Leseprobe Der Lord und sein Geheimnis

Prolog

Obgleich Reginald das erste Septemberwochenende für seine Hochzeit ausgewählt hatte, war das Wetter untypisch kühl für die Jahreszeit. Der Wind rüttelte an den Bäumen und peitschte die mit mittlerweile orangefarbenen Blättern bedeckten Äste gegen die bunt bemalten Fenster der Kathedrale. Sybil kratzte mit ihren kurzen, abgekauten Fingernägeln über das abgegriffene Leder der Bibel, die auf ihrem Schoß ruhte. Ihr Blick war auf die Seidenschühchen gerichtet, die ihre Mutter für den Tag ausgewählt hatte. Schwarz. Ungewöhnlich für eine Hochzeit, aber vielleicht doch passend für Sybil. Sie war im Februar siebenundzwanzig Jahre alt geworden. Siebenundzwanzig und noch immer unverheiratet. Und das nicht aus freien Stücken wie einige der Frauen, die sie auf Bällen kennengelernt hatte, sondern eher, weil sich nie jemand für sie interessierte. Schon am Tag der Anreise hatte sie versucht, sich unter die Leute zu mischen, aber wie immer war es ihr nicht gelungen, ihren Platz in den Grüppchen zu finden.

Sybil kratzte unaufhörlich über die Bibel. Natürlich hatte man sie in die erste Reihe gesetzt. Unmittelbar neben Duke Adam Wellington, den sie vielleicht zwei Mal in ihrem Leben gesehen hatte. Der vormalige Assistent des verstorbenen Bruders der Braut. Neben ihm hatte Earl Arthur of Hales Platz gefunden. Sybil hatte bisher nicht herausfinden können, wie er zu dem Brautpaar stand. Zu ihrer Linken saß ihre Mutter, die sich mit einem Seidentaschentuch die Tränen von den Augen tupfte, die unaufhörlich über ihre Wangen rannen. Gott sei Dank bemerkte sie aufgrund dessen nicht, wie Sybil die kleine Bibel marterte. Es war, als hätte jeder in dieser Familie eine seltsame Art und Weise, mit Anspannung umzugehen. Spielte nicht ihr Cousin Reginald mit dem Saum seiner Hosentasche, wenn er nervös war? Er musste wohl an sich halten, dies eben nicht zu tun, als er vor dem Altar stand. Die Braut Lady Mary-Anne Harrison, noch hieß sie Darlington, hatte ihn wohl zuvor daran erinnert. Sybil fühlte sich in Mary-Annes Gegenwart oft unwohl. Sie war eine willensstarke Frau, der es an Durchsetzungsvermögen nicht mangelte. Eine Suffragette. Sybil hätte nie auch nur ansatzweise den Mut aufgebracht, sich dieser Bewegung anzuschließen, hörte man doch, was die Männer der Oberschicht hinter vorgehaltener Hand über diese Frauen zu sagen hatten. Mary-Anne schien dies nicht zu kümmern. 

Endlich bemerkte ihre Mutter, welche Qualen sie der Bibel zufügte und schlug ihr augenblicklich mit dem Fächer auf die Finger. „Lass das.“

Ihre Tante, Reginalds Mutter, beugte sich über ihre Schwägerin hinweg und musterte die Nichte mit einem abschätzigen Blick. „Mädchen, reiß‘ dich zusammen“, zischte sie.

Sybil nickte gehorsam. Sie errötete. Beschämt, bei einer solchen Unart erwischt worden zu sein. Sie blickte sich um, nur um sicherzugehen, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Wellington war allerdings damit beschäftigt, ein Gähnen zu unterdrücken und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Veranstaltung langweilte. 

Sie fragte sich, warum man ihn nicht auf die Seite der Kirche gesetzt hatte, auf dem die Familie der Braut saß. Irgendwie hätte er dort besser hingepasst. Hinter ihr trat jemand gegen die hölzerne Sitzbank. Sie wandte sich um und ein kleines Mädchen in einem viel zu pompösen Kleid streckte ihr die Zunge entgegen. Wie aus einem Reflex heraus tat sie es ihm gleich. Zack. Wieder ein Hieb mit dem Fächer. Diesmal gegen ihre Schenkel. 

„Sybil. Nimm dich zusammen. Die Zeremonie ist gleich vorbei!“, zischte ihre Mutter.

„Ja, Mutter“, hauchte sie. Sie wusste selbst nicht, was sie verleitet hatte, dem Kind die Zunge herauszustrecken. Sie langweilte sich außerordentlich, freute sich aber auch nicht gerade auf die Agape und das Dinner, das darauf folgen sollte. Außerdem sollten sie die heutige Nacht im Hotel verbringen, da die Anreise nach London äußerst mühselig gewesen war. Sybil streckte ihre Beine aus und wackelte mit den Zehen in den unbequemen, für die Hochzeit gekauften Schuhen. Sie ließ ihren Blick zu jenen wandern, die Wellington trug. Sie schienen nicht bequemer zu sein. 

„Sie dürfen die Braut jetzt küssen“, verkündigte der Priester. Sybil atmete auf. Reginald lüftete den Schleier, der Mary-Annes fein geschnittenes Gesicht bedeckt hatte, und küsste sie sanft auf die vollen Lippen. Ihr Brautkleid war so gewählt worden, dass man den sich darunter wölbenden Bauch nicht auf Anhieb bemerkte. Ihre Tante war am Tag des Kaufes wütend angereist, um sich bei ihrer Schwägerin über die unmögliche Schwiegertochter auszulassen. Wie konnte man denn bei so einer Person sicher sein, dass es Reginalds Kind war? Überhaupt würde ihr Sohn ja nie und nimmer vor der Hochzeit – das wäre skandalös! Reginald hatte ihr aber wiederholt versichert, dass es sich nur um sein Kind handeln konnte. Sybil war allein bei dem Gedanken dunkelrot angelaufen. Nie im Traum hatte sie daran gedacht, so etwas Unanständiges zu tun. Aber auch sie war mittlerweile Tante und sogar zwei Jahre älter als ihre Schwägerin, die bereits mit dem dritten Kind schwanger war. Ihre Mutter sah dies als Zeichen, dass Thomas und Gianna sich gut verstanden. Ihre Tante hingegen war der festen Überzeugung, dass das mittlere Kind, ein Junge namens Alfred, ihrem Neffen überhaupt nicht ähnelte. Wohingegen Thomas wie auch Sybil hellblonde Haare hatten, während Alfred mit dunkelbraunen Locken gesegnet war wie auch seine Mutter, die dem sizilianischen Kleinadel entstammte. Sybil meinte durchaus, ihren Bruder in den frechen Zügen des Dreijährigen zu erkennen. Aber Lady Gertrude hasste Gianna ohnehin und es lag nicht gerade in ihrer Natur, ein gutes Haar an Dingen zu lassen. Der Ältere von Sybils Neffen Francesco, benannt nach seinem Großvater, war mittlerweile fünf Jahre alt. Thomas und seine Familie saßen aus unerfindlichen Gründen hinter Wellington und Hales. Wer hatte diese Sitzordnung gemacht? 

Endlich erhoben sich die Gäste der Hochzeitsgesellschaft. Das Mädchen hinter ihr trat noch einmal heftig gegen die Lehne der Bank und wurde dann von seiner Mutter aus der Sitzreihe geschleift. 

„Ach, war das herrlich romantisch“, seufzte Lady Cathrine und sah ihre Tochter an: „Eines Tages wirst du das auch erleben, Sybil.“

„Romantisch? Diese Frau ist eine unehrenhafte Person. Was soll daran romantisch sein?“, meckerte Lady Gertrude sogleich.

„Aber hast du nicht diese Verlobung eingefädelt?“, erkundigte sich Lady Cathrine verwundert.

Ihre Schwägerin schnaubte empört. „Erinnere mich nicht daran. Das war der größte Fehler meines Lebens. Wo ist überhaupt mein lieber Bruder?“, fragte sie eilig, um das Thema zu wechseln.

„Papa ist in Paris“, gab Sybil sofort Auskunft.

„Wohl mit diesem jungen Ding, dieser Schauspielerin. Wie heißt sie noch einmal?“, fragte ihre Tante sogleich.

Ihre Mutter blickte beschämt zu Boden, all die Freude und Aufregung über die Hochzeit schien verflogen. „Josephine Hobbes“, murmelte sie. 

„Ach ja, Josephine Hobbes! Benjamin ist ein schöner Idiot, wenn er denkt, dass sie ihn nicht nur wegen seines Geldes liebt.“

Lady Cathrine hielt inne. Wie erstarrt blieb sie plötzlich stehen. „Er liebt sie nicht. Sie ist seine Muse. Benjamin ist nun einmal Künstler und seine Gemälde brauchen …“ Augenblicklich unterbrach Lady Gertrude sie: „Ich hatte vergessen, dass man das heutzutage als Muse bezeichnet. In unserer Jugend nannte man dieses Verhältnis eine Liebschaft.“ Sie stolzierte ihnen voraus aus der Kathedrale und versuchte sogleich, Lady Gianna in ein Gespräch zu verwickeln. Francesco freute sich auf unerklärliche Weise, sie zu sehen.

Sybil legte zärtlich die Hand auf die Schulter ihrer Mutter. „Lassen Sie sich von ihr nicht verunsichern“, sagte sie. „Papa liebt Sie über …“

„Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst“, herrschte Lady Cathrine sie an. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und sie nahm die Hände ihrer Tochter in die ihren. „Es tut mir außerordentlich leid, mein Schatz“, sagte sie. „Ich wollte dich nicht so – heute ist ein freudiger Tag! Dein Cousin hat geheiratet. Lassen wir uns den Abend doch nicht von deinem nichtsnutzigen Vater verderben. Wenn er in Paris all unser noch verbliebenes Geld auf den Putz hauen will, dann sollten wir ihn doch nicht davon abhalten.“ Sie sprach mit einem Lächeln auf den Lippen, doch das Gift, das sie in diese Worte gelegt hatte, war nicht zu überhören. Sybil nickte traurig. Sie wusste um die Schulden ihrer Familie. Die Bilder ihres Vaters brachten längst nicht mehr so viel Geld ein wie einst, obwohl seine Bekanntschaft zu Josephine Hobbes eine solch emsige Schaffensphase ausgelöst hatte wie noch nie zuvor. Aber die Mäzene Londons hielten seine Bilder für ‚zu modern’. Vielleicht hatte er sich deshalb nach Paris abgesetzt, um dort mit den aufstrebenden Künstlern zu verkehren? Was auch immer es war, das ihn in die Stadt der Liebe geführt hatte – langsam gingen die Ersparnisse ihres Großvaters zu Neige. Thomas hatte gut daran getan, sich rasch um eine Anstellung in der Lloyds Bank zu bemühen. Ihre Mutter hingegen litt unter der verschwenderischen Art ihres Mannes. Gianna und Thomas würden sie aber sicherlich nicht verarmen lassen.

Lady Cathrine hastete ihrer Schwägerin hinterher und Sybil blieb mitten im Gang stehen. Die Menschenmassen, die nach draußen strömten, umspülten sie wie ein Bach, der an einem Stein brach. Sie blickte ihrer Mutter nach und erschrak, als Reginald sich bei ihr unterhakte.

„Sybil! Wie schön, dass du gekommen bist!“, frohlockte er.

Sie lächelte ihn verkniffen an. Ihre Mutter hatte sie angehalten, nichts über die Eskapaden des Vaters an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, obgleich sich die Boulevardpresse schon das Maul über sein Verhältnis zu Josephine zerriss.

„Wie geht es dir?“, fragte ihr Cousin mit einem wohlwollenden Lächeln. 

„Ja, es geht. Ich freue mich außerordentlich für dich. Wie chic du aussiehst“, sagte sie und deutete auf den maßgeschneiderten Anzug mit Doppelknopfreihe und den dazu passenden Zylinder, den er auf dem Kopf trug. „Wie ein echter Bräutigam.“

Reginald lachte. „Na, bin ich denn heute nicht ein echter Bräutigam? Ist meine Frau Mama schon vorausgegangen, um die liebe Gianna zu terrorisieren?“ Er reckte seinen Hals, um über die Menschenmenge sehen zu können.

„Was denkst du denn? Die Arme hat mein volles Mitleid.“ Sybil kicherte.

„Hast du diese Schuhe ausgesucht?“, fragte Reginald plötzlich und schüttelte verwundert den Kopf. „Das ist ja keine Beerdigung.“ 

„Mama hat sie mir gegeben. Ich glaube, sie hält nicht mehr viel von der Ehe. Obwohl sie vorhin ein bisschen geweint hat.“

„Nanu? Wie kommt denn das? Hat sie nicht immer von der Liebe geschwärmt?“

„Na ja, seit Vater seine Muse in dieser Josephine Hobbes gefunden hat …“

Reginald hob die rechte Hand, um sie zu stoppen. „Dann reden wir heute nicht mehr darüber, meine Liebe. Ich möchte, dass du diesen Abend voll und ganz genießt. Hast du denn schon Lady Hamilton kennengelernt? Ich denke, ihr werdet euch ausgezeichnet verstehen!“

Lady Harriet Hamilton war eine redselige Person. Sie hatte derart viel zu erzählen, dass es Sybil schwerfiel, ihren Geschichten zu folgen und selbst zu Wort zu kommen. Sie saßen nebeneinander in dem kleinen Garten, der extra für die Agape angemietet worden war, beide ein Glas Champagner in der Hand. Sybils war schon zum zweiten Mal gefüllt worden, während Lady Hamilton nicht einmal einen Schluck getan hatte. Sie trug ein fliederfarbenes Kleid, dessen Dekolleté mit so viel Spitze besetzt war, die wie ein Spinnennetz auf ihrer Brust lag. Die erdbeerblonden Locken waren hochaufgetürmt und im Knopfloch des Jäckchens, das sie geöffnet hatte, steckte ein Veilchen, das traurig das Köpfchen hängen ließ. 

„Und wissen Sie, dann öffnet der Bursche die Stalltür und meine Stute rennt davon. Mit Zaumzeug und allem! Ist das nicht grandios?“, schloss sie ihre Erzählung und lachte.

Sybil kicherte angestrengt. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, wann sie geistig ausgestiegen war, aber der Mittelteil der Geschichte war ihr wohl entgangen.

Lady Hamilton schien das nicht zu stören. Sie leerte ihr Glas in einem Zug und lächelte ihre schweigsame Gesprächspartnerin an. „Ich mag Ihr Kleid“, sagte sie plötzlich. „Es ist so schön … schlicht. Aber die Farbe ist wirklich reizend. Dunkelblau steht Ihnen außerordentlich gut.“ Sybil errötete. Sie blickte zu Boden und murmelte ein „Dankeschön“. Sie fand nicht, dass ihr irgendetwas außerordentlich gut stand. Ihre Haare waren viel zu dünn und schnurglatt, ihr Gesicht blass, ihre Augen graublau. Alles, was sie trug, verschlang sie wie die Nacht das Licht. Helle Farben ließen sie verschwinden und dunkle verschluckten sie. Vermutlich war es das, was sie so unscheinbar machte. „Nein, nein, wirklich! Sie sehen reizend aus! Glauben Sie mir, heute Abend noch wird sicherlich ein Gentleman auf Sie aufmerksam werden. Sehen Sie, der dort sieht schon die ganze Zeit zu uns hinüber!“ Lady Hamilton wies auf einen jungen Mann, der mit zwei weiteren Sybil unbekannten Herren auf der anderen Seite des Gartens stand. Er hielt ein halb volles Glas zwischen seinen langen Fingern und blickte ungeniert auf die beiden Damen. Seine Augen leuchteten kohlschwarz und das Haar war so dunkel, dass es im Sonnenlicht bräunlich schimmerte. Die vollen Lippen hoben sich rosig von der olivfarbenen Haut ab, das Gesicht glattrasiert. Der Anzug, den er trug, war modisch, die Haare allerdings ein wenig länger, als es ihre Tante für angemessen gehalten hätte. Er wandte seinen Blick nicht ab, selbst, als sie ihm direkt in die Augen sah. Er lächelte sanft und prostete ihr zu. Sybils Herz setzte einen Schlag aus. Konnte er wirklich sie meinen?

„Nun gehen Sie schon zu ihm“, forderte Lady Hamilton sie auf.

„Ich? Zu ihm? Aber sollte er nicht …?“, stammelte sie.

Harriet winkte ab. „Wir leben in den Achtzehnneunzigern, nicht mehr achtzehnhundertzehn“, sagte sie. „Heutzutage kann die moderne Frau auch von sich aus den ersten Schritt machen, denken Sie nicht auch?“

Sybil schluckte. So etwas wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Selbstständig einen Herrn anzusprechen, lag ihr fern. Aber dieser junge Mann hatte doch ihr zugeprostet, nicht Lady Hamilton. Er wollte mit ihr sprechen und fand sie interessant genug, um mit ihr ein Gespräch anfangen zu wollen. Sie leerte ihr Champagnerglas in einem Zug und stand auf. Eiligen Schrittes begab sie sich zu dem Fremden, der sie mit seinem vielsagenden Blick fixierte. 

„Verzeihung, ich wollte Ihre Unterhaltung nicht unterbrechen. Aber gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie nicht allzu unglücklich über diese Unterbrechung sind? Immerhin habe ich die letzten zwanzig Minuten keinen Ton von Ihnen gehört“, sagte er.

Seine Stimme klang tief wie ein Bass, der in einem großen Opernhaus gespielt wird. Sybil hatte auch noch nie so unglaublich schwarze Augen gesehen. Sie errötete heftiger als schon zuvor und strich sich nervös eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich durch den kalten Wind aus ihrer Frisur gelöst hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Nun kam sie auf den Mann zustolziert und dann blieben ihr die Worte im Hals stecken, wie das Apfelstück es bei Schneewittchen getan hatte. 

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie wirklich nicht in Verlegenheit bringen!“, sagte der Fremde leise. Er klang besorgt.

Energisch schüttelte sie den Kopf. „Aber nein, nicht doch! Ich bin nur von mir aus auf Sie zugegangen und dabei habe ich mir überhaupt nicht überlegt, was ich zu Ihnen sagen soll“, sagte sie rasch und lachte nervös. Er musste sie für eine Närrin halten. Wie ein Schulmädchen benahm sie sich gerade.

Doch er lächelte nur und antwortete: „Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Pardon. Earl Victor Abingworth of Perth. Freut mich Sie kennenzulernen, Lady …?“

„Lady Sybil Harrison.“

„Harrison? Sind Sie …?“

„Ja, ich bin die Cousine des Bräutigams.“

„Ach so! Das hätte ich mir nie gedacht! Sie sehen Ihrem Cousin nicht ähnlich“, meinte er.

Sybil wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Die Unterhaltungen, die sie üblich führte, drehten sich meistens weniger um Persönliches, sondern mehr um Kultur und Kunst. Vielleicht ein wenig um Politik, wenn sie sich genug Mut angetrunken hatte. „Wie meinen?“, schaffte sie schließlich zu sagen.

„Sie sind viel hübscher als Ihr Cousin“, stellte er fest. Sybil sah ihn mit geweiteten Augen an. Sie wollte etwas erwidern, doch alles, was sie zustande brachte, war ein Hustenanfall, der sie wohl daran hinderte, etwas Peinliches von sich zu geben.

„Um Himmels willen, Lady Harrison!“, stieß Abingworth aus und legte seinen Arm um ihre Schulter, um sie zu stützen. „Ist alles in Ordnung?“

Sie blickte auf und sah ihm in die unmöglich dunklen Augen. Wie ein Blitz durchzuckte sie ein Gefühl, das sie noch nie empfunden hatte. Ihre Handflächen wurden nass, ihr Herz sprang beinahe aus der Brust, es war ihr unmöglich zu atmen. War das Liebe? Dieser Druck von innen heraus? Sie wollte den Fremden am Kragen packen und küssen. Diesen Mann, den sie noch niemals gesehen hatte. Was hatte er mit ihr gemacht? Sybil wandte sich aus seinem Griff und strich den Rock ihres Kleides glatt. „Es tut mir schrecklich leid. Das muss wohl an den Scones liegen. Sie waren schrecklich trocken, finden Sie nicht auch?“, presste sie hervor.

Abingworth sah sie einen Moment lang verwirrt an und lachte amüsiert auf. „Da kann ich Ihnen nur zustimmen! Was halten Sie davon, wenn wir uns noch an dem Champagner bedienen, ehe ihn diese Klatschrunde ausgetrunken hat?“, schlug er vor.

Sie nickte. Abingworth schien ein netter Mann zu sein. Es wäre nichts Schlimmes daran, ihn näher kennenzulernen, oder? Vielleicht würde sie ihre Mutter dann auch zufriedenstellen.

Die Dienerschaft war bereits dabei, das Buffet abzuräumen, da sich die Gesellschaft bald ins Stadthaus der Familie zum Dinner begeben würde. Jene, die nicht eingeladen worden waren, machten sich auf zu gehen. Sybil entdeckte das Mädchen, das gegen ihre Bank getreten hatte. Das weiße Kleid war inzwischen mit Schokolade verschmiert. Eine ältere Dame, die Sybil für die Gouvernante hielt, saß vor dem Kind im Gras und bemühte sich, die Seide mit einem feuchten Tuch wieder reinzubekommen. Die Mutter hielt seine Hand und redete auf das Kind ein. Sie war offensichtlich verärgert.

„Wie überaus schrecklich“, merkte Abingworth an, als er Sybil eine mit prickelnder Flüssigkeit gefüllte Flöte reichte. 

„Dieses Mädchen hier auf jeden Fall. Sie hat in der Kirche gegen meine Bank getreten.“ Sybil sah das Kind böse an.

„Die Mutter verweichlicht sie. Manchmal muss man Kinder disziplinieren“, sagte er kühl.

Sybil schluckte. Bei seinen Worten kamen in ihr Erinnerungen an ihre eigene Kindheit hoch. Die strenge Erziehung ihrer Mutter, die nicht selten zum Einsperren im Kinderzimmer geführt hatte, war ein starker Kontrast zur Güte ihres Vaters gewesen, der sie in der Nacht gehalten hatte, wenn sie vor lauter Angst keinen Schlaf finden konnte. Sie wollte nicht länger darüber nachdenken, daher sagte sie rasch: „Sind Sie zum Dinner geladen?“

Abingworth nickte und nahm einen Schluck von seinem Getränk. „In der Tat, das bin ich.“ 

„Woher kennen Sie Reginald – ich meine Lord Harrison?“

„Lord Harrison arbeitet doch für den Finanzminister. Ich bin Vorsitz einer Bank in Edinburgh. Wir haben uns vor einigen Monaten bei einer Sitzung in London kennengelernt. Ich muss sagen, ich halte ihn für einen sehr sympathischen Menschen und seine Frau erst!“

„Sie kennen Lady Mary-Anne?“

„Eine sehr intelligente und pfiffige Person“, meinte er und nickte.

„Sie kommen also aus Edinburgh. Ich wusste doch, dass ich etwas Schottisches aus Ihrem Akzent heraushöre.“ Sybil konnte nicht verhehlen, dass sie dies ein wenig irritiert hatte.

Abingworth errötete. „Tatsächlich? Ich bemühe mich, es so gut es geht zu verbergen“, murmelte er.

„Aber wieso denn das? Ich finde es sehr charmant!“, versuchte Sybil ihn aufzumuntern. Er strahlte sie freudig an. Es schien funktioniert zu haben.

„Ich hatte Sie komplett anders eingeschätzt, Lady Harrison“, sagte er.

Sie hob eine Augenbraue. „So? Wie darf ich das verstehen?“

„Wenn ich ehrlich bin, haben Sie neben Ihrer Freundin so verloren gewirkt, dass ich Sie für ein Mauerblümchen gehalten habe.“

„Auch ein Mauerblümchen blüht auf, wenn es den richtigen Sonnenstrahl trifft.“ Sogleich schlug sie die Hand vor den Mund, die nicht damit beschäftigt war, das Champagnerglas zu halten. Was hatte sie da gerade von sich gegeben? Wie peinlich! Abingworth allerdings lachte lediglich ehrlich und laut. Und es war ihr nicht, als mache er sich über sie lustig. Im Gegenteil, er wirkte geschmeichelt. „Da muss ich Ihnen durchaus recht geben. Vielleicht hat sich der Sonnenstrahl das Blümchen gerade deshalb ausgesucht.“ Er nahm ihre Finger in die seinen, um sie von ihren Lippen zu schälen. „Sie haben unheimlich zarte Hände“, hauchte er.

Sie könnte sich in seinen Augen verlieren. Sie leuchteten wie der sternenlose Nachthimmel über ihrem Anwesen in Kent. So dunkel, tief und faszinierend. Sybil konnte es sich nicht erklären. Sie hatte diesen Mann gerade erst getroffen. Wie war das möglich? Aber hatte Thomas nicht erzählt, dass er bei Gianna ebenso gefühlt hatte? Und er liebte sie bis zum heutigen Tage so innig, wie ein Mann seine Frau nur lieben konnte. Vielleicht war Abingworth ihre Gianna, ihr Romeo, ihr Eros. Und sie war sein Thomas, seine Julia, seine Psyche. 

Er lächelte sie an. Der Wind frischte auf, wirbelte durch seine dicken, seidigen Haare und zerrte an seinem Gewand, während die Sonne auf die olivfarbenen Wangen fiel, sich in den schwarzen Iriden spiegelte. Er hob ihre Finger zu seinen Lippen und wollte schon einen Kuss auf ihre Knöchel drücken, als ein Diener sich wortlos an ihnen vorbeischob und mit seiner Schulter gegen Sybil stieß. Sie verschüttete den Champagner und tränkte mit dem prickelnden Getränk ihre blonden Strähnen und das Oberteil ihres Kleides. „Wie ärgerlich!“, stieß sie aus.

„Lassen Sie mich“, bat er, zückte ein Baumwolltaschentuch und tupfte ihre Schultern und ihr Gesicht sauber. Seine Berührungen waren zärtlich und Sybil lehnte sich gegen seine Hand wie ein Hund, dem man den Kopf tätschelte. Zu gerne hätte sie sich an ihn geschmiegt. Seine Hände waren warm, die Haut weich. Ob das jene waren, die sie bis zu ihrem Lebensende halten würde? 

„Ich fürchte, alles andere müssen Sie selbst sauber wischen.“ Er räusperte sich und überreichte ihr das Taschentuch.

„Muss ich das denn?“, hauchte sie, ehe sie sich daran hindern konnte.

„Meine liebe Lady Harrison, wir haben uns vor einer Viertelstunde kennengelernt“, wies er sie spielerisch zurecht und sie lachte.

„Manchmal reicht eine Viertelstunde aus, um sich ein Leben lang zu kennen“, erwiderte sie, worauf Abingworth errötete. 

Es war weit nach zehn Uhr abends, doch die Party befand sich noch in vollem Schwung. Das Dinner war ereignislos verlaufen. Sybil hatte neben Gianna gesessen und nach zehn Minuten den kleinen Alfred am Schoß gehabt, für dessen Betreuung nicht eigens ein Kindermädchen mitgenommen worden war. Er liebte seine Tante und spielte fasziniert mit dem Perlen besetzten Mieders ihres Kleides.

„Er mag alles, was glitzert“, hatte ihr die Italienerin mit starkem Akzent erklärt und dann mit ihm in ihrer Muttersprache geplaudert, was Lady Gertrude dazu veranlasst hatte, Gianna aufzufordern, das zu unterlassen. Er solle erst Englisch lernen, es habe keinen Zweck, ihn mit einer Zweitsprache zu überfordern. Dabei wusste Sybil, dass beide Buben Französischunterricht erhielten. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb Gianna ihrer Tante solch ein Dorn im Auge war. Sybil hatte sich allerdings nicht darauf konzentrieren können, was ihre Schwägerin erzählte. Immer wieder hatte sie sich dabei erwischt, wie ihr Blick zu dem Earl Abingworth hinübergewandert war. Er hatte neben Wellington gesessen und sich angeregt mit dessen Anhängsel Hales unterhalten. Sie hatte sich vorgenommen, endlich nachzufragen, weshalb er zur Hochzeit geladen worden war. 

 

Sybil saß in einem der Ohrensessel in der Bibliothek, in die sie sich mit Abingworth zurückgezogen hatte. Die Musik aus dem Tanzzimmer drang leise zu ihnen. Der Earl hatte ihr gegenüber Platz genommen und eine Flasche Wein geöffnet, die aus der Küche gebracht worden war. Sie war mittlerweile nur noch halb voll. 

„Sagen Sie, Earl Abingworth. Sie haben doch während des Abends mit dem jungen Earl Hales gesprochen. Haben Sie erfahren, wie er zur Familie Darlington steht?“

Der Earl räusperte sich, nahm einen Schluck Wein und fragte: „Was wissen Sie über Lord Darlingtons Ableben?“

„Nicht viel“, erwiderte sie. „Lediglich, dass er bei einem Jagdunfall ums Leben kam.“

„Das stimmt. Er wurde erschossen. So viel stand auch in der Zeitung. Ein Schuss muss sich aus einer der Flinten gelöst haben. Von welcher, möchte die Familie allerdings nicht preisgeben. Ihr Cousin allerdings hat mir mehr verraten. Anscheinend ist Darlington erpresst worden. Von wem, wollte er mir nicht sagen. Dieser Mann soll ihm auch das Leben genommen haben …“

„Aber weshalb?“

„Der junge Darlington unterhielt unmoralische Beziehungen zu Männern“, erklärte Abingworth.

Sybil war schockiert. Alexander Darlington? Sie hatte ihn nie getroffen, aber er war in höchsten Tönen von den Zeitungen gelobt worden. Er war als aufstrebender Stern am Politikhimmel bezeichnet worden, als besten Redner ihrer Zeit, als Revolutionär. Und solch ein charismatischer Mann sollte sich der der gleichgeschlechtlichen Liebe schuldig gemacht haben? Sie konnte es nicht fassen! Auch Reginald hatte immer nur Gutes über ihn erzählt. Abingworth allerdings nickte lediglich nachdenklich. „Schrecklich, ich weiß. Wellington war wohl sein Assistent. Haben Sie den Siegelring der Darlingtons an seinem Finger bemerkt? Lady Harrison, also die junge Lady Harrison, soll ihn ihm als Trost geschenkt haben. Denn er war, soweit ich weiß, Darlingtons Liebhaber gewesen. Und Hales ist dessen Ersatz.“

Sybil schüttelte den Kopf. „Wie überaus scheußlich“, hauchte sie. Sie hatte also all die Zeit in der Kirche neben einem solchen Menschen gesessen? Wenn ihre Mutter das wüsste! Vermutlich würde sie das nicht einmal schockieren. Ihr Vater war schließlich Künstler und die Männer, mit denen er einen Großteil seiner Zeit verbrachte, waren Darlington wohl nicht unähnlich. 

„Was für ein wundervolles Gemälde“, bemerkte Abingworth plötzlich. Er war aufgestanden und stand nun vor jenem Bild, das ihr Vater Reginald zu dessen Verlobung geschenkt hatte. Es zeigte die geflügelte Gestalt eines jungen Mannes, der sich vom Himmel herab zu einer Frau senkte, die ihn sich ihm entgegenstreckend küsste. Noch hatten sich ihre Lippen nicht berührt. Der Hintergrund war dunkel, die Gestalten allein strahlten im Mondlicht. Die Frau trug ein griechisches Gewand, während der Jüngling ganz und gar unbekleidet war. Die schwarzen Haare der Dame ergossen sich wie ein Wasserfall über ihren alabasterfarbenen Rücken, als sie die Hände nach dem Geflügelten ausstreckte. 

„Amor und Psyche“, erläuterte Sybil. „Mein Vater hat es gemalt.“ Seine Geliebte hatte ihm für Psyche Modell gestanden. Nur zu gerne hätte Sybil ihr Glas zerschlagen und die Leinwand zerschnitten. Der wollüstige Gesichtsausdruck der Schauspielerin war für immer in diesem Bild verewigt. Wie oft ihr Vater diesen wohl gesehen haben musste?

„Kennen Sie die Geschichte?“, fragte Sybil stattdessen. Abingworth schüttelte den Kopf.

„Ein König hatte drei Töchter. Psyche war die schönste davon. Sie war so unglaublich schön, dass alle Menschen sich von Venus abwandten und nur noch sie verehrten. Eifersüchtig auf Psyche schickte die Göttin ihren Sohn Amor zu ihr, sodass er sie dazu bringt, sich in einen schlechten Mann zu verlieben. Amor allerdings verliebte sich in die schöne Psyche und brachte sie in einen Palast, wo sie von nun an lebte. Er besuchte sie jede Nacht, verbot ihr aber, ihn je zu sehen. Psyche vereinsamte zusehends und so brachte er ihre Schwestern zu ihr, um ihr Gesellschaft zu leisten. Diese, eifersüchtig auf die Schwester, überredeten sie dazu, ihren Mann zu hintergehen. Psyche, aus Angst der Vater ihres ungeborenen Kindes sei ein Dämon, wartete in der Nacht mit einem Öllicht auf Amor. Als dieser erschien, erschrak sie so sehr, dass sie ihn mit dem heißen Öl verwundete. Amor fühlte sich, als hätte er seine Mutter hintergangen und flog auf den Olymp. Die rachsüchtige Venus verdonnerte Psyche dazu, Aufgaben für sie zu erledigen. Amor, der sich von der Verbrennung erholt hatte, bat Jupiter darum, seine Psyche heiraten zu dürfen. Dieser willigte ein. Sie gebar ihm daraufhin die Voluptas, die Wollust“, erzählte sie und war sich sicher, einen großen Teil der Geschichte ausgelassen zu haben. Es war schon eine Weile her, seit sie sich mit den antiken Mythen auseinandergesetzt hatte. Abingworth hatte ihr wortlos gelauscht, seinen Blick an der schönen Psyche gehaftet. 

„Schön ist sie wahrlich“, hauchte er.

Sybil sah ihn böse an. „Und mit ihrer Schönheit hat sie meinen Vater verhext. Jetzt sitzt er mit ihr in Paris und gibt unser ganzes Geld für diese Frau aus.“

Abingworth bedachte sie mit einem unlesbaren Blick. „Wie ich sehe, hat auch Ihre Familien Leichen im Keller. So wie die Darlingtons.“

„Hat das nicht jede? Wie sieht es bei Ihnen aus, Earl Abingworth. Welches dunkle Geheimnis hüten Sie?“

Einige Zeit lang schwieg er, starrte in den nicht entfachten Kamin, als fände er in der Asche eine Antwort auf ihre Frage. Dann wandte er sich ihr zu, nahm ihre zitternden Hände in die seinen und sah ihr tief in die sturmfarbenen Augen. „Bis jetzt hatte ich keines. Nun glaube ich aber auch, von der Schönheit einer Psyche verhext zu sein. Oder nein, vielleicht ist sie gar Venus“, flüsterte er.

Sybil errötete, ehe er ihr einen sanften Kuss auf die Lippen gab. 

Kapitel 1

Lady Sybil Harrison hatte Earl Victor Abingworth noch wenige Wochen nach ihrem Treffen geehelicht. Ihre Mutter hatte der Vermählung mehr als enthusiastisch zugestimmt. Ihr Vater hielt sich immer noch in Paris auf, er hatte seit Monaten keine Briefe mehr geschickt. Die Zeremonie war nicht annähernd so aufwendig wie jene, die Reginald seinen Gästen geboten hatte, aber dafür war die Hochzeit viel zu schnell vonstattengegangen. Lady Cathrine hätte gerne ein wenig gewartet, doch Abingworth hatte auf eine rasche Vermählung gedrängt, da er sich nicht noch länger so weit von zu Hause aufhalten konnte. Er hatte als Vorsitz der Lloyds Bank in Edinburgh natürlich Verpflichtungen. Zwar gäbe es eine Vertretung, doch der Mann war unerfahren und Victor wollte ihm nicht noch länger sein Amt überlassen. So war aus Sybil vor Ende Oktober Lady Abingworth geworden. Der Name klang überraschend vertraut, rollte besser von der Zunge als ihr Mädchenname. Schon nach einigen Tagen hatte sie sich daran gewöhnt. Und auch an den Ehering, den sie von nun an jeden Tag auf dem linken Ringfinger trug. Thomas hatte die rasche Eheschließung mit Skepsis beobachtet. 

Selbst am Tag von Sybils Abreise stand er abseits der Droschke und bespaßte lieber seinen fünfjährigen Sohn, als sich ordentlich von seiner Schwester zu verabschieden.

Gianna hingegen drückte ihrer Schwägerin einen feuchten Kuss auf jede Wange. „Ich hoffe, du hast dich bald eingelebt. Schreib zu mir bitte, so oft du kannst“, bat sie Sybil. „Mir, Gianna, nur mir. Schreib mir“, korrigierte sie die junge Mutter, die sogleich beschämt zu Boden blickte.

„Ach, ich werde eure Sprache nie lernen.“

„Gianna, du sprichst besser Englisch, als ich Italienisch je beherrschen werde. Alle, mit denen ich gesprochen habe, waren beeindruckt von dir“, versicherte Sybil ihr.

„Ich hoffe, du wirst dich mit deinem neuen Ehemann wohlfühlen“, seufzte Gianna. „Ihr kennt einander doch gar nicht so richtig!“

Sybil schüttelte hartnäckig den Kopf. „Thomas und du habt euch vor der Hochzeit höchstens zwei Mal gesehen“, tadelte sie. Gianna lächelte sie verlegen an. „Du wirst bestimmt eine großartige Ehefrau machen“, versicherte sie ihr dann.

Die Sonne schaffte es kaum, sich durch die dichten Wolken zu kämpfen. Die Bäume hatten den Großteil ihrer Blätter verloren, der Nebel wollte auch tagsüber nicht mehr weichen. Der Herbst war dieses Jahr so früh gekommen, dass Sybil meinte, kaum einen Sommer erlebt zu haben. Sie fröstelte und zog den Nerzmantel enger um ihren schmalen Körper. Sybil umarmte ihre Schwägerin und flüsterte ihr ins Ohr: „Lass dich von Tante Gertrude nicht unterkriegen. Sie ist eine verbitterte, arme Frau.“

Gianna nickte. Sie hatte Tränen in den Augen, der Abschied fiel ihr offensichtlich schwer. „Wann kommt denn Earl Abingworth?“, fragte sie und sah sich mit ihren großen Rehaugen um. 

