Leseprobe Geheimnisse unserer Herzen

Der verschollene Sohn

Durch die Wolkendecke brachen vereinzelte Sonnenstrahlen. Wind zerrte das Grau auseinander und helles Blau schimmerte hervor. Die Luft roch nach Regen und Gras.

Chris fühlte, wie die Feuchtigkeit der Wiese durch seine Turnschuhe sickerte, ließ sich davon aber nicht beirren. Er spürte das Leder der Zügel in seiner Handfläche und klammerte sich daran, als könne es ihm irgendeinen Halt geben. Denn für einen Moment sah er nicht die Wildblumenwiese und das Getreidefeld vor sich. Ein anderes Bild erschien vor seinem inneren Auge und ließ sein Herz stärker schlagen. In seiner Vorstellung sah er für einen Wimpernschlag lang ein wunderschönes Landgut.

Sein Pferd, das er zu Fuß über die Ebene führte, stupste ihn sachte von hinten an. Ohne hinzusehen streckte er den Arm aus und die Stute schmiegte sich an seine Hand.

Er blinzelte, versuchte, die Erinnerung zurückzuholen, doch es blieb bei diesem Gedankenblitz.

Noch immer kämpfte Chris darum, zu begreifen, wie es möglich war, dass er sich an ein Leben erinnerte, das seine Seele vor über zweihundert Jahren gelebt hatte. Schon als Kind war er von Erinnerungen beherrscht worden, die ein Junge in seinem Alter gar nicht hätte haben dürfen. Er hatte vermieden, darüber zu sprechen, hatte stets alles verheimlicht, weil es ihn ängstigte ‒ bis er das alte Tagebuch auf dem Felsen hatte liegen sehen. Das Buch, das Katelyn nach ihrer ersten Begegnung in ihrer Aufregung dort vergessen hatte.

Er wandte sich zu seinem Pferd um und strich ihm über die weiche Mähne. Chris nannte sie nun Lilly, weil sie sich dem Namen, der in ihrem Pferdepass stand, irgendwie verweigerte. Sie war immer noch eigensinnig und stur, wollte immerzu ihren Willen durchsetzen, aber diese Stute liebte ihn und das konnte jeder sehen.

Chris lief nun weiter über das Gras, bis zu einer Stelle, in der man am Boden noch die Einfassung eines alten Gebäudes erkennen konnte. Langsam ging er den Grundriss ab, beugte sich hinunter, um den alten Stein zu berühren.

Hier an diesem Ort hatte einst der Mann gelebt, der in diesem anderen Leben sein bester Freund gewesen war ‒ Lester O’Brian.

Katelyns Großmutter Fiona hatte ihm erklärt, wo er noch alte Grabstätten finden würde. Ihre Begleitung hatte er abgelehnt. Dies musste er allein tun, nachdem er es so lange aufgeschoben hatte.

Er wandte sich nach Osten, kam einem Wäldchen nahe, in dem, wie er wusste, noch immer die Ruinen des alten McKay-Hauses ruhten. Vom Landgut der Familie O’Brian gab es nur noch die Grundmauern. Wegen Einsturzgefahr musste es in den Vierzigerjahren nach dem Krieg abgerissen werden. Nur Fionas Cottage, das früher anscheinend Bedienstete beherbergt hatte, war durch eine Runderneuerung erhalten geblieben.

Lilly warf ungeduldig den Kopf hin und her.

„Du willst dich bewegen, hm? Später, Süße. Gib mir noch einen Moment.“

Eine bröcklige Trockenmauer umfasste ein kleines Gelände, in dem eine alte, knorrige Buche thronte. Moos überwucherte den Stamm. Ihre Zweige streckten sich weit in den Himmel. Der Baum strahlte Stärke aus. Eine sanfte Bö bewegte seine belaubten Zweige.

Chris ging in den abgetrennten Bereich und band Lilly an einen dicken Ast des Baumes. Sie schüttelte etwas unwillig den Kopf, fand dann aber am Boden saftiges Gras, das sie gnädig stimmte.

Er schaute sich um. Hier befanden sich sehr alte Gräber. Kaum einer der vermoderten Steine stand noch, die meisten ragten schief aus dem Boden oder waren umgefallen. Ein seltsames Gefühl erfasste ihn. Es zerrte an seinem Herzen und ließ ihn kurz taumeln. Mit einem tiefen Atemzug riss er sich zusammen und versuchte, die Namen zu entziffern.

Zuerst fand er die Grabstätte von Hellen. Chris fiel auf die Knie und legte seine Hand auf das Gestein. Seine Finger fuhren über die eingravierten Daten und obwohl es ihm die Kehle zuschnürte, lächelte er. Für die damalige Zeit hatte sie ein langes Leben haben dürfen.

Es tut mir leid, dass ich dir damals nicht die Liebe habe geben können, die du verdient hättest.

Er schaute auf den Stein daneben, der nach vorne gekippt war. In einer Kraftanstrengung stemmte er ihn auf. Es war Lesters Grab. Anhand des Datums konnte er sehen, dass auch er das Alter hatte erleben dürfen.

Chris senkte den Kopf, suchte eine Verbindung zu ihnen. Durch die Bücher, die von seinem anderen Ich geschrieben worden waren, kamen sie ihm plötzlich so nah vor. Als hätte er sie vor wenigen Tagen erst verlassen müssen.

Tränen sickerten in die alte Erde und er schämte sich ihrer nicht.

Er wusste, dass die Tochter, die Lester und Hellen nach seinem Tod bekommen hatten, nicht hier zu finden war, denn sie hatte in eine andere Familie eingeheiratet und würde auf deren Friedhof ihre Ruhe gefunden haben.

Nachdenklich richtete sich Chris auf, ging zu der Buche und lehnte sich an ihren Stamm. Nur ein Schicksal hatte bisher niemand lüften können. Was war aus James geworden? Sein Sohn, in dieser anderen Zeit, die sich oft so nah anfühlte? Jegliche Spuren verloren sich, nachdem er ins Erwachsenenalter eingetreten war. Fiona hatte lange nach ihm geforscht und war doch zu keinem Ergebnis gekommen.

„Ich wünschte, ihr könntet mir eine Antwort darauf geben“, flüsterte Chris mit Blick auf die beiden Ruhestätten.

Mit einem Seufzen erhob er sich und ging zu Lilly. Da er ohne Sattel nicht gut aufsteigen konnte, führte er sie zur Trockenmauer und kletterte auf die Abgrenzung. Von dort schwang er sich auf ihren Rücken und zeigte ihr an, dass sie zurückreiten würden.

Er ließ ihr Freiraum und trabte mit ihr über den weichen Boden.

Das Cottage kam in Sicht. Eigentlich war es viel zu klein für sie drei, aber sie fühlten sich als eingeschworene Gemeinschaft. Nur sie wussten um diese besonderen Erinnerungen und Chris wollte auch Fionas Gegenwart nicht mehr missen.

Katelyn wartete am Eingang auf ihn, als hätte sie bereits gespürt, dass er zurückkommen würde. Er ließ sich von Lilly gleiten und sie kam auf ihn zu. Ihre dunklen Augen schauten ihn prüfend an. Hast du sie gefunden?, fragten sie.

Ihm war nicht nach Reden zumute. Chris zog Katelyn einfach an sich, um sie zu küssen und sie schmiegte sich in seine Umarmung.

Nach einer Weile beruhigte sich sein aufgewühltes Gemüt. „Hellen und Lester liegen dort an der alten Buche. Deine Oma hatte recht.“

Katelyn schwieg kurz, dann sah sie auf. „Und ich war heute noch mal bei den O’Malleys.“

„Was haben sie gesagt?“

„Jeffrey O’Malley weiß nicht so recht, wie er mit mir umgehen soll, nachdem wir ihm das Stück Land offiziell überschrieben haben.“ Sie lächelte traurig. „Er verstand diese Geste nicht so recht, also habe ich … ich habe ihn auf die Vergangenheit angesprochen.“

„Wissen sie noch etwas darüber?“

„Nur sehr wenig, Bruchstücke, die von der Familie weitergetragen worden sind.“

„Hast du es ihnen erzählt? Also ich meine nicht die ganze Wahrheit, sondern nur unsere Geschichte.“

Katelyn nickte. „Jeffrey war nicht erstaunt, dass unsere Familien auf besondere Art verbunden sind.“

„Nicht?“

Sie schüttelte den Kopf, als müsse sie das, was der Traveller ihr erzählt hatte, noch verarbeiten. „Er sagte, die O’Malleys hätten zu den O’Brians immer eine enge Verbindung gehabt, zumindest bis der Krieg alles verändert hat.“

Fiona hatte ihnen erzählt, dass ihre Familie in große, finanzielle Nöte geraten war und deshalb das Landgut nicht hatte retten können. Die meisten zogen fort, nur Fionas Eltern hingen an dem Land und kämpften zumindest um das alte Cottage.

Trotz wärmender Sonnenstrahlen begann es, sanft zu regnen. Das Licht schillerte regenbogenfarben in der Luft und Chris hielt das Gesicht in die Feuchtigkeit.

„Chris?“

„Hm?“

Er hätte ewig hier stehen können, mit Katelyn in seinen Armen. Der Regen störte ihn nicht.

„Lilly macht gerade einen Spaziergang. Vielleicht sollten wir sie einfangen?“

Chris hob verdutzt die Lider und schaute sich zu seiner Stute um, die nun begann, verspielt über die Wiese zu galoppieren. Er pfiff auf zwei Fingern und zumindest reagierte sie, denn sie verfiel in leichten Trab und schaute kurz zu ihnen herüber.

