Leseprobe Der Killer

Kapitel 1 – Boulevard

Wenn die Sonne das nächste Mal aufgeht, bin ich ein Mörder, dachte Konrad und freute sich auf den Morgen.

Er hörte den Fahrstuhl surren, der den vorletzten Redakteur des Osna-Kuriers in den Feierabend schickte. Einer blieb noch dort, und Konrad wusste, dass es der war, auf den es ankam. Dieser verließ das Haus immer als Letzter.

Seit fast einer Stunde versteckte sich Konrad auf dem WC in der fünften Etage des Verlagshauses, in dem das Schmierenblatt herausgebracht wurde. An die Dunkelheit hatte er sich gewöhnt, aber nicht an den scharfen Geruch des Kloreinigers, der bei ihm bohrende Kopfschmerzen verursachte. Er griff zur Innentasche seines cremefarbenen knielangen Mantels, zögerte aber. Nein, den schaffst du ohne. Den ersten Kandidaten auf deiner Todesliste, den ersten Verbrecher, der seine gerechte Strafe bekommen wird … und dann einer nach dem anderen. Jeder so, wie er es verdient, dachte Konrad, schulterte seinen Rucksack und trat aus der Tür.

Er ging den dunklen Gang entlang zum Büro des einzigen Redakteurs, der jetzt noch im Gebäude arbeitete. Zusammen mit dem Lichtschein drang aus der geöffneten Tür wie ein gespenstischer Nebel Qualm in den Korridor. Ohne zu klopfen, blieb er im Türrahmen stehen. Der Mann, der mit dem Rücken zu ihm am Schreibtisch saß und den Computer mit Lügen fütterte, hieß Valentin Klatt, leitender Lokalredakteur des Osna-Kuriers. Unverkennbar an den schmierigen, blond gefärbten Haaren.

»Was ist?«, fragte Klatt, ohne sich umzudrehen.

»Nabend«, sagte Konrad und staunte darüber, dass er bemerkt worden war.

»Ich habe gefragt, was Sie wollen.«

Konrad erkannte, dass ihn der Journalist im Glas des Panoramafensters musterte. Dahinter schimmerten die Lichter der Stadt im Osnabrücker Nachthimmel. Er vermutete, dass man hier, mitten auf dem Westerberg, besonders tagsüber einen gigantischen Ausblick genießen konnte. Mit seinen erst sechsunddreißig Jahren hatte Klatt sich den besten Platz in der gesamten Redaktion ergaunert. Konrad war fast zehn Jahre älter und bereit, ihm jetzt alles zu nehmen.

»Krasses Outfit mit dem Mantel und dem komischen Hut. Machen Sie einen auf Verkäufer Schlemihl aus der Sesamstraße?« Klatt lachte und zog an seiner Zigarette. »Wenn ja, will ich weder ein A noch ein Z kaufen, hab ich nämlich beides schon auf meiner Tastatur.«

»Ich komme aber nicht, um Buchstaben zu verkaufen«, antwortete Konrad mit ruhiger Stimme. »Ich biete Ihnen die Story Ihres Lebens an.«

»Ha! Das haben schon viele behauptet«, sagte Klatt. »Was für eine bringen Sie denn mit? Moment … ich hab’s. Im heimischen Garten ist aus heiterem Himmel der Winter ausgebrochen? Danke, kein Interesse. Und tschüss.«

»Winter?« Konrad erwiderte seinen Blick im Fenster.

»Sie tragen Handschuhe, Mann. Mitten in einer warmen Mainacht. Im Ernst, wenn Sie nicht wirklich einen Reißer haben, können Sie sofort einen Abflug machen. Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?«

»Durch die Tür.«

»Sagen Sie mal, wollen Sie mich verarschen? Wissen Sie, wer hier vor Ihnen sitzt?« Klatt schnellte mit dem Sessel herum, riss dabei eine Flasche vom Tisch, in der noch ein Rest Cola schwappte, hob sie auf und warf seine Kippe hinein. Es zischte leise.

»Kein Problem. Ich kann auch zur Konkurrenz gehen, wenn Sie kein Interesse an einer Sensation haben.«

»Okay, okay, Mann! Was ist es denn?«

»Sie tragen eine Sonnenbrille, wenn auch keine dunkel getönte, und zwar mitten in der Nacht. Ist die nicht genauso außergewöhnlich, wie es meine Handschuhe sind?«

»Das ist Mode, geht Sie aber auch nichts an«, sagte Klatt und zog sich mit der rechten Hand die lachsfarben getönte Brille mit dem Goldgestell von der Nase. »Also?«

Konrad lächelte. »Ich muss Sie warnen. Das, was ich mitbringe, wird Sie schocken.«

»Schocken? Mich schockt gar nichts mehr.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

»Setzen Sie sich! Ich schenke Ihnen zwei Minuten meiner überaus bedeutsamen Zeit.« Er wies mit dem Brillenbügel auf einen Stuhl, der etwa drei Meter von seinem rotbraunen Schreibtisch entfernt an der Wand stand.