„Victor ist schon vor drei Tagen abgereist. Er hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen.“

„Heißt das, du musst den ganzen Weg nach Edinburgh allein in der Kutsche verbringen?“, fragte Gianna erstaunt.

Sybil zuckte mit den Schultern. „Sieht so aus. Aber ich habe mir in weiser Voraussicht noch in London ein Buch gekauft. Geistergeschichten, passend zu dieser Jahreszeit.“

„Geistergeschichten? Wie fürchterlich!“, rief Gianna aus. „Ich könnte ja nachts kein Auge mehr zu tun! Aber du warst schon immer eigen. Ich liebe dich, pass gut auf dich auf.“ Erneut wurde ihr ein Kuss aufgedrückt, dann ließ die Italienerin von ihr ab. Mittlerweile war auch Thomas zu ihnen gestoßen. Er trug Francesco auf dem Arm, der Sybils Meinung nach schon viel zu alt dafür war.

„Abfahrtsbereit?“, fragte er.

„Thomas, ich weiß, dass du nicht gerade begeistert …“, setzte sie an, wurde allerdings von ihrem Bruder unterbrochen.

„Ich kenne diesen Mann nicht und du genauso wenig. Mutter war so verzweifelt, endlich einen Gatten für dich zu finden, dass sie dieser Ehe zugestimmt hat. Ich verstehe, wie wichtig es ist, dass du heiratest, aber hättest du dir nicht wenigstens jemanden aussuchen können, mit dem du längere Zeit verbracht hast? Earl Nesbot vielleicht? Aber wie dem auch sei. Ich will dir am Tag deiner Abreise keine Moralpredigt halten. Mach’s gut, Schwesterherz und schreib uns brav.“

„Keine Moralpredigt? Das war ja wohl eine“, sagte sie und lachte. Es war ihr schwer ums Herz. So sehr sie sich auch auf diesen Tag gefreut hatte, so schwer fiel es ihr nun, das elterliche Anwesen zu verlassen. „Sei du auch brav“, wandte sie sich an ihren Neffen und küsste ihn auf die Pausbacken.

„Auf Wiedersehen, Tante Sybil“, murmelte er und winkte. Sie winkte zurück. 

Ihre Mutter kam mit dem Diener aus dem Haus, der Sybils letzten Koffer in der Droschke verstaute. Sie nahm ihre Tochter wortlos in den Arm. Sybil spürte die heißen Tränen an ihren von der Kälte rosig verfärbten Wangen. „Mutter“, hauchte sie.

„Liebes, achte gut auf dich. Iss brav, schlaf ordentlich und sei ihm eine gute Frau. Mach alles, was er von dir verlangt, dass er nicht in die Arme einer anderen flieht“, riet ihre Mutter ihr, während sie in den weißen Pelzkragen schluchzte. Vaters Affäre musste ihr ordentlich zusetzen. Vielleicht auch, weil ihr alle die Schuld für diesen Zustand zuschoben. Außer ihre eigene Mutter. Sybils Großmutter war äußerst schwerhörig und hatte sich ihr Leben lang mehr als abschätzig über Männer geäußert. Als ihr Reginald Lady Mary-Anne vorgestellt hatte, hatte sie sich so gut amüsiert wie schon lange nicht mehr. Dabei hatte Sybil sie immer für verbittert gehalten. Sie selbst kannte ihren Großvater nicht richtig, er war kurz vor ihrem neunten Geburtstag verstorben. Alles, was von ihm geblieben war, war das grimmig dreinblickende Porträt, das im Esszimmer aufgehängt worden war. 

Sybil nickte lediglich, küsste ihre Mutter rasch auf die Wange und bestieg die Droschke.

„Schreib, sobald du angekommen bist, damit wir wissen, dass es dir gut geht“, forderte Lady Harrison, ehe sie die Tür der Kutsche zuschlug.

Nun war es so weit. Sybil schob den dicken Vorhang zur Seite, der das kleine Fenster in der Tür verdeckte und warf einen letzten Blick auf das Anwesen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Wie eine alte gezeichnete Postkarte, deren Farben bereits verblasst waren, blickte es zurück. Sie würde dieses Haus wohl nur noch auf Besuchen von innen sehen. Das Fahrzeug ruckelte, als der Kutscher sich auf den Bock schwang und den beiden Rappen die Peitsche gab. Dann setzte sich die Droschke in Bewegung und fuhr die breite Auffahrt entlang, die sie nunmehr nicht als Bewohnerin, sondern als Gast verabschiedete. 

Aus ihrer chinesischen Seidentasche kramte sie das Buch hervor, das sie in London gekauft hatte. Es war etwas dicker als jene, die sie üblicherweise auf Reisen mit sich führte, doch diese Fahrt würde lang und einsam werden. Sybil hatte, wie es gebräuchlich war, eines ihrer Dienstmädchen mitnehmen wollen, doch Victor hatte sich derart gesträubt, dass sie sich dagegen entschieden hatte. Er habe schon genug Dienstboten, er könne nicht noch ein hungriges Maul gebrauchen. Auch auf den Vorschlag, das Mädchen nach ihrer Ankunft wieder nach Hause zu schicken, war er nicht eingegangen. Vielleicht war es besser so. Sybil konnte sich vorstellen, dass ihr der Abschied noch schwerer gefallen wäre, hätte sie jemanden mitgebracht, der sie an ihr Kindheitshaus erinnerte. So musste sie sich mit dem Kutscher und ihrem Roman begnügen. Sie schlug das Buch auf, dessen Umschlag schlicht gestaltet war. 

Anne Scotts Das Haus an der Küste war die erste Kurzgeschichte in der Sammlung und Sybil verlor sich sogleich in der blumigen Art, in der die Autorin zu erzählen vermochte.

 

Frederick lebte nun schon drei Jahre lang allein. Seit dem frühzeitigen Tod seiner Frau und seines ungeborenen Sohnes hatte er sich zurückgezogen. Beinahe führte er ein Leben wie ein Eremit. Lediglich seinen Bruder ließ er ab und zu in sein Haus an der stürmischen walisischen Küste. Das Anwesen war alt und verfiel, seit Frederick es geerbt hatte. Sein Vater und dessen Vater und dessen Vater vor ihm hatten alles darangesetzt, das traute Heim in Schuss zu halten. Aber Fredericks Trauer war auch nach all den Jahren so groß, dass er es nicht schaffte, Handwerker anzuheuern, die sich des traurigen Zustandes des Gebäudes annahmen. Vielleicht, so dachten die Bewohner des kleinen Dorfes am Fuße des Anwesens, war der unweigerliche Verfall des Hauses repräsentativ für jenen des Hausherrn. In der Tat waren Fredericks Haare zu lang, die Kleidung zu weit und die Augen zu trübe. Wenn der Bruder zu Besuch kam, dann mietete er sich ein Zimmer im Gasthaus, anstatt in einem der vielen im Anwesen zu übernachten. Er reiste jeden ersten Montag im März, im Juni, im September und im Dezember an und verblieb üblicherweise eine Woche. Am Anreisetag war er meist in bester Stimmung, schwatzte mit den Mädchen und dem Wirten im Gasthaus, bevor er seinen allabendlichen zweistündigen Spaziergang pünktlich um einundzwanzig Uhr machte. Am Dienstag jedoch redete er weniger, aß nicht mehr alles auf. Dann blickte er aus dem Fenster auf das Haus seines Bruders, wobei der dennoch um neun das Gasthaus verließ, um sich körperlich zu ertüchtigen. Mittwochs sprach er nur noch mit dem Wirten, verweigerte die Suppe und trank zwei Gläser Wein anstatt eines. Der Spaziergang verkürzte sich um eine halbe Stunde. Donnerstags redete er nicht mehr, ließ die Hälfte des Hauptganges übrig und verlangte stattdessen eine volle Flasche Wein. Er trat seinen Spaziergang um zehn Uhr an und blieb so lange aus, dass der Wirt nur für ihn eine kleine Kerze im Gastraum brennen ließ. Am Freitag aß er kaum, stocherte mit der Gabel in seinem Abendessen, rauchte und trank viel zu viel, bis er gegen Mitternacht aus der Gaststätte torkelte und nicht mehr zurückkehrte, bis ihn das Mädchen am Samstagmorgen an der Küste schlafend im Sand fand. Samstag verbrachte er auf dem Zimmer und weigerte sich unter Tränen, den Bruder zu besuchen. Wenn er Sonntag Morgen abreiste, war er blass, unkoordiniert und das Gewand trug er unordentlich. Sein Gepäck, hastig selbst zusammengepackt, warf er in die Droschke, deren Kutscher er anhielt, ihn so schnell und weit wie möglich von dem Anwesen Fredericks fortzubringen. Dies wiederholte sich mit jedem seiner Besuche. Frederick selbst bekamen die Bewohner des Dorfes so selten zu Gesicht, dass einige schon vergessen hatten, wie er aussah. Ausgemergelt, das Haar strähnig und die Wangen eingefallen, würde ihn der Wirt einem Reisenden beschreiben, der nach dem Hausherrn des riesigen Anwesens fragte. 

Es war im März der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, dass ein junger Bursche namens William beim Schuster des Dorfes seine Lehre begann. Niemand hatte ihn über den Umstand aufgeklärt, dass das Gespräch keinesfalls auf Frederick und das Haus zu lenken war. Also fragte er schon kurz nach seiner Ankunft im Dorf an der Küste alle Bewohner genau danach aus. Als ihn jedermann abwies und ihm riet, sich mit der Fragerei zum Teufel zu scheren, war er mehr als zu vor dazu entschlossen, dem Geheimnis des Hauses auf die Schliche zu kommen. An jenem Montag des Monats reiste auch der Bruder des unglückseligen Besitzers an und bezog sogleich sein Zimmer im gewohnten Gasthaus. 

William näherte sich dem Mann, als dieser gerade sein Abendessen einnahm und setzte sich unaufgefordert zum ihm an den Tisch. Fredericks Bruder, noch nicht von den Strapazen seines Besuches erschöpft, ließ den Burschen fraglos Platz nehmen.

„Mein Herr, ich möchte nicht stören, aber ich hörte, dass Ihr der Bruder des Hausherrn seid“, wisperte der Lehrling hinter vorgehaltener Hand, sich panisch umsehend, dass ja keiner auf sie aufmerksam geworden war. Doch die Gaststube war so gut wie leer. Lediglich zwei Männer saßen einsam an den Fenstern und blickten in die raue Frühlingsnacht. 

„Ja, das stimmt, mein Junge. Viscount Francis Llawddyn, der jüngere Bruder Fredericks“, gab er ihm bereitwillig Auskunft. Der Junge begann zu schwitzen. Ihm wurde die Kehle eng. Nie hatte er sich erträumt, mit dem Bruder des Earls zu sprechen, dessen bloße Erwähnung ihm verboten worden war. 

„Gehe ich richtig in der Annahme, dass du mit mir über meinen Bruder sprechen willst?“

„Ja, Sir! Ich meine, wenn Ihr mir gestattet, derartige Fragen zu stellen. Ich … Mir wurde angeraten, dies nicht zu tun.“ Er blickte auf die kurzen Fingernägel. Schwarz vom Poliermittel.

Viscount Llawddyn aber lachte lediglich und sagte: „Ich werde dir erzählen, was ich noch nie jemandem in diesem Dorf preisgegeben habe.“

„Aber weshalb gerade mir?“

„Weil mich noch niemand danach gefragt hat.“

„Das Haus an der Küste ist verflucht. In ihm lebt nicht nur mein Bruder, sondern auch seine Frau. Lady Erin bewohnt dieses Haus aber nicht in jenem Sinn, in der ein lebendiger Mensch ein Haus bewohnt, denn sie wandelt seit Jahren nur noch als Geist über das Anwesen. Sie hasst alle und jeden, und vor allem hasst sie das Haus. Sie hasste es schon, da hatte sie noch gelebt. Frederick kann dieses Anwesen nicht verlassen. Er ist daran gebunden wie auch der Geist seiner verstorbenen Frau. Sie lässt ihn nicht gehen. Die Dienerschaft ist bereits vom Grund geflohen. Sie eilten in Scharen davon, als der Spuk begann und jeder, der nur einen Fuß auf die Ländereien setzt, verfällt ihm. Sie saugt ihn aus. 

Sie nährt sich von meinem Bruder, von den Wänden, von allem Lebendigen, das auf diesem Boden wächst. Nie gedeiht dort eine Blume, nie trägt ein Baum dort Blätter und nie singt ein Vogel dort sein Lied. Alles, was das Anwesen umgibt, ist tot. Sie bringt es um. Sie wandelt rastlos durch die Gänge, verfolgt meinen Bruder auf Schritt und Tritt und legt sich in das kalte, verstaubte Ehebett, das sie einst miteinander teilten. Wer es wagt, Frederick zu besuchen, vergeht. Langsam zerfällt alles dort zu Asche, wird grau und zerbröckelt, sodass sie dadurch länger als Geist verbleiben kann. 