„Dieses kleine Biest“, murmelte Chris.

Katelyn lachte vergnügt auf.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, Lilly einzufangen, denn sie machte sich einen Spaß daraus, Chris und Katelyn zu necken. Schließlich kam sie von allein zu Chris und sie brachten das Pferd zurück zum Gestüt seines Freundes Hamish, wo Lilly noch immer ihre eigene Box hatte.

Sie verabschiedeten sich von Lilly und schlenderten Hand in Hand zum Kiesweg, der sie vom Stall fortführte.

„Oma sagt, wir haben etwas in Gang gesetzt, das nicht aufzuhalten ist“, sagte Katelyn leise.

„Wie meint sie das?“

„Wenn ich das nur wüsste. Sie hat die Runen gelegt und sich sehr schwammig ausgedrückt.“

„Wie so oft“, grummelte Chris und dachte mit Unbehagen an diese Runen, die ihm als John damals keine besonders rosige Zukunft vorausgesagt hatten. Er mochte diese mystischen Steine nicht, obwohl er natürlich wusste, dass sie nicht für die Zukunft verantwortlich waren. Dennoch schienen sie unterbewusste Dinge aufzudecken und vielleicht sogar vorauszuahnen. In seinem anderen Leben hatte er dies schmerzlich erfahren müssen.

„Sie sagt, es muss nichts Schlechtes sein.“

Chris lachte mit einem bitteren Unterton. „Ja, das sagt sie immer, um uns nicht zu verschrecken.“

Katelyn hakte sich bei ihm unter und schmiegte sich an seine Schulter. Er hauchte ihr einen Kuss aufs Haar.

„Ich frage mich …“ Er stockte. War dieser Gedanke töricht?

„Was denn?“

Unsicherheit keimte in ihm auf, aber auch eine Spur Hoffnung. „Ob die Runen irgendetwas über James’ Verbleib sagen können?“

„Oma hat es mehrmals versucht, aber die Antworten sind jedes Mal sehr widersprüchlich.“

Sie wanderten am Ufer des Derwent Water entlang und setzten sich auf die Bank bei Friar’s Crag. Vor ihnen breitete sich der See aus. Wolken spiegelten sich in dem Wasser. In den hohen Kiefern, die rechts und links den Ruheort flankierten, rauschte leise der Wind.

Katelyn griff nach Chris’ Hand. „Das lässt dich nicht los, oder?“

„Nein, ich kriege es nicht aus dem Kopf. Ich meine, egal, was damals geschehen ist, ich könnte es eh nicht ändern. Vielleicht wäre es sogar besser, wenn wir sein Schicksal gar nicht erfahren.“

Chris sah ihr an, dass sie darüber nachgrübelte.

Eine Bö wehte ihr das dunkle Haar ins Gesicht und sie schob die Locke hinters Ohr. „Und wenn wir an der falschen Stelle gesucht haben?“

„Was meinst du?“

„Wir haben immer angenommen, dass James Lesters Nachnamen angenommen hat. Und wenn das später gar nicht der Fall gewesen ist?“

„Es gibt aber auch keinen Baronet mit Namen James Gregory McKay.“

Sie tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen. Eine neue, kleine Eigenart, die Chris sehr liebte und ihm jetzt ein Lächeln entlockte.

„Vielleicht hat er den Titel nie offiziell angenommen“, überlegte Katelyn.

Verwundert runzelte Chris die Stirn. „Warum sollte er sich dem verweigern?“

Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Vielleicht sollten wir mal einen Aufruf im Social Media starten. Ich meine, klar, es gibt viele McKays. Aber gibt es so viele, die Vorfahren hier aus der Gegend haben? Womöglich finden wir auf die Art etwas heraus.“

„Einen Versuch ist es sicher wert.“

***

Alicia starrte auf das Facebook-Posting, auf das sie eher durch Zufall aufgrund eines geteilten Beitrags einer Bekannten gestoßen war, und wurde von einem Gefühl erfasst, das sie nur schwer beschreiben konnte. Eine Katelyn O’Brian suchte nach verstreuten Familienmitgliedern, die den Nachnamen McKay tragen könnten?

Ihren Namen.

Bisher hatte sie sich nie viel mit ihrer Familiengeschichte befasst, war zufrieden, hier in Frankreich auf dem kleinen Gehöft der McKays zu leben, auf dem früher wie heute Pferde gezüchtet wurden. Sie liebte ihre Heimat Brantôme und hatte nie das Gefühl gehabt, sie müsse aus dem Kleinstadtflair fliehen, wie ihr Bruder, der nun in Toulouse lebte.

Nachdenklich senkte sie den Blick, denn sie dachte an eine Geschichte, die ihr Großvater vor seinem Tod oft erzählt hatte. An Details konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber sie wusste, dass es immer um ein sehr altes Buch gegangen war, das ein Vorfahr geschrieben hatte, der hierher ausgewandert war.

Sie sah aus dem Fenster und schaute auf den Fluss Dronne. Ein warmer Wind brachte den Geruch von Lavendel mit sich. Alicia stellte sich an das offene Fenster und ließ ihren Blick schweifen. Ihre Pferde grasten auf den weitläufigen Weiden und eine Obstplantage grenzte an die eingezäunten Wiesen. Ein kleiner Wald umringte Alicias Zuhause und sie bekam Lust auf einen Ausritt. Doch dieses Posting ließ sie nicht los.

Entschlossen ging sie die Stufen ins Erdgeschoss hinunter und suchte ihre Mutter Chloé. Alicia fand sie in der sonnendurchfluteten Landhausküche. Ein leckerer Duft stieg ihr in die Nase und ließ ihren Magen knurren.

„Maman, machst du unser Apfelgebäck?“

Chloé drehte sich herum und grinste schelmisch. „Das kannst du erschnuppern, was?“

„Immer!“

„Komm, setz dich, ich habe schon was fertig.“

Während Alicia sich die Köstlichkeit schmecken ließ, die in ihrer Familie schon seit Generationen gebacken wurde, schob sie ihr Smartphone in Richtung ihrer Mutter.

„Maman, schau mal. Ich musste direkt an das alte Buch denken, von dem Opa immer erzählt hat.“

Chloé wischte sich die Hände an einem zerschlissenen Handtuch ab und schaute auf den Bildschirm. „Übersetz mir doch bitte, was da steht. Du weißt, mein Englisch hält sich in Grenzen.“

„Ach ja, entschuldige.“ Alicia erklärte ihr, was in dem Beitrag stand. „Die Geschichte hat doch hauptsächlich in dieser Gegend gespielt, oder?

Ihre Mutter überlegte kurz. „Ja, ich glaube schon.“

„Existiert das Buch noch irgendwo?“

„Vielleicht ist es in der alten Garage gelandet, bei den Sachen, die dein Vater schon seit Ewigkeiten mal aussortieren wollte.“

Womöglich war es ja gut, dass er das stets vor sich hergeschoben hatte.

Alicia nahm sich ein letztes Stück von dem leckeren Gebäck. „Ich werde mal danach suchen. Eventuell ist da ja wirklich ein Zusammenhang.“

„Was wollen denn diese Leute aus Keswick?“

Alicia schaute noch einmal nachdenklich auf das Posting. „Ich denke, nur Nachforschungen anstellen.“

Ihre Mutter wandte sich wieder dem Herd zu. „Sag mir, wenn du was gefunden hast, ja?“

„Mach ich“, antwortete Alicia ihr im Hinausgehen.

 

In besagter Garage lag alles kreuz und quer. Staub wirbelte auf, als Alicia eintrat. Unzählige Kartons, in denen das Hab und Gut ihrer Großeltern ruhte, stapelten sich in der alten Werkstatt, die ihr Vater schon lange nicht mehr nutzen konnte, weil eben alles vollgestellt war.

Mit einem tiefen Seufzen nahm sich Alicia den ersten Karton vor und begutachtete die Dinge, die sich dort verbargen. Doch nach drei Stunden gab sie entnervt auf. Mit Staubfäden im hellbraunen Haar setzte sie sich auf die Bank am Haus und knibbelte am abgeblätterten Farblack herum.

Ihr Vater Pierre, der gerade aus den Stallungen kam, gesellte sich zu ihr. „Bald wird die Bank überhaupt keine Farbe mehr haben“, sagte er belustigt und zupfte seiner Tochter einen Staubflusen aus dem Haar.

„Papa, weißt du, wo in all dem Chaos dieses alte Buch ist, von dem Opa immer erzählt hat?“

„Nicht in diesen Kartons.“

Alicia horchte auf. „Sondern?“

„Dieses Buch ist aus dem 18. Jahrhundert und mein Vater hätte mir einen Tritt in den Hintern gegeben, wenn ich es einfach in der Garage liegen gelassen hätte. Es ist wertvoll.“ Er setzte sich neben sie. „Warum fragst du? Das hat dich doch bisher nie interessiert.“

„Ich hab was auf Facebook gesehen. Da sucht eine Familie O’Brian aus Keswick nach verstreuten Familienmitgliedern, mit unserem Nachnamen.“

„Darf ich es mal sehen?“

Alicia holte ihr Smartphone aus der Hosentasche und öffnete erneut den Beitrag.

Interessiert beugte sich ihr Vater vor und las den Aufruf. „Komm mal mit!“

Pierre führte sie zurück ins Haus und ging in sein Büro, das sich wie ihr Zimmer im oberen Stockwerk befand. Er ging zu einer Glasvitrine, öffnete sie und holte eine hölzerne Schachtel hervor. Als er den Deckel aufklappte, blickte Alicia auf ein dickes Lederbuch, das mit Schnüren zusammengebunden war.

„Wir hatten überlegt, es einem Museum zu stiften, aber da mein Großvater sehr viel Wert darauf gelegt hat, es weiterzureichen, haben wir es sein gelassen.“

Beide betrachteten andächtig das kostbare Buch.

Alicia suchte den Blick ihres Vaters. „Kann man die Worte noch entziffern?“

„Ja, sehr gut sogar. Unsere Familie hat es wie einen Schatz behütet, aber auch verborgen gehalten, wegen eines Geheimnisses, das damals nicht aufgedeckt werden durfte.“

„Darf ich es lesen?“

„Ja, natürlich, aber gehe behutsam damit um.“

Neugierde hatte Alicia gepackt. Sie nahm die Schachtel mit dem großen Buch an sich und verzog sich in ihr Zimmer. Die Sonne flutete den Raum, als sie den schweren Band aus seiner Schutzhülle hob. Sie legte das alte Werk auf den Schreibtisch, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.

Die Zeit verging wie im Flug, die Worte nahmen sie völlig gefangen. Sie ließ das Abendessen ausfallen, weil die Geschichte sie so sehr faszinierte. Dies war einer ihrer Vorfahren!

Sie hatte zwar vage gewusst, dass die Wurzeln ihrer Familie in England lagen, aber bisher war nie ihr Interesse geweckt worden, dort nachzuforschen.

Bis tief in die Nacht las sie in dem Buch und zwang sich dann, ins Bett zu gehen. Denn früh am Morgen musste sie bereits mit dem Bodentraining der Jungpferde beginnen.

 

Die schlaflose Nacht hinterließ Spuren bei Alicia. Müde und abgekämpft absolvierte sie das Training, das heute nicht besonders erfolgreich verlief, da die Pferde ihre Unaufmerksamkeit gnadenlos ausnutzten.

Pierre lehnte auf dem Gatter, das die Reithalle verschloss und sah ihr amüsiert zu. „Du hast die halbe Nacht gelesen, oder?“

Sie schaute zu ihrem Vater und nickte.

„Vorsicht!“

Alicia reagierte auf den Warnruf ihres Vaters und wandte sich rasch zu dem Junghengst um, der sich nun übermütig in den Sand schmiss und sie fast umgeworfen hätte, wäre sie nicht einen Schritt zur Seite getreten. Ihr entfuhr ein lauter Fluch.

„Mach Schluss für heute, Alicia. Ich übernehme für dich.“

Sie seufzte resigniert, ging zu ihm und reichte ihm die Gerte, die sie dazu nutzten, den Tieren sanfte Zeichen zu geben.

„Es tut mir leid. Ich konnte mich nicht losreißen.“

Pierre legte seiner Tochter verständnisvoll einen Arm um die Schultern. „Das ging mir damals auch so.“

„Hast du nie versucht, herauszufinden, ob es in Keswick noch Verwandte gibt?“

„Ehrlich gesagt, nein“, gab er zu. „Aber dein Großvater hat davon geträumt. Er hat damals sogar eine Frau ausfindig gemacht und wollte ihr schreiben. Aber, na ja … du weißt ja, dass nach dem Tod meines Vaters alles drunter und drüber ging.“

Alicia erinnerte sich noch lebhaft, wie verzweifelt ihre Großmutter gewesen war, als ihr Mann überraschend einem Herzinfarkt erlegen war. Damals hatte ihr Großvater noch das Gestüt geleitet.

Ihr Vater fing den jungen Hengst ein und befestigte einen Führstrick am Halfter, damit er ihn unter Kontrolle halten konnte. Er näherte sich Alicia wieder. „Ich schau heute Abend mal, wo Vaters Notizen abgeblieben sind.“

Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Vielen Dank, Papa.“

Alicia hätte sich am liebsten etwas hingelegt, verwehrte es sich aber und half ihren Eltern anderweitig. Erst gegen Abend schlummerte sie todmüde auf der Couch ein, wo ihre Mutter sie weckte, als es draußen schon stockdunkel war.

„Geh ins Bett, Alicia“, sagte sie sanft.

Doch nun fühlte sie sich dermaßen aufgekratzt, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Sie musste das Buch zu Ende lesen, wollte unbedingt wissen, was am Ende geschehen war.

Erst in der Morgendämmerung klappte Alicia den ledernen Einband zu. Die letzten Worte dieser besonderen Erzählung nahmen sie noch völlig gefangen und es fiel ihr schwer, sich davon zu lösen. Alles in ihr kribbelte vor Aufregung und nur ein Gedanke beherrschte sie. Alicia musste diese Familie in Keswick ausfindig machen.

Ob die Frau, die ihr Großvater damals gefunden hatte, zu dieser Katelyn gehörte, die das Posting verfasst hatte?

Alicia würde es herausfinden!

***

Chris schaute aus dem offenen Fenster und sah Katelyns Großmutter Fiona nach. Sie fuhr auf ihrem klapprigen Rad in die Stadt, um sich mit einer Freundin zu treffen.

Gitarrenklänge hallten im Raum und seine Aufmerksamkeit wandte sich Katelyn zu. Ihr dunkles Haar fiel ihr halb ins Gesicht, gedankenverloren schaute sie auf ihre linke Hand, die auf den Saiten tanzte. Chris kannte das Lied, sie hatte es auch an dem Tag gespielt, als sie sich das erste Mal in dem Wäldchen getroffen hatten. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er lehnte sich gegen das Fensterbrett, spürte den Wind im Rücken, lauschte der Melodie.

Drei Wochen war es her, dass Katelyn den Beitrag auf Facebook gepostet hatte, doch bisher war keiner der Kommentare hilfreich gewesen. Bei ihnen beiden breitete sich Enttäuschung aus und Katelyn konnte dies am besten in ihrer Musik ausdrücken.

Je länger er sie beobachtete, desto mehr mischten sich alte Erinnerungen dazwischen. Für einen Moment sah Chris nicht Katelyn dort auf dem Sessel sitzen, sondern Jake, wie er damals am Lagerfeuer auf seiner Gitarre gespielt hatte. Er versuchte, das Bild festzuhalten, doch ein Blinzeln seinerseits ließ es verschwinden.

Katelyn hielt inne und ihr konzentrierter Ausdruck veränderte sich. Versonnen schaute sie zu ihm auf. Hatte er sie deshalb so gesehen, weil sie sich gerade wie Jake fühlte?

Ihr Spiel klang noch in ihm nach, aber sie legte das Instrument zur Seite und stand auf. Sein Herz schlug schneller, denn er sah ihr an, dass seine Vermutung zutraf. Ohne ein Wort zu verlieren, umfasste sie sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn. Er lachte leise an ihrem Mund und zog sie näher zu sich, erwiderte ihre Berührung stürmisch.

Katelyn zupfte ungeduldig an seinem Hemd, zog es ihm aus der Hose und Chris spürte ihre Hände auf seiner Haut. Er küsste sie erneut und ließ sich von ihr zum Bett ziehen. Sie fielen auf die Matratze und es wurde völlig unwichtig, wer sie einst gewesen waren.

Ihre Finger fuhren durch sein schon zerzaustes Haar und er bog den Kopf mit geschlossen Augen nach hinten, denn ihre Lippen strichen über seinen Hals. Katelyn richtete sich auf und drängte ihn in die weichen Laken. Er packte den Stoff ihres Shirts und zog es ihr kurzerhand aus. Sie befreite sich von ihrem BH, während er sein eigenes Oberteil förmlich vom Körper riss. Ihre Lippen trafen sich ungestüm.

Unten klingelte die Haustür und sie erstarrten. Katelyn fluchte leise.

„Wer auch immer an der Tür ist, er muss später wiederkommen“, raunte Chris, fuhr sachte über ihr Dekolleté und dirigierte sie sanft nah an seinen Körper.

Katelyn lächelte verführerisch.

Sie ignorierten, dass es noch zweimal schellte.

Ihre Küsse vertieften sich und alles um sie herum verlor an Bedeutung, als sie sich in ihr Begehren fallen ließen, um sich so nah sein zu können, wie es nur möglich war.

 

Chris hielt Katelyn im Arm. Draußen zwitscherten die Vögel und ein Sonnenstrahl erwärmte seinen Arm. Er hauchte ihr einen Kuss aufs Haar und genoss die Nähe ihres entspannten, nackten Körpers. Er begann, sie sachte an der Taille zu streicheln. Katelyn seufzte wohlig und räkelte sich in seiner Umarmung.

Durch das noch offene Fenster hörte Chris Fionas Stimme. Also war sie von ihrem Treffen zurück. Aber mit wem sprach sie da? Er horchte auf, als eine fremde Frauenstimme antwortete. Hatte ihr Besuch vorhin womöglich die ganze Zeit im Garten gewartet?

Das alte Cottage war sehr hellhörig und das Klicken des Schlosses, als Fiona die Tür öffnete, war bis hier oben zu vernehmen. Drinnen wurde das Gespräch fortgeführt.

„Katelyn? Chris?“, rief Fiona von unten.

Sie kämpften mit der Bettdecke. Kichernd befreiten sie sich aus dem zusammengeknautschten Gewirr und Chris stahl Katelyn noch einen Kuss. Es klopfte nun an der Tür, die zu ihrem Wohnbereich führte.

„Augenblick, Fiona“, sagte Chris.

„Es tut mir leid, wenn ich euch störe, aber ihr habt Besuch.“

„Wir kommen gleich runter“, rief Katelyn.

Rasch zogen sich beide wieder an und Katelyn versuchte, ihr Haar zu ordnen, doch als das nicht gelang, band sie es kurzerhand zusammen. Chris fuhr sich nur mit den Fingern durch die Frisur.

„Wer ist das wohl?“, fragte sie ihn. „Kam dir die Stimme bekannt vor?“

Chris zuckte mit den Schultern. „Nein, keine Ahnung.“ Er ärgerte sich, dass sie gestört wurden, aber es interessierte ihn schon, wer dort die ganze Zeit gewartet hatte.

Sie gingen schließlich runter ins Erdgeschoss. Eine junge Frau, vielleicht neunzehn Jahre alt, blickte ihnen mit neugierigem Ausdruck entgegen. Selbstbewusst ging sie zuerst auf Katelyn zu, reichte ihr die Hand und tat dann dasselbe mit Chris, der ihre Geste erwiderte.

„Es tut mir leid, dass ich unangemeldet komme“, sagte sie mit starkem französischen Akzent. „Ich komme wegen Ihres Postings bei Facebook. Mein Name ist Alicia McKay.“

Chris starrte sie überrascht an und warf Katelyn einen flüchtigen Blick zu. Die schien ebenso verdutzt. Fiona kam neugierig näher.

Alicia stellte ihre Tasche ab. „Sie fragen sich vielleicht, woher ich Ihre Adresse habe.“

Sie schauten die junge Frau abwartend an, Katelyn nickte. Alicia musterte nun einen nach dem anderen und fuhr fort. „Mein verstorbener Großvater hatte noch zu seinen Lebzeiten nach Vorfahren hier in der Gegend gesucht, wegen eines sehr alten Buches. Er stieß damals auf eine Frau namens Fiona O’Brian und kontaktierte sie auch. Leider verstarb er kurz darauf. Deshalb wusste ich von diesem Ort. Und jetzt hoffe ich, dass ich hier richtig bin.“ Sie lächelte verlegen.

Fiona trat vor. „Sie sind am richtigen Ort. Ich erinnere mich an das Schreiben Ihres Großvaters. Doch auf meine Antwort kam nie etwas zurück.“

„Mein Großvater starb sehr überraschend an einem Herzinfarkt. Ihr Brief muss damals untergegangen sein.“ Nun sah Alicia Katelyn an. „Und als ich den Facebook-Post gesehen habe, ist mir eingefallen, dass mein Großvater ebenfalls Nachforschungen angestellt hat.“

„Und was hat es mit diesem alten Buch auf sich?“, hakte Chris nach.

Alicia beugte sich vor und hob ihre große Ledertasche wieder an. „Das ist eine längere Geschichte.“

„Kommen Sie doch erstmal richtig hinein“, mischte sich Fiona ein. „Ich mache uns einen Tee.“

„Sehr gerne, vielen Dank. Ist es in Ordnung, wenn ich mein Auto einfach in der Einfahrt stehen lasse?“

„Ja, sicher.“

Chris, Katelyn und Alicia folgten Fiona in die Küche. Katelyn hielt ihn kurz zurück. „Was hältst du davon?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

Unsicher schaute er zu der fremden jungen Frau. „Wenn ich das nur wüsste.“

Wenig später saßen sie in Fionas gemütlichem Wohnzimmer, tranken Tee und aßen die selbst gebackenen Kekse.

„Sie sind einfach drauflosgefahren?“, wollte Katelyn nun wissen.

„Ja. Ich hatte Ihnen zuerst eine persönliche Nachricht geschrieben, weil ich nicht öffentlich kommentieren wollte. Aber das muss in diesen blöden Ordner gerutscht sein, den man sich nie anschaut.“

Sie schaute Alicia verdutzt an. „So einen Ordner gibt es?“

Katelyn öffnete den Messenger und suchte nach der Nachricht. Alicia kam ihr zu Hilfe und zeigte ihr die versteckte Rubrik, in den die Anfragen und auch die Spam-Nachrichten gefiltert wurden.

„Es tut mir leid, ich nutze Facebook so selten“, sagte Katelyn.

Chris beugte sich vor und überflog die Nachricht.

„Als keine Rückmeldung kam, habe ich nach Hinweisen gesucht, die mein Großvater notiert hatte.“ Sie sah Fiona an. „Und fand Ihren Brief, Ms O’Brian.“

Chris Herz raste auf einmal. Was würde diese Frau ihnen sagen können? „Was hat Ihr Großvater denn heraus gefunden? Also wegen seiner Vorfahren?“

Alicia begegnete seinem Blick und sie schien ihm irgendwie vertraut, obwohl er nicht erklären konnte, wo das Gefühl herrührte. „Eigentlich kenne ich die ganze Geschichte. Aber da ist so viel, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll. Deshalb …“ Sie öffnete ihre Tasche und holte ein altes ledergebundenes Buch hervor, „… habe ich das Buch von James McKay mitgebracht.“

Chris wurde kreidebleich. „Was?!“ Ein Zittern durchfuhr ihn.

Alicia legte das schwere Buch auf ihren Schoß und berührte mit der Hand den empfindlichen Einband. „Hier ist alles aufgeschrieben.“

Katelyn griff nach Chris’ Hand.

Fiona sah Alicia zuerst sprachlos an, beugte sich dann vor und ergriff das Wort. „Ich habe jahrelang versucht herauszufinden, warum dieser Zweig unserer Familie spurlos verschwunden ist“, sagte sie heiser.

„Weil es geheim gehalten wurde, höchstwahrscheinlich über mehrere Generationen“, erklärte Alicia.

Chris konnte sich auf das weitere Gespräch nicht mehr konzentrieren.

James …

Tränen verschleierten seine Sicht, denn eine Erinnerung drängte sich ihm auf ‒ Johns Erinnerung.

 

James war nicht einmal drei Jahre alt und kam auf ihn zu gestolpert. John kniete vor ihm nieder, fasste ihn an beiden Schultern

„James, egal, was die anderen über mich sagen werden … versprich mir, dass du nie vergisst, was du tief in dir für mich fühlst. Vergiss nicht, dass ich dich liebe. Das weißt du doch, oder?“

Der Junge nickte und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Gehst du denn wieder weg?“

„Ja, mein Kleiner, das muss ich.“

 

Chris blinzelte und atmete tief durch, verdrängte die Bilder vehement. Er konnte seinen Blick nicht von dem Buch abwenden, das ihm vielleicht alle Antworten geben konnte.

„Alles in Ordnung?“, flüsterte Katelyn ihm zu.

Er schüttelte unmerklich den Kopf, deshalb ergriff sie das Wort. „Alicia, wäre es möglich, dass wir das Buch lesen?“

„Ja, natürlich, deshalb habe ich es mitgebracht. Allerdings müssen Sie sehr vorsichtig damit umgehen, es ist empfindlich.“

„Das wissen wir, denn auch wir besitzen drei solcher Bücher.“

„Was? Wirklich? Doch nicht etwa … die Tagebücher von Jonathan McKay?“

Katelyn nickte lächelnd. „Genau die.“

„Sie wissen davon?“, mischte sich Chris nun ein und räusperte sich, weil ihm fast die Stimme überschlug.

„James erzählt am Anfang sehr viel davon. Dürfte ich sie sehen?“, fragte sie und pure Hoffnung lag in ihrer Mimik.

Fiona holte die drei Bücher hervor und sie steckten die Köpfe zusammen, um begeistert darüber zu reden. Chris hingegen saß noch immer auf der Couch und starrte auf James’ Buch, das nun auf dem Wohnzimmertisch lag. Zaghaft streckte er die Hand danach aus und berührte ergriffen den ledernen Einband, schlug die erste Seite auf.

Der Anfang versetzte ihn derart in Aufruhr, dass er abrupt aufstand und den Raum verließ.

Oh, mein Gott, das ist wirklich von James!

Er konnte kaum atmen und ging hinaus in die Nachmittagssonne, setzte sich auf die Bank neben dem Kirschbaum. Mühsam rang er nach Fassung und schaute zu den sich wiegenden Zweigen. Fionas alter Obstbaum erinnerte ihn jedes Mal an die Vergangenheit und er legte seine Hand an die raue Rinde, als würde er so etwas Halt finden. Chris hatte gedacht, mit all dem gut zurechtzukommen, doch nun fühlte er sich überfordert. Er schluckte schwer, drängte jegliche Tränen zurück.

Katelyn setzte sich still zu ihm, griff erneut nach seiner Hand.

„Alicia möchte sich ein bisschen ausruhen, Fiona hat sie im Gästezimmer einquartiert und ich habe ihr die Tagebücher gegeben.“

Chris nickte und schöpfte Atem. „Ich hatte gedacht, es ist einfacher, aber …“

„Er konnte das Buch schreiben und ist anscheinend der Vorfahr von Alicias Familie. Das bedeutet, dass er leben durfte, Chris.“

Er schaute ihr in die Augen und eine Last fiel von seinen Schultern, denn diese Angst hatte ihn beherrscht. Dass sein damaliger Sohn ein früher Tod ereilt hatte und sich deshalb jede Spur verloren hatte.

James ist nicht gestorben, er hat überlebt!

Er verschränkte seine Finger mit Katelyns. „Ich muss es lesen“, sagte er heiser.

Liebevoll strich sie ihm durchs Haar. „Ja, das musst du.“

Sie brachten das kostbare Buch hinauf in ihren Wohnbereich und Chris legte den schweren Band auf den alten Sekretär, der ihm wohlvertraut war, denn wie die Tagebücher und der Flügel hatte Johns altes Möbelstück die Zeit überdauert. Er strich über das polierte Holz. Katelyn ließ ihn allein. Langsam öffnete er das Buch und begann zu lesen …

Beginn einer Freundschaft

Ein Sonnenstrahl beleuchtet meinen Sekretär und ich beuge mich vor, um die Wärme zu spüren. Der alte Eichenstuhl knarzt leise. Die Schreibfeder in meiner Hand wiegt schwer und ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Meine ursprünglichen Tagebücher sind für mich verloren, aber es widerstrebt mir, diese Geschichte unerzählt zu lassen. Aber dieser Neuanfang ist gut.

Ich denke an meinen Vater – meinen leiblichen Vater, der mir viel zu früh genommen wurde. Meine Erinnerungen an ihn sind vage, trotzdem weiß ich noch um das Gefühl, das er stets in mir ausgelöst hat … Geborgenheit. Sein Tod hat damals alles verändert und ich glaube, meine Mutter konnte seinen Verlust nie vollständig überwinden. Doch ich möchte nicht vorgreifen.

Wenn ich aus dem Fenster sehe, blicke ich auf den sanft dahinfließenden Fluss. Der Nachmittagsschein lässt die Wasseroberfläche aufglitzern und das Heidekraut, das hinter dem Ufersaum beginnt, erstrahlt in sattem Violett.

Ich habe mich in diese Gegend wirklich verliebt und der Zeitpunkt, dieses Buch zu beginnen, ist mit Bedacht gewählt. Wie mein Vater, ja, sogar ihm zu Ehren, werde ich aufschreiben was geschehen ist. Warum ich mich nun hier und nicht in Westmorland befinde und warum der Nachname, den ich über zwanzig Jahre getragen habe, verschwiegen werden muss.

Ich seufze tief auf. Wie beginne ich?

Mit den Fingern zerzause ich die Gänsefeder und überlege, wo ich ansetzen könnte. Plötzlich dringt eine einschneidende Erinnerung in mein Herz. Ich bin fast zehn Jahre alt gewesen und habe meine Mutter Hellen weinend im Schlafzimmer vorgefunden …

1

Januar 1775

Die Melodie einer Spieluhr ließ mich aufhorchen. Ich kroch aus dem Bett, spähte durch die Tür in den Flur. Ich warf einen Blick auf meinen Hund Less, der neben mir gelegen hatte und nun aufmerksam den Kopf hob. Meine Mutter hatte es eigentlich verboten, denn Tiere gehörten nicht ins Bett, sagte sie immer. Ein Lächeln legte sich auf mein Gesicht ‒ Less und ich waren da ganz anderer Meinung.

Ich schlich auf den Flur. Unsere Jagdhunde bellten gedämpft im Ostflügel.

Wegen eines Pferdekaufs blieb mein Stiefvater Lester über Nacht außer Haus. Obwohl ich ihn beim Vornamen nannte, liebte ich ihn wie einen Vater. Manchmal störte mich diese Anrede, denn Lester war der Mann, der mir nah, der mir immer ein Vater war, aber so hatte man es mir beigebracht. Jetzt kam mir der Zeitpunkt allerdings ungünstig vor, erneut darüber zu verhandeln.

Meine Mutter lauschte dem Lied und jedes Mal, wenn die Spieluhr stehenblieb, zog sie sie wieder auf. Ich brauchte einen Moment, um die Melodie zu erkennen: Es war das Kinderlied Frère Jacques. Um diese Uhrzeit störte ich sie nur ungerne, aber ich wusste, dass sie mit dem Alleinsein nicht gut zurecht kam.

Unschlüssig verharrte ich im Korridor. Die Melodie verklang, dann hörte ich meine Mutter leise aufschluchzen.

Zaghaft schob ich die Tür zu ihrem Schlafgemach auf. Sie saß auf dem Bett. Drei ledergebundene Bücher lagen neben ihr, die Spieluhr ließ sie in den Schoß sinken. Als sie mich sah, wischte sie sich rasch über die Augen.

„Habe ich dich geweckt, James?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich konnte nicht schlafen.“

Sie winkte mich zu sich und ich setzte mich neben sie auf das große Bett.

„Das liegt nicht zufällig an einem Hund, der sich in deinem Bett breit macht?“

Schuldbewusst sah ich sie an. „Ähm …“

„Schon gut.“ Sie strich mir zärtlich über das Haar. „Es wird dunkler“, flüsterte sie.

„Was denn?“

„Dein Haar. Früher war es genauso hell wie das deines Vaters.“

Sie redete nicht oft von meinem leiblichen Vater, also schaute ich sie abwartend an. Würde sie noch mehr erzählen?

Sie blieb schweigsam.

„Erzähl mir von meinem Vater“, bat ich. „War das seine Spieluhr?“

Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, aber sie erinnert mich an ihn. Als du geboren wurdest, spielte er das Lied für uns auf dem Flügel. So wusste ich, er war da, obwohl er nicht zu mir durfte.“

„Und was sind das für Bücher?“ Ich hatte sie schon einmal gesehen, aber meine Eltern verbargen sie vor mir.

Sie legte ihre Hand auf den Einband des einen Buches. „Sie sind von deinem Vater, aber du bist noch zu jung, um sie zu verstehen.“

„Warum? Steht darin, warum man ihn hingerichtet hat?“

„James! Woher …?“

„Lester und du, ihr habt mal darüber gesprochen.“

Sie schluckte schwer. „Er war unschuldig.“

„Ich weiß.“

Ihr Blick stellte die Frage, die sie nicht aussprechen konnte, weil es ihr nach sieben Jahren immer noch viel zu nah ging.

„Er hat es mir gesagt.“

„Du … erinnerst dich … an ihn?“

„Ein bisschen.“ Ich dachte angestrengt nach, denn es gab eine Begebenheit, von der ich sogar träumte. Mein Vater hatte sich vor mich gekniet und versucht, mir zu erklären, warum er gehen musste. In diesen Träumen hörte ich seine sanfte Stimme.

Ich erzählte meiner Mutter davon und ihr liefen Tränen über die Wangen. Worte fand sie nicht.

„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht traurig machen.“

Ihr huschte ein Lächeln übers Gesicht, ihre Fingerspitzen streichelten meine Wange. „Ich verspreche dir, dass du eines Tages die Bücher deines Vaters lesen darfst, aber jetzt bist du noch zu jung, um das alles wirklich zu verstehen.“

Ich nickte resigniert.

Sie klaubte die drei Bücher zusammen, presste sie an ihre Brust und trug sie zu einer Truhe am Fenster. Dort legte sie die Bände hinein, klappte den Deckel zu und verschloss diesen. Enttäuscht seufzte ich auf.

„Dann erzähle mir was anderes von meinem Vater.“

Sie setzte sich wieder zu mir, legte einen Arm um mich. „Er liebte die weiße Stute Lilly. Nur er und das Mädchen, das uns damals im Stall ausgeholfen hat, konnten mit ihr umgehen.“

„Verkauft Lester sie deshalb nicht? Obwohl sie so störrisch ist?“

„Lilly würden wir niemals verkaufen. John … dein Vater hätte das nicht gewollt.“

„Aber sie lässt niemanden mehr aufsitzen.“

Meine Mutter hob in einer hilflosen Geste die Schultern kurz an.

„Vielleicht ist sie auch noch traurig, so wie du und Lester“, vermutete ich.

„Das ist möglich.“ Sie küsste mich auf die Stirn. „Geh jetzt ins Bett, mein Schatz, ja?“

Ich lugte zu der Truhe. „Da bewahrst du seine persönlichen Sachen auf, oder?“

„Ja …“

„Kann ich sie sehen? Bitte!“

Die Uhr zeigte bereits nach elf Uhr abends an und ich wusste, dass sie es am liebsten auf den Morgen verschoben hätte, aber sie öffnete den Truhendeckel wieder und winkte mich zu sich, nachdem sie die Bücher wieder an sich gepresst hatte.

Behutsam nahm ich verschiedene Dinge heraus. Eine Schreibfeder, ein dunkelgrünes Jackett und ein in Papier eingeschlagenes Päckchen, das ich vorsichtig enthüllte. Zutage kam ein Medaillon. Fragend warf ich ihr einen Blick zu, sie nickte und ich öffnete es.

Mein Vater sah mich aus einem Porträt heraus an. Er sah fast genauso aus wie in meiner Erinnerung, nur, dass ich ihn meistens mit einem Lächeln auf den Lippen gesehen hatte ‒ außer in diesen letzten Tagen. Auf dem Bild schaute er ernst drein. Ich klappte das Schmuckstück zu und legte das schützende Papier wieder um den Anhänger. Ich zog ein weißes Hemd hervor, an dem sich einige Schmutzstreifen befanden. Plötzlich durchzuckte mich ein Bild. Ich war auf seinem Arm, er trug mich in den Stall zu Lilly und meine schmutzigen Hände hinterließen Spuren auf dem weißen Stoff seines Hemdes …

„Mama, darf ich das haben?“

Schweigend sah sie mich an. Ihr fiel es schwer, etwas von ihm fortzugeben, ich konnte es in ihren Augen sehen. Sanft strich sie über den Stoff.

„Das war sein Lieblingshemd“, flüsterte sie.

Nun presste ich das Kleidungsstück an meine Brust, so wie sie die Tagebücher meines Vaters. „Würde er dann nicht wollen, dass es von jemandem getragen wird, der ihn lieb gehabt hat?“

Sie versuchte, ihre Tränen zurückzudrängen, musste sie aber mit einem Taschentuch abtupfen. „Du darfst es behalten.“ Wieder strich sie mir durch das halblange Haar. „Wirst du denn jetzt endlich ins Bett gehen?“

„Ja.“

Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und lief mit dem Hemd meines Vaters in mein Zimmer. Wie ein Stofftier umarmte ich das Oberteil. Less hob den Kopf, robbte näher zu mir, schnupperte daran und winselte leise. Wir kuschelten uns aneinander und ich konnte endlich einschlafen. In dieser Nacht träumte ich nicht, obwohl ich es mir gewünscht hätte.

 

Am Morgen weckte mich Less, indem er mich fast aus dem Bett warf. Ich blinzelte ihn an, wollte ihn ein wenig zur Seite schieben, da sah ich, dass er seine Nase im Hemd meines Vaters vergraben hatte.

„Du hast ihn auch nicht vergessen“, erkannte ich und kraulte ihn hinter den Ohren.

Less grunzte leise und wedelte mit dem Schwanz. Ich robbte aus dem Bett und fröstelte. Der Boden kam mir eiskalt vor. Ich ging zum Fenster. Draußen überzog eine zarte Decke aus Frost die Welt. Trotz der frühen Stunde fühlte ich mich überhaupt nicht mehr müde. Ich tappte auf den Korridor, aber im Haus herrschte Stille, bis auf das leise Klappern unten in der Küche.

Ich kehrte zurück in mein Zimmer, um mir etwas Warmes anzuziehen und mich zu waschen. Wenig später hielt ich mein Oberteil schon in der Hand, als ich das zerknitterte Hemd meines Vaters betrachtete. Entschieden legte ich meines über einen Stuhl und nahm den alten Stoff in die Hand. Wie Less roch ich daran, und für einen Augenblick hörte ich das Lachen meines Vaters. Ich setzte mich auf den Stuhl und bürstete die Schmutzstreifen aus. Dann streifte ich es mir über. Natürlich war es mir viel zu groß, doch das war mir egal. Nun fühlte ich mich ihm ein wenig näher. Ich krempelte die Ärmel einfach auf und zog mein Jackett darüber. Ob es meiner Mutter auffallen würde?

„Komm, Less!“

Dem Hund brauchte ich die Aufforderung nicht zweimal zu sagen, er folgte mir die Treppe hinunter und lief mit mir aus dem großen Haus. Der vereiste Boden unter meinen Stiefeln knackte, als ich auf die Wiese trat. Draußen dämmerte es, die Sonne ging über den Hügeln auf und verwandelte den Raureif in einen glitzernden Teppich.

Less erleichterte sich und tobte dann über das Gras. Ich strebte zu den Stallungen und der Hund folgte mir sofort, ohne, dass ich ihn rufen musste. Im Vorbeigehen streichelte ich ihm über den Kopf.

Das Tor knarzte, als ich es aufschob und eintrat. Aufmerksam hoben die Pferde ihre Köpfe und lugten aus ihren Boxen. Less wusste, dass er sich hier still verhalten musste. Mein Vater hatte es ihm beigebracht, hatte meine Mutter mir einmal erzählt.

Lesters Stallknecht Vincent, der gerade Heu an die Pferde verfütterte, sah mich überrascht an. „So früh schon auf den Beinen, junger Sir?“

„Ich konnte nicht mehr schlafen.“

Der ältere Mann nahm sich kurz die Mütze ab, um sich am Kopf zu kratzen, und seine wüsten Locken kamen zum Vorschein. Er kam mir immer ein wenig wortkarg vor, als ob er mit Pferden besser umgehen könne als mit Menschen. Ich ging an ihm vorbei zu der Box, der sich eigentlich niemand gerne näherte – Lillys Box.

Die weiße Stute ging unruhig hin und her, rührte nicht einmal ihr Heu an.

„Du hasst es hier im Stall, nicht wahr? Am liebsten bist du draußen auf der Weide“, raunte ich ihr zu.

Less spitzte die Ohren, als Lilly leise wieherte und den Kopf herumwarf.

„Geht nicht zu nah ran, James! Ihr wisst, wie sie ist“, warnte Vincent mich.

Ja, das wusste ich. Wenn ihr Fell gereinigt wurde, musste sie beidseitig angebunden werden, weil sie Vincent schon mehrmals gebissen hatte. Seit dem Tod meines Vaters ließ sie niemanden mehr aufsitzen, und seit das Mädchen, das früher im McKay-Stall gearbeitet hatte, weggezogen war, gebärdete Lilly sich oft wie ein Wildpferd, das mit Menschen nichts mehr zu tun haben wollte.

Ich wagte mich einen Schritt näher, beobachtete sie nachdenklich. Was hatte mein Vater anders gehandhabt? Wie hatte er Zugang zu ihr gefunden?

Less legte sich mit einem Schnaufen auf einen kleinen Haufen Stroh und beäugte das Pferd. Lilly starrte meinen Hund argwöhnisch an, schien ihn aber zu erkennen, denn sie entspannte sich. Ich warf Vincent einen prüfenden Blick zu. Der beachtete mich nicht mehr, sondern führte ein Pferd aus der Box, um auszumisten.

Ich knabberte auf meiner Unterlippe herum, wollte nicht einsehen, dass dieses Tier völlig verloren war, wie Lester es oft bezeichnete. Einmal erwog er sogar, es zu töten, ließ aber dann davon ab. Er brachte es nicht über sich, den endgültigen Schuss zu setzen, obwohl Lilly nach ihm getreten hatte und er wochenlang eine starke Prellung gehabt hatte.

Lilly wurde unruhiger, sie stieg sogar in ihrer Box und trat gegen die Holzwand, was Vincents Aufmerksamkeit erneut weckte. Da ich Abstand hielt, schwieg er.

„Mama sagte, mein Vater hat dich geliebt“, flüsterte ich. „Erinnerst du dich an ihn? An John?“

Beim Klang seines Namens spitzte das Pferd die Ohren.

„Er kann nicht zu dir zurückkommen.“

Lilly sah mich aus dunklen Augen an, sie hob den Kopf, als ob sie etwas witterte. Ihr Verhalten veränderte sich auf einmal. Ich sah es an ihrer Körpersprache. Mein Stiefvater hatte mir alles über Pferde beigebracht.

Verwundert verharrte ich auf der Stelle, als sie näher ans Gatter kam. Less setzte sich auf, knurrte leise. Auch er wusste um Lillys Launen und der Hund hatte oft den Drang, mich zu beschützen. Im Augenwinkel sah ich, wie sich Vincent langsam und wohl alarmiert näherte.

Nun schnupperte Lilly in der Luft, schien einen Geruch zu suchen, anders konnte ich es nicht beschreiben. Sie streckte den Kopf vor und fast wäre ich zurückgewichen, denn im ersten Moment dachte ich, die Stute wolle wieder zubeißen. In ihrer Pferdemimik las ich aber etwas ganz anderes – Aufregung und Freude.

Ich rührte mich nicht, als sich ihr großer Kopf über das Gatter schob, direkt auf mich zu. Noch nie hatte sich Lilly so weit aus der Box gelehnt. Sie schnupperte an mir wie ein übergroßer Hund, gab ein leises und hohes Wiehern von sich, das ich so von noch keinem Pferd gehört hatte. Ich war zuerst verwirrt. Bis das Pferd erneut an meinem Oberteil roch, gar nicht mehr davon ablassen wollte. Es war Vaters Geruch!

„Lilly“, sagte ich leise und hielt ihr meine Hand hin.

Sie legte die Ohren an, schnappte warnend nach mir, verfehlte mich aber um mehrere Zentimeter. Also wollte sie mich eigentlich gar nicht beißen.

Vincent zischte mir einen Warnruf zu, doch ich ignorierte ihn.

Ich zog mir das Jackett aus, warf es einfach auf den Boden und krempelte die langen Ärmel auf, sodass meine Hände von dem Stoff bedeckt waren.

Ich streckte meinen Arm vor. „Lilly, komm her.“

Die Stute trottete wieder zu mir, roch an dem Stoff, rieb sich kurz daran. Ihr entfuhr ein tiefes Schnauben, das sich wie eine Erleichterung anhörte.

Im Augenwinkel sah ich, dass jemand die Stalltür öffnete. Wenig später hallte die Stimme meines Vaters durch den hohen Raum. „James! Nicht!“

Lilly scheute und stieg wieder in ihrer Box. Lester eilte an meine Seite, zog mich von dem Pferd fort. „Was machst du denn da?!“

Ich sah ihm in die dunklen Augen.

Immer noch völlig berührt wedelte ich mit dem langen Ärmel. „Sie riecht ihn, Lester!“

„Ich verstehe nicht. Was hast du denn da an?“ Er zupfte an dem zu großen Hemd, fasste mich an beide Schultern. „Geht es dir gut? Sie hat dich nicht gebissen, oder?“

„Nein, sieh doch nur!“

Zuerst wollte er mich davon abhalten, mich wieder der Box zu nähern, dann sah auch er Lillys verändertes Verhalten. Lester ließ mich los, hielt Abstand, als Lilly zu mir kam. Ich zog den Ärmel hoch, damit meine Hand frei war. Das erste Mal wagte ich ihr sachte über die Stirn zu streicheln – und sie ließ es zu.

„Es ist das Hemd meines Vaters, aus der Truhe“, beantwortete ich seine Frage. „Mama hat es mir gegeben.“

„Und sie erinnert sich an Johns Geruch“, erkannte Lester mit heiserer Stimme.

Ich trat zurück, sah in sein betroffenes Gesicht. Er war der beste Freund meines Vaters gewesen. Mit einem tiefen Atemzug nahm er mich in den Arm. „Du musst dennoch vorsichtig mit ihr sein.“ Ich spürte, wie er mir über den Schopf strich.

„Lester, darf ich mich um sie kümmern, wenn sie es zulässt?“

„Nicht allein, nur gemeinsam mit mir oder Vincent.“

„Danke!“

„Weiß deine Mutter, dass du hier bist?“

„Nein, ich glaube, sie schläft noch.“

Er schwieg kurz, dann fragte er: „Hat sie wieder die Spieluhr aufgezogen?“

Ich nickte zur Antwort.

„Dann wird sie traurig sein. Komm, gehen wir zum Frühstück. Sicher hat Maggie es schon zubereitet. Wenn wir alle zusammen essen, wird es ihr bestimmt wieder gutgehen.“

„Dann werde ich Liz holen.“ Sicher schlief meine Schwester noch.

„Mach das, mein Junge.“

Ich schnappte mir meine Jacke und lief zum Stalltor. Noch einmal drehte ich mich um. Lilly hatte den Kopf aus der Box gestreckt und sah mir nach.

Ich komme wieder, versprach ich ihr in Gedanken.

Ich gab Less ein Zeichen. „Komm, wecken wir Liz auf!“

Der Hund bellte aufgeregt und ein paar Pferde scheuten, was Vincent ärgerlich brummen ließ. Ich lachte, weil er sich selbst manchmal wie ein alter Wolf anhörte.

Draußen sah ich zwei angebundene Pferde, eines noch gesattelt, das andere nur am Führstrick. Das schwarze musste das neue sein, weswegen mein Stiefvater meilenweit geritten war. Ich begutachtete den jungen Rappen. Ein wunderschönes Tier, das nun von Lester in den Stall geführt wurde. Vincent sattelte derweil das andere Pferd ab.

Ich rannte ins Haus und stieß fast unsere Köchin Maggie um. Ich wusste, dass sie schon zum Haushalt meines Vaters gehört hatte. Sie fing mich geschickt auf, sah mich mit diesem besonderen, liebevollen Blick an, der irgendwie immer ein bisschen Traurigkeit ausdrückte.

„Entschuldige, Maggie!“

„Wo wollt Ihr denn so schnell hin, junger Mann?“

„Zu meiner Schwester.“

Sie wuschelte mir durchs Haar und ich stob mit Less die Treppe hinauf. Ohne Rücksicht stieß ich die Tür zu Elizabeths Zimmer auf. Ihre kleine Gestalt war in den Decken verborgen und ich lächelte. Dunkle Locken schauten hervor, mehr sah ich nicht. Less stürmte zu ihr, stellte die Vorderpfoten auf die Bettkante und wühlte Elizabeth frei. Sie quiekte und krabbelte tiefer unter die Laken.

„Less, komm her.“ Er gehorchte mir nicht. „Na, komm schon!“ Ich zerrte ihn vom Bett herunter.

In diesem Moment kam meine Mutter herein. Less wandte sich ihr zu, wedelte mit dem Schwanz, doch sie wich zurück, sah mich mit großen Augen an. Der Hund blieb an meiner Seite, weil ich ihn fest am Halsband hielt. Sie fürchtete sich ein wenig vor Hunden.

„Ich habe sie schon geweckt!“, sagte ich freudestrahlend.

Ihr huschte ein Lächeln übers Gesicht. „Ja, das sehe ich. Bitte bring Less hinaus, ja?”

Ich zog den Hund am Halsband aus dem Zimmer und gab ihm einen sanften Klaps, damit er sich trollte. Lesters Stimme ertönte unten in der Halle, was Less dazu veranlasste, zu ihm zu stürmen, um ihn zu begrüßen.

Meine Mutter hob Elizabeth aus dem Bett. Sie war erst drei Jahre alt und morgens recht verschlafen. Sie schmiegte sich an ihre Schulter, den Daumen noch im Mund, und blinzelte mich an.

Etwas später saßen wir im Esszimmer und ich baumelte ungeduldig mit den Beinen, was mir einen bedeutungsvollen Blick von Lester einbrachte. Im großen Kamin brannte ein Feuer, das die Wärme im Raum langsam verteilte. Ich versuchte, Elizabeths Aufmerksamkeit zu erhaschen, in dem ich eine lustige Grimasse zog, aber meine Schwester träumte in ihrem hohen Kinderstuhl vor sich hin. Noch immer nuckelte sie am Daumen, den meine Mutter ihr nun sanft aus dem Mund zog, um ihr eine Scheibe Brot mit Butter zu reichen. Eher widerwillig nahm Elizabeth das Essen an.

Ich wiederum biss herzhaft in mein eigenes Brot und beobachtete meine Eltern. Meine Mutter schien etwas zu frösteln, trotz des angefachten Kamins. Lester beobachtete sie nur kurz, stand auf und holte ein Wolltuch, das auf einer Chaiselongue gelegen hatte. Ohne ein weiteres Wort legte er es ihr um die Schultern.

Sie sah zu ihm auf. „Danke.“

Zuweilen behandelte mein Stiefvater sie wie zerbrechliches Porzellan, vor allem wenn sie traurig war. Dann sprach sie nicht sehr viel und zog sich in sich selbst zurück. Meine Schwester schien diese Stimmung manchmal aufzunehmen, denn sie wirkte heute ungewöhnlich ruhig.

„Mama, ich war heute bei Lilly und sie war nicht böse zu mir“, erzählte ich, um sie aufzuheitern.

Sie sah mich erschrocken an. „Du sollst ihr doch fernbleiben, James!“

„Ja, aber als du gestern sagtest, dass mein Vater sie so gern gehabt hat, bin ich sie besuchen gegangen. Und dann hat sie an seinem Hemd gerochen und wurde auf einmal ganz lieb. Ich glaube, sie vermisst ihn auch.“

Am Esstisch wurde es so still, dass ich das Knistern der Flammen hören konnte. Meine Mutter schaute mich berührt an.

Lester räusperte sich. „Ich kam etwas später dazu und habe aufgepasst, dass sie ihn nicht beißt.“ Er tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. „Aber James hat recht. Sie hat darauf reagiert.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln, ich sah ihr an, dass es ihr schwerfiel, fröhlich auszusehen. „Das hätte deinen Vater bestimmt gefreut.“ Sie zog ihr Tuch fester um die Schultern und nahm Elizabeth das Brot aus der Hand, denn meine Schwester zermatschte es nur noch. „Liebling, du sollst es doch essen.“

Nach dem Frühstück nahm Lester mich zur Seite. Sein ernster Ausdruck verunsicherte mich.

„Hab ich was Falsches gesagt?“

Er hockte sich vor mich. „Nein, aber du weißt, wenn deine Mutter die Spieluhr gehört hat, tut es ihr weh, dass dein Vater nicht mehr da ist.“

„Aber sie hat doch jetzt dich.“

Lester lächelte traurig. „Darüber ist sie auch sehr dankbar. Aber weißt du, ich vermisse deinen Vater auch.“

Plötzliche Tränen stiegen in mir auf und ich senkte den Kopf. „Ist man immer so viele Jahre traurig, wenn jemand in den Himmel geht?“

„Bei einem besonderen Menschen ist das so. Und dein Vater war jemand, den wir tief in unsere Herzen eingeschlossen haben.“

Er zog mich an sich und ich schlang die Arme um seinen Hals.

„Du erinnerst mich an ihn, weißt du das, James?“

Ich wischte mir über die Augen und schniefte verhalten. „Wirklich?“

„Oh ja, und ich weiß, wovon ich rede, denn dein Vater und ich waren schon Kindheitsfreunde. Wir haben uns kennen gelernt, da waren wir nur ein wenig jünger als du.“

„Erzählst du mir davon?“

„Ja.“ Er bot mir seine Hand an und ich ergriff sie. „Komm, gehen wir ein Stück.“

Lester führte mich nach draußen, an den Stallungen vorbei.

„Du weißt, dass unsere Ländereien nebeneinander liegen?“

„Ja, aber Mama hat gesagt, ich soll nicht zu dem alten Haus gehen.“

Er sah auf mich herunter. „Möchtest du das denn?“

Ich nickte nur.

„Dann komm.“

Wir liefen über die Weide und kamen zu einem Wäldchen, durch den wir einen schmalen Pfad nahmen.

„John kletterte auf alten Trockenmauern herum, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Er war nie gerne im Haus, weißt du? Es regnete und mein erster Hund lief ungestüm auf ihn zu. Ich weiß nicht, warum sich May damals so gefreut hat, ihn zu sehen, aber sie war so groß, dass sie an seinen Beinen hochsprang und ihn dadurch von der Mauer schubste .“

„Hat er sich wehgetan?“

„Ja, sein Knie war aufgeschlagen, weil er an den Steinen entlanggerutscht ist, aber anstatt zu weinen, stand er auf, streichelte May, und sah mir entgegen.“

„Und von da an war er dein Freund?“

Lester lächelte. „So ungefähr.“

Sein Gesichtsausdruck verblasste, je weiter wir gingen. Als das alte Herrenhaus in Sicht kam, sah seine Miene unergründlich aus. Wollte er jedes Gefühl vor mir verbergen?

Die Gartenanlage war verwildert, Ranken wuchsen am Haus empor, es wirkte dunkler als in meiner Erinnerung. Das Scheunentor stand offen und eine Schar Raben flog auf.