Du willst auf Distanz gehen, dachte Konrad, das passt mir ausgezeichnet. Er nahm Platz und legte den Rucksack auf seinen Schoß.

»Kippe?«, fragte Klatt.

»Danke nein, es reicht, wenn Sie sterben.«

Klatt nahm eine Schachtel vom Tisch. »Wenn ich sterbe, dann sicher nicht daran«, sagte er, während er sich die nächste Zigarette anzündete.

Wie Recht er damit hat, dachte Konrad und wedelte mit der Hand vor seiner Nase, um den penetrant beißenden Menthol-Geruch abzuschwächen. »Sie wissen, wer Riemann ist?«

Der Reporter blies Rauch aus seiner Nase und hustete. »Wenn Sie den Oberbürgermeisterkandidaten Riemann meinen, ist das eine blödsinnige Frage. Ich bin Journalist in Osnabrück und kenne daher die Leute, die ich kennen muss.«

»Was, wenn ich beweisen kann, dass durch diesen Mann eine pädophile Ader fließt und er es mit minderjährigen Jungen treibt?«

Klatt zog die Augenbrauen nach oben. »Glaube ich kein Wort von.«

Er wunderte sich kaum darüber, dass der Journalist, dieser miese Typ, nicht im Geringsten entsetzt auf einen Fall von Kindesmissbrauch reagierte. »Es ist aber so. Ich besitze Fotos, die das eindeutig belegen.«

»Sie wissen, was das bedeutet, oder? Gäbe es Beweise, könnten sie Riemann den Kopf kosten. Möchten Sie das?«

»Ja.«

»Dann geben Sie mal her! Sind die Fotos da drin?« Er deutete mit einem Nicken auf den Rucksack.

»Ja.«

»Was wollen Sie dafür?«

»Kein Geld. Sagen wir, ich habe ein persönliches Interesse daran, dass die Sache publik wird, und zwar so schnell wie möglich. Können Sie garantieren, dass noch heute Nacht eine Meldung rausgeht?«

»Was glauben Sie wohl? Das kloppe ich schneller in den Ticker, als Sie die Redaktion verlassen können.«

Da war sie wieder, die Sensationsgeilheit dieses miesen Schreiberlings. Der Moment war gekommen. Konrad riss die Waffe aus dem Rucksack und zielte damit auf sein Gegenüber. Ein gelber Punkt erschien auf dessen schwarzem Shirt. Dann ertönte ein lautes Knattern. Der Journalist zuckte zusammen, ließ Zigarette und Brille fallen und schrie wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Was für eine übertriebene Reaktion auf das bisschen Strom, dachte Konrad. Kopf und Brust des Redakteurs schnellten jetzt nach oben und seine Beine krampften. Abrupt verstummte das Geräusch, und Klatt sackte im Sessel zusammen. Bevor er sich die hauchdünnen Drähte abreißen konnte, an deren Ende sich die Projektile in seiner Haut verhakt hatten, drückte Konrad erneut den Abzug seiner schwarzen Elektroschockpistole. Zwischen den Elektroden flackerte ein feiner blauer Lichtstrahl, und der Reporter bäumte sich wieder auf. Schaum lief ihm aus dem Mund, die Beine vibrierten, die Hände krallten sich in die Sessellehnen. Toll, dachte Konrad, als Klatt das Bewusstsein verlor.

 

Als er erwachte, blickte er benommen an sich hinunter. Reflexartig wollten die Hände nach den zwei Metalldrähten auf seiner Brust greifen. Aber nur der Sessel ruckelte bei seinem Versuch. Während seiner kurzen geistigen Abwesenheit hatte Konrad dessen Hände mit den mitgebrachten Fesseln hinter der Stuhllehne zusammengebunden.

»Womit haben Sie auf mich geschossen? Was ist das in Ihrer Hand? Ein Elektroschocker?« Seine dunkelblauen Augen starrten verängstigt auf das, was sein Peiniger in der Hand hielt.

»Eine Elektroschockpistole, um genau zu sein. Nennt man Taser. Ein fantastisches Gerät, nicht wahr?« Er streichelte den Abzug der Waffe. »In den USA trägt die jeder Cop. Hier sind die bisher nicht so beliebt, leider. Obwohl Amnesty International vor Kurzem eine Studie rausgebracht hat, nach der erst fünfhundert Personen durch Taser-Einsätze gestorben sind.« Er zielte in das Gesicht des Reporters und täuschte einen Schuss an. Klatt zuckte zusammen, als wäre er getroffen worden.

»Wenn man bedenkt, dass es weltweit schon zwei Millionen Einsätze mit den Dingern gab, ist das doch nicht viel, oder? Aber ich glaube, es kