf dem ganzen Weg weitere Spuren hinterlassen.

Ich bin nach Beins Besuch in Panik gewesen, verteidigte sie sich. Es hatte alles so schnell gehen müssen.

Du musst das anders sehen, schien sich eine dritte Stimme einzumischen. Das Schicksal ist auf deiner Seite und hat dir diese Karte geschenkt.

Das mochte stimmen. Nur leider war mit der Karte allein nicht viel anzufangen. Also erwartete das Schicksal wohl, dass sie sich in einen kameraüberwachten Bereich begab, um in das Zimmer eines Polizisten einzubrechen …

 

Danke, Schicksal.

 

Philine fühlte sich, als würde sie in einem schlechten Film mitspielen. Verborgen hinter einer Sonnenbrille, die jede Fliege vor Neid erblassen lassen musste, in einem dicken Mantel, Handschuhen und unter einer offensichtlich als solche zu erkennenden Perücke betrat sie die großzügige Lobby des Corvus Hotel & Spa.

Zunächst freute sie sich, dass der Empfang bis auf einen Mitarbeiter des Hotels und zwei Gäste verwaist war. Erst als die Drehtür hinter ihr lag, wurde ihr bewusst, dass bei so einer knappen Besetzung jeder weiteren Person zwangsläufig für einen Moment die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden zuteilwurde. Vor allem, wenn die Person in einer warmen Nacht im Wintermantel und mit Sonnenbrille hereinstolzierte. Jeder hier würde sich an sie erinnern, verdammt!

Philine versuchte sich nichts anmerken zu lassen und ging mit gesenktem Kopf auf den Fahrstuhl zu. Im Augenwinkel konnte sie die Blicke der Männer wahrnehmen … Aber sie schienen ihr vor allem auf den Hintern zu schauen, der unter dem Mantel allerdings kaum auszumachen sein konnte.

Erst als sie in der Fahrstuhlkabine angekommen war und frech angegrinst wurde, begriff sie: Die Kerle hielten sie für eine Fremdgeherin, die sich schlecht verkleidet hatte. Und vermutlich glaubten sie, dass sie unter dem Mantel nackt war.

Philine spürte, dass sie rot wurde. Dabei sollte sie sich freuen, die Zeugen würden sich wahrscheinlich an sie erinnern – bestimmt würde sie aber niemand mit einem Mord in Verbindung bringen.

Ihr Gedankengang wurde durch das Zurückgleiten der Türen unterbrochen. Sie blickte direkt in die Gesichter von zwei jungen Männern, die offenbar auf den Fahrstuhl gewartet hatten. Die beiden grinsten sie genauso dämlich an wie die Typen in der Lobby.

„Der Junggesellenabschied ist im vierten Stock“, sagte einer von ihnen, als sie ausstieg. Himmel! Hielten die sie für eine Stripperin?

„Danke, ich suche nur das Klo“, plapperte sie und wurde rot. Die beiden lachten schallend los.

„Zimmer 308“, sagte einer von ihnen augenzwinkernd.

„Vergiss aber nicht, dir wieder was anzuziehen, bevor du hochkommst“, mahnte der andere anzüglich. Dann schloss sich endlich die Fahrstuhltür hinter ihnen.

Mist, Mist, Mist! Die beiden würden sich ebenfalls an sie erinnern. Schlimmer noch: Sie würden im Nachhinein begreifen, dass sie nicht die Stripperin und damit verdächtig war. Und sie hatten ihre Stimme gehört!

Sinnlos, sich aufzuregen, stellte sie fest. Und dämlich, hier herumzustehen, bis der Nächste vorbeikam.

Schnellen Schrittes ging sie den Flur hinunter. Dabei fiel ihr eine dunkle Beule in der Decke auf. War das ein Feuermelder? Durch die Sonnenbrille konnte sie es nicht genau erkennen. Aber Feuermelder waren gewöhnlich weiß. Solche Beulen kannte sie eigentlich nur aus der U-Bahn. Und da waren es Kameras.

Also musst du dir wegen der menschlichen Zeugen keine Sorgen mehr machen, fand die andere Philine. Sie klang vergnügt. Sie spürte, wie sie zu schmunzeln begann.

Erst als sie endlich vor Zimmer 304 stand, kam der angemessene Ernst zurück. Ein Schild mit der Aufschrift „Bitte nicht stören“ hing an der Klinke. Philine war nicht beeindruckt. Ohne zu zögern, holte sie die Schlüsselkarte aus dem Mantel und öffnete die Tür.

Ein generisches Hotelzimmer in hellen Holztönen erwartete sie. Nicht gerade stylish, aber bis auf das benutzte Kondom auf dem Kopfkissen auch keine Beleidigung fürs Auge. Schnell trat sie ein und schloss die Tür hinter sich. Ein seltsames Gefühl von Sicherheit breitete sich in ihrem Magen aus. Hier würde sie keine weiteren Zeugen befürchten müssen. Es fühlte sich erstaunlich normal an, in die Privatsphäre eines anderen einzudringen.

Weniger philosophieren, mehr umschauen, mahnte sie sich. Sie wusste zwar nicht, wonach genau sie suchte, aber immerhin war der Suchbereich begrenzt: Ein Zimmer und ein kleines Bad. Ein Set zur Waffenreinigung lag offen auf dem Tisch im Schlafzimmer herum. Daneben ein Pornoheft. Pornoheft?

Sie war nicht gerade eine Fachfrau, aber ihres Wissens nutzte der moderne Mann eher Internetpornos für den Handbetrieb. Gerade auf Reisen. War das ein Hinweis?

Mit spitzen Fingern nahm sie das Schmuddelmagazin in die Hand und blätterte es durch. Schlecht fotografierte nackte Frauen mit grotesk großen künstlichen Brüsten und verlebten Gesichtern auf jeder Seite. Viele von ihnen Jahrzehnte älter, als Philines Mutter es heute gewesen wäre. Mit jedem Umblättern war sich Philine sicherer, dass niemand so ein Heftchen aus erotischen Gründen dabeihatte. Während sie Seite um Seite nach geheimen Botschaften oder verborgenen Papierstückchen absuchte, begann die Übelkeit langsam ihren Hals hinaufzukriechen. Als sie dann auf eine Seite stieß, die mit der darauf folgenden zusammenklebte, war sie regelrecht erleichtert. Hier konnte der Hinweis verborgen sein!

Vorsichtig versuchte sie, die Seiten zu trennen. Die Verklebung war nur an wenigen Stellen. Als hätte jemand willkürlich dünnflüssigen Klebstoff daraufgetropft. Es war also möglich, einen Blick zwischen die Seiten zu werfen …

Nichts.

Schlagartig dämmerte ihr, welcher Natur der Klebstoff tatsächlich war. Ihr wurde so übel, dass sie sich beinahe übergab. Angewidert ließ sie das Heft auf den Tisch fallen und kämpfte den sauren Geschmack in ihrem Mund nieder.

Aber sie hatte keine Zeit für Übelkeit. Philine riss sich zusammen und suchte weiter.

Auf dem Tisch stand noch eine benutzte Tasse. Der Mülleimer war bis auf eine Coladose und Taschentücher leer. Auch der Kleiderschrank war bis auf einen Satz Wechselkleidung und eine leere Reisetasche ungenutzt. Der Einbausafe stand offen, und es war auch nichts irgendwo druntergeklebt.

Geklebt. Erneut stieg Übelkeit in ihr auf.

Hättest du die Leichen durchsucht, müsstest du vielleicht gar nicht hier sein, merkte ihre innere Stimme an. Leider hatte sie recht. Schlimmer noch: Vielleicht gab es gar nichts zu finden.

Auf dem Nachttisch lagen eine angebrochene Packung Kaugummis und ein Etui mit Sonnenbrille. In der Schublade … Ein Autoschlüssel! Ihr Häscher fuhr offensichtlich Ford.

Wäre er doch nur damit fortgefahren. Es war nicht mal ein Kalauer. Dennoch fühlte Philine ein unwiderstehliches Kichern in sich aufsteigen. Zugleich von Grauen und viel zu lautem Lachen geschüttelt, stand sie mitten im Zimmer. Der Spiegel des Kleiderschranks zeigte aber nicht sie, sondern die andere Philine. Vielleicht war es die blonde Perücke, aber sie wirkte noch fremder als zuvor. Und diesmal zog sie sich auch nicht sofort zurück. Überdeutlich konnte die Adelige unnatürliche Kälte in den Augen der anderen sehen.

„Ich werde nicht verrückt“, sagte sie entschieden zu der anderen. „Du bist nur ein Teil von mir. Hör auf, mir Angst zu machen.“

Die Philine auf der anderen Seite des Spiegels sah reglos zurück. Ihr reales Gegenstück glaubte etwas Dämonisches in den Augen erkennen zu können. Aber auch … Freundlichkeit.

„Bitte“, bat Philine leise, „mach mich nicht kaputt.“

Dann war sie plötzlich wieder allein. Es war erleichternd, aber auch beunruhigend. Eine gute Minute lang stand Philine einfach im Zimmer und fasste sich.

Sie schloss ihre Durchsuchung ohne weitere Zwischenfälle, aber auch ohne etwas gefunden zu haben, ab. Blieb nur noch der Autoschlüssel. Nachdenklich sah sie ihn für einen Moment an. Würde wirklich jemand etwas Wichtiges im Auto liegen lassen, wenn ihm ein Safe im Zimmer zur Verfügung stand?

Andererseits vergnügte sich der Mann im goldenen Zeitalter von Internetpornos mit einem schlecht fotografierten, billig gedruckten Heftchen mit den hässlichsten Frauen, die Philine je gesehen hatte. Wenn sie wirklich wissen wollte, wer hinter ihr her war, konnte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Tief durchatmend verließ sie das Zimmer und fuhr wieder in die Lobby hinunter. Diesmal war der Mann hinter der Rezeption allein und schenkte ihr nur einen kurzen Blick. In der Drehtür begegnete sie jedoch einem Mädchen mit Sonnenbrille, blonder Perücke und Mantel. Die echte Stripperin!, schoss es Philine durch den Kopf. Sie war hier buchstäblich als Stripperin verkleidet hereingekommen! Durch die Drehtür und zwei Sonnenbrillen hindurch war nicht zu erkennen, ob die andere sie ebenfalls anstarrte.