„Jetzt wohnt niemand mehr hier, oder?“

„Nein. Erinnerst du dich noch an deinen Großvater?“

Ich biss mir leicht auf die Unterlippe, dachte nach. In meinen Gedanken sah ich ein flackerndes Kaminfeuer. Ich sitze auf dem Schoß eines alten Mannes und er erzählt mir eine Geschichte …

„Ja, er hatte so einen Schnäuzer, wie du früher.“

Er schnaubte amüsiert auf. „Ja, mein schöner Schnäuzer.“

„Warum hast du ihn nicht mehr?“

Er beugte sich mit einem Grinsen zu mir herunter und tippte mir auf die Nase. „Weil deine Mutter ihn nicht mochte. Und man tut besser, was die Frau, die man liebt, gerne möchte.“

Wir lachten leise und näherten uns dem Haus, doch Lester schwenkte nach einigen Metern in eine andere Richtung.
„Ist Großvater gestorben, weil mein Vater sterben musste, Lester?“, fragte ich.

Er antwortete nicht sofort, sondern führte mich zu einem eingezäunten Bereich, an dem ich nun Grabsteine erkannte. Sanft streichelte Lester mir über den Kopf und brachte mich an die Gedenkstätte meines Vaters. Schneerosen blühten auf dem winterlichen Boden. Ich starrte auf den Namen, berührte zaghaft den kalten Stein.

 

Was ich in diesem Moment fühlte, kann ich nur schwer beschreiben. Dort, so weit entfernt, liegt ein Teil meiner Familie – für mich unerreichbar, damals wie heute. Ich brauche einen Augenblick, um mich zu sammeln, damit ich dieses Buch fortführen kann. Heute weiß ich, dass meine Mutter und Lester darum gekämpft haben, dass mein Vater bei den McKays bestattet werden durfte. Die Umstände waren damals schwierig.

Wenn ich daran denke, treibt es mir die Tränen in die Augen, aber ich muss diese Geschichte niederschreiben.

Ich atme tief durch und tauche meine Schreibfeder in das Tintenfässchen, fahre fort.

 

Feiner Regen setzte ein, benetzte die Grabsteine. Ich konnte den Blick nur schwer von der gravierten Schrift abwenden, fühlte mich wie erstarrt.

Ich beobachtete, wie sich Lester hinhockte und sachte über die weißen Blütenköpfe strich. „Wer mag die gepflanzt haben?“

„Mama?“, fragte ich flüsternd.

Er schüttelte den Kopf.

„Sie sind schön.“ Ich kniete mich vor das Grab, hob ein paar Herbstblätter von den Schneerosen.

Ungeachtet der Nässe setzte sich Lester neben mich. „Weißt du, dein Großvater war zuvor schon krank gewesen.“ Er zeigte auf das Grab daneben. „Als dein Vater starb, hat er es nicht gut verkraftet. Seine alte Krankheit kam zurück, er hat einen weiteren Anfall bekommen und ist seinem Sohn gefolgt.“

„Er hat mir manchmal Märchen erzählt.“

Ich schaute mich um und zeigte auf das recht frische Grab etwas entfernt. „Warum durfte ich nicht zu Tante Deidres Beerdigung letztes Jahr?“

Lester seufzte tief auf. „Deine Tante wollte nicht allein in dem Haus leben. Zu uns wollte sie auch nicht und sie wollte nicht heiraten. Also ging sie in ein Kloster.“

„Was ist ein Kloster?“

„Dort leben eigentlich Menschen, die Gott sehr treu sind und nur für ihn leben. Deine Tante hat dort Frieden gesucht, ihn aber nicht gefunden.“

„Hatte sie auch einen Anfall wie Großvater?“

„Nein. Sie hat sich dazu entschieden zu sterben.“

Verwirrt schaute ich Lester an. „Wie … wie geht das? Man möchte das … und dann stirbt man?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er griff nach meiner Hand. „Das ist viel komplizierter und niemand darf das tun. Deshalb war ihr Begräbnis etwas anders.“

„Ihr seid in der Nacht losgeritten und habt sie abgeholt, oder?“

„Das hast du mitbekommen?“

Ich senkte den Blick wieder auf die Schneerosen. „Ich habe gelauscht.“

„Wir wollten sie zu ihrer Familie zurückbringen.“

„Damit sie nicht wie ein Tier verscharrt wird.“

Lester schaute mich geschockt an.

„Das hat Mama zu dir gesagt. Und du hast geantwortet, dass du sie bezahlen wirst, damit Tante Deidre nach Hause kommen kann.“

„Ach Junge, du solltest so etwas wirklich nicht heimlich belauschen.“

„Es tut mir leid, ich hatte mich hinter einem der Vorhänge versteckt. Ich kannte Tante Deidre nicht richtig, aber sie hat Elizabeth diese schöne Puppe und mir das Schaukelpferd geschenkt. Ich wollte wissen, was passiert ist.“

„Ja, das verstehe ich.“

Ich wandte mich wieder den Steinen zu, betrachtete den Namen McKay.

„Ich heiße jetzt wie du.“

„Weil ich dich als meinen Sohn angenommen habe.“

„Aber ich darf dich nicht Vater nennen.“

Lester fuhr sich durch das Haar, das viel kürzer war als meins. „Das möchtest du immer noch?“

Ich knibbelte an meinen Nägeln herum und fragte mich auf einmal, ob mein richtiger Vater traurig wäre, dass ich Lester gerne so nennen würde. Dann wurde mir bewusst, dass John McKay für mich verloren war, auch wenn ich meinte, seine Gegenwart manchmal zu spüren.

Ich suchte Lesters Blick. „Mein Vater liegt in der Erde. Aber du bist hier bei mir.“

Lester kämpfte um seine Fassung. Ohne ein Wort zog er mich in seine Arme und verbarg sein Gesicht an meiner Schulter.

So saßen wir vor den Gräbern, während der Regen uns durchnässte.

Er löste sich von mir. „James, ich rede mit deiner Mutter“, sagte er nun gefasst zu mir. „Aber eines solltest du nie vergessen. John McKay ist dein wirklicher Vater. Er hat dich über alles geliebt und er war ein wunderbarer Mensch.“

„Ich weiß“, hauchte ich.

„Wenn er könnte, würde er noch bei dir sein und vielleicht wacht er über dich.“

„Wie ein Engel?“

„Ja, vielleicht.“

„Dann ist er bestimmt nicht böse, wenn ich dich Vater nenne, oder?“

„Nein, ganz sicher nicht.“

Er legte beide Hände um mein Gesicht und küsste mich auf die Stirn. „Komm, gehen wir nach Hause, sonst erkälten wir uns noch.“

Wir rappelten uns auf und Lester sah skeptisch auf unsere verschmutzten Hosen. „Das wird Betty nicht gefallen“, murmelte er.

„Sie muss jetzt schon wieder die Wäsche waschen, nicht wahr?“

„Oder sie stellt mir den Waschzuber hin, damit ich es selbst erledige“, grummelte er.

„Aber du kannst doch gar keine Wäsche waschen.“

„Na, was für ein Glück!“

Wir lachten gemeinsam auf und als wir den kleinen Friedhof verließen, fiel die schwere Stimmung von uns ab.

Ich horchte auf. Erklangen da Glöckchen? Wir blieben verwundert stehen. Am Waldrand stand eine Frau mit einem langen Rock und dunklem Haar. Bei jeder ihrer Bewegungen hörte ich dieses feine Klingeln.

„Wer ist das?“, fragte ich neugierig.

Lester neigte den Kopf zum Gruß und zog mich weiter.

„Lester?“

„Das war eine der Fahrenden.“

„Was sind Fahrende?“

„Erinnerst du dich nicht an sie? Du hast früher mit einem der Mädchen gerne gespielt, sie heißt Elissa, wir haben sie aber nur Lissy genannt.“

Ich machte mich los und drehte mich um, aber die Frau verschwand aus meinem Sichtfeld, weil sie in den Wald eintauchte. Angestrengt versuchte ich, mich an das Mädchen zu erinnern, konnte aber nur ihr helles Lachen tief in mir hören.

Auf dem Rückweg überlegte ich fieberhaft und wühlte in meinen Erinnerungen. Das Gesicht von Lissy wollte einfach nicht auftauchen. Nur ein junger Mann mit dunklem Haar, der oft mit meinem Vater zusammen gewesen war, erschien wie ein Geist vor meinem inneren Blick.

Ich blieb stehen. „Mein Vater hatte noch einen Freund“, erinnerte ich mich plötzlich.

Lesters Ausdruck wandelte sich, jegliche Gesichtsfarbe verblasste.

„Er hatte lange Haare und ich glaube, er war auch einer von den Fahrenden.“

Mein Stiefvater brachte nur ein Nicken zustande.

„Dann hat er bestimmt die Blumen zum Grab gebracht.“

„Nein, hat er nicht.“ Er nahm wieder meine Hand. „Komm, nach Hause, Junge.“

„Warum nicht? Er war doch auch sein Freund.“

Lester stoppte, mied meinen Blick. „Er ist tot, James. Er kann deinem Vater keine Blumen gebracht haben.“

Diese Aussage schockte mich für den Moment. Warum waren so viele gestorben? „Was ist mit ihm geschehen?“

„Er wurde unschuldig getötet.“

„Wie mein Vater?“

„Ja“, würgte Lester regelrecht hervor. „Das geschah jedoch davor.“ Er zog mich nun vehement durch das Wäldchen. „Und nun hör bitte auf, Fragen zu stellen.“

Ich folgte ihm gehorsam und wir gingen schweigend nebeneinander her.

Er war vor ihm gestorben …

Die letzten Worte, die mein Vater zu mir gesagt hatte, bohrten sich in mein Herz.

James, sie werden vielleicht schreckliche Dinge über mich sagen. Glaube ihnen nicht. Ich habe nur jemanden geliebt. – Jemanden, den ich nicht lieben durfte. Nun ist er tot. Und jemand ist durch mich in den Himmel gegangen, weil ich darüber so traurig bin.