Leseprobe Der Lord und ich

Prolog

Berkshire, England 1811

Es war durchaus statthaft, den Mann anzustarren, den sie sich zum Ehemann auserwählt hatte. Außerdem – erwartete man nicht von ihr, dass sie dem Pfarrer ihre Aufmerksamkeit schenkte, während er redete? Laut ihrer Mutter sogar ihre ganz besondere Aufmerksamkeit. Aber obwohl Reverend Wayward mit seiner gewohnten, ruhigen Autorität moralische Fragen erörterte, drangen seine Worte nicht bis in Marys Kopf vor. Sie hörte nichts von seinem Lob der Selbstdisziplin oder seiner Ermahnung, aller Versuchung zu widerstehen.

Vielleicht war dies dem Umstand geschuldet, dass die Versuchung sie längst voll im Griff hatte.

Es juckte sie in den Fingern, seine hohen Wangenknochen und den Übergang zu seinem kantigen Kiefer zu berühren. Ihre Fingerkuppen sehnten sich danach, das Grübchen neben seinem Mundwinkel und die kleine Kerbe in seinem Kinn zu ertasten und ebenso danach, in sein Haar zu fassen. Dicht, gewellt und so dunkel, dass es selbst im hellsten Sonnenlicht schwarz wie Kohle scheinen musste – ob es sich so weich anfühlte, wie es aussah?

Die Züge des guten Reverends hatten sich in Marys Vorstellung eingebrannt, und zwar in jedem noch so kleinen Detail bis hin zu der genauen Farbe seiner Augen, die sie an den dunkelblauen Rittersporn in ihrem Garten erinnerte. Aber es war mehr als nur seine schöne Gestalt und sein Verhalten, die sie anzogen. In den fünf Monaten seit der Ankunft ihrer Familie in Harper’s Grove hatte sie den Reverend genau genug beobachtet, um in ihm einen Mann von guter Herkunft und exzellentem Charakter zu erkennen.

Im Gegensatz zum letzten Mann, den ich heiraten wollte. Ihr Magen verknotete sich beim bloßen Gedanken daran, wie knapp sie einer Katastrophe entkommen war. Beinahe wäre sie nur wegen eines attraktiven Gesichts und falscher Versprechungen in ihren Ruin gestolpert. Nie wieder.

Leider war sie nicht die einzige Bewunderin des Reverends. Keine Frau mit einem pochenden Herzen in der Brust konnte seine Attraktivität übersehen, und zweifellos malte sich jede unverheiratete Frau im Dorf aus, sie wäre seine Gemahlin. Ebenso wie Mary hatte jedoch keine von ihnen seine Aufmerksamkeit erregen können. Der Mann war, zur Frustration aller Damen, auf charmante Weise unanfällig für Flirts.

Mit einem Seitenblick auf ihre Freundin Augusta, die den Kopf über ihr Gesangbuch gebeugt hielt, revidierte sie ihre Meinung über Frauen mit pochenden Herzen in der Brust. Augie war in den unscheinbaren Mister May verliebt, dessen lautes Lachen und leicht anzüglichen Scherze – zumindest nach Marys Meinung – von seinem mäßig guten Aussehen ablenkten. Sie selbst bevorzugte die angenehmen Manieren und die ruhigere Rede von Reverend Wayward.

Ihr Blick heftete sich wieder auf den Mann hinter der Kanzel, als das laute Schreien eines Babys seine Ausführungen unterbrach. Ein zärtliches Lächeln legte sich auf sein Gesicht, und Verlangen ließ Marys Brust eng werden. Was für einen wundervollen Ehemann und Vater er abgeben wird! Sie schloss abermals die Augen, um sich den Anblick einzuprägen, damit sie die Erinnerung daran jederzeit wachrufen könnte.

Ein Ellbogen grub sich in ihre Schulter, und als sie die Lider aufschlug, bemerkte Mary, dass alle aufstanden. Beschämt erhob auch sie sich und blätterte die Seite in ihrem Gesangbuch um, damit sie mit der übereinstimmte, die sie bei Augie sah.

Sie atmete tief ein, dann setzte sie mit ihrem Sopran in das Lied ein und sang in Harmonie mit dem sanften Bariton des Pfarrers. Aber obwohl sie wusste, dass ihre Stimme die aller anderen Frauen der Gemeinde überstrahlte, schenkte er ihr nicht einen einzigen Blick.

Es muss eine Möglichkeit geben, wie ich ihn dazu bringen kann, mich zu sehen!

Kapitel Eins

London, England 1811

»Teufel noch mal, das war verdammt knapp.« Lord Devlin Wayward lehnte sich an die Tür, massierte seinen Nasenrücken und kämpfte die aufsteigende Panik zurück. Zum ersten Mal seit vielen Jahren betete er darum, dass St. Peters gleich gehen würde und seine Tochter mit sich nahm, die sich, scheinbar spielerisch, wie eine Seepocke an einem Schiffsrumpf an seine Fersen geheftet hatte.

Olivia St. Peters, die unverheiratete Tochter seines zukünftigen neuen Geschäftspartners, war ein gerissenes kleines Ding, zweifellos. Die Bluthündin hatte gewartet, bis ihr Vater beschäftigt war, bevor sie sich heute an ihre Beute herangepirscht hatte. Wäre nicht Hensley genau im rechten Augenblick hereingekommen, das wusste Devlin, wäre er jetzt in ernsthaften Schwierigkeiten. Hensley würde eine ordentliche Gehaltserhöhung dafür erhalten, dass er zu seiner Rettung aufgekreuzt war, bevor ein Desaster hatte passieren können – und dafür, dass er den Mund hielt.

Alles hatte mit einem ehrlichen Missverständnis – das er zutiefst bedauerte – am Morgen ihrer ersten Begegnung angefangen. Sein Club war, wie gewöhnlich, noch geschlossen, und die einzigen Frauen, die um diese Uhrzeit erschienen, suchten Arbeit. Die Bescheidenheit des Mädchens hatte ihn zwar überrascht, denn die meisten, die sich um eine Dienststelle bewarben, zeigten viel mehr Brust, wenn sie sich vorstellten. Aber er hatte ihr Kleid bewundert und die Art, wie es ihre Gestalt umschmeichelte. So wollte er ihr gerade eine Anstellung anbieten, da kam ihr Vater vom Abtritt zurück.

Nicht ahnend, wie kurz davor er gestanden hatte, sie zu beleidigen, hatte sie seine Bewunderung für echt gehalten, und ihre daraus resultierende Vernarrtheit war anscheinend grenzenlos. Er hatte die letzten paar Wochen damit verbracht, die Begegnung mit ihr zu meiden. Meistens war er dabei erfolgreich gewesen. Heute jedoch hatte er dank St. Peters’ unfassbarem Drang, seine Tochter zu geschäftlichen Treffen mitzubringen, schändlich versagt.

Man stelle sich diese Neureichen nur vor, die es nicht besser wissen, als eine unverheiratete Frau in einen Herrenclub mitzubringen.

Auch wenn es sich dabei um einen geschlossenen Club handelte, war dies höchst unangebracht. Wäre ihre Mutter noch am Leben, hätte sie es niemals erlaubt. Wenn er diesen Geschäftsabschluss nur nicht so nötig bräuchte, um im Wettbewerb weiter mithalten zu können, dann hätte er etwas in dieser Richtung geäußert.

St. Peters war so fest entschlossen, den Bessergestellten nachzueifern und doch so ignorant den Finessen gegenüber, die sie als solche auszeichneten. Man konnte sich in die höheren gesellschaftlichen Ränge einkaufen – Geld war jederzeit willkommen –, aber kein Goldhaufen konnte ein Schweineohr in eine Seidenbörse verwandeln. Oder die mutterlose Tochter eines Privatiers in eine Lady.

Devlin wusste, dass es riskant war, eine Partnerschaft mit St. Peters einzugehen, um sein Geschäftsimperium zu vergrößern, aber Risiken waren seine Spezialität. Trotz seines schlichten Hintergrunds war der Mann in allem, was er anpackte, äußerst erfolgreich. Devlin war zuversichtlich, dass sich seine Entscheidung am Ende auszahlen würde, sie gemeinsam den Wettbewerb gewinnen würden und London ihnen zu Füßen läge.

Er ließ die Hand in seine Brusttasche gleiten, zog seinen Flachmann hervor und schraubte ihn auf, bevor er sich mit einem kräftigen Schluck flüssigen Mut verschaffte und dann nachsah, ob der Weg frei war. Zehn Minuten später saß er an das Rückenpolster seiner Kutsche gelehnt und sah Londons schmuddelige Pracht am Fenster vorbeiziehen. Der kalte Regen, der eingesetzt hatte, vermochte die Straßen nicht reinzuwaschen.

Plötzlich überkam ihn Überdruss. Ich muss von hier fort – zumindest für eine Weile. Aber wohin? Bath reizte ihn nicht. Genaugenommen gab es für einen Mann wie ihn keinen besseren Ort als London.

Die Kutsche hielt vor Devlins Haus am King’s Square an, und er verließ ihren schützenden Innenraum, um sich dem kalten Regen zu stellen, der in sein Gesicht prasselte, als er die Stufen zu seinem Heim hinaufstapfte. Im Winter ist es hier wirklich ungemütlich. Drinnen war es viel besser. Als er wieder trocken und aufgewärmt war, nahm er vor dem Feuer einen Brandy und blätterte die Post des Tages durch. Briefe von Anwälten und Kunden legte er achtlos beiseite und nahm den erwarteten Umschlag mit der vertrauten, schwer leserlichen Handschrift seines Zwillingsbruders zur Hand.

Ein Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als er die ungleichmäßigen Zeilen betrachtete. Daniel berichtete immer in aller Breite von Dingen, die er als »Neuigkeiten« aus Harper’s Grove beschrieb, dem verschlafenen Dorf, in dem er als Pfarrer diente. Die Zeilen nur überfliegend suchte Devlin nach etwas, das von größerem Interesse war.

Ah, hier war es ja schon.

David, der nach dem allzu frühen Tod des ältesten Bruders Drake den Herzogtitel geerbt hatte, war offenbar nicht zufrieden damit, wie die Familie sich zerstreut hatte. Alte Streitigkeiten waren mit ihrem Vater und Drake gestorben, und David – immer schon ein sensibler Mensch – wollte, dass alle, auch Devlin, zu ihm nach Winterbourne kämen, um gemeinsam Weihnachten zu feiern.

Nach Hause. Hier in London sollte sein zu Hause sein, aber in seinem Herzen spürte Devlin den Sog, den Winterbourne auf ihn ausübte. Die sanften Hügel und kleinen Ortschaften von Berkshire waren etwas ganz anderes als das von Ruß und Lärm geschwängerte London.

Er ruckte mit dem Kopf hoch. Natürlich! Er erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Vor Begeisterung schrieb er seine Zustimmung weniger säuberlich als sonst, wenn er seine elegante Handschrift gezielt setzte, aber das war jetzt nicht wichtig. Zufrieden streute er Sand über das Pergament und legte es zum Trocknen auf die Schreibtischunterlage. Gleich morgen früh würde er es abschicken, und nächste Woche um diese Zeit wäre er bereits auf dem Weg.

Einen Monat würde er bleiben. Nur einen kurzen Monat, in dem er Strategien entwickeln und sich erholen wollte. Es wäre ein willkommenes Atemschöpfen, und danach würde er zweifellos dafür sterben, wieder nach London zurückzukehren. Und wenn David ihn nicht so lange ertragen konnte, würde Sankt Danny ihn sicherlich im Pfarrhaus beherbergen.

St. Peters konnte sich in seiner Abwesenheit um die Clubs kümmern. Er würde es Probezeit nennen. Wenn St. Peters seine Sache gut machte, würde Devlin ihn nach seiner Rückkehr offiziell zum Kompagnon ernennen. Und mit etwas Glück würde er bei seiner Rückkehr feststellen, dass Miss St. Peters sich an die Fersen eines anderen armen Teufels geheftet hatte. Ein Monat Abwesenheit wäre sicher lang genug, damit ihr Interesse an ihm abkühlte.

Aus den Augen, aus dem Sinn.

Er hob sein Brandyglas und brachte für sich einen stillen Toast aus. Jawohl. Der verlorene Sohn würde seine äußerst einträglichen Spielhöllen, die bezaubernden Damen fragwürdiger Moral und Londons andere zahlreichen Genüsse und Vergnügungen zurücklassen und das düstere, kleine Harper’s Grove besuchen. Und er würde jede verdammte Minute der Ruhe und des Friedens genießen.

»Zur Hölle«, er lachte leise vor sich hin. »Vielleicht bleibe ich einfach bis Ostern in Winterbourne.«

Schneefall hatte eingesetzt, als die Kutsche um die letzte Kurve fuhr und Winterbourne sichtbar wurde. Devlin wunderte sich darüber, wie aufgeregt ihn der Anblick des Heims aus seiner Kindheit machte. Erinnerungen fluteten auf ihn ein, die meisten davon gut, nur wenige waren es nicht. Doch das stärkste Gefühl, welches das herrschaftliche Gebäude in ihm auslöste, war Freude. Darüber, dass er bald wieder im Schoß seiner großen und zuweilen ungestümen Familie sein würde. Das letzte Mal hatten sie sich alle bei Drakes Beerdigung zusammengefunden.

Er gestattete sich einen bedauernden Seufzer. Mochte Drake auch ein verklemmter Pickel am Allerwertesten gewesen sein, so vermisste er seinen Bruder doch. Er gab nicht Drake die Schuld daran, wie er sich entwickelt hatte; das war allein seinem Vater zuzuschreiben. Jetzt, da David der Herr auf Winterbourne war, hatten sich die Dinge ganz offenbar gewandelt.

Trotz seiner Melancholie machte dieser Gedanke ihn wütend. David, ursprünglich nur die vernachlässigte »zweite Besetzung«, hatte den größten Teil seines Lebens als junger Erwachsener auf die gleiche Weise zugebracht, wie Devlin es jetzt tat – nur schlimmer. Denn er war Künstler gewesen, und zwar von der Sorte, die schöne, nackte Frauen malte. Tatsächlich hatte David mehrere der Porträts nackter Damen gemalt, die die Wände von Devlins eigenen heiligen Hallen schmückten. Und trotzdem hatte sein Bruder vom Moment der Erbschaft an einen drastischen Wandel durchlaufen und schulterte die Verantwortung, die der Herzogtitel mit sich brachte, mit erschreckender Leichtigkeit. Zum Teil schrieb Devlin diesen Umstand der Tatsache zu, dass David geheiratet hatte.

Frauen – oder eher Gemahlinnen – schienen diese Wirkung auf Männer zu haben. Seine Mundwinkel wollten sich zu einer Grimasse verziehen. Ich lasse mich nicht so leicht zähmen. Das hatte er sich an dem Tag geschworen, als ein Brief von Daniel ihm vor Augen geführt hatte, wie sehr ein Jahr Eheleben und die Geburt eines Sohnes ihren damals wildesten Bruder, David, verändert hatten.

Sein Gesicht wurde weich, als er daran dachte, dass er den kleinen Dalton, der schon fünf war, kennenlernen würde. Er mochte Kinder. Sie waren ehrlich und sprachen aus, was sie dachten, ohne die Wahrheit zu verdrehen oder ihre Worte abzumildern. Für einen Mann, der es gewohnt war, Menschen in unterschiedlichen Stufen der Verstellung reden zu hören, war das erfrischend.

Er wollte nicht warten, bis der Fahrer herüberkam, als die Kutsche anhielt, und öffnete sich die Tür selbst. Der Duft nach Heimat überfiel ihn, und er schloss die Augen, um tief einzuatmen. Geräusche, die der Kutscher beim Entladen machte, beendeten seinen Tagtraum, und Devlin begann damit, seine Sachen aus dem Inneren der Kutsche zu holen.

»Hol mich doch der Teufel«, sprach eine sardonische Stimme in seinem Rücken. »Der verlorene Sohn ist tatsächlich zurückgekehrt.«

Devlin grinste, drehte sich um und umarmte seinen älteren Bruder, Lord Dean Wayward. »Es ist zu lange her«, sagte Devlin lachend und verbarg sein Erschrecken beim Anblick der silbernen Strähnen, die im dunklen Haar seines Bruders leuchteten.

»Das hätte nicht so sein müssen«, grummelte Dean und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »Du hättest jederzeit herkommen können, das weißt du. Wenn nicht hierher, so hätte ich dich auch auf Holburn willkommen geheißen. Tatsächlich würde ich mich freuen, wenn du uns bald besuchen kämest. Du musst Hetty kennenlernen – sie ist nicht hier«, sagte er auf Devlins fragenden Blick. »Sie ist zu Hause geblieben, um sich um ihre kranke Schwester zu kümmern. Du müsstest sehen, was wir aus dem Anwesen gemacht haben. Das heißt, wenn du dich das nächste Mal von London losreißen kannst.«

Devlin spürte, wie seine Augen zu brennen begannen. Ein so herzliches Willkommen hatte er nicht erwartet. Er klopfte auf Deans Schulter und drehte sich um, damit er zum Haus schauen konnte. »Aber wo ist denn mein Wildfang von Halbschwester? Ich bin überrascht, dass sie nicht nach draußen zur Kutsche gerannt gekommen ist.«

»Diana wusste nicht, dass du kommst.«

Indigniert verzog er den Mund. »Ich habe es doch vorher angekündigt.«

»Daniel wollte es ihr sagen, aber David und ich nahmen ihm sein Wort ab, nichts zu verraten für den …«

»Für den Fall, dass ich nicht kommen würde«, beendete Devlin matt seinen Satz.

Deans Gesicht blieb ungerührt. »Wir wollten keine Erwartungen in ihr wecken und dann zusehen müssen, wie ihr Herz bricht, wenn du doch nicht kommen könntest.«

Es versetzte ihm einen Stich, und doch wusste Devlin, dass er gut daran getan hatte, es vor ihr geheim zu halten. »Ich nehme an, ich hätte an deiner Stelle das Gleiche getan.«

»Sie hat dich schrecklich vermisst«, fuhr sein Bruder fort. »Daniel versucht, dich in deiner Abwesenheit zu ersetzen, aber du warst ihr immer näher als wir anderen. Es war schwer für sie. Hier draußen, wo die feine Gesellschaft so übersichtlich ist, hat sie nur wenige Freundinnen.«

Ein Schuldgefühl überkam ihn. Nach Daniels Worten war ihre Schwester verzweifelt gewesen, als er wegging. Er hatte ihr nur selten geschrieben. Allerdings musste man fairerweise sagen: Was könnte jemand wie er mit einer jungen, wohlerzogenen Dame von einem gewissen Feingefühl zu besprechen haben, wenn sein eigenes Verhalten und sein Umgang im besten Fall als unangemessen, im schlimmsten als vollends unmoralisch galten? Während ihre Briefe, ähnlich wie die von Daniel, von Geplauder über die örtlichen Ereignisse strotzten, war er froh, überhaupt genug Erzählenswertes zusammentragen zu können, um alle paar Monate eine halbe Seite zu füllen.

»Sie wird unzählige Freundinnen finden, wenn sie zur diesjährigen Saison nach London reist«, murmelte er. »Und dann wird sie heiraten und Freundschaften mit den Damen aus dem Umkreis ihres Gemahls eingehen.«

Dean stieß einen Ton des Missfallens aus. »Sie sollte lieber jemanden von hier heiraten. Jemanden, den sie kennt. Oder zumindest einen Mann, der sich weniger um die korrupten Zerstreuungen schert, die London bietet, sondern dem es wichtiger ist, für das gute Leben seiner Familie zu sorgen.«

»Nicht alle Menschen sind wie du, Dean«, antwortete er leichthin. »Gott weiß, ich bin es nicht. Aber auch gute Männer suchen sich in London ihre Gattinnen. Nicht alle sind solche Teufel wie ich.«

Die Lippen seines Bruders kräuselten sich in einem ironischen Lächeln. »Niemand ist wie du. Nicht einmal David in seiner schlimmsten Zeit.«

»Wo ist David überhaupt?« Es verhieß nichts Gutes, dass das neue Familienoberhaupt bei seiner Ankunft nicht einmal herausgekommen war.

»Er legt einen Streit zwischen Bauern bei. Er sollte gleich zurück sein.« Er hielt inne und winkte. Devlin wandte sich um und sah den Knecht, der ein Pferd zu ihnen führte. »Ich bin ausgeschickt worden, um zu schauen, ob der Teich zugefroren ist – Diana möchte Schlittschuh laufen.« Er lächelte. »Geh schon mal hinein. Ich komme später dazu.«

Sie umarmten sich, und Dean ritt davon.

Als Devlin in das Haus trat, sah er Daniel die Treppe herunterkommen. Sein Gesicht strahlte in einem leuchtenden, arglosen Lächeln, als er seine Schritte beschleunigte, um den Abstand zwischen ihnen zu überbrücken. Obwohl sein Zwillingsbruder ihm in einer überraschend festen Umarmung fast den Brustkorb zerdrückte, lachte er. »Verdammt, es tut gut, dich zu sehen!«, keuchte er und klopfte auf Daniels Rücken.

Sein Bruder befreite sich und sah ihm mit aller Ernsthaftigkeit offen ins Gesicht. »Meine Güte, was für ein attraktiver Teufel du bist.«

Es war ein alter Witz, aber Devlin wurde ihn nicht müde. »Wie du – für einen Mann im Rock«, neckte er und bezog sich auf die lange schwarze Soutane, die sein Bruder trug.

Daniel versuchte nicht einmal, seine Freudentränen zu verbergen, und lachte. »Komm. Diana wird uns an Ort und Stelle umbringen, wenn sie herausfindet, dass du hier bist und ich dich ihr vorenthalte.«

Devlins Kopf fühlte sich ungewohnt leicht an, als er seinem Zwillingsbruder folgte. Es war surreal, wieder durch diese Halle zu gehen, nachdem ihm für so lange Zeit der Eintritt verwehrt gewesen war. Sanfte weibliche Stimmen drangen an sein Ohr, als sie sich dem Salon näherten. Wie oft hatten er und Daniel sich in genau diese Halle geschlichen, um ihre Eltern zu belauschen oder ihnen unartige Streiche zu spielen?

Er war anscheinend nicht der Einzige, der sich an diese Zeiten erinnerte – als sie sich der Tür näherten, blieb Daniel zurück und winkte ihm vorauszugehen.

Grinsend schlenderte Devlin hinein, griff nach einem Buch und setzte sich kommentarlos hin. Die Damen warfen ihm einen Blick zu, unterbrachen ihre Unterhaltung jedoch nicht. Ihre Durchlaucht, die Herzogin von Winterbourne – Evangeline – plauderte darüber, Gelder für einen wohltätigen Zweck zu sammeln, während die junge Lady Diana Tee einschenkte. Er gab vor, zu lesen und warf verstohlene Blicke auf die beiden.

»Du hast dich umgezogen«, bemerkte seine Halbschwester schließlich. »Möchtest du später noch ausreiten?«

Er blickte sie über den oberen Buchrand hinweg an und gab ein nichtssagendes Grunzen von sich.

Sie runzelte die Stirn. »Antworte mir nicht mit Schweinegeräuschen.« Als er nicht reagierte, schielte sie ihn misstrauisch an. »Vor nicht mal einer Stunde warst du guter Laune. Wodurch hat sich das geändert?«

Bevor er antworten konnte, sagte Daniel von der Halle aus: »Die lange Fahrt von London hierher durch die Kälte, schätze ich.«

Brauen zogen sich himmelwärts, als Daniel den Kopf hereinstreckte, und dann entstand ein heilloses Durcheinander, als beide Frauen aufsprangen und Devlin mit einer Flut glücklicher Ausrufe und nicht ernstgemeinter Vorwürfe bestürmten.

Diana fuchtelte mit dem Zeigefinger in seine Richtung, aber ihre Schelte wurde durch ihr breites Lächeln abgemildert. »Du bist so verkommen wie früher!« Sie drehte sich zu Daniel um und schürzte die Lippen. »Ich hätte zumindest dich für erwachsener gehalten.«

Devlin ließ sich von ihr umarmen und auf beide Wangen küssen, dann von seiner Schwägerin. Ein Teil von ihm wand sich in all dem weiblichen Getue, aber ein anderer Teil empfand es als großen Trost, dass er willkommen geheißen und nicht zurückgestoßen wurde. Darunter mischte sich ein scharfer Stich des Bedauerns, weil er nicht früher zurückgekommen war.

Wie hatte er das vermisst. Er hatte es vermisst, mit Menschen zusammen zu sein, die nicht wegen seines Geldes oder dessentwegen, was er für sie tun konnte, in seiner Nähe sein wollten, sondern weil sie ihn liebten. In seinem Innern lockerte sich eine straff gespannte Feder, eine Anspannung löste sich, von deren Existenz er nicht einmal gewusst hatte. Bis jetzt, da sie aufhörte.

 

Zwei Tage später

Die kahlen Wände ihrer immer noch völlig ungeschmückten Schlafkammer starrten Mary an. In ihrer Hand hielt sie eine Bürste mit silbernem Rücken, aber anscheinend konnte sie sich nicht rühren.

»Was ist falsch mit mir, dass er nach wie vor so völlig blind ist?«, flüsterte sie laut in den leeren Raum. Sie bemühte sich um die Bescheidenheit, die man von der Frau eines Pfarrers erwarten würde, aber sie wusste, dass sie wohl die Hübscheste der unverheirateten Frauen in der Pfarrgemeinde war. Andere Männer betrachteten sie nur mit offener Bewunderung.

Warum er nicht?

Letzte Woche hatte der Pfarrer eine öffentliche Tanzveranstaltung im Dorf besucht. Zuerst war freudige Erregung in ihr geweckt worden. Sie würde einen Weg finden, ihn zu einem Tanz mit ihr zu bewegen – er würde nicht umhinkommen, seine Tanzpartnerin zu bemerken! Doch dann waren all ihre Hoffnungen rasch zerstört worden, als sie erkannte, dass er nur als Anstandswauwau für seine Schwester Lady Diana mitgekommen war.

Während andere darüber murrten, dass die äußerst begabte Halbschwester des Duke of Winterbourne den Großteil männlicher Aufmerksamkeit auf sich zog, hatte das Mary nicht geschert. Sie litt nicht unter einem Mangel an Tanzpartnern, aber Reverend Wayward war nicht darunter. Um ehrlich zu sein, er hatte auch all die anderen Hoffnungsvollen enttäuscht. Wenn er nicht aktiv seine Schwester herumführte und vorstellte, unterhielt er sich mit den Männern oder den Matronen des Dorfs.

Sie hatte bemerkt, wie vorsichtig er es vermied, mit einer der unverheirateten Damen über die üblichen Begrüßungsfloskeln hinaus Konversation zu betreiben. Diejenigen, deren übereifrige Mütter auf ihren Bemühungen bestanden hatten, seine Aufmerksamkeit auf ihre Töchter zu lenken, waren mit äußerstem Takt und sehr geschickt zurückgewiesen worden.

Papa hatte sich mindestens zehn Minuten mit ihm über die Verzögerungen beim Bau der Brücke, die er entworfen hatte, unterhalten. Da sie bereits offiziell bekanntgemacht worden waren, hatte Mary während des Gesprächs direkt vor dem Reverend gestanden. Sie hatte nicht zu sprechen gewagt, weil sie nicht vorlaut wirken wollte, doch hoffte sie, dass er sie bemerken und nach Beendigung des Gesprächs zum Tanz auffordern würde.

Doch sie hatte kein Glück. Wie an jedem Sonntag hatte er ihr nur ein herzliches Begrüßungsnicken gegönnt und dann sogleich vergessen, dass sie da war. Genauso gut hätte sie unsichtbar sein können und nicht eine Frau aus Fleisch und Blut, die in prächtige, roséfarbene Seide gehüllt war.

Allein der Gedanke daran ließ sie wünschen, etwas Zerbrechliches an die Wand zu werfen und zuzusehen, wie es in tausend Stücke zerbarst. Aber solches Verhalten war sowohl kindisch als auch unklug. Ihre Eltern würden sich wundern, was los war, und dann würden allerhand unangenehme Fragen folgen.

Wenn das in diesem Tempo weitergeht, wird Augie vor mir verheiratet sein, dabei ist sie auch noch ein Jahr jünger als ich. Mit einem unzufriedenen Schnauben fuhr sie fort, ihr Haar zu kämmen. Der Reverend mochte ja attraktiv sein, aber sein gutes Aussehen hatte für niemanden einen Nutzen, solange er sich weigerte, zu heiraten.

Auf dem Ball hatte sie irgendwann eine mürrische Dame recht schockiert zu einer anderen kommentieren hören, dass sie den Verdacht hegte, er fühle sich zu Männern hingezogen. Aber Mary hatte schon herausgefunden, dass das nicht der Fall war. Seine Augen hingen an niemandem, außer während einer Unterhaltung. Dann wandte er nie den Blick vom Gesicht der jeweiligen, glücklichen Person ab.

Wie sie sich wünschte, diejenige zu sein, die seinen Blick ablenken würde! Aber wenn das roséfarbene Kleid – das gewagteste und vorteilhafteste ihrer Kleider der letzten Londoner Saison – ihn nicht dazu brachten, sie anzusehen, dann würde nichts das bewerkstelligen können, außer vielleicht Nacktheit.

Vor ihrem inneren Auge malte sie sich aus, wie sie des Nachts aus dem Haus schleichen und die Straße zum Pfarrhaus hinunterhuschen würde, nur in ihren Umhang und ihren Unterrock gekleidet. Sie würde an seine Tür klopfen. Er würde öffnen, und seine wunderschönen Augen würden sich bei ihrem Anblick weiten. Sie würde den Umhang von ihren Schultern gleiten lassen und einen Schritt in seine offenen Arme tun …

»Mary?«

Sie fuhr zusammen und ließ die Bürste fallen. Rasch bückte sie sich danach, ihr Gesicht glühte. »J-ja, Mama?«

»Meine Güte«, sagte ihre Mutter stirnrunzelnd. »Ist Ginny noch nicht zu dir gekommen, um dein Haar in Ordnung zu bringen?«

Mary schüttelte den Kopf und bemühte sich, ihr Unbehagen zu verbergen.

Etwas über die Unbeholfenheit bestimmter Dienstmädchen vor sich hin grummelnd eilte ihre Mutter herein, wand die Bürste aus den tauben Fingern ihrer Tochter und begann damit, die schwere Pracht ihres Haars zu entwirren. »Sag mal, wir sind jetzt schon seit zwei Monaten hier. Du könntest ein oder zwei Bilder aufhängen, um es etwas freundlicher zu gestalten.«

»Wozu?«, antwortete Mary. »Sobald die Saison beginnt, reisen wir doch wieder ab.« Und wenn Papas Brücke erst fertig gebaut war, gab es keinen Grund, wieder zurückzukommen. Sie würden für die Saison nach London ziehen, und wenn sie innerhalb dieser Zeit dort nicht heiratete, würden sie sich anschließend in derjenigen Stadt niederlassen, in der Papas nächstes Bauprojekt verwirklicht würde.

Ihre Mutter ließ diese alte Beschwerde nicht gelten.

»Misses Barnes kommt später zum Tee vorbei«, informierte sie Mary. »Du erinnerst dich an ihren Sohn, Anthony?«

Nur schwer konnte sie ein Geräusch des Ekels unterdrücken. Anthony Barnes war ein ungeschickter Tölpel. Seinem Vater gehörte die örtliche Ziegelei, und er hatte sich in kürzester Zeit mit Papa angefreundet. »Gewiss«, antwortete sie pflichtschuldigst und blinzelte, als ihre Mutter an einer Haarsträhne zog. »Begleitet er sie?« Furchtsam hielt sie den Atem an.

»Nein, aber ich glaube, dass sie herkommt, um sein Interesse an dir zu erklären.«

Oh, gnädiger Himmel! »Ich bin sicher, dass ich für Mister Barnes nicht interessant bin. Wir sind uns nur ein paar Mal begegnet.« Ein paar Mal zu oft! »Warum denkst du, dass das ihre Absicht ist?«

Die Mundwinkel ihrer Mutter hoben sich in der Andeutung eines triumphierenden Lächelns. »Wir sind uns diese Woche zufällig begegnet, als wir Stoffe für unsere Näharbeiten aussuchten. Nachdem wir uns erst kurz unterhalten hatten, erzählte sie mir, dass ihr Sohn dich sehr bewundert. Sie sagte, er hätte nach dem Ball so oft von eurem Tanz gesprochen, dass sie sich sicher ist, er will dir seine Aufwartung machen.«

Mary unterdrückte ein Stöhnen. Der Trottel war ihr nicht weniger als vier Mal mit seinen riesigen Füßen auf die Zehen getreten! »Ich bin mir sicher, er hat an dem Abend mit vielen Damen getanzt. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich für ihn etwas Besonderes sein sollte.«

Die Bürste fuhr in einem sehr groben Strich durch ihr Haar. »Du solltest dich selbst nicht so herabsetzen. Besonders nicht, wenn jemand anderes dich hören kann. Die Leute werden dich der falschen Bescheidenheit bezichtigen.« Die Berührungen ihrer Mutter wurden sanfter. »Du magst ihn nicht?«

»Ich hasse ihn nicht, aber …« Ihr Blick begegnete im Spiegel dem ihrer Mutter. »Ach, Mama. Ich bin sicher, dass er einer Frau ein guter Gemahl sein wird, aber ich fürchte, diese Frau kann nicht ich sein.«

Ihre Mutter hielt inne und schien sich einen Augenblick zu sammeln, bevor sie sprach. »Ich weiß, dass du glaubst, deine Gedanken vor mir verbergen zu können, Mary, und ich hasse es, diese Illusion zu zerstören. Aber … deine Aussichten, Reverend Wayward zu heiraten, sind bestenfalls sehr gering, wenn nicht gar inexistent.«

Mary blieb fast das Herz stehen.

»Ach, mein Kind«, murmelte ihre Mutter voller Mitgefühl. »Deine Schwäche für diesen Gentleman ist nicht zu übersehen.« Ihre grauen Augen, die denen von Mary so sehr glichen, blickten traurig und milde. »Unglücklicherweise ist er ein Mann, der bereits verheiratet ist – mit seiner Berufung. Sein Geist strebt einem höheren Ziel zu.« Sie hob eine Hand, als Mary protestieren wollte. »Männer wie er haben selten Interesse an einer Heirat.«

»Hat er denn nicht die gleichen Wünsche wie jeder andere Mann?«, wandte Mary ein und spürte, wie die Hitze ihr wieder in die Wangen kroch, als die Brauen ihrer Mutter sich hochzogen. »Ich meine, er wird doch sicherlich eine Familie wollen?« Sie hatte ihn mit den Dorfkindern gesehen, wie er auf dem Kirchhof nach der Messe mit ihnen gelacht und gespielt hatte. Sie beteten ihn an, und sie war sicher, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Seine Augen nahmen auch jedes Mal, wenn er ein Neugeborenes auf dem Arm hielt, um ihm den ersten Segen zu erteilen, einen sehnsuchtsvollen Ausdruck an. »Er ist kein Papist, Mama. Es gibt kein Zölibat, das ihm verbietet, zu heiraten.«

Ihre Mutter ruckte mit dem Kopf, ihre Wangen überzogen sich mit Röte. »Vielleicht nicht, aber du wirst freundlicherweise akzeptieren, dass er dem Klerus angehört und du deshalb nicht in solch … intimen Worten über ihn reden solltest.«

»Ja, Mama«, sagte sie demütig und senkte den Kopf, damit ihre Mutter ihr Haar zu einem Knoten drehen konnte. »Ich wollte ja nur sagen, dass er eines Tages bestimmt eine Familie möchte.«

Ein weiterer Laut des Missfallens erklang aus der Kehle ihrer Mutter, als sie ihre Arbeit wieder aufnahm. »Vielleicht, aber du wirst dich nicht wegen eines Mannes zur Närrin machen, der dich in keiner Weise dazu ermutigt hat. Bis zur Saison dauert es nicht mehr so lange, und wir wollen nicht, dass die Leute über dich tratschen, noch bevor wir nach London aufbrechen.«

»Gewiss, Mama.« Als würde aus der Nachbarschaft außer Lady Diana noch jemand diese Reise antreten! Dieser Gedanke löste eine Welle der Enttäuschung aus. Reverend Wayward würde gewiss hierbleiben.

Wenn meine Eltern nur zu überzeugen wären, London diese Saison auszulassen! All die anderen Damen von Herkunft würden nach London eilen, und das Feld würde ihr überlassen bleiben. Aber die Damenausstatterinnen schleiften bereits ihre Scheren und spitzten die Nadeln, um ihr Kleider zu nähen, und Papa hatte auch schon ihre Unterkunft sichergestellt.

»Du wirst nun mal nicht jünger«, kommentierte ihre Mutter trocken. »Es ist Zeit, Wunschdenken beiseite zu schieben und sich auf das zu konzentrieren, was wirklich möglich ist.«

Mary biss sich auf die Zunge. Mit einundzwanzig Jahren erwartete man von ihr, dass sie als verlobte Frau aus dieser Saison hervorgehen würde. Im Gegensatz zu ihrer Mutter betrachtete sie ihr Alter nicht als einen Schaden, sondern als Vorteil. Reverend Wayward schien die Art Mann zu sein, der die Gesellschaft einer intelligenten, ernsthaften Frau derjenigen eines kichernden Mädchens, das gerade erst die Schulbank verlassen hatte, vorzog. Aber bis jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit noch nicht erringen können.

Es muss eine Möglichkeit geben … Die Zinken des Kammes, mit dem ihre aufgetürmte Frisur oben gehalten werden sollte, ritzten ihre Kopfhaut und brachten sie zurück in die Gegenwart. Ihr Haar war gemacht. »Danke, Mama.«

»Zieh dich fertig an, und dann kommst du zum Frühstück herunter. Eil dich. Du weißt, wie sehr dein Vater Unpünktlichkeit verabscheut.«

Eine Stunde später zog sich Marys Magen vor Nervosität zusammen, als sie und ihre Familie den kurzen Weg zur Kirche zurücklegten. Ihr Atem stockte beim Anblick des Reverends neben dem Vordereingang, der die Ankömmlinge mit seinem üblichen, sonnigen Lächeln begrüßte.

Sie zog die Schultern zurück und bereitete sich vor. Schau mich an. Sieh mich.

In seinen Augenwinkeln zeichneten sich Fältchen ab, als er ihre Familie voller echter Wärme begrüßte.

Sein Blick aus tiefblauen Augen jedoch traf den ihren nur für den kürzesten Moment, bevor er weiterwanderte.

Verdammt. Ein Schuldgefühl überkam sie, als sie unter dem Bogengang hindurchging. Das Haus des Herrn mit einem Fluch auf den Lippen zu betreten – wenngleich nicht laut ausgesprochen –, war kaum der richtige Weg, seine Gunst zu gewinnen, wenn sie darum beten wollte, dass sein Diener sich in sie verlieben solle.

Lächelnd nickte sie allen zu, denen sie begegnete, aber die herzlichen Grüße der anderen machten ihr das Herz nur noch schwerer. Ihre Gesichter waren zwar freundlich, aber in ihren Augen sah sie keine echte Wärme. Kein erfreutes Wiedererkennen. Sie und ihre Familie waren in Harper’s Grove akzeptiert, aber nur als Gäste, nicht als Mitglieder der Gemeinschaft.

Und es war ja richtig, dass die Menschen ihnen mit Vorsicht begegneten. Neuankömmlinge waren eine unbekannte Größe. Vertrauen und Nähe zu schaffen, benötigte Zeit. Von allen jungen Frauen, die sie hier kennengelernt hatte, hatte ihr nur Augie die Hand zur wahren Freundschaft gereicht. Und sie lebte selbst erst seit weniger als einem Jahr in Harper’s Grove.

In ein paar Monaten werde ich sie zurücklassen. Wie sie es mit jeder Freundin getan hatte, die sie bei ihren kurzen Aufenthalten in den verschiedenen englischen Städten hatte gewinnen können. Den Kontakt mit Briefen aufrechtzuerhalten war gut und schön, aber nach einer gewissen Zeit waren die Briefe weniger geworden und in größeren Abständen angekommen. Und dann hatten sie ganz aufgehört.

Sie wollte ein Zuhause. Ein echtes Zuhause. Und sie wollte, dass es in Harper’s Grove lag. Von allen Orten, an denen sie mit ihrer Familie gelebt hatte, war ihr dieser der liebste. London hatte für sie überhaupt keinen Reiz. Es war zu groß, zu unpersönlich. Sie wollte durchs Dorf spazieren und dabei von den Leuten zur Seite genommen werden, um mit ihnen über ihr Leben zu sprechen, um ihre Geheimnisse zu teilen, oder ihre Kinder zu bewundern. Sie wollte dazugehören, die Wärme und Kameradschaft mit allen genießen, anstatt immer nur von außen durchs Fenster hinein zu starren.

Nach der Messe blieb Mary zurück, um noch ein paar inbrünstige Bitten an den Allmächtigen zu richten, während sich die Dorfbewohner draußen versammelten. Sie war gerade im Begriff, sich zu erheben, da betrat die Antwort auf all ihre Gebete den Chorraum – ohne Begleitung.

Einem erschreckten Kaninchen gleich machte die Hoffnung in ihr einen Satz, als Reverend Wayward neben ihrer Bank stehenblieb, die Brauen besorgt gerunzelt. »Miss Tomblin, richtig?«

»Ja«, hauchte sie und sah nach oben in seine Augen.

Das Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ihre Eltern sind draußen. Sollten Sie sich nicht zu ihnen gesellen?«

Sie wollte den Blick nach unten wenden, um Schüchternheit vorzugeben, aber sie ertrug es nicht, den Bann zu brechen. Er sah sie. Er nahm sie tatsächlich wahr. »Ich … ich habe gebetet.«

Er nickte bedächtig und senkte die Stimme. »Das Gebet ist immer ein guter Anfang, um ein Problem zu lösen. Wenn Sie etwas bedrückt und Sie darüber sprechen müssen, wäre ich glücklich, Ihnen meinen Rat anzubieten.«

Ihre Gedanken gerieten durcheinander, einer setzte sich auf den anderen, und sie türmten sich auf ihrer Zunge. Aber sie war unfähig zu sprechen.

»Miss Tomblin?«

Sag etwas! »Ihr verkörpert alles, was in dieser Welt gut und freundlich ist«, brach es aus ihr hervor, und sie spürte, wie sich ihr Gesicht erhitzte. »Seit Ewigkeiten will ich Euch schon sagen, dass ich …«

»Mary?«, rief die Stimme ihrer Mutter von der Tür her. »Oh, Hochwürden, ich bitte um Verzeihung. Ich wusste nicht, dass ich eine private Beratung unterbreche.« Ihr Blick wanderte zwischen ihnen beiden hin und her, dann verengte er sich und blieb auf ihrer Tochter haften. »Mary, dein Vater und ich sind fertig, um zu gehen.«

Verdammt, verdammt, verdammt! Sie sprang auf die Füße. »Ich wollte Reverend Wayward nur gerade von …« Sie suchte nach Worten, aber in ihrem Kopf schienen keine mehr zu sein.

»Von der Teilnahme Ihrer Familie am bevorstehenden Wohltätigkeitsbasar erzählen«, beendete er sanft ihren Satz. Sein Blick aus blauen Augen, die nun auf der Hut waren, glitt zu ihrer Mutter. »Ich kann Ihnen nicht genug für Ihre Zeit und Großzügigkeit danken.«

Erleichterung durchfloss Mary, als sie die Anspannung aus dem Gesicht ihrer Mutter weichen sah. Sie antwortete: »Gewiss, es ist uns ein Vergnügen.«

Mary beobachtete ihn, als er zu ihrer Mutter hinüberging, seine Unterhaltung mit ihr fortsetzte und sie am Ende ihrer Kirchenbank allein stehen ließ. Ihr Herz verdorrte im Feuer der Schmach und des Versagens. Wegen ihrer ungestümen Art und ihrer Unfähigkeit, mit den eigenen Gefühlen umzugehen, war sie zurückgewiesen worden. Obwohl er nichts gesagt hatte, das sich darauf bezog, wusste sie es ganz gewiss. Das Objekt ihrer Zuneigung betrachtete sie nun mit nichts als Vorsicht.

Eine Bitte an den Allmächtigen wäre jetzt nicht angebracht. Er hatte ihr die Gelegenheit geschenkt, eine Bindung herzustellen, und sie hatte sie verpfuscht. Der gute Reverend würde sicherlich nicht mehr zulassen, je wieder mit ihr allein zu sein.

Kapitel Zwei

Devlin brach in Gelächter aus, den Kopf an den Stamm des Baumes gelehnt, in dem sie sich als Jungen ein zweites Haus gebaut hatten. Jetzt wünschte er, er wäre diesen Morgen zur Kirche gegangen, anstatt sich mit vorgeschützten Kopfschmerzen davor zu drücken. »Du meinst wirklich, sie wollte sich dir erklären?«

»Ich kann an diesem Umstand nichts Belustigendes finden«, spie Daniel aus. Die Röte zog sich bis in seine Haarwurzeln. »Ich habe die Unwahrheit gesagt, um das arme Mädchen vor einer Peinlichkeit zu bewahren, doch jetzt muss ich einen Weg finden, ihr freundlich, aber unmissverständlich klarzumachen, dass ihre Zuneigung fehl am Platze ist.« Er zerwühlte seine Haare mit den Händen, wodurch sie an manchen Stellen in alle Richtungen standen, was ihm das Aussehen eines Schwachsinnigen verlieh.

»Das könnte ich dir abnehmen.«

Sein Bruder riss den Kopf hoch. »Was?«

Devlin feixte. »Das haben wir doch früher so gemacht, weißt du noch? Und wir können es noch immer – Diana und Evangeline konnten uns nicht auseinanderhalten, und sie sehen dich jede Woche.« Doch sein Bruder hatte bereits bei seinen ersten Worten begonnen, den Kopf zu schütteln. »Ach, komm schon! Denk einmal darüber nach! Deine Miss Tomblin ist einfach vernarrt. Ich rücke ihr den Kopf zurecht, und nächsten Sonntag geht alles wieder seinen normalen Gang.«

»Sie ist nicht ›meine‹ Miss Tomblin, und die Antwort lautet …«

»Ich versichere dir, dass sie ein für allemal eines Besseren belehrt sein wird«, verlockte Devlin ihn und versuchte, in sein Lächeln die Aufforderung ›Vertrau mir‹ zu legen. »Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie keinen Blick mehr in deine Richtung …«

»Devlin …« Die Stimme seines Bruders wurde bedrohlich tief.

»Ich gehe behutsam vor. Sie wird den Unterschied nicht bemerken. Du weißt doch noch, wie gut ich darin war.«

»Wir sind keine Kinder mehr«, sagte Daniel konsterniert. »Um dieses Problem habe ich mich selbst zu kümmern, und das werde ich auch tun. Auf meine Art.« Seine Stirnfalte vertiefte sich. »Abgesehen davon – selbst, wenn ich eine solche List erlauben würde, so würde doch niemand je glauben, dass du ich bist. Nicht mehr. Du bist ein Mann dieser Welt, gesättigt von ihrer Fleischlichkeit und in ihrer Gier gefangen. Du nutzt deine gottgegebenen Gaben nur zum eigenen Vorteil und gibst dich mit Spielern und … anderen Personen ohne Moral ab. Du würdest nicht einmal ein Kind an der Nase herumführen, geschweige denn die Menschen dieser Pfarrgemeinde, die mich gut kennen. Sie würden dich auf der Stelle enttarnen, und dann würde ich für den Betrug verantwortlich gemacht. Nein. Unter keinen Umständen.«

Mit erhobenen Händen gab Devlin nach. »Gut. Gut. Ich verstehe schon. Ich wollte nur meine Hilfe anbieten.« Er stieß einen langen Seufzer aus, löste sich vom Baum und wischte kleine Stückchen Rinde von seinem Hinterteil. »Kommst du?«

Daniel rührte sich nicht. »Tatsächlich denke ich, ich werde noch etwas hier draußen bleiben. Allein«, fügte er hinzu. »Ich muss über mehrere Dinge nachdenken. Um Führung beten. Sag den anderen, ich bleibe ein paar Stunden weg.«

Ein paar Stunden? Er wollte stundenlang beten?

Ein hinterhältiger Gedanke formte sich in Devlins Kopf. Es war der reine Übermut – und damit für ihn natürlich unwiderstehlich. Er machte ein säuerliches Gesicht und wackelte zum Abschied mit den Fingern. »Dann wünsche ich dir viel Spaß. Wir sehen uns beim Abendessen.«

Er drehte sich um und schlenderte zielstrebig den Gartenpfad entlang. Wenn sein Zwillingsbruder bezweifelte, dass er imstande war, ihn überzeugend zu imitieren, würde er sein Können eben unter Beweis stellen. Und sollte er zufällig Miss Tomblin über den Weg laufen, würde er Daniel einen Gefallen tun.

Er hielt seinen Bruder keineswegs für unfähig, diese Sache selbst zu regeln, doch er wusste, wie schüchtern und ungeschickt Danny war, wenn es um Frauen ging. Er war ein begnadeter Redner und konnte mit größtem Selbstbewusstsein vor der Gemeinde predigen, doch sobald er einer Frau allein gegenüberstand, wurde er zu einem stotternden Narren. Hätte sein Zwilling die geringste Zuneigung zu der jungen Frau ausgedrückt, hätte er nicht einmal in Betracht gezogen, sich einzumischen, aber es war klar, dass die junge Dame zu einer Last geworden war und verscheucht werden musste. Also, sollte sich die Gelegenheit bieten …

Die Lage seines Bruders erinnerte ihn schmerzlich an seine eigenen Schwierigkeiten. In etwas mehr als einer Woche sollte er eine Kutsche besteigen und nach London zurückkehren. Wenn Miss St. Peters bis zum Zeitpunkt seiner Ankunft kein anderes Opfer für ihre eheanbahnenden Machenschaften gefunden hätte, würde er einen Weg, ihr zu entkommen suchen müssen, der seine Geschäftsbeziehungen zu ihrem Vater nicht aufs Spiel setzte. Er zermarterte sich schon die ganze Zeit das Hirn, um eine Lösung zu finden, die ihn und St. Peters nicht in gegensätzliche Lager bringen würde. Die Tochter dieses Mannes war eine verwöhnte und verhätschelte Göre, die alles bekam, was sie wollte. Er hoffte nur, sie hatte ihrem Vater nicht gesagt, dass sie ihn, Devlin, auf ihre Wunschliste gesetzt hatte. Früher oder später würde er es herausfinden. In der Zwischenzeit gab es noch Anderes für ihn zu erledigen.

Er schlüpfte in die Kammer seines Bruders, zog sich hastig aus und schob seine Kleidung unter das Bett. Dannys Pfarrersgewand saß lockerer als erwartet, besonders um die Schultern, aber der Überwurf würde das bestens kaschieren. Aus dem Haus zu gelangen und das Pferd seines Bruders auszuleihen, ohne dabei gesehen zu werden, erwies sich schon als größere Herausforderung, aber er schaffte es. Kurz darauf war er auf dem Weg ins Dorf.

 

Marys Lippen bildeten Wörter, während sie neben Augie die Straße entlang spazierte, aber weder mit dem Herzen noch mit dem Kopf war sie in ihrer Unterhaltung anwesend. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihrer Freundin von der Erniedrigung zu erzählen, die sie an diesem Morgen erlitten hatte. Sie hielt es nicht für möglich, dass sie irgendjemandem etwas davon sagen könnte.

Als sie nach der Begegnung heimgekommen war, war sie in ihre Kammer gegangen, um zu weinen. Leise. Dann hatte sie sich gezwungen, in den Spiegel zu blicken und die Tatsache anzuerkennen, dass ihr Traum zu Ende geträumt war. Er würde sich nach diesem Morgen niemals in sie verlieben. Wahrscheinlich würde er sie nie wieder auch nur ansehen.

Und sie war selbst schuld. Es verwunderte sie nicht, dass er so reagiert hatte. Er war ein Pfarrer und ein Gentleman, und sie hätte sich ihm taktvoller annähern müssen, ihm ihre zärtlichen Gefühle behutsamer vermitteln müssen. Stattdessen hatte sie, Närrin, die sie war, sich ihm an den Hals geworfen.

Sollte sich die Gelegenheit ergeben, würde sie sich entschuldigen und ihn um Vergebung bitten. Es war zweifelhaft, ob er ihr jemals eine solche Gelegenheit bieten würde, aber für den Fall der Fälle war sie vorbereitet. Es zeugte von Reife, so zu handeln, und zumindest diesen Eindruck wollte sie bei ihm zurücklassen.

Nicht, dass es eine große Rolle spielte. Sobald Ostern vorbei wäre, würde sie mit ihrer Familie nach London aufbrechen. Hatte sie die Abreise von Harper’s Grove zuvor gefürchtet, so konnte sie jetzt nicht schnell genug wegkommen.

Die morgendliche Katastrophe hatte ihre Meinung geändert. Es war Zeit, umsichtig zu handeln. Sie musste in der Saison in London einen passenden Ehemann auswählen. Mit ein bisschen Glück würde es ihr rasch gelingen, und sie würde noch vor Ende der Saison heiraten.

»Oh, sieh mal!«, flüsterte Augie aufgeregt, als sie um eine Kurve bogen. »Da ist der Pfarrer. Lass uns hingehen und ihn begrüßen.«

Das Herz sank Mary in die Füße, als sie Reverend Wayward im Gespräch mit Misses Grierson vor der Apotheke stehen und sprechen sah.

»Er sieht beschäftigt aus«, flüsterte sie zurück. Sie wollte ihm um jeden Preis aus dem Weg gehen. Sie hatte ihre Meinung geändert, es war zu früh. Sie war noch nicht bereit. »Wir sollten in den Gemischtwarenhandel gehen. Du musst mir helfen, ein passendes Geschenk für den Geburtstag deiner Schwester zu finden.« Hoffentlich wäre er verschwunden, wenn sie wieder herauskämen.

»Unsinn! Danach können wir später noch schauen.« Augie, offensichtlich fest entschlossen, eine Begegnung herbeizuführen, hängte sich bei ihr ein und zog sie geradezu das restliche Stück Wegs. Als sie die beiden erreichten, hatte Misses Grearson sich gerade abgewandt, um zu gehen.

»Reverend Wayward, wie schön, Euch zu sehen«, sagte ihre Freundin überschwänglich. »Wir haben gerade darüber gesprochen, wie aufregend es ist, beim bevorstehenden Kirchenbasar zu helfen.«

»Eure Großzügigkeit ist wirklich ein Segen für unser Dorf«, sagte er mild.

Unbehagliche Stille breitete sich aus, und Mary wand sich in dem Wissen, dass ihr Verhalten unhöflich war. Ihren Blick vom Boden abzuwenden, fühlte sich an, als würde sie nackt über einen Pfad voller rostiger Nägel und Glassplitter gezogen, doch schließlich tat sie es. Was für ein Schock es war, sein wohlwollendes Lächeln und die dunklen Augen zu sehen, die weder Geringschätzung noch Vorsicht ausdrückten, sondern eher eine ausgeprägte Neugier und noch etwas anderes, etwas, das tatsächlich wirkte wie … Bewunderung?

»Die Welt braucht mehr von dieser Freundlichkeit«, sagte er, und sein Lächeln wurde breiter.

Sie vergaß zu atmen und war für einen Moment unfähig, Wörter zu formen. »E…es ist mir ein Vergnügen, dem Herrn in jeder möglichen Weise zu dienen«, brachte sie schließlich heraus. »Ich bin, wie Ihr heute Morgen in der Predigt sagtet, sein Werkzeug.«

»In der Tat«, sagte er. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, als hätte er sie nie zuvor angesehen und prägte sich ihre Züge ein.

In ihr zog sich etwas zusammen, und ihre Knie fühlten sich plötzlich wackelig an. Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren. Sie riskierte den Anflug eines Lächelns. Er erwiderte es zwar nicht, runzelte aber auch nicht abwehrend die Stirn – ein hervorragendes Zeichen. »Ich hoffe sehr, dass Ihr mir meine unverblümte Rede von heute Morgen vergebt«, sagte sie vorsichtig. »Ich wollte Euch wirklich nicht brüskieren, und ich bin glücklich, dass Ihr die Sache zurechtgerückt habt. Für uns beide.«

Er versteifte sich, und das Lächeln wandelte sich in eine teilnahmslose Maske. »Ich habe mich nicht beleidigt gefühlt, Miss Tomblin«, sagte er mit monotoner Stimme. »Gewissheit ist der Unwissenheit immer vorzuziehen.«

Ihr Herz machte einen Freudensprung, und es kostete sie alle Kraft, es nicht zu zeigen. Ihre Bitte um Verzeihung war angenommen worden! »Danke«, sagte sie, über alle Maßen erleichtert. Sie drückte Augies Arm etwas fester. »Wir wollen Euch nicht aufhalten. Wir waren auf dem Weg zum Krämerladen.«

»Meine Damen, es war mir ein Vergnügen«, sagte er sogleich und trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbei zu lassen.

Mary spürte seinen Blick auf sich, als sie an ihm vorbei ging, und das Ziehen in ihrem Bauch verstärkte sich. Sie spürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Als sie auf der anderen Straßenseite ankamen, warf sie einen Blick zurück, sie konnte nicht anders. Und tatsächlich stand er noch da und starrte sie mit leicht verwirrtem Ausdruck an. Die Hitze stieg ihr in die Wangen, als sie sich rasch wieder nach vorne drehte.

Etwas war geschehen. Sie war nicht sicher, was genau. Aber es hatte etwas zu bedeuten. Ihr Wortwechsel hatte nur kurz gewährt, und doch war die verborgene Bedeutung in ihren Worten verstanden worden.

Gewissheit ist der Unwissenheit immer vorzuziehen. Bedeutete es, dass er bereit war, ihre Worte positiv zu bewerten? Oder hatte er einfach entschieden, ihr zu verzeihen, dass sie ihn in eine peinliche Situation gebracht hatte, und es war seine Art, den Vorfall als Schnee von gestern zu betrachten? Ihre Unwissenheit über seine Intention machte sie geradezu wahnsinnig.

Gewissheit ist der Unwissenheit immer vorzuziehen, allerdings!

Augie warf ihr ein Grinsen zu. »Nun, ich würde sagen, das war vielversprechend«, murmelte sie, als sie den Laden betraten. »Hast du gesehen, wie er dich angeschaut hat?«

Oh ja, das hatte sie tatsächlich. Aber sie wollte sich keine falschen Hoffnungen machen. »Er war nur höflich.«

Ein leichtes Schnauben ging Augies Antwort voraus. »Oh nein, meine liebe Freundin. Das war etwas mehr als nur höflich. Er hat dich mit den Augen vernascht wie eine Süßigkeit! Was habt ihr beide heute Morgen bloß besprochen?«

Marys Magen zog sich zusammen. »Ich habe ihn etwas zur Interpretation seiner heutigen Predigt gefragt«, log sie. Es tat ihr weh, der Freundin nicht zu vertrauen, aber Augie würde ihr Verhalten dieses Vormittags kaum gutheißen, und ihre Freundschaft mochte zwar stark sein, aber sie bestand noch nicht sehr lang. Sie wollte keinen falschen Eindruck erwecken.

»Verstehe«, sagte Augie verschwörerisch. »Ich bezweifle, dass viele Damen je um eine solche Erläuterung gebeten haben. Du hast ihm deine Intelligenz gezeigt, außerdem dein Interesse an Theologie, und damit seine Neugier geweckt. Gut gemacht, meine Liebe.«

 

»Ich versichere dir, das war nicht meine Absicht.«

Das Lächeln ihrer Freundin vertiefte sich. »Da bin ich mir sicher. Und doch wird das Ergebnis nicht unerwünscht sein, glaube ich. Du hast eine Saat gelegt. Jetzt musst du sie nähren und verhindern, dass sich Unkraut ausbreitet, falls du verstehst, was ich meine. Und zwar je eher, desto besser – jetzt, da er sich deinem Charme gegenüber empfänglich gezeigt hat.«

»Gewiss.« In dem Wunsch, das Thema zu ändern, stieß Mary beim Anblick einer auffällig bekleideten Stoffpuppe einen leisen Schrei aus und fragte Augie, ob sie ihrer Schwester gefallen könnte. Zehn Minuten später verließen sie den Laden, ein in Papier eingeschlagenes und mit einem hübschen Band verschnürtes Päckchen in der Hand. Sobald sich ihre Wege im Zentrum des Dorfs trennten, verlangsamte Mary ihren Schritt in der Hoffnung, die große, schwarzgekleidete Gestalt des Pfarrers auf ihrem Weg zu erblicken. Wenn sie allein war, würde er ihr als Gentleman vielleicht seine Begleitung bis nach Hause anbieten und damit eine weitere Gelegenheit zu einem ungestörten Gespräch bieten.

Doch er war nirgendwo zu sehen. Sie schob ihre Enttäuschung beiseite. Auch gut. In ihrem jetzigen Zustand würde sie wahrscheinlich ohnehin wieder etwas Unpassendes sagen. Sie hatte ihren Zug getan. Nun war er an der Reihe.

Wieder und wieder spielte sie die Begegnung im Kopf durch, während sie mit blinden Augen an den Häusern der Dorfbewohner vorbei ging. Ein Schaudern durchlief ihren Körper bei der Erinnerung an die Intensität seines Blickes, als er sie betrachtet hatte. Sie hatte darum gebetet, dass er sie sehen mochte, und seine Augen in der Farbe von Rittersporn hatten sie auf jeden Fall gesehen. Augies Formulierung, er hätte sie mit seinem Blick wie eine Süßigkeit »vernascht«, ließ sie leise auflachen.

Eine plötzliche Hitze blühte in ihr auf, trotz der kühlen Luft. Das war eine weitere überraschende Veränderung, denn vor ihrer zweiten Begegnung an diesem Tag hatte sie alle Gefühle für ihn nur in ihrer Brust gespürt. Jetzt aber tobten eigenartige, unbekannte Empfindungen durch ihren gesamten Körper.

Als er ihr in die Augen geblickt hatte, hatte sich alles in ihr zusammengezogen. Allein die Erinnerung reichte aus, um ihr jetzt den Atem stocken zu lassen. Unzählige Male hatte sie sich vorgestellt, in seine Arme zu sinken und ihn zu küssen. Aber in keiner dieser romantischen Fantasien hatte sie sich so gefühlt wie jetzt. Ruhelos. Hungrig fast. Jetzt ließ die Vorstellung seiner Lippen auf ihren sie geradezu fiebern. Selbst ihre Nervenenden vibrierten, und ihr Puls schlug stark – besonders an einer gewissen, unnennbaren Stelle.

Trotz der plötzlichen Aufwallungen, die ihre Wangen prickeln ließen, legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Was auch immer sich zwischen ihnen geändert hatte – sie segnete es und betete darum, dass er auf die gleiche Weise empfand.

Es muss eine Möglichkeit geben, herauszufinden, ob es so ist. Aber sie durfte nie wieder mit ihren Gefühlen so herausplatzen. Er wusste bereits von ihrer Zuneigung. Nun brauchte sie irgendetwas, womit sie deren Erwiderung bewirken konnte.

Kapitel Vier

Erwischt. Diana hatte es irgendwie geschafft, ihn auszutricksen, sodass er sich verraten hatte. Trotzdem hatte sie ihn nicht auffliegen lassen. Warum?

Alles, was er jetzt tun konnte, war sich nicht mehr umzudrehen, um zu schauen, was sie mit Miss Tomblin tat, die die Ursache all des Ärgers war. Dass Diana versuchen würde, sie Daniel so aufzudrängen, war ein unvorhergesehenes Hindernis – eines, aus dem er natürlich seinen Nutzen ziehen würde.

Er suchte nach Daniel, aber sein Bruder war nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich beim letzten Lied in das Vestibül zurückgezogen. Ungeduld nagte an ihm, während er weiter mit den noch Herumstehenden sprach und sie langsam zum Ausgang lotste. Manche Menschen verstanden einfach seine Winke nicht und verweilten noch. Es dauerte fast eine Stunde, bis endlich alle die Kirche verlassen hatten, und sein Bein tat fürchterlich weh, vor allem an den Stellen, an denen die Schiene drückte.

Er schloss das Hauptportal und stieß einen erleichterten Seufzer aus. So weit, so gut. Sie würden sich um Diana kümmern müssen, aber es sollte leicht sein, sie zur Kooperation zu bewegen. Tatsächlich könnte sie sogar hilfreich sein.

»Hallo?«, rief er und öffnete die Tür zum Vestibül einen Spaltbreit.

»Hier bin ich.« Daniel kam hinter der Tür hervor.

»Nun?«, sagte Devlin, setzte sich mit einem Grunzen hin und legte das Bein auf die Kirchenbank. »Wie habe ich mich geschlagen?«

»Glückwunsch«, sagte Daniel, nahm ihm die Krücken ab und stellte sie zur Seite. »Du warst als Pfarrer weit überzeugender, als ich erwartet hatte.«

»Ich sagte dir doch, dass ich das kann«, antwortete Devlin mit einem Grinsen. Dann sagte er jedoch ernüchtert: »Wir haben allerdings ein kleines Problem.« Er erzählte von seiner Schwester. »Ich weiß nicht, wo ich einen Fehler gemacht habe. Aber irgendetwas, das ich sagte oder machte, hat mich verraten.«

Das Gesicht seines Bruders wurde um einiges blasser. »Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass der Fehler bei mir liegt. In einem Augenblick der Erschöpfung habe ich mich nach einem Besuch bei Misses Small bei ihr beklagt.«

»Die alte Frau, die du als ›mürrisch und manchmal schwer zu ertragen‹ bezeichnet hast?«

»Eben die«, antwortete Daniel mit kummervollem Blick. »In einem Moment der Selbstsucht habe ich zu Diana gesagt, ich wünschte, die Kinder der Älteren würden mehr an ihre Eltern denken, sodass ich weniger nach ihnen sehen müsste. Es war nicht der beste Augenblick in meinem Leben. Misses Small war an dem Tag besonders bissig, und ich hatte sie mit nichts aufmuntern können.«

Devlin gluckste reumütig. »Und ich sagte gerade zu Diana, ich fühlte mich schlecht, weil ich – vielmehr du – die Älteren nicht öfter besuchen könnte.« Er seufzte. »Nun, zumindest weiß ich jetzt, dass ich aufgeflogen bin. Mein Gott, ich mag mir gar nicht vorstellen, wie David reagiert, wenn er das herausfindet.«

»Das wird er nicht.« Mit einem tiefen Atemzug straffte Daniel die Schultern. »Ich kenne unsere Schwester. Sie wird unser Geheimnis hüten – auch wenn sie wütend ist – zumindest, bis sie weiß, weshalb wir so handeln. Und sie wird uns nicht hintergehen, zumal sie versteht, was auf dem Spiel steht. Wenn ich morgen zum Abendessen nach Winterbourne fahre, werde ich ihr klarmachen, warum diese List nötig ist.«

»Ich stimme dir zu. Aber musst du denn dorthin? Ich will nicht riskieren, dass noch mehr Familienmitglieder etwas von unserer kleinen Charade erfahren, wenn du sie nicht …«

»Keine Sorge. Sie werden mich für dich halten.« Daniel zog eine Grimasse. »Du bist so lange weg gewesen, dass sie dich kaum noch kennen. Ich tue also einfach verdrießlich und nenne irgendeine Entschuldigung dafür – ich sage etwas über meine Londoner Angelegenheiten. Niemand wird über dieses Thema sprechen wollen. Aber was machen wir mit ihrer Kuppelei in Sachen Miss Tomblin?« Seine Nervosität zeigte sich in der Art, wie er mit den Fingern am Saum seines geliehenen Mantels spielte. »Wie willst du damit umgehen? Ich will nicht, dass sie verletzt wird, und Diana will das auch nicht.«

»Darüber bin ich mir sehr klar. Du hättest ihren Gesichtsausdruck sehen müssen, als sie ihren Irrtum erkannte«, sagte Devlin und schüttelte seine Hand. »Versichere ihr, dass ich Miss Tomblin mit äußerster Vorsicht und Takt behandeln werde.«

Sein Zwilling seufzte und strich sich mit den Händen über die stoppeligen Wangen. »Ich befürchte sehr, das alles wird in einem Desaster enden, egal, wie wir damit umgehen. Mit dem Annehmen von Miss Tomblins Hilfe hast du ihr sozusagen gesagt, dass sie unsere Einladungen zur Hochzeit verschicken kann.«

»Da widerspreche ich dir«, sagte Devlin bestimmt. »Und zwar aus gutem Grund – ich habe einen Plan. Ich werde diesen Fehler in eine Chance umwandeln. Ich werde deiner Miss Tomblin die Wahrheit vor Augen führen: dass das Leben einer Pfarrersgattin viel härtere Arbeit bedeutet, als sie sich wünschen würde. Eine Woche Windeln wechseln, hungrige Mäuler stopfen, laufende Nasen abwischen und die Nachttöpfe alter Menschen leeren – das wird ihren Enthusiasmus sicherlich dämpfen.« Er zwinkerte.

Es tat gut, seinen Bruder lächeln zu sehen, wenn auch nur zögerlich. »Sei nicht zu hart mit ihr«, sagte Daniel. »Ihr einziger wirklicher Fehler besteht darin, sich in den falschen Mann verliebt zu haben.«

Während sein Bruder die Paramente verräumte, erinnerte sich Devlin an die Art, wie Miss Tomblins Gesicht geleuchtet hatte, als sie ihn beobachtete. Wäre Daniel nur etwas weniger vehement in seiner Zurückweisung der jungen Frau, würde er versuchen, ihn dazu zu bewegen, dass er ihr wenigstens eine Chance gab.

Geschmack spielt hier wohl keine Rolle, nehme ich an. Wenn sein Bruder je heiraten sollte, würde es wahrscheinlich eine lammfromme graue Maus sein und nicht so eine strahlende Schönheit wie Miss Tomblin.

Daniel blies die letzten Kerzen aus, sperrte ab und half ihm dann, langsam und ungeschickt den glücklicherweise kurzen Weg zum Pfarrhaus zurückzulegen. Sein Atem gefror in einer Wolke, als sein Bruder an der Tür herumhantierte und sie schließlich ins Innere gingen.

Auf allen Tischen und Schränken waren Essensgeschenke mit herzlichen Weihnachts- und Genesungswünschen der Menschen von Harper’s Grove verteilt. Mein Bruder ist hier bei allen sehr beliebt.

Dieser Gedanke versetzte ihm überraschend einen Stich des Neids. London war eine ganz andere Welt. Außer wenn sie einen kannten, kümmerten sich alle nur um sich selbst. Auch ein Schuldgefühl wegen seiner Rachegedanken bildete sich in ihm. Auch jetzt noch setzte sein dummer Jungenstreich alles aufs Spiel, was Danny sich hier aufgebaut hatte.

Er konnte seinen Bruder nicht ein zweites Mal verraten. Die heutige Einmischung ihrer Schwester war seine Schuld. Diana hatte zweifellos seine Nervosität gespürt und sie auf Miss Tomblins Gegenwart zurückgeführt – allerdings aus den falschen Gründen. Er hoffte, dass Daniel sie würde überzeugen können, weiter mitzuspielen.

Als hätte er seine Gedanken gehört, drehte Daniel sich zu ihm um, nachdem er das Feuer geschürt hatte. »So gern ich auch der Schelte unserer Schwester aus dem Weg gehen würde, glaube ich doch, es ist besser, uns ihr früher als später zu stellen. Je länger wir warten, desto ärgerlicher wird sie sein.«

»Zweifellos«, grunzte Devlin und legte behutsam sein schmerzendes Bein auf das Fußpolster.

»Ich gehe gleich morgen früh, anstatt bis zum Dinner zu warten«, murmelte sein Bruder, »und ich sage ihnen, dass ich nicht bleiben kann, weil ich das Weihnachtsessen hier mit dir einnehme.«

»Ich hoffe nur, dass du sie lang genug alleine erwischst, um dich erklären zu können.«

»Dafür sorge ich schon.«

Den Rest des Abends verbrachten sie damit, über Dinge zu diskutieren, die Daniel an Devlins Schauspiel beobachtet hatte und die noch Korrekturen brauchten. Außerdem tauschten sie weitere hilfreiche Informationen aus.

Misses Tidwell besaß eine große, schwarzweiße Katze, die sie anhimmelte, allen anderen Menschen jedoch misstraute – mit Ausnahme von Daniel, und zwar dank eines Stückchens Fisch, das er dem Biest bei seinem zweiten Besuch mitgebracht hatte, um es zu bestechen. Devlin würde bei seiner ersten Aufwartung das Gleiche tun, denn andernfalls würde das Tier auf ein freundliches Streicheln höchstwahrscheinlich versuchen, ihn in Fetzen zu reißen.

Mister Cotsworth lieh Daniel gern Bücher – oder vielmehr drängte er sie ihm auf –, die man seiner Meinung nach gelesen haben musste, und beim darauffolgenden Besuch fragte er ihn immer über deren Inhalt aus. Devlin würde darauf achten, sich alles anzusehen, was ihm auf diese Weise in die Hände geriet und die Titel in seinen Briefen an Daniel zu erwähnen, damit dieser sie in London ebenfalls finden würde und dasselbe tun könnte.

Devlin drehte sich der Kopf. Die Genauigkeit, mit der sein Bruder auf jedes Detail achtete, war verblüffend. Vermutlich empfand Daniel es genauso mit allem, was er ihm zu seinen Angelegenheiten in London gesagt hatte.

Am Weihnachtsmorgen machte Daniel sich frisch rasiert und in Zivilkleidung einschließlich eines dicken Schals, der die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte und eines Huts, der nur noch seine Augen sichtbar ließ, auf den Weg nach Winterbourne.

Devlin wartete den ganzen Tag, wie auf glühenden Kohlen sitzend, und wurde immer nervöser. Als kurz vor der Abendessenszeit der Türgriff klapperte, vergaß er fast sein Bein, so stark war der Impuls, auf die Füße zu springen und die Neuigkeiten, ob gut oder schlecht, zu erfahren.

Daniel stapfte herein, er trug einen zugedeckten Korb. Er stellte ihn hin, schüttelte den Schnee ab und ging sofort zum Feuer, wo er die Kleiderschichten ablegte.

»Nun?«, fragte Devlin ungeduldig.

»Zumindest hat sie gelernt, ihre Impulse zu kontrollieren«, antwortete sein Bruder trocken. »Zuerst dachte ich, sie wollte mich schlagen. Ich sage dir, ihr Basiliskenblick passt eher zu einer abgespannten Matrone von über fünfzig Jahren. Mich schaudert, wenn ich mir vorstelle, wie sie in London mit dieser Haltung einen Ehemann finden will.«

Devlin biss sich auf die Unterlippe und beugte sich resigniert der Folter, darauf warten zu müssen, bis sein Zwillingsbruder so gut und bereit dazu wäre, das Ergebnis mitzuteilen. Wobei es ja sicherlich positiv sein musste, da er keinerlei Panik an den Tag legte.

Als auch die letzte durchweichte Schicht abgelegt war, sah Daniel ihm endlich in die Augen. »Sie wird Stillschweigen wahren.«

Erleichterung überflutete Devlin, die sehr willkommen war und ihn beruhigte. »Gott sei es gedankt!«

Daniels Mundwinkel zuckten, aber er blieb friedlich. »Es war nicht leicht, sie zu überzeugen – ich habe sie noch nie derartig wütend erlebt –, aber schließlich hat sie es eingesehen. Was Miss Tomblin angeht, stimmte Diana zu, dass sie nicht versuchen will, sie wieder von dem Beschluss abzubringen. Das wäre nach ihren eifrigen Bemühungen von Heilig Abend verdächtig. Ich sagte ihr, dass du die Sache in die Hand nimmst. Sie hat mir aufgetragen, dir etwas auszurichten, und zwar wortwörtlich – was ich hiermit tue: Wenn du die junge Dame verletzt oder die Sache verhunzt, wird sie deine Eingeweide als Ostermahl verspeisen.«

Zum ersten Mal seit seinem dummen Missgeschick, mit dem diese ganze Sache begonnen hatte, konnte Devlin gutgelaunt lachen. Der Moment währte jedoch nur kurz. »Ich hoffe, sie kann mir vergeben. Ich hoffe, du kannst es auch«, fügte er ernst hinzu, als er gewahr wurde, dass er bisher nicht einmal darum gebeten hatte.

Das Gesicht seines Zwillings wurde auf eine Art und Weise sanft, wie er es bei sich selbst nie verspürt hatte. »Gewiss verzeihe ich dir. Was auch dabei herauskommen wird. Immerhin bist du mein Bruder, auch wenn du ein Narr bist.« Mit einem Räuspern hob er den feuchten Mantel und den Schal auf, um sie aufzuhängen. »Ich werde den Tisch mit dem Abendessen decken, das Evangeline mir mitgegeben hat, und dann kannst du mir weiter beibringen, wie man sich als Schuft zu benehmen hat«, sagte er mit dem alten, vertrauten Zwinkern im Augenwinkel.

Devlin ließ den Atem ausströmen, den er angehalten hatte. Alles würde gut werden. Um seines Bruders willen würde er dafür sorgen.

 

Zwei Wochen später …

Mary konnte es kaum glauben. Nur wenige Wochen zuvor hatte sie keine Hoffnung mehr gehabt, und jetzt stand sie hier, um Seite an Seite mit dem Mann zu arbeiten, den sie eines Tages ihren Ehemann zu nennen gedachte. Es war eine Gelegenheit, ihm nahe zu sein, seine Neigungen und Abneigungen kennenzulernen und ihm zu zeigen, was für eine vortreffliche Ehefrau sie abgeben würde.

Sie hatte sich mit der Überlegung angekleidet, welche Aufgaben sie heute wohl zu erfüllen hatte. Keine weitschwingenden, spitzenbesetzten Kleider wie an den vorherigen Sonntagen, keinesfalls. An diesem Tag trug sie ein bescheidenes, praktisches Kleid aus bernsteinfarbenem, festem Twill mit wenig Spitze und keinerlei Pomp außer den glänzenden Messingknöpfen, mit denen ihre dunkelblaue Pelisse bis zu den Füßen durchgeknöpft war. Diese entsprach mit ihrer schlichten Eleganz ganz der Oberbekleidung, die eine Pfarrersgattin tragen würde.

Außerdem würde die Kleidung sie warmhalten. Mama hatte sie drei wollene Petticoats zu ihren dicksten Strümpfen und hohen Stiefeln anziehen lassen. Mit ihrem schweren Umhang und den filzbesetzten Handschuhen würde sie die Kälte wahrscheinlich nicht einmal bemerken.

Hatte Mama in der vorangegangenen Woche noch die Tricks ihrer Tochter missbilligt, mit denen sie den Blick des guten Pfarrers auf sich ziehen wollte, so war sie an diesem Morgen kooperativ, ja sogar liebenswürdig in der Angelegenheit. Ihre vorherigen Einwände – dass es das Beste wäre, wenn diese Flausen vorbei wären, bevor sie nach London mussten – waren Marys Meinung nach zwar hinfällig, kamen ihr für den Moment jedoch zugute.

Sie hörte nur mit halbem Ohr Hochwürden Waywards Predigt zu und malte sich eine glänzende Zukunft aus. Als Pfarrersgattin würde sie immer zusätzliche Pflichten haben, aber sie wären gering im Vergleich zu dem, was sie im Gegenzug bekam: ein echtes Heim mit einem liebenswürdigen und fürsorglichen Ehemann. Mit ihm das Haus zu teilen wäre keine Last, da war sie sicher. Und so attraktiv, wie er ist, wird es auch eher ein Vergnügen als eine Pflicht sein, das Bett mit ihm zu teilen.

Als hätte er den unartigen Gedanken gehört, sah der gute Pfarrer von seiner Bibel auf und fing ihren Blick ein. Mary senkte den Kopf, um ihr schuldbewusstes Erröten zu verstecken. Ihre Ohrspitzen glühten, als sie aufstand und ihr Gesangbuch aufschlug.

Schäm dich, Mary, und dann auch noch während der Predigt! Wieder einmal war sie für die Vergebung des Herrn wirklich dankbar.

In ihrer Ehe wäre sie aber nicht nur glücklich und gesegnet, sondern endlich könnte sie zur Abwechslung auch mal Wurzeln schlagen und echte Freundschaften eingehen. Augie würde jeden Tag zum Nachmittagstee zu Besuch kommen. Sie würden den Dorftratsch teilen – natürlich niemals böswillig, das verstand sich von selbst. Ihre Kinder würden zusammen aufwachsen und Freunde fürs Leben werden. Nie wieder würde sie als Eindringling betrachtet oder von anderen Frauen gemieden werden, die um ihre Schönlinge fürchteten. Als die Gattin des Pfarrers wäre sie ein respektiertes Mitglied der Gemeinde und bei allen beliebt.

»Gehet hin in Frieden und dienet dem Herrn«, intonierte Reverend Wayward, entließ die Gemeinde und unterbrach ihre Träumerei.

Sie hatte die volle Absicht, dieser Anweisung Folge zu leisten, und zwar jetzt gleich.

Ihre Eltern verließen mit den restlichen Pfarrangehörigen die Kirche und ließen sie in der Kirchenbank zurück, wo sie darauf wartete, dass der Reverend seine Pflichten beendete. Mary blieb sitzen, unsicher, was sie mit sich anfangen sollte. Sie brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie sich umwenden, und sie sah Reverend Wayward, der an seinen Krücken auf sie zukam.

»Guten Morgen, Miss Tomblin. Ihre Eltern haben mich informiert, dass Sie zum heutigen Dienst bereit sind.«

»Das ist richtig.« Sie musste sich große Mühe geben, um nicht vor Stolz zu platzen.

»Gut«, er nickte feierlich. »Wenn Sie mir ein paar Minuten geben, damit ich mich in der Sakristei umziehen kann, können wir gleich los.«

»Gewiss.« Sie zwang sich, sitzenzubleiben und faltete die Hände im Schoß. »Ich bitte um Segen für unsere heutige Arbeit.«

Sie spürte, wie er sich zurückzog, und senkte den Kopf tatsächlich im Gebet. Gib, dass ich mich nicht wieder zur Närrin mache! Er war ihr gegenüber wachsam, hatte ihr aber ihre Indiskretion verziehen und ihr eine neue Chance angeboten. Lass sie mich nicht vergeuden, indem ich vorschnell meinen Impulsen nachgebe …

Sie würde heute mit Begeisterung an seiner Seite Dienst tun, wie öde oder niedrig ihre Aufgabe auch sein mochte. Wenn er von ihr nicht mehr erwartete, als einen Korb mit Gebäck für ihn zu tragen oder Tee auszuschenken, während er seine Schäfchen besuchte, dann sollte es so sein. Sie würde sich nicht beklagen. Und von Liebe würde sie kein Wort sagen. Bevor sie nicht verheiratet wären, würde sie nichts mehr über Gefühle verlauten lassen. Sie würde ihn auch nicht mit schmachtenden Blicken anstarren.

Als der Pfarrer ein paar Minuten später zu ihr trat, forderte er sie auf, ihm zu folgen. »Wir werden zunächst Misses Small besuchen, dann Mister Messingham, der in der Nähe wohnt. Ich bitte Sie, für mich Dinge vom und zum Karren zu tragen – natürlich nichts zu Schweres, aber es wird eine enorme Hilfe sein.«

Er führte sie zum Hintereingang der Küche und blieb stehen. »Ich habe direkt hinter der Tür alles bereitgelegt, was wir heute brauchen. Ich reiche es Ihnen nach draußen.«

Als er hineinglitt und sie nicht zum Eintreten einlud, drohte die Enttäuschung ihre gute Laune zu dämpfen. Das ist nur vorübergehend. Bald würde er ihr unwürdiges Benehmen vergessen haben. Bald würde er erkennen, dass sie eine Frau mit Selbstdisziplin und eine große, würdige Hilfe für ihn war. Eines Tages würde ihr voreiliges Benehmen nur noch eine ferne Erinnerung sein, über die sie beide beim Frühstückstee lachen würden.

Einen Augenblick später wurde ein großer, zugedeckter Korb aus dem Flur nach draußen gereicht und auf dem Kopfsteinpflaster abgestellt, dem sogleich ein zweiter folgte. »Nur noch ein bisschen«, sagte er, streckte den Kopf heraus und schickte ihr ein kurzes Grinsen, das sofort ihre schwindende Begeisterung neu belebte. Dieses Mal folgten zuerst ein, dann zwei weitere große, unförmige Bündel. »Jetzt sind wir soweit«, sagte er gutgelaunt. »Wenn Sie diese Dinge zur Transportkutsche tragen, können wir los.«

Einen Augenblick lang betrachtete sie alles bestürzt, dann straffte sie die Schultern. Einer der Körbe war überraschend leicht. Unter dem Tuch drang der Duft nach Brot hervor. Der andere Korb war zwar kleiner, aber deutlich schwerer. Sie entschied, sie nacheinander aufzuladen, damit sie ihn mit zwei Händen tragen konnte.

»Es ist doch nicht zu schwer für Sie?«, rief der Pfarrer.

»Nein, gar nicht«, log sie strahlend, wuchtete den schwereren über den Rand der Karre und schob ihn an einen Platz. Einige Minuten später zog sie das letzte Bündel über die Seite hinauf und begann trotz des kalten Wetters zu schwitzen. Bis sie fertig war, hatte er sich auf den Fahrersitz gezogen und seine Krücken neben sich abgestellt … sodass für sie selbst kein Platz mehr blieb.

Misstrauisch und verwirrt starrte sie ihn an, bis er mit dem Kinn über seine Schulter ruckte.

»Da hinten liegen Decken für Sie«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln. »Diana hat mich beschworen, darauf zu achten, dass Sie sich wohlfühlen.«

»Oh, wie aufmerksam von ihr.« Es fiel ihr schwer, nicht finster dreinzublicken, als sie auf die Ladefläche und zur Stirnseite kletterte. Ihr Hinterteil hatte kaum die gefaltete Decke berührt, da ließ er die Peitsche knallen, die Karre setzte sich in Bewegung und sie drohte, auf die Nase zu fallen. Vorsichtig rutschte sie zwischen den rollenden Bündeln und den schwankenden Körben herum und sah nach vorne … wo sie einen perfekten Blick auf seinen Rücken hatte. Diese Aussicht und ein gelegentlicher Blick auf sein Profil, wenn er an Kreuzungen den Kopf drehte, war für eine ganze Weile alles, was sie von ihm sah.

Sie redeten nicht miteinander. Anstatt mit ihr, wie erwartet, eine angeregte Unterhaltung zu führen, schien der Mann gern zu pfeifen – was durchaus annehmbar, ja sogar angenehm wäre, wenn er dabei eine Melodie hervorbrächte. Nachdem sie eine scheinbare Ewigkeit seinem dissonanten Melodiensuchen gelauscht hatte, gab sie schließlich die Hoffnung auf und betrachtete in düsterem Schweigen die Bäume und Felder, die vorüberzogen.

Die Zeit dehnte sich auf der längsten und langsamsten Kutschfahrt der Geschichte unendlich aus, dabei hatte sie gedacht, dass sie in der Aufregung, mit ihm zusammen sein zu dürfen, nur so dahinfliegen würde.

»Jetzt ist es nicht mehr weit«, rief Reverend Wayward über die Schulter, als sie gerade durch das sanfte Wiegen des Wagens im Begriff war, einzudösen. Kurz darauf zog er neben einem seitlich abgehenden Pfad an den Zügeln und hielt an.

Dem Himmel sei Dank! Sie achtete auf ihre Röcke und kletterte hinunter, um ihm behilflich zu sein, doch das Ende einer Krücke hielt sie zurück.

»Holen Sie eins der Brote und einen Topf Marmelade heraus«, sagte er und nickte zur Rückseite des Wagens. »Achten Sie darauf, dass das Brot eingewickelt ist, damit es warm bleibt. In einem der Bündel ist eine Decke. Bringen Sie sie mit hinein.«

Sie wappnete sich innerlich gegen sein brüskes Verhalten und tat wie geheißen, wobei sie den Marmeladenkrug in die zusammengerollte Decke steckte, damit sie alles tragen konnte. Als sie fertig war, war es ihm gelungen, alleine abzusteigen, und er war schon auf dem Weg. Sie beeilte sich, zu ihm aufzuschließen.

Der Pfad führte zu einem rostigen, von Brombeeren überwucherten Pförtchen. Als sie sich hinter Hochwürden Wayward ihren Weg suchte, spürte sie, wie sich ihr Inneres wieder zusammenzog. Er war ihr so nahe, dass sie, hätte sie eine Hand frei, nur nach oben reichen müsste, um die Haut seiner Wange zu berühren.

»Hier entlang«, krächzte er.

Etwas in seiner Stimme klang anders – angespannt. Seine Haltung war wieder starr, als er weiterging. Sein krankes Bein hing angewinkelt zwischen den Krücken herunter. Der Weg war voller Steine und Wurzelwerk, sodass sie darauf achten musste, wohin sie ihre Füße setzte. Sie wusste nicht, wie er ohne zu fallen seinen Weg fand, aber irgendwie schaffte er es.

Als sie um eine Biegung gingen und die Bäume spärlicher wurden, entdeckte sie ein winziges Cottage mit einem Strohdach, aus dem ein krummer Schornstein ragte. Ein dünner Rauchfaden stieg daraus empor und ließ sie wissen, dass der Hausbewohner daheim war.

Der Pfarrer humpelte zur Tür und pochte. »Misses Small? Hier ist Reverend Wayward.«

Zuerst hörten sie das Geräusch von jemandem, der sich im Inneren bewegte, dann das Kratzen von Holz auf Holz. Die Tür sprang ein Stückchen auf, und ein schrumpeliges Gesicht spähte heraus. »Dachte, ich hätte Euch gesagt, dass ich von Euch keine Almosen brauch’?«, nörgelte die alte Frau, die sich offensichtlich darüber ärgerte, dass man sie störte. »Warum kommt Ihr immer noch vorbei?«

»Weil es meine heilige Pflicht ist, mich um die Menschen dieser Pfarrei zu kümmern, Madam«, sagte er und lächelte sie freundlich an. »Darf ich hereinkommen?«

Misses Smalls Stirnrunzeln vertiefte sich noch, aber die Tür öffnete sich trotzdem weit. »Versteh nich, warum Ihr immer rumkommt und Leute wie mich stören müsst. War vor meinem Ofen ganz gut aufgehoben. Aus meinem Nickerchen habt Ihr mich geweckt, meine alten Knochen zu bewegen, die Kälte reinzulassen und alles. Dabei könnte ich noch – Herrgott, Mann!«, rief sie aus, als sie sein Bein sah. »Was is Euch denn passiert?«

»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie geweckt habe, Misses Small«, sagte er und trat einen Schritt zur Seite, damit Mary mit ihrer sperrigen Last vorbeigehen konnte. »Es ist nichts, wirklich. Mir geht es gut. Und wie Sie sehen, habe ich heute Hilfe.«

Der Anblick, der sich Marys Augen bot, war das reine Chaos. Plunder – es gab keine bessere Bezeichnung dafür – lag überall herum, hing an Garn, Seilen und Bindfäden vom Gebälk herab, und jede vorhandene Oberfläche lag voll. Es war auf den ersten Blick zu sehen, dass die alte Frau Krempel und alte Dinge sammelte, die niemand mehr brauchte. Was sie damit anfangen wollte, konnte man nur raten.

Als sie weiter hineinging, überfiel sie ein muffiger Geruch, sodass sie unwillkürlich die Nase kräuselte. Unglücklicherweise sah es der Reverend, bevor sie sich wieder in den Griff bekam, und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, der in ihr heiße Scham auslöste. Den Kopf senkend, um ihre Beschämung zu verbergen, beschloss sie, es besser zu machen. Als er um sie herum kam, um sie vorzustellen, lächelte sie ihrer Gastgeberin herzlich zu.

»Miss Tomblin begleitet mich heute und bietet freundlicherweise ihre Hilfe an«, erklärte der Reverend. »Wir haben etwas Brot und Marmelade mitgebracht, außerdem eine neue Decke für Ihr Bett.« Er warf Mary einen Blick zu und sagte betont: »Jetzt hat der Schneefall eingesetzt, die langen Nächte sind bitter geworden, und die Tage kaum wärmer. Selbst in so einem gemütlichen Haus wie Ihrem zieht es schon mal unangenehm, und Feuer können in der Nacht herunterbrennen.«

Abermals spürte Mary den Stachel seiner Zurechtweisung, auch wenn es ihr jetzt dämmerte: Die alte Frau konnte bei solchem Wetter kaum ihre Kammern durchlüften. Nicht nur dass es ihrer Gesundheit nicht zuträglich wäre, die Kälte hereinzulassen – ihr Vorrat an Feuerholz würde aufgebraucht, um die Räume anschließend wieder zu heizen. Für arme Menschen hatte es höheren Vorrang, die Wärme drinnen zu halten, als dafür zu sorgen, dass das Heim gut duftete.

Obgleich die alte Frau ihnen einen kühlen Empfang bereitet hatte, erhob sie keine Einwände, als Mary ihr die Gaben überreichte. »Oh! Das ist aber mal nett«, sagte sie und schüttelte die Decke aus. »Ist das eine Daunendecke?«

»Jawohl«, antwortete er.

»Nich dass ich die bräuchte, nee«, sagte die Alte stolz, und ihr Blick wurde etwas milder, als sie die Decke um ihre Schultern drapierte. »Aber es is schön, ab und zu mal was Neues zu haben.«

»Miss Tomblin, könnten Sie freundlicherweise das Brot und die Konfitüre für Misses Small bereitstellen?«

»Gewiss.« Mary schickte sich sofort an, es zu tun. In den kleinen Kammern war es so voll, dass sie es nicht vermeiden konnte, die staubbedeckten Möbel – wenn man sie so bezeichnen konnte – der alten Frau mit den Röcken zu berühren, als sie sich auf der Suche nach einem Teller in dem kleinen Cottage ihren Weg zur Küche bahnte. Dieses Mal gelang es ihr jedoch, keinen Ekel zu zeigen.

Selbst die Warnungen ihrer Mutter, was sie bei den Besuchen der armen Landbewohner erwarten könnte, hatten sie nicht auf die Wirklichkeit vorbereitet. Das Elend, in dem Misses Small hauste, war einfach schrecklich. Sie konnte um nichts in der Welt verstehen, warum die Alte auf den Gruß des Reverends so hochmütig reagiert hatte, wo sie doch wirklich nichts besaß, womit sie prahlen konnte!

Außer vielleicht, wenn man die Zahl der Spinnweben zählte. Sie nahm an, dass auch haufenweise Nager im Haus lebten. Sie wappnete sich innerlich, bevor sie den Küchenschrank mit einem Ruck öffnete – in der Erwartung, kleine Knopfaugen daraus hervorstarren zu sehen. Zu ihrer großen Erleichterung gab es darin jedoch keine lebenden Kreaturen. Sie fand einen Teller, der sauber aussah, legte das Brot darauf und suchte nach einem Löffel für die Konfitüre. Eine weitere kurze Suche förderte ein Messer zutage.

Sie brachte den gefüllten Teller zu Reverend Wayward und hoffte, dass er sie nicht darum bäte, Tee zu kochen. Auf dem Ofen stand zwar ein Kessel, aber sie wusste beileibe nicht, wo sie hier Teetassen auftreiben sollte. Nicht dass sie irgendetwas trinken wollte, das hier zubereitet wurde. Tatsächlich konnte sie es kaum abwarten, zu gehen.

»Danke sehr, Miss Tomblin.« Er nahm den Teller entgegen, ohne sie anzusehen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Dame des Hauses. »Misses Small, können wir Ihnen heute bei irgendetwas behilflich sein?«

Die alte Misses säbelte bereits mit dem Messer am Brot, in ihren Augen leuchtete fast kindliche Vorfreude. »Oh, Ihr habt schon mehr als genuch getan, habt mir so schöne Geschenke gebracht.«

Er lächelte freundlich, öffnete den Krug für sie und hielt ihr den Löffel hin.

Misses Small grinste zurück und tauchte ihn in die klebrige rote Konfitüre, bevor sie sie auf ihrer Brotscheibe verstrich. Ihr Gesichtsausdruck, als sie ihre wenigen verbliebenen Zähne in das weiche, weiße Brot und die süßen Erdbeeren grub, sprach von reiner Glückseligkeit.

Mary blinzelte, weil ihre Augen plötzlich brannten, und schimpfte sich innerlich selbst. Diese Frau war einst eine Tochter, eine Geliebte, eine Ehefrau gewesen. Vielleicht war sie auch Mutter oder Großmutter. Und hier hauste sie nun am Rand der Stadt, ganz allein, ohne jemanden, der nach ihr sah oder ihr beim Haushalt half, und nur mit sich selbst als Gesellschaft.

Vielleicht hat sie niemanden, keine Familie. Auf jeden Fall waren ihre Lebensumstände so, dass die kleine Aufmerksamkeit einer neuen Decke und etwas Brot mit Marmelade ausreichten, damit sie sich im siebten Himmel wähnte.

Mary hatte sich manches Mal als Außenseiterin gefühlt, aber immer hatte sie ihre Familie gehabt. Und jetzt hatte sie auch Augie und andere Freundinnen.

Außerdem galt für sie die Erklärung, dass sie von woanders hergekommen war und deshalb als Außenseiterin behandelt wurde. Misses Small war viel einsamer, obwohl sie ihr ganzes Leben hier verbracht hatte, in eben jenem Harper’s Grove, das Mary sich selbst so sehr wünschte.

Ich will mich nie mehr selbst bemitleiden.

»Misses Small?«, sagte sie vorsichtig und öffnete zum ersten Mal den Mund. »Kann ich meine Hilfe anbieten? Sagen Sie mir, was getan werden muss, und ich mache es gerne.«

Die alte Frau hielt im Kauen inne und sah sie an, als spräche sie eine Fremdsprache. »Na ja, ich mein, Sie könnten mir mit der Wäsche helfen.« Sie deutete mit dem Kopf zu den Kleidern auf Wäscheleinen, die an Haken in den tragenden Dachbalken befestigt waren.

»Gewiss«, antwortete Mary und begann sofort. Als sie die fadenscheinigen Kleidungsstücke herunternahm und säuberlich auf Stapeln zusammenlegte, bemerkte sie, dass viele der Dinge, die sie für herumliegenden ›Krempel‹ gehalten hatte, einfach nur alt und abgenutzt waren, aber immer noch nützlich. Es sah so aus, als wäre Misses Small vor langer Zeit von einem viel größeren Haus in dieses kleine umgezogen und hätte versucht, alles darin unterzubringen.

Als alles zusammengelegt war, ging sie ruhig zum Spülbecken in der Küche und begann, das wenige Geschirr darin zu spülen. Sie legte alles zum Trocknen auf die seitliche Ablage. Ohne sich die Mühe einer Nachfrage zu machen, ging sie dann dazu über, die Asche vor dem Herd zusammenzukehren und unauffällig hier und da etwas geradezurücken, während ihre Gastgeberin und der Reverend sich unterhielten. Unter den Gegenständen sah sie das kleine Porträt eines Mannes, einer Frau und zweier Kinder, beides Mädchen. Die Frau auf dem Bild war wunderschön. Nach einem Augenblick erkannte Mary Misses Small in ihr – sie hatte dasselbe Gesicht, nur ohne die vielen Linien.

Die kleinen Mädchen müssen ihre Töchter sein. Sie wischte den Staub vom Rahmen und stellte es vorsichtig zurück an seinen Platz.

»Sie sind alle gegangen«, sagte Misses Small mit wehmütiger Stimme. »Mein Mann, meine Mädchen. Ich bin die Einzige, die noch übrig is. Warte nur noch drauf, dass die Engel mich abholen.«

Mary bemerkte, dass Reverend Wayward gegangen war.

»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Familie.« Mary ging zu ihr, um sich auf den schäbigen Schemel neben ihrem Sessel zu setzen. In der Stille, die auf ihre Bitte folgte, hörte sie Stimmen von draußen – seine und die von jemand anderem – und das dumpfe Tock einer Axt, die Holz spaltete.

»Da is nich viel zu erzählen«, antwortete die alte Frau sanft. »Ich war früher wie Sie, jung und voller Leben. Hab mein Leben gelebt. Das hab ich. Ich hab geliebt, meine Kinder bekommen und gesehen, wie sie ihre bekamen. Ich hab alle aus meiner Familie begraben, nur zwei nich. Und die zwei – meine Enkel – sind weit weg und leben ihr eigenes Leben – so is es auch richtig.«

»Kommen sie nicht her, um Sie zu besuchen?«

Misses Small verzog das Gesicht. »Warum sollten sie sich mit einer alten Frau belasten, die sie nur ein- oder zweimal als Kleinkinder gesehen ham? Sie sind weg und haben ihre eigenen Familien gegründet. Ich will ihnen sicher nich zur Last fallen.«

Mary fragte sich, ob sie überhaupt wussten, dass sie noch lebte, doch diese Frage fand sie zu grausam, um sie zu stellen. »Nun, ich bin ja jetzt da. Und mir fallen Sie nicht zur Last.« Sie zupfte an dem mottenzerfressenen Deckchen, das auf der Armlehne von Misses Smalls Sessel lag, und strich es glatt. »Ich habe meine Großeltern nie kennengelernt. Mein Vater ist von der Kirche großgezogen worden – eine Waise. Meine Mutter war ein Einzelkind, aber ihre Mutter und ihr Vater sind an einem Fieber gestorben, als sie noch klein war. Mama wuchs bei Verwandten auf. Sie steht mit ihnen nur über Briefe in Kontakt, also habe ich sie nie kennengelernt. Sie sagte, dass es freundliche Leute waren, aber nie darauf vorbereitet, ein Kind zu erziehen. Sie schickten sie an eine Mädchenschule, sobald sie bei ihnen ankam, und danach sah sie sie nur in den Ferien.«

»Armes kleines Ding.« Misses Small schüttelte den Kopf. »Is ne Schande, sowas. Meine Familie war vielleicht arm, aber wir hatten immer gut zu essen – und bei uns gab es Liebe. Ich vermisse sie, wirklich. Sie erinnern mich an meine Jüngste, Anna. Sie war auch so’n süßes Ding. Saß immer gern bei mir und hörte meinen Geschichten zu, während ich schöne Sachen für den Markt strickte.«

Ein aufrichtiges Lächeln legte sich auf Marys Lippen. »Meine Mutter ist nicht der Typ, der Geschichten erzählt.«

Wässrige grüne Augen leuchteten auf. »Wollense Annas liebste Geschichte hörn?«