Philine hatte auch keine Zeit, dem surrealen Moment nachzuhängen – wobei sie nicht sicher war, ob sie diese Begegnung angesichts der letzten Tage noch als surreal bezeichnen konnte.

Jedenfalls begann sie eifrig die Fernbedienung des Autoschlüssels zu drücken. Auf dem Vorplatz reagierte nichts, also ging sie zum Parkplatz hinüber. Kameraüberwacht, stellte sie im Näherkommen fest.

Andererseits hatte das Hotel mit Sicherheit schon bessere Aufnahmen von ihr. Solange kein Auto fehlte, würde sich vielleicht auch niemand die Mühe machen, die Kameras zu prüfen. Philine war jedenfalls weit darüber hinaus, sich deswegen allzu große Gedanken zu machen.

Der Parkplatz war nicht gerade klein, aber auch nicht zu groß, als dass man ihn nicht gut überblicken konnte. Zudem war er flächendeckend ausgeleuchtet. Die Kameras würden gute Aufnahmen von ihr machen.

Immerhin reagierte schon nach wenigen Schritten ein Auto mit heftigem Blinken auf die Fernbedienung. Philine war erleichtert, auch wenn das Fahrzeug wirklich eine Beleidigung fürs Auge war. Der SUV stand direkt unter einer Laterne. Im Katalog hieß die Farbe wahrscheinlich Karamell. Die adelige Ästhetin assoziierte mit dem Hellbeigebraun eher die andere Seite der Stoffwechselkette. Die ungesunde andere Seite. Auch der Innenraum ließ Philine an der seelischen Verfassung des Käufers zweifeln – hellbraun mit grauem Muster.

Ich rege mich gerade über die Geschmacksverirrung meines Beinahemörders beim Autokauf auf, wurde Philine bewusst. Das musste eine besondere Form von Dekadenz sein.

Sie öffnete den muffig riechenden Kofferraum. Alles war voller Sand. Dazu ein Paar dreckiger Gummistiefel und ein Angelkoffer. Nicht sehr vielversprechend.

Philine nahm sich nicht die Zeit für eine eingehendere Untersuchung, sondern setzte sich auf den Beifahrersitz. Hier roch es unangenehm süßlich. Der Fußraum war voller Fast-Food-Verpackungen. Ein halb voller Coffee-to-go-Becher schimmelte im Getränkehalter vor sich hin, und das Lenkrad war mit einer undefinierbaren Schmiere bedeckt. Sie staunte. Im gesamten Innenraum lag Kleinkram wie Münzen, benutzte Q-tips und Taschentücher herum. Selbst mit Handschuhen musste sie sich überwinden, überhaupt etwas anzufassen. Das Handschuhfach war hingegen aufgeräumt und enthielt neben zwei Dosen Whisky-Cola auch eine angebrochene Packung Kondome.

Philine wollte die Durchsuchung des Autos schon als schlechte Idee abhaken und gehen, als ihr Blick auf die Mittelkonsole fiel. Eine Funkfernbedienung! Mit einer Seriennummer darauf! Sie hatte einen guten Freund, der sie auch bei der Wahl ihrer eigenen Sicherheitsanlage beraten hatte. Ja, Aaron konnte vielleicht etwas damit anfangen.

Philine machte ein Foto und achtete darauf, dass die Nummer gut zu erkennen war. Gleich darauf steckte sie den Autoschlüssel ins Zündschloss und verließ den Wagen.

Sie wollte sich schon freuen, endlich eine Spur gefunden zu haben, bis ihr die Tatsachen bewusst wurden.

Wahrscheinlich hatte sie gerade die Fernbedienung zur Garage des Mannes fotografiert. Selbst wenn Aaron die zugehörige Anlage finden sollte, brachte ihr das nichts. Außerdem war die Adresse des Automisshandlers auch etwas, was man – vermutlich einfacher – über das Kennzeichen herausfinden konnte. Der Wert des Öffners war nicht die Adresse, sondern der Zutritt zu dem Tor, das er öffnen konnte.

Philine kehrte um, öffnete den Wagen und nahm die Fernbedienung an sich. Dann machte sie ein Foto vom Nummernschild und ging.

Erst auf dem Weg zu ihrem weit entfernt geparkten Auto wurde ihr bewusst, wie wenig sie erreicht hatte. Im besten Fall öffnete ihr die Fernbedienung eine Garage, die ohne weitere verschlossene Tür ins Haus ihres Verfolgers führte. Das war nicht nur ein großer Bereich, wenn man nicht wusste, wonach man suchte, sondern wahrscheinlich ebenfalls versifft oder von weiteren Personen bewohnt oder beides. Zudem würde die Polizei ziemlich zeitnah ebenfalls dort auftauchen.

Dort einzubrechen war also ein großes Risiko ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg.

Aber es wird Spaß machen, vermutete eine Stimme in ihr, die Philine nicht hören wollte.