Sie ist ein abscheuliches Wesen. Ihr Gesicht, mein Junge, ist keines mehr. Erin war schön, so schön, dass selbst die Sonne sich abwandte, da sie sich ihres Glanzes schämte, der in Erins Gegenwart verblasste. Nun hat der Hass all dies zerfressen. Die Augen, einst so grün wie die weiten walisischen Hügel, sind schwarze Löcher, in denen man keine Iris finden kann. Die Lippen, so rot wie blühende Rosen, sind blass und verdecken kaum die Zähne, die spitz aus dem verwitterten Fleisch ragen …“

 

Sybils Kutsche hielt ruckartig an. Sie war derart in die Geschichte vertieft gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie viel Zeit verstrichen war. Erst nun merkte sie, dass ihre Handflächen trotz der Kälte klatschnass waren. Ihr Herz pochte in ihren Ohren, sie musste sich geängstigt haben. Der Kutscher war vom Bock gesprungen und klopfte an die Scheibe der Tür. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, wollte sich aber nicht anmerken lassen, wie sehr sie die Erzählung mitgenommen hatte. 

„Mylady, es ist beinahe ein Uhr nachmittags. Wollen Sie etwas essen?“, grummelte der runde Kerl und sie schluckte. Eigentlich war sie nicht besonders hungrig. Sie wäre lieber die Nacht durchgefahren, um so bald wie möglich Victors Anwesen zu erreichen, anstatt alle paar Stunden eine Pause einzulegen. Doch auch sie verstand, dass die Pferde sich ausrasten mussten. „Sehr wohl!“, rief sie und drückte die Türe auf, um sich vom Kutscher aus dem Gefährt helfen zu lassen. 

„Ich habe Mylady einen Tisch hier aufgebaut, wenn das genehm ist. Das Essen ist leider kalt geworden“, sagte er und wies auf den Klapptisch, den sie für die Reise gepackt hatten. Sybil hielt an sich, nicht die Nase zu rümpfen. Erkaltetes Essen vertrug ihr Magen nur schwer und verdarb ihr den ohnehin nicht vorhandenen Appetit. Doch sie war zu gut erzogen, als dass sie eine liebevoll angerichtete Mahlzeit einfach verschmähte. Deshalb nahm sie auf dem wackeligen Stuhl Platz, der schräg in der Landschaft stand. Sie hatte keinen Schimmer, wie weit sie inzwischen gefahren waren und wo sie sich befanden. Geistesabwesend zerteilte sie den kalten Braten mit dem uneleganten Reisebesteck und besah sich die Landschaft. Die flachen Hügel ihrer Heimat hatten sich langsam zu kleinen Bergen gewandelt, zwischen denen der Nebel waberte. Ausgetretene Wege schlängelten sich an Feldern vorbei, die von niedrigen Holzzäunen begrenzt waren, hinter denen weiße, weiche Schafe grasten. Ein idyllisches Bild, wäre es nicht November und so kalt, dass sie ihre Finger kaum mehr spürte. Nach wenigen Bissen schaffte sie es nicht länger, das kalte Fleisch herunterzuwürgen, und griff stattdessen nach den Petit Four, die als Dessert vorgesehen waren. Ihr Kutscher war im Bock zusammengesunken, die Schultern hochgezogen und anscheinend eingenickt. Sybil stand auf und streckte sich. Sie überlegte einen kurzen Moment, ob sie sich die Beine vertreten sollte, entschied sich aber dagegen, da sie fürchtete, sich zu verirren. Sie spazierte zu den Schafen, die sich eng aneinandergedrängt hatten und die Ankommende teilnahmslos betrachteten.

„Ach, habt ihr es nicht schön?“, fragte sie die Tiere. „So unbekümmert hier zu grasen. Keine Erwartungen, die ihr zu erfüllen habt, keine Aufregung, kein Stress.“ Sie lehnte sich undamenhaft an den Zaun und seufzte. „Außerdem habt ihr so schöne Haare. Immer zurecht gekämmt, ohne dass ihr euch darum bemühen müsst.“ Eines der Lämmer kam blökend zu ihr getrabt. Es war schwarz, eine Gesichtshälfte in Braun gehalten. Ohne Umschweife streckte Sybil die Hand aus und berührte die weiche, heiße Schnauze. Es presste die samtenen Nüstern gegen ihre klammen Finger und schloss die Augen, als sie es sachte zu kraulen begann.

Sybil hatte noch nie ein Schaf gestreichelt und war enttäuscht, als sich die Wolle nicht wie erwartet als weich und flauschig, sondern als struppig und fest herausstellte. Es war ihr, als hätten sie die Gemälde in der Galerie all die Jahre belogen. Ihr Vater hatte sie belogen, denn er hatte sie schließlich gemalt. Wie kleine Wölkchen wurden die Tiere dargestellt, auf deren dicken Bäuchen rotbackige Bauernknaben mit runden Gesichtern selig schlummerten. Dies waren seine früheren Arbeiten gewesen, ehe er diese Josephine Hobbes kennenlernte, die alles, die ihn verdorben hatte. Nicht einmal Schafe konnte er ehrlich und unverfälscht darstellen. Nichts von dem, was er je vorgegeben hatte zu sein, war wahr. 

Das Lämmlein zuckte zurück, als sie ihm versehentlich über das empfindliche Augenlid kratzte. Sogleich fühlte sie sich schuldig. Erneut hatte ihr Vater etwas ruiniert, sogar ohne dass er anwesend war. Hatte jemanden verletzt, den er nicht kannte. Ob Schafe wohl auch nichtsnutzige Väter hatten? Wahrscheinlich nicht und wenn schon, dann war die Herde da, um die kleinen Lämmer aufzufangen. Oder der Hirtenhund, der sich ihr unauffällig näherte. Er bellte.

„Mach dir keine Sorgen, ich tu ihm schon nicht weh!“, versicherte sie dem Vierbeiner, und als hätte er sie verstanden, setzte sich der Hund und wedelte schwerfällig mit dem Schwanz. Wenn sie ehrlich war, hätte sie zu gerne mit dem Tier getauscht. Aber der Gedanke an Victor und seine Liebe verscheuchte diesen lächerlichen Wunsch. Sybil war noch nie verliebt gewesen. Ja, hie und da eine kleine Schwärmerei, aber Liebe, die kannte sie nicht. Auch jetzt, da sie verheiratet war, war sie sich nicht sicher, ob die Zuneigung, die sie zu Victor empfand, tatsächlich Liebe war. Aber das musste es sein, oder etwa nicht? Reginald hatte das Gefühl genauso beschrieben. Vielleicht konnte sie all dem nicht vertrauen, weil sie mitansehen hatte müssen, wie die Liebe zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter langsam zerbrochen war. Wie sich diese Schauspielerin in ihre Leben gedrängt und sie von innen heraus vergiftet hatte. Dieses junge, durchtriebene Ding, das Sybil so gar nicht zu Gesicht stand. Wie oft war sie zu Besuch gewesen, hatte die Nacht im Haus verbracht und Sybils Mutter musste stillschweigend und wissentlich ertragen, wie ihr Mann zu Josephine ins Bett gekrochen war. Es ekelte die junge Lady an. Am liebsten hätte sie damals ihren Vater beim Kragen gepackt und gebeutelt, bis er zur Vernunft gekommen wäre, aber da war er schon auf dem Weg nach Paris gewesen, mit der kleinen Schauspielerin im Schlepptau. An jenem Abend hatte sich Sybil gewünscht, ihr Vater möge doch mit dem Zug entgleisen. Sie hasste ihn, verabscheute ihn abgrundtief. Und es war ihr, als könnte sie die Gefühle des rachsüchtigen Geistes in der Geschichte nur zu gut nachvollziehen. 

Stumm stand sie einige Zeit da und beobachtete die Schafe. 

„Mylady, wir wären wieder abfahrtsbereit“, sagte der Kutscher und räusperte sich.

Sie nickte. „Auf Wiedersehen“, flüsterte sie den Schafen zu und bestieg die Droschke. Den Tisch und den Stuhl hatte der brave Mann inzwischen wieder verstaut. Das Gefährt ruckelte, als er sich auf den Kutschbock schwang und die Pferde antrieb. Vielleicht, überlegte Sybil, sollte sie noch ein wenig lesen. Oder aber die Landschaft beobachten, die langsam an ihnen vorbeizog. Die Schafsherde wurde immer kleiner, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. 

Sybil erwachte früh am nächsten Morgen. Ihre Glieder waren steif, der Nacken schmerzte und ihre Finger hatten sich so sehr um das Buch verkrampft, dass sie diese kaum auszustrecken vermochte. Sie rollte ihre Schultern nach hinten, um ihren Körper in Bewegung zu bringen und erstarrte, als sie das Anwesen erblickte, dem sie sich näherten. Ein eindrucksvoller georgischer Bau erhob sich auf den kargen Hügeln Schottlands. Dem zweistöckigen Gebäude entsprang ein ebenso hoher Erker, in dem die breite Türe eingelassen worden war. Vier Pilaster erhoben sich zwischen den Fenstern, die sich über die Stockwerke spannten und den Blick auf ein kunstvoll gestaltetes Stiegenhaus preisgaben. Einige Stufen führten zu der zweiflügeligen Eingangstür. Die untere Hälfte des Vorsprunges war mit Steinen gepflastert worden, zwischen denen im Sommer und Herbst wilder Wein gewachsen war. Die Blätter waren längst vertrocknet. Die Äste klammerten sich wie Ertrinkende an der Fassade fest und zitterten im rauen schottischen Wind, der über sie hinweg pfiff. Unzählige Rauchfänge ragten in den wolkenverhangenen Himmel, spien dichten Rauch aus und ließen Sybil wissen, dass das Haus vielleicht gar für sie geheizt worden war. Das Anwesen war wohl vor einigen Jahren erneut gelb gestrichen worden, aber der Verputz war an vielen Stellen wieder abgebröckelt, was mitnichten weniger gepflegt wirkte. Die von sorgfältig gestutzten Büschen und zu dieser Jahreszeit verdorrten Blumenbeeten gesäumte Auffahrt zeugte von gottbegnadeten Gärtnern und Victors gutem Geschmack. Ob er sie wohl schon sehnsüchtig erwartete? 

Ihr Herz begann laut zu schlagen, je näher sie dem Anwesen kamen. Es trommelte ein Staccato, das beinahe schmerzte und zog, sodass es in ihrer Brust eng wurde. Ihre Kehle vertrocknete, ihr Körper verzehrte sich nach Victors Berührung und alle Müdigkeit war bei dem Gedanken, bald in seinen Armen zu liegen, verflogen. Zu gerne wäre sie einfach aus der Kutsche gesprungen und die letzten Meter zum Haus gelaufen, denn die Pferde konnten nicht so schnell traben, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie presste das Gesicht gegen die kalte Glasscheibe, an der sich über Nacht Eisblumen entfaltet hatten, und blickte mit großen Augen auf ihre neue Behausung. Hier würde sie also den Rest ihres Lebens verbringen. Wie wunderbar! Oft schon hatte sie sich ausgemalt, wie es wohl wäre, mit ihrem Ehemann zu leben. In einem weitläufigen Anwesen mit großem Garten, in dem sie Arm in Arm spazieren und den Kindern beim Spielen zusehen würden. Im Alter säßen sie nebeneinander im Teepavillon und beobachteten die Blätter, wie sie sich im warmen Sommerwind wogen, obgleich sie sich selbst schon im Winter ihres Lebens befanden. Dieses Haus war nun das ihre. Dies würde ihr Rückzugsort, ihr Lebensmittelpunkt werden und sie konnte sich kein anderes vorstellen, das sie eher beziehen wollte. Leise jauchzte sie, als das Gespann vor dem Treppenabsatz zu stehen kam. Sybil wartete nicht auf den Kutscher, sondern stieß die Tür der Droschke übereifrig selbst auf, woraufhin sie beinahe der Länge nach auf den Kies fiel. Sie konnte sich gerade noch auffangen. Der Kutscher bedachte sie mit einem missbilligenden Blick. Sie sah entschuldigend zu ihm empor, richtete sich auf und strich ihr Kleid glatt. Dann atmete sie tief ein und schritt auf die Tür zu, um die elektrische Klingel zu betätigen, die auch hier schon Einzug gefunden hatte. Hinter ihr kam keuchend der Kutscher zu stehen, der schwer mit ihrem Gepäck beladen war. 

„Hoffentlich ist nicht die gesamte Belegschaft ausgeflogen“, murrte er, als befände er sich nicht in Gegenwart der neuen Hausherrin.

„Es ist schrecklich kalt“, entgegnete Sybil lediglich und schauderte. Er schnaubte. Natürlich wusste sie, dass dies nicht der Grund war, weshalb er sich beschwert hatte. Nichts rührte sich im Haus.

„Denkst du, ich sollte noch einmal klingeln?“, fragte sie. „Vielleicht haben sie es nicht gehört.“

„Wer das nicht hört, ist entweder taub oder tot“, krächzte der Kutscher.

Sybil konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Tatsächlich hatte die Klingel den schrecklichsten Ton, den sie je gehört hatte. Gerade wollte sie sich noch einmal bemerkbar machen, da flog die Türe auf und ein junges Dienstmädchen, dessen kupferrotes Haar zu allen Seiten unter der Haube hervorlugte, strahlte sie an. 

„Mylady! Wir hatten keine Ahnung, dass Ihr schon so früh anreisen würdet! Kommt doch herein, es ist ja fürchterlich kalt!“, rief sie und trat augenblicklich zur Seite, um Sybil einzulassen. „Und du armer Mann“, sprach sie nun zu dem Kutscher. „Das sieht schwer aus! Ich schicke gleich einen der Valets zu dir.“ 

Sybil betrat das Anwesen und sofort fuhr die Wärme in ihre kalten Glieder. Man hatte wohl jedes Zimmer des Hauses geheizt, sogar in dem kleinen Chaminee in der Vorhalle prasselte ein Feuer. Sogleich fühlte sie sich willkommen. Man hatte auf sie gewartet. Victor hatte offenbar angeordnet, ihre Ankunft so angenehm wie möglich zu gestalten und sich offensichtlich um sie gesorgt. 

Schlanke Finger packten Sybils Pelzmantel und rissen ihn ihr unelegant von den Schultern. Das Mädchen strahlte sie an. „Ich bin Maddy. Wenn Ihr etwas braucht, dann bin ich Eure Ansprechpartnerin“, erläuterte sie.

Sybil wunderte sich ob der unangebracht distanzlosen Art, in der mit ihr umgegangen wurde. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie es begrüßte, nicht wie eine Fremde behandelt zu werden. Sie lächelte Maddy an und bedankte sich. Der Vorraum war dunkel möbliert und die Fülle an Gemälden in der Halle erinnerte Sybil an ein Museum. Natürlich war sie dies von zu Hause gewohnt. Ihr Vater hatte die Bilder, die ihm von seinen Kollegen geschenkt worden waren, immer stolz im Anwesen präsentiert und selbstverständlich dort ausgehängt, wo sie von ihren Besuchern sofort wahrgenommen wurden. Auch hier bot sich der Vorraum für diese Zwecke an. Eines der Gemälde stach ihr sogleich ins Auge. 

Ein Jüngling, der vom Himmel stürzte, der Körper leblos und an den Schultern eine Konstruktion mit Federn bestückt, die zu allen Seiten mit ihm in den Tod fielen. Über ihm strahlte die Sonne, unter ihm glitzerte das Meer, ein beinahe makabrer Hintergrund zu solch einem Unglück, das sich auf der Leinwand abspielte. Der junge Mann war vollkommen nackt, ein paar Blüten waren in sein Haar geflochten, ein Tuch, das er wohl vor seinem Sturz getragen haben musste, flatterte im Wind. 

Die Farben waren strahlend, die blonden Locken des Fallenden wirkten wie Goldfäden, die Haut war nicht frei von Schönheitsfehlern, selbst die kleinsten Muttermale konnte man erkennen. Auch wenn er wohl bald im Meer ertrinken würde, war der Gesichtsausdruck des Dargestellten jener von höchster Ekstase und sein Körper wandte sich, als läge er in den Armen einer Liebhaberin. Sybil hatte noch nie ein solch fein geschnittenes Gesicht gesehen. 

„Ikarus“, sprach jemand hinter ihr und sie zuckte unweigerlich zusammen. Victor hatte sich ihr unbemerkt genähert und schlang seine Arme um ihre Taille. „Gemalt von Temple Boltby. Einer meiner ältesten Bekannten. Es ist wundervoll, nicht?“

„Victor!“, stieß sie aus und wandte sich um, sodass ihr Gesicht nur einige Zentimeter von dem seinen entfernt war. Er küsste sie. Sie hatten sich das letzte und erste Mal bei ihrer Vermählung geküsst. Seine Lippen auf den ihren fühlten sich immer noch ungewohnt und fremd an. Sybil jedoch schob das Gefühl weg. Dies war ihr Ehemann und es war ihr vollends bewusst gewesen, dass sie ihre Ehe diese Nacht vollziehen würden. Immerhin hatte Victor ihr sofort nach der Hochzeit die Möglichkeit gegeben, sich dagegen zu entscheiden. Er war ein richtiger Gentleman gewesen, wie er im Buche stand, und hatte niemandem verraten, dass sie sich geschont hatte. Immerhin, so seine Worte, war sie nicht die Queen. Es gab keine Eile. Er wollte nicht, dass sie sich unwohl fühlte. 

Sie drängte sich an ihn, schmiegte sich lächelnd an ihren Ehemann. Wie gut er roch! Er musste ein neues Rasierwasser tragen, das ihr viel besser gefiel als sein Altes. Er war warm und legte sich wie eine Decke um ihren Körper. Sie lächelte gegen seine Lippen. 

„Darling“, wisperte sie. „Ich habe dich ja so vermisst!“

Er lachte. „Ich dich ebenso“, erwiderte er. „Wie schön, dass du heute schon so früh angereist bist. Um ehrlich zu sein, habe ich kein Auge zugetan, so sehr habe ich mich auf dich gefreut.“

„Oh, Victor! Es ging mir genauso. Obwohl, ich muss zugeben, ich habe in der Kutsche geschlafen. Mein Körper ist zwar etwas steif, aber dafür bin ich ausgeruht.“ 

„Du musst schrecklich hungrig sein, meine Liebste“, stellte er fest. Sogleich wollte sie protestieren, da meldete sich ihr leerer Magen lautstark zu Wort. Er knurrte wie ein ausgehungerter Hund. „Aber aber!“, kommentierte Victor belustigt. „Da muss man sich doch nicht gleich beschweren.“ Sie lächelte. „Vielleicht ist das eine Aufforderung, mir und meinem Magen endlich das Esszimmer zu zeigen. Jetzt, wo wir die neuen Hausherren sind“, sagte sie und ließ von ihrem Ehemann ab.

„Aber mit Freuden, meine Liebste“, stimmte er zu und führte die junge Lady an der Hand durch den Gang. 

Sie saßen einander am reichgedeckten Frühstückstisch gegenüber und unterhielten sich angeregt. Sybil kicherte in ihre Tasse heiße Schokolade, als Victor einen seiner Geschäftspartner nachahmte, die Wangen aufgeplustert und die Hände in die Hüfte gestemmt. „So benimmt er sich doch nicht wirklich, oder?“, fragte sie und lachte. 

„Und wie! Immer, wenn ihm gerade etwas nicht passt, echauffiert er sich dermaßen. Wir nehmen ihn nicht mehr ernst.“

„Wie könntet ihr auch! Das ist geradezu lachhaft!“

„In der Tat.“

„Victor, wie lange bleibst du eigentlich bei mir?“, fragte sie plötzlich. Sie wollte die Stimmung nicht ruinieren, aber diese Frage lastete ihr schon auf dem Herzen, seit sie angekommen war.

Er schwieg und starrte auf seinen Teller, auf dem noch die Krümel des Croissants lagen, das Maddy erst am Vorabend gebacken hatte. 

„Nun ja“, setzte er an und räusperte sich peinlich berührt. „Ich werde die Nacht noch mit dir verbringen. Morgen früh muss ich allerdings in mein Stadthaus in Edinburgh zurückkehren. Du weißt ja, die Geschäfte können nicht allzu lange ruhen.“

Er hatte schon am Abend ihrer Hochzeit angekündigt, dass er wohl den Großteil seiner Zeit in der Stadt verbringen und sie mit langen Abwesenheiten rechnen musste. Das läge in der Natur der Dinge, wenn man sich mit einem Bankier vermählte. Natürlich hatte Sybil gewusst, dass ihr Ehemann nicht immer an ihrer Seite sein würde, aber es versetzte ihr dennoch einen Stoß ins Herz. Auch ihr Vater besaß ein Studio in London und ihr Großvater hatte zuvor schon eine Wohnung in der Stadt bezogen, wenn er sich unter der Woche um seine Firma kümmern musste. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter hatten lange, einsame Tage und Nächte auf den Familienanwesen verlebt. Das lag nicht nur in der Natur der Sache, wenn man einen Geschäftsmann ehelichte, sondern auch, weil es bei Frauen ihres Standes verpönt war, zu arbeiten. Somit war es nur logisch, dass die Männer sich öfter außerhalb des Hauses aufhielten. Aber wenigstens eine Woche hätte er sich freinehmen können! Bis sie sich zumindest ein bisschen eingelebt hatte. Doch sie wusste auch, dass Victor schon Reginalds und ihrer Hochzeit wegen zu viel Zeit von der Bank fort verbracht hatte. Kein Wunder also, dass er so schnell er konnte, in die Firma zurückkehren wollte. 

„Oh, so rasch also schon“, murmelte sie. 

„Nun schau doch nicht so traurig!“, stieß er besorgt aus. „Ich verspreche dir, nie länger als nötig wegzubleiben. Immerhin bist du nicht allein. Du hast doch Maddy, die dir Gesellschaft leisten kann und auch die anderen Mädchen und Valets sind wundervolle Menschen. Und wenn dir doch einmal langweilig werden sollte, kannst du mich doch in Edinburgh besuchen kommen.“

Sie lächelte verkniffen und nickte. Die Tränen, die ihre Augen füllten, blinzelte sie tapfer weg. Dies war ihr erster Tag in ihrem neuen Zuhause, sie wollte ihn nicht verderben. Vor allem, weil sie Victor so lange nicht gesehen hatte. „Ich war noch nie in Edinburgh“, presste sie stattdessen hervor. „Es wäre wundervoll, die Stadt einmal zu sehen. Mein Vater hatte ein, zwei Ausstellungen dort.“

Natürlich hatte er sie nie mitgenommen, dieses Privileg war Josephine Hobbes vorenthalten gewesen. „Was für ein Zufall. Temple wird in wenigen Monaten auch wieder ausstellen“, sagte Victor, der die Traurigkeit seiner Ehefrau entweder nicht bemerkt hatte oder sie geflissentlich übergehen wollte. 

„Dein Freund, der das Bild in der Halle gemalt hat?“, fragte sie.

Victor nickte. „Eben der. Er versucht eifrig, Sponsoren und Käufer aufzutreiben. Eigentlich laufen die Geschäfte gut, aber man darf sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen und den Geldstrom versiegen lassen. Momentan hat er eine Kreativsträhne, wie er selbst behauptet. Muss wohl daher rühren, dass er endlich an die Küste gezogen ist. Hier zwischen den Bergen wird man doch nur melancholisch.“ Als hätte er selbst gemerkt, was er soeben gesagt hatte, riss er schockiert die Augen auf. „Sybil, das wollte ich nun wirklich nicht!“, rief er, aber sie winkte ab. 

„Schon gut, schon gut“, versicherte sie ihm mit einem verständnisvollen Lächeln. „Willst du mir nicht noch das restliche Anwesen zeigen? Vielleicht könnten wir auch durch den Garten flanieren. Es ist zwar etwas kalt, aber ich würde zu gerne die Ländereien sehen.“

Sogleich war Victor auf den Füßen und kam auf sie zu, um sie bei der Hand zu nehmen. „Was für eine grandiose Idee“, sagte er und zwinkerte ihr zu. All die schlechte Laune war wie weggefegt, nur das Kribbeln der Vorfreude auf die Erkundungstour war geblieben. Sie strahlte ihn an. 

Gemeinsam spazierten sie zu einem kleinen Wintergarten, durch den man eine Terrasse aus massivem Stein betreten konnte. Im Sommer fanden wohl nur ein Tisch und einige Stühle Platz. Nun herrschte gähnende Leere, auch wenn man die Vögel mit einigen ausgestreuten Brotkrümeln zu füttern suchte. Eine Krähe, die sie beim Picken gestört hatten, hob empört den Kopf und plusterte sich auf. 

Die Terrasse spannte sich über die gesamte Rückseite des Anwesens und wurde von zwei langen Treppen flankiert, die sich in den Garten wanden. Sie waren penibel gekehrt worden, sodass kein einziges totes Blatt mehr darauf zu finden war. Eigentlich schade. Sybil liebte das Gefühl von raschelndem Laub unter ihren Sohlen. Victor führte sie zur Balustrade und stützte sich mit den Händen auf dem kalten Stein ab. 

Der Nebel war so dicht, dass Sybil kaum etwas von dem ausladenden Garten wahrnahm. Lediglich ein Teepavillon hob sich von der eintönigen grauen Wand ab, da er tiefschwarz gestrichen war. Einige Kieswege schlängelten sich durch das gestutzte Gras und verschwanden bald schon in den dichten Nebelschwaden.

„Im Sommer ist es hier ganz wundervoll“, versicherte ihr Victor, der wohl ihren enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkt haben musste. „Die Gärtner kümmern sich außerordentlich gut um die Ländereien. Hier vorn wächst ein üppiger Rosenbusch.“ Er wies mit der Hand zur rechten Treppe. „Dort hinten habe ich ein kleines Labyrinth anlegen lassen.“

Sybil horchte auf. „Ein Labyrinth?“

Victor nickte. „Aber ja. Wenn du möchtest, kann ich es dir auch jetzt zeigen. Die Thujen sind momentan leider nicht so dicht wie im Sommer, aber ich kann dir versichern, es ist auch jetzt noch spaßig.“

Sie nickte enthusiastisch. Wie romantisch sich das anhörte! Sie hatte schon so viele Bücher gelesen, in denen sich die Protagonistin in einem solchen Labyrinth versteckte, um spielerisch von ihrem Liebhaber dort entdeckt zu werden. Wenn man von der schrecklichen Legende des Minotaurus einmal absah, die ihr Vater ihr als Kind zum Einschlafen erzählt hatte. Sybil würde viel lieber mit Victor ein romantisches Fangenspiel erleben.

Ungefragt hakte sie sich bei ihm unter. Sogleich hatte sie das Bedürfnis, ihren Arm zurückzuziehen und sich von Victor zu distanzieren, zurückzutreten und einige Meter zwischen sich und ihren Mann zu bringen. Doch sie hielt an sich. Victor war schließlich ihr Ehemann. Sie hatte jedes Recht dazu, ihn zu berühren oder seinen Arm zu ergreifen, ohne nachfragen zu müssen. Victor legte seine Hand sanft auf die ihre und lächelte sie an. Sie strahlte zurück. 

Er führte sie in den kahlen, vernebelten Garten an den einsamen Kieswegen entlang, an vertrockneten Blumenbeeten vorbei. Und dennoch empfand sie den kleinen Spaziergang als überaus romantisch! Sybil konnte den Frühling nicht abwarten, um alles rund um das Anwesen in seiner vollen Pracht bestaunen zu können. 

„Du wirkst beeindruckt“, merkte Victor an. „Habt ihr zu Hause keinen Garten?“

„Natürlich haben wir einen Garten! Aber Victor, das ist jetzt unser gemeinsamer Garten, mein erster als Hausherrin und nicht nur als Bewohnerin“, seufzte sie zufrieden und legte den Kopf an seine Schulter. 

„Dieser Bodennebel erinnert mich an die Gemälde von Caspar David Friedrich, dich nicht auch?“, fragte sie und blickte auf die braunen toten Rosenstängel, die darunter hervorlugten. 

„Ich fürchte, ich kenne mich nicht so gut mit Malerei aus wie du“, erwiderte Victor. „Leider muss ich zugeben, dass ich mir dazu kein Bild machen kann. Ich bin eben Bankier.“

„Tatsächlich? Dann müssen wir unbedingt einmal die schottische Nationalgalerie besuchen!“, rief sie. Auch wenn sie nicht viel vom Beruf des Kunstmalers an sich hielt (immerhin war ihr nichtsnutziger Vater einer davon), konnte sie sich an sorgfältig gestalteten Gemälden nicht sattsehen. Wie gern stand sie davor und starrte so lange auf die Leinwand, bis sie das Gefühl hatte, selbst darin zu sein. Eindringlich betrachtete sie die kleinen Menschen aus Farbe und überlegte sich eine Biografie, eine Aufgabe, ein Lebenswerk. Wohin gingen sie? Wo kamen sie her? Wo lebten sie? Was waren ihre Namen? 

Sybil hatte nie viele Freunde gehabt, dafür hatte sie zu lange Nachmittage und Abende mit ihrem Vater in dessen Atelier verbracht. Der Geruch des Terpentins, das er zum Reinigen der Pinsel verwendete, auch wenn sie nie richtig sauber wurden, wirkte auf sie wie der Duft frisch gebackener Kekse auf andere Menschen. Jeder Pinselstrich wollte bedacht und sorgfältig ausgeübt werden, damit es für den Betrachter unbeschwert wirken sollte. Kein Wort hatte ihr Vater mit ihr gewechselt, während er seine Gedanken zu Leinwand brachte. Eine Unaufmerksamkeit im kleinsten Detail und schon wäre die Komposition zerstört! Sybil wusste all das über die Malerei, obwohl sie nie selbst einen Pinsel gehalten hatte. Sie hatte ihren Vater oft um Unterricht gebeten, aber seine Antwort war immer dieselbe: „Ich bin auch nur ein Amateur!“

Sybil hatte immer schon gewusst, dass das eine Lüge war. Es lag ihm wohl nicht genug an ihr, um nach der Arbeit noch ein wenig mit seiner Tochter zu üben. 

„Wenn du so enthusiastisch bist, solltest du dich unbedingt einmal mit Earl Boltby unterhalten“, schlug Victor vor. 

„Zu gerne!“, rief sie und schmiegte sich an ihn. „Lass ihn uns doch einmal einladen! Wie ist er denn so, Earl Boltby?“

Augenblicklich versteifte sich Victor und hielt unvermittelt an. Hatte sie etwas Falsches gesagt? 

„Victor?“, fragte sie sanft und blickte ihn an. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, er sah in die Ferne, schien ganz weit weg zu sein und in Gedanken versunken. Es war, als nähme er Sybil nicht mehr wahr. „Victor, geht es dir nicht gut?“, hakte sie noch einmal nach und legte ihm die Hände auf die Wangen, um sein Gesicht zu sich zu drehen. Er war leichenblass. Seine dunklen Augen wirkten wie tiefe Abgründe unter den pechschwarzen Wimpern, die sich von den erbleichten Wangen abhoben. Es war, als hätte er einen Geist gesehen. 

„Victor, so sprich doch mit mir!“, rief sie. Panik kroch in ihr empor. Irgendetwas stimmte mit ihrem Mann nicht. Diese simple Frage musste Schreckliches in ihm hervorgerufen haben.

Sein Blick traf den ihren und es war, als erwachte er aus einem schrecklichen Traum. 

„Sybil“, hauchte er zusammenzuckend. Er ergriff ihre Hände und führte ihre Finger zu seinen Lippen, um ihnen einen Kuss aufzudrücken. „Darling, es tut mir fürchterlich leid! Ich war wohl in Gedanken versunken“, murmelte er.

Sybil merkte ihm sogleich an, dass dies eine fadenscheinige Ausrede war, entschied sich aber, nicht weiter nachzubohren. Immerhin war sie gerade angekommen und kannte Victor ob der mehr oder weniger überstürzten Hochzeit zugegebenermaßen noch nicht wirklich. Sie wollte ihn nicht durch übertriebene Neugier davonjagen. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass Männer ihre Geheimnisse haben sollten, die ihre Ehefrauen nichts angingen. Wenn man zu viel hinterfragte, dann wirkte sich das negativ auf die Ehe aus. Also hielt sich Sybil an den Rat und ließ das Thema sein. Immerhin hatte er heute Nacht schlecht geschlafen.

„Was hast du gefragt?“, wollte er wissen.

„Dein Freund, Earl Boltby, was ist er für ein Mensch?“, wiederholte sie unsicher, ob er nicht wieder in diesen tranceartigen Zustand verfallen würde. Doch er strahlte sie lediglich an. 

„Temple ist ein außerordentlich liebenswürdiger Mann. Eine sanfte, ruhige Künstlerseele. Erst vor Kurzem hat er einen Jungen bei sich aufgenommen, Silas Hepburn, den er wohl auf der Straße vor seiner Haustür entdeckt hat. Er wäre ansonsten verhungert. Temple konnte das nicht mitansehen!“

„Ach, wie überaus gütig! Meine Schwägerin engagiert sich auch immer sehr für die Wohlfahrt. Jedes Jahr zu Weihnachten hält sie Wohltätigkeitsveranstaltungen ab, deren Erlös den Armen zugutekommt“, erzählte sie. Nicht ohne eine gehörige Portion Stolz auf Gianna, die sich sofort nach ihrer Ankunft in England für all diese Themen begeistert hatte. Sie besaß ein derart großes Herz! 

„So wie es aussieht, habe ich wohl in eine gute Familie geheiratet“, sagte Victor und lachte.

„Du? Eingeheiratet?“, meinte Sybil. „Ich dachte, ich hätte in die deine geheiratet.“

„Zu schade nur, dass davon kaum jemand übrig ist“, murmelte ihr Gatte. Traurig blickte er in die Weiten des vernebelten Gartens.

Sybil biss sich verschämt auf die Unterlippe. Sie erinnerte sich, dass Victor den unerwarteten Tod seiner Mutter bei ihrem zweiten Treffen erwähnt hatte. Sein Vater war daraufhin in eines der Familienchateus in der Provence gezogen, um diesen Verlust besser ertragen zu können. Victor hatte beinahe den gesamten Sommer an seiner Seite verbracht. 

„Aber jetzt hast du ja mich und wir können eine eigene kleine Familie gründen“, sagte sie. Viel zu fröhlich und aufgekratzt, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Victor machte hier in seinem Anwesen einen viel melancholischeren Eindruck auf sie, als er es in London getan hatte. Vielleicht tat ihm die Einsamkeit hier nicht gut. Aber nun, wo sie eingezogen war, hatte diese ja glücklicherweise ein Ende. 

Erneut hielt er inne. „Eine eigene …“

„Aber ja, Victor! Wir müssen doch eine Familie gründen. Oder denkst du etwa, wir sollten nebeneinanderher leben, so ganz ohne Kinder? Das wäre doch absurd!“ Sie verstand nicht, weshalb er ihre Absichten hinterfragte. Es wurde schließlich von ihnen erwartet, nein, es war gar ihre Pflicht, neue Menschen in diese Welt zu bringen. Und was das für eine Freude wäre! Sybil war der Gedanke zwar noch fremd, plötzlich ein Kind bei sich zu haben, ein kleines Wesen, das auf sie angewiesen war, aber sie wusste, dass es ihre Pflicht war und sie diese zu erfüllen hatte. Was wäre wohl, wenn ihre Mutter dieser nicht nachgegangen wäre? Oder ihre Großmutter? Undenkbar! 

Er wandte sich ihr zu und packte sie an den Schultern, liebevoll lächelte er sie an. „Aber das weiß ich doch, Darling. Ich hatte nur gehofft, dieses Gespräch nicht an unserem ersten gemeinsamen Tag führen zu müssen!“ Er lachte und presste seine kalte Stirn gegen Sybils, sodass sein Gesicht vor ihren Augen verschwamm. „Immerhin wollte ich die nächsten Stunden mit dir hier genießen“, fuhr er fort. Er legte seine rechte Hand auf ihren Rücken und presste seinen Körper gegen den ihren, sodass sie nach hinten stolperte und er sie in seinen Armen auffing. Sie blickte ihn von unten herauf an und errötete. Wie schon einige Wochen zuvor, als sie ihn auf der Agape nach Reginalds Hochzeit getroffen hatte, bemerkte sie, wie unheimlich schön er war. Gutaussehend wurde seinem Gesicht nicht gerecht. Er war schön. So schön, dass Sybils Herz einige Takte aussetzte und sie sich in den schwarzen Augen ihres Geliebten verlor. Rasch schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und ließ sich tiefer in die seinen sinken. „Oh“, wisperte sie, die Lider geschlossen. „Was hattest du denn mit mir vor?“

Victor presste seine Lippen gegen ihre Wange, hauchte ihr einen Kuss auf und flüsterte ihr heiß ins Ohr: „Mit ein bisschen Fantasie kommst du sicher dahinter.“ Sie kicherte wie ein Schulmädchen und wollte schon Anrüchiges erwidern, als er sich aufrichtete und die Hände hinter dem Rücken verschränkte. „Du weißt ja, ich muss morgen schon wieder in meinem Stadthaus in Edinburgh sein.“ 

Schwer machte sich die Enttäuschung erneut in ihr breit. Sie ließ ihre Arme von seinem Nacken sinken und jegliche Vorfreude wich aus ihr. „Oh“, sagte sie. Am liebsten hätte sie geweint. Seit Victor so kurz nach der Hochzeit abgereist war, hatte sie sich nach ihm gesehnt. Jede Minute, die sie nicht beisammen sein konnten, hatte geschmerzt und auch jetzt würde sie nur wenig Zeit mit ihm verbringen können.

Dennoch schenkte sie ihm ein gequältes Lächeln. Er sollte nicht merken, dass er sie mit seinen Worten verletzt hatte. „Das finde ich immer noch ein wenig schade“, sagte sie stattdessen. Ihre Augen glitten über die toten Blumenbeete zu dem winterlichen Labyrinth hinüber. „Dann müssen wir das meiste aus dieser kurzen Zeit herausholen!“ Sie ergriff seine Hand und zerrte ihn regelrecht zu den blattlosen Hecken. Victor allerdings rührte sich nicht vom Fleck. In Panik, etwas Falsches getan zu haben, wandte sie sich zu ihm um. Er sollte ihr nicht böse sein! Das könnte sie nicht ertragen! Victors Augen waren voll Traurigkeit. „Warte“, sagte er. „Du bist enttäuscht, nicht wahr?“

Sybil fühlte sich ertappt und nickte langsam. Beschämt blickte sie zu Boden. „Nun ja …“

„Darling.“ Er trat einen großen Schritt auf sie zu und ergriff ihre Hände. „Bitte, du sollst mich nicht anlügen oder mir etwas verheimlichen. Wir sind Eheleute. Wir sollten uns demnach näherstehen als alle anderen Menschen auf dieser Welt.“ Sanft küsste er ihre Stirn. „Ich liebe dich, Sybil. Bitte sei immer ehrlich mit mir.“

Sybil brach in Tränen aus.

 

Am Abend regnete es in Strömen. Victor hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um Briefe zu beantworten, auch wenn er ihr versprochen hatte, ihr Gesellschaft zu leisten. Immerhin musste er bald wieder fort. Zu gern hätte sie noch mit ihm geplaudert und ihn bei sich gehabt. Seit ihrer Hochzeit mit Thomas hatte Gianna auch einen Großteil ihrer Zeit allein im Familienanwesen verbracht. Schon damals hatte sich Sybil gefragt, ob sie den Ehemann denn vermisse. Sie hatte sich bemüht, der jungen Schwägerin viel Aufmerksamkeit zu schenken, um ihr das Leben ein wenig erträglicher zu machen. Und hätte sich Gianna auch einsam und verlassen gefühlt, so hatte sie sich nie etwas anmerken lassen. So wie Sybil nun versuchte, stark zu sein und sich so gut es ging abzulenken. Victor würde nicht allzu lange brauchen, das hatte er ihr versprochen. 

Auf seinen Ratschlag hin hatte sie sich in die Bibliothek begeben und wanderte an den langen, hohen Regalen auf und ab. Lexika verschiedener Disziplinen reihten sich darin, schmiegten sich mit ihren ledernen Buchrücken aneinander und füllten jede noch so kleine Lücke. Abhandlungen zur richtigen Buchhaltung, der Geschichte des Finanzwesens Großbritanniens und ausführliche Berichte über die Währungen und Zahlungsmittel dieser Erde hatten ebenso ihren Platz gefunden wie der ein oder andere Abenteuerroman, der an den Ecken und Seiten abgegriffen zwischen die wissenschaftlichen Bücher gequetscht worden war. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die weichen Rücken, zog die vergoldeten Buchstaben nach, die in den Überzug gestanzt worden waren. Das prasselnde Feuer im Kamin, vor dem zwei Ohrensessel und ein runder Tisch platziert worden waren, machte das Zimmer wohlig warm. Es bildete einen angenehmen Kontrast zu den heftigen Winden, die den Regen erbarmungslos gegen die Fenster fegten. Das Mobiliar lud dazu ein, sich einen der Romane zu nehmen und sich mit einer Tasse Tee und einem Törtchen, üppig mit dicker Creme verziert, in einen der Sessel zu sinken und sich in einer anderen Welt zu verlieren. Sybils Augen huschten über die Buchtitel in der Hoffnung vielleicht eine gute Schauergeschichte oder dergleichen zu entdecken. Aber Victor schien ihren Geschmack für schlaflose Nächte und Gänsehaut nicht zu teilen; die Bücher, die er zu lesen pflegte, waren wohl tatsächlich hauptsächlich Sachbücher und Piratengeschichten. Sie wollte schon nach dem Mädchen läuten und es nach ihrer Kurzgeschichtensammlung schicken, als ihr Blick auf einem kleinen Büchlein hängen blieb, dessen Rücken nicht betitelt war. Vorsichtig zog sie es aus der Reihe und stellte rasch fest, dass es sich überhaupt nicht um einen Roman handelte. Das Deckblatt war aus schwarzem Leder, die Seiten an den Rändern teilweise eingerissen, als hätte man es oft benutzt. Neugierig schlug sie es auf. 

In filigraner Handschrift, die Buchstaben regelmäßig und ausladend geschwungen, hatte jemand seinen Namen in ein Exlibris geschrieben. 

„… Haddington 3.12.1894–4.2.1895“

Der Vorname war geschwärzt worden. Eigenartig.

Ein Tagebuch! Sie schlug es wieder zu, drehte es um und inspizierte die Rückseite, die ebenso schwarz und unbeschrieben wie das Deckblatt war. Ein kleines Lesezeichen, am Rande ausgefranst, war in der Mitte zwischen die Seiten geklemmt worden. Vorsichtig nahm sie es zwischen die Fingerspitzen ihres Daumens und Zeigefingers und zog es nach oben, um das Büchlein so aufzuschlagen. 

6.1.1895:

Wieder einmal gab es Streit. Er bat mich auf Knien, nicht zu Lady Moffats Ball zu gehen. Aber was soll ich denn den ganzen Tag machen, wenn er nicht da ist? Ich hatte mich so auf diesen Ball gefreut und war auch entschlossen zu gehen. Nach einer langen Diskussion schaffte ich es schließlich aus dem Haus. Er hatte mich festhalten wollen, aber in seiner Wut war ich ihm entfleucht. 

Er schwört, dass er mich liebt. Aber wenn das Liebe ist, weshalb fühle ich mich wie ein Kettenhund? Ich soll brav ‚Sitz‘ machen und gehorchen, habe aber keine Freiheit. Mutter meint, dass dies ganz normal sei, aber auch sie hatte mich nie halten können. 

Er sagt, es sei mein Gesicht. Er schämt sich wohl so sehr für mich, dass er mich verstecken will. 

„Sybil Darling!“ 

Sie zuckte zusammen, als sie Victor vom Gang aus rufen hörte. Er hatte wohl seine Aufgaben für den Abend erledigt. Rasch stopfte sie das Tagebuch zurück in die Buchreihen und wirbelte auf den Absätzen herum, um ihrem Mann entgegenzueilen. Nichts wollte sie sehnlicher, als erneut in seinen Armen zu liegen, seine Wärme auf ihrer Haut zu spüren und seine Lippen auf den ihren. Erst wenige Male hatten sie sich geküsst und sie sehnte sich bereits nach mehr. Sybil war ihm auf eine Art verfallen, die sie nie für möglich gehalten hatte. Victor war alles, was sie sich erhofft und wofür sie gebetet hatte. Allein seine Stimme löste endlose Glücksgefühle in ihr aus, die sie strahlen ließen, sie erfüllten und ihr Herz wärmten. Es gehörte ihm. Nur ihm und er hielt es in seinen sanften Händen. 

Victor erwartete sie. Das Jackett hatte er abgelegt, trug lediglich seine Weste und die Fliege lag locker um seinen Hals. Den Vatermörderkragen hatte er gelöst und Sybil bemerkte, dass er nicht mit dem Hemd verwoben war. Sie lächelte spitzbübisch und zupfte neckisch an den Spitzen des Kragens, der sich langsam aus dem Gewand zu schälen begann. 

„Du schuldest mir noch etwas“, sagte sie und blickte ihn von unten herauf an. Sie hatte noch nie unlautere Beziehungen zu Männern unterhalten und hoffte, ihn so vielleicht verführen zu können.

Victor hob erstaunt die Augenbrauen und legte seine Hände an ihre Flanken. Sie konnte die Hitze, die von ihnen ausging, durch die vielen Schichten ihrer Kleidung fühlen. Sanft zog er sie an sich heran. 

„Ach“, sagte er. „Das war mir gar nicht bewusst. Und was ist es, meine Liebste, das ich dir schulde?“, hauchte er. Sie errötete, blickte augenblicklich zu Boden und wusste nicht, wie oder was sie daraufhin antworten sollte. Sie hatte gehofft, dass er die Führung übernehmen und sie sich von ihm leiten lassen konnte. So, wie es ihre Mutter rasch und über ihre eigenen Worte stolpernd kurz vor ihrer Abreise erklärt hatte. Es war ihr erlaubt worden, sich in der Hochzeitsnacht zu schonen. Etwas, das sie Victor hoch anrechnete, war sie doch so unheimlich erschöpft gewesen. Womöglich hatte er auch nicht mehr die nötige Kraft aufbringen können. 

Sie verbarg ihr Gesicht in seiner Brust und wagte kaum zu atmen. Sie hatte ihn nicht provozieren wollen, wollte aber auch keinen Rückzieher machen. Immerhin hatte sie ihm gerade mehr oder weniger versprochen, sich ihm hinzugeben.

„Vielleicht“, sagte er plötzlich und schlang seine Arme um ihren schmalen Rücken. „Vielleicht schulde ich dir noch eine Liebesnacht.“

Sybils blasse Augen weiteten sich, sie hob den Kopf, um ihn anzublicken, da drückte er ihr schon einen Kuss auf die vor Schock geöffneten Lippen. Ihre Finger verkeilten sich in seinen Kragen, zogen ihn näher an sich heran, sodass ihre Brust flach an die seine gepresst war. Seine Lippen waren unglaublich weich und er küsste sie so zärtlich, als zerbräche sie jeden Moment unter seinen Berührungen. Mit den Fingerspitzen liebkoste er ihren Rücken, hielt sie fest, erdete sie mit seiner Ruhe, auch wenn sein Atem mit jeder Sekunde schwerer ging. 

Etwas in Sybil schrie danach, ihm nahe zu sein, sodass sie sich an Ort und Stelle lieben konnten. Aber sie wusste, dass sie brav und zurückhaltend zu sein hatte. Sie musste das tun, was von ihr erwartet wurde, wollte sie ihren Ehemann nicht abschrecken. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er von ihr ab und schenkte ihr einen so feurigen Blick, dass sie es für einen Moment mit der Angst zu tun bekam. Behutsam nahm er ihre Finger in die seinen und löste sie von seinem Kragen. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie sich an ihn geklammert hatte. Ihre Hände zitterten, als er sie zu seinen Lippen führte und federleichte Küsse auf ihre Fingerspitzen hauchte.

„Sybil, komm mit mir nach oben“, wisperte er, ehe er sie am Handgelenk packte und sie mit sich zog.

Sie stolperte über ihre Füße und den Saum ihres Kleides, so eilig hatte er es, sie ins Schlafzimmer zu nehmen. Sie hastete hinterher, der Drang, sich ihm hinzugeben, mittlerweile so stark, dass es ihr war, als verbrannte sie von innen heraus.

Victor stieß die erste Tür auf und drängte sie in ein Schlafzimmer, in dem bereits ein Kaminfeuer prasselte. Der Raum war warm, beinahe stickig. Sie riss sich von Victor los, um im Gegenzug an ihrer Kleidung zu zerren, die an ihrem erhitzten Körper klebte, als wäre sie eben noch panisch gerannt. Sogleich war Victor bei ihr, half ihr, das Oberkleid aufzuknöpfen und machte sich daran, ihr Korsett an den Schnüren zu lösen.

Sybil schlug seine Hände davon. „Nicht“, jammerte sie.

Victor schenkte ihr einen besorgten Blick, als hätte er einen schrecklichen Fehler begangen. Doch die junge Lady schüttelte nur belustigt den Kopf. „Du sollst es hier vorn aufmachen, siehst du“, sie führte seine Hände zu der Reihe Häkchen, die das Kleidungsstück über ihrer Brust zusammenhielten. „Hast du nie eins besessen?“

„Nein, ich fand sie immer etwas altmodisch“, informierte er sie und begann damit auf eine beinahe unbeholfene Art und Weise die unzähligen Haken zu öffnen. Sybil zerrte unterdes den Kragen endgültig aus seinem Hemd und warf ihn unachtsam auf den Boden. Sie riss sein Hemd aus dem Hosenbund, knöpfte seine Weste auf und fuhr mit zitternden Fingern über die Knopfreihe, die seine Hosen verschlossen hielten. Sie konnte ihn darunter spüren, und wenn sie ehrlich war, jagte ihr es eine Heidenangst ein. Sie hatte unglaubliche Angst vor den Schmerzen, die solchen Aktivitäten nachgesagt wurden. 

Victor hielt inne, bedachte sie mit einem fragenden Blick und wirkte, als ob er zurücktreten wollte. Sybil allerdings beeilte sich zu sagen: „Es ist nichts. Ich bin nur … nervös.“ Ihr Ehemann schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. „Darling, das weiß ich doch. Du bist bei mir in den besten Händen“, versicherte er und dirigierte sie an den Hüften Richtung Bett.

Er drängte sich an sie und sie fiel rücklings auf die Matratze. Ihr Herz schlug verrückt und laut wie eine Marschkapelle in ihrer Brust. Sie schwitzte wie an einem außerordentlich heißen Sommertag und ihr schwindelte ebenso. Und dennoch konnte sie nicht anders, als ihre Hände in Victors schwarzen Haaren zu vergraben, als er die seinen unter ihre Röcke kämpfte. Er strich ihr sanft über die Innenseite der Schenkel und sah ihr tief in die blassblauen Augen. 

„Mach dir keine Sorgen. Ich verspreche, es wird nicht wehtun“, flüsterte er und sie kniff die Lider zusammen.