Leseprobe Der kleine Buchladen zum Verlieben

Kapitel 1

Arbeitslos, alleinerziehend und bald obdachlos.

Das waren meine Aussichten in der Millionenstadt London. Da war die Mitteilung, dass mein Onkel Gregory verstorben sei und mir seine Buchhandlung im schottischen Städtchen Glenessie vermacht hatte, meine einzige Chance auf einen Neuanfang.

Nun sitze ich mit nicht mehr als zwei Koffern voller Kleidung, einem winzigen Funken Hoffnung und meiner quengeligen fünfjährigen Tochter Ava im Gepäck am Flughafen von Edinburgh. Viel Zeit zu überlegen blieb mir nicht. Da es nicht schlimmer kommen konnte, habe ich Ava geschnappt und alles hinter uns gelassen. Alles bedeutet die schäbige, viel zu kleine Wohnung über einem China-Imbiss in Soho, die ich sowieso nicht mehr bezahlen konnte. Ich schätze, insgeheim war mein Vermieter glücklich, dass ich auszog und er mich nicht rausschmeißen musste.

»Grace Thompson?«

Ich reiße den Kopf herum und starre auf einen silberglänzenden SUV direkt vor mir. Aus dem Fahrerfenster schaut ein Typ mit dunkelblonden Haaren, die ihm achtlos ins Gesicht fallen. Eine Rasur würde dem auch mal guttun, denke ich. Ein Wunder, dass der Bart seinen Mund nicht überdeckt. Ob ihm wohl regelmäßig Essensreste darin hängenbleiben? Igitt, schnell an was anderes denken. An seine muskulösen, definierten Arme oder den eisernen Blick, mit dem er mich mustert.

»Das bin ich!« Als ich vom Boden aufstehe, reiße ich fast die Koffer um und Ava lacht mich aus.

»Einsteigen«, brummt der Typ, nachdem er ausgestiegen ist und den Kofferraum geöffnet hat. Mühelos hebt er unser Gepäck hinein und setzt sich dann wieder hinters Lenkrad.

»Sind Sie … Iona Murrays Enkel?«, frage ich sichtlich verwirrt, was ihm fast ein Lächeln entlockt. Aber nur fast.

»Aye, der bin ich.« Er nickt und blickt stur geradeaus, darauf wartend, dass wir endlich einsteigen.

Ich wende mich meiner Tochter zu und streiche ihr das blonde Haar, welches sie von mir hat, aus dem Gesicht. »Gleich sind wir in unserem neuen Zuhause, Schatz.«

»Endlich«, sagt sie und gähnt herzhaft.

Ich setze mich mit Ava auf die Rückbank des SUV und Mrs Murrays Enkel, der mir immer noch nicht seinen Namen verraten hat, startet den Wagen.

Bevor Ava und ich nach Schottland aufgebrochen sind, habe ich ein paar Mal mit Mrs Murray telefoniert, die, wie sich herausgestellt hat, eine Angestellte des Buchladens meines Onkels war. Mit ihr habe ich vereinbart, dass ihr Enkel uns am Flughafen in Edinburgh abholt. Nur hatte ich erwartet, dass ihr Enkel nicht so griesgrämig und … gut aussehend ist. Mrs Murray scheint ziemlich erschüttert über den Tod meines Onkels Gregory zu sein. Ihren Erzählungen zufolge arbeitet sie schon zwanzig Jahre in der Buchhandlung. So kenne ich zumindest eine Person in dem schottischen Vorstädtchen, die mir unter die Arme greifen kann. Ich habe zwar schon viele Jobs ausgeübt, aber niemals den einer Buchhändlerin. Es ist schon eine Ewigkeit her, seitdem ich das letzte Mal ein Buch in der Hand gehabt, geschweige denn gelesen habe. Seit Ava auf der Welt ist und ich mich darum kümmern muss, dass wir über die Runden kommen, bleibt dafür nicht viel Zeit.

»Haben Sie auch einen Namen?«, versuche ich die Situation auf scherzhafte Weise zu lockern.

»Hab ich.«

Wow, der Enkel scheint über einen großen Wortschatz zu verfügen. »Verraten Sie ihn mir?« Ich lächle, als er mir durch den Rückspiegel einen Blick zuwirft.

Sein Griff um das Lenkrad verstärkt sich, das erkenne ich daran, wie seine Sehnen an den Unterarmen hervortreten. Er räuspert sich leise. »Keir«, antwortet er mehr widerwillig.

»War das etwa so schwer?«, rutscht es mir heraus und ich schiebe ein unsicheres Lachen hinterher.

»Ich heiße Ava«, ruft meine Tochter dazwischen und betont dabei ihren Namen besonders lange.

Ein weiterer Blick durch den Rückspiegel, ein weiteres Räuspern, aber keine weiteren Worte seinerseits. Na gut, dann schweigen wir eben die restliche Fahrzeit, die hoffentlich nicht allzu lange dauert.

Als wir Edinburgh verlassen, fahren wir zunächst auf eine Autobahn und nach wenigen Meilen auf eine Landstraße. Die schottischen Highlands sind eine wahre Augenweide und in diesem Augenblick glaube ich das erste Mal, dass das hier ein Neustart werden könnte. Den alten Ballast zurücklassen und eine neue Zukunft schreiben, so lautet mein Motto. Ich wünsche mir, dass auch Ava glücklich wird. Sie ist schon immer ein fröhliches, aufgeschlossenes Mädchen gewesen und hat schnell Kontakte geknüpft. Ich hoffe, sie findet schnell neue Freunde.

***

Die Augen fallen mir allmählich zu, als wir nach dreißig Minuten anhalten und Keir mich ziemlich unwirsch weckt.

»Aussteigen«, raunt er, knallt die Autotür zu, um wenig später den Kofferraum aufzureißen.

Ava ist zwischenzeitlich eingeschlafen. Kein Wunder, schließlich war das ihr erster Flug und für sie ziemlich anstrengend. Ich nehme sie auf den Arm und folge Keir, der mir freundlicherweise die Tür aufhält, in ein Haus. Es riecht würzig nach Suppe und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Wann habe ich das letzte Mal etwas gegessen? Vor Aufregung habe ich nicht mal einen Bagel herunterbekommen, während Ava sich am Flughafen den Bauch vollgeschlagen hat. Für sie ist das ein Riesenabenteuer und ich wünsche mir, ich hätte auch etwas von ihrem Optimismus.

»Grace! Wie schön, dich endlich kennenzulernen.« Vor mir steht eine ältere Frau mit kurzen, lockigen Haaren und einem strahlenden Lächeln. Sie kommt auf mich zu und gibt mir einen Kuss auf die Wange, dann streicht sie über Avas und bedenkt sie mit einem warmen Blick. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen, da können wir sie auf das Sofa legen. Du hast sicher Hunger, oder?«

»Und wie«, sage ich.

Nachdem Ava in eine Wolldecke eingekuschelt weiterschläft, bringt mir Mrs Murray einen Teller mit lecker duftender Suppe und eine Tasse Tee.

»Wie war euer Flug?«, fragt sie, als sie sich zu mir setzt.

»Ganz gut. Für Ava ist das alles total aufregend und sie ist wohl nicht ganz so ängstlich wie ihre Mum.« Ich lache auf.

»Die Kleinen verkraften das oft besser als man selbst«, erwidert sie.

»Danke für … einfach alles, Mrs Murray«, sage ich und schiebe einen weiteren Löffel Suppe in meinen Mund, die einfach köstlich schmeckt.

»Nenn mich bitte Iona.« Sie lächelt und ich frage mich, wie zum Henker ihr Enkel das komplette Gegenteil von ihr sein kann. Verwandtschaft hin oder her, Keir ist der unfreundlichste Mensch, der mir je untergekommen ist. Meinen Ex ausgeschlossen.

»Ehrlich gesagt, bin ich jetzt schon von allem überfordert«, meine ich. »Ich muss mich um die Buchhandlung kümmern, Ava einen Platz in der Grundschule beschaffen und nebenbei noch die Wohnung umräumen.«

»Um die Buchhandlung kümmere ich mich, du kannst derweilen alles andere klären, Grace. Ihr müsst beide erst mal ankommen, dann können wir das Geschäft eröffnen, in Ordnung?«

Ich schlucke die Suppe herunter und starre Iona verblüfft an. »Das kann ich nicht annehmen, wirklich nicht.«

Iona legt ihre Hand auf meine. »Kannst du und wirst du, Liebes. Ihr zieht mehrere hundert Meilen weg, lasst euer altes Leben zurück – glaub mir, ich weiß genau, wie es euch geht.«

»Danke«, flüstere ich.

»Ich komme ursprünglich aus Irland, bin aber der Liebe wegen nach Schottland gezogen.« Sie bemerkt meinen Blick und setzt hinzu: »Ich habe einen Schotten geheiratet, mit ihm Kinder bekommen. Wir haben ein schönes Leben geführt, bis mein Sohn bei einem Autounfall ums Leben kam und ich meinen Enkel großziehen musste. Vor wenigen Jahren verstarb mein Mann an Krebs. In all der Zeit gab mir die Buchhandlung Halt und Gregory holte mich aus dem Loch heraus. Ich bin ihm sehr dankbar.«

Es hört sich so schön und zugleich so furchtbar traurig an. Doch das Lächeln in ihrem Gesicht, als sie von ihrem Mann und ihrem Sohn spricht, verrät dass sie aus ganzem Herzen geliebt hat und geliebt wurde.

An meine eigenen Eltern habe ich keinerlei Erinnerungen mehr, sie sind ebenfalls früh bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich bin bei meiner Tante und meinem Onkel Gregory in London aufgewachsen und hatte eine schöne Kindheit. Selbst als sie sich trennten und Gregory nach Schottland ging, verlief alles harmonisch. Zwar hatte ich ihn nie besucht, aber wir schrieben uns regelmäßig Briefe und telefonierten. Onkel Gregory zog Briefe modernen Emails vor und tatsächlich fällt es mir bis heute schwer, elektronische Post zu verfassen. Handschriftliche Briefe haben etwas Persönliches, fast Intimes, und die Vorstellung, sie nach Jahrzehnten wieder zu öffnen, beschert mir ein wohliges Gefühl. Aber bisher habe ich nie von jemanden anderen als meinem Onkel einen Brief erhalten. Zu wissen, dass mein Briefkasten in der Zukunft leer bleiben wird, schmerzt mich.

Meine Tante Julia ist vor zwei Jahren an einem Schlaganfall gestorben, was mir immer noch ziemlich zusetzt. Sie und Onkel Gregory waren meine einzigen lebenden Verwandten, nun ist da niemand mehr. Wie eine Wunde, die niemals verheilt.

Ein Geräusch, das von dem Sofa kommt, lässt mich kurz zusammenzucken. Ich werfe einen Blick zu Ava, sie schläft jedoch seelenruhig.

»Ist, äh, Keir immer so … Wie soll ich es sagen?« Ich lege nachdenklich die Hände um die Tasse und wähle die folgenden Worte sorgfältig aus. »Ist er immer so wortkarg?«

Iona lacht herzhaft auf und schlägt sich dann die Hand vor den Mund. »Entschuldige, aber es ist einfach entzückend, wie nett du Keir umschreibst.«

»Ich meine, vielleicht hat er auch einfach seine Periode oder zu lange keine Frau mehr gehabt.« Die Worte verlassen meinen Mund, bevor ich darüber nachdenke und so bin ich diejenige, die die Hand vor den Mund schlägt.

»Er hatte es nicht immer leicht«, sagt Iona, als ein Räuspern uns zusammenschrecken lässt. Im Türrahmen steht Keir, breit und groß und ein wenig angsteinflößend. Die Haare hat er nun zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, das weiße T-Shirt hebt seine Bräune hervor und die Sehnen, die bedrohlich an seinem Unterarm zucken, machen mich ganz verrückt.

Ich schlucke den Kloß, der mir im Hals hängt, hinunter. Oh Mist, habe ich das gerade ernsthaft gesagt? Und hat er es mitbekommen? Ich möchte auf der Stelle im Erdboden versinken! Okay, … an Erdboden, … an Erdboden, bitte lass mich in dich versinken.

»Wir sehen uns morgen, Iona. Dann schau ich mal, was deiner flotten Schnecke fehlt.« Er hebt zum Abschied die Hand und ist binnen weniger Sekunden in der Dunkelheit des Flurs verschwunden, einzig die Geräusche seiner schweren Stiefel sind noch zu vernehmen.

»Flotte Schnecke?«, frage ich und ziehe die Augenbrauen zusammen.

»Mein Auto. Ich nenne es liebevoll flotte Schnecke, weil es genau das Gegenteil von flott ist«, erwidert sie. »Aber ich liebe die Schrottschüssel einfach.«

Ich nicke. »Ich hoffe, er hasst mich nun nicht noch mehr als ohnehin.«

»Keir hasst die Menschen nicht, er leidet nur an seinem gebrochenen Herzen«, sagt Iona und nippt an ihrem Tee.

»Und das ist ein Grund, sich anderen gegenüber so unhöflich zu verhalten?«

»Das sollte keine Rechtfertigung sein, Grace. Ich weiß, wie er drauf sein kann und dass es nicht leicht ist, durch die harte Schale hindurchzukommen.«

»Dann ist eine Frau, die ihn aus seinem schwarzen Loch herausholt, möglicherweise das Richtige.« Ich zucke mit den Schultern.

»Dafür ist er wohl noch lange nicht bereit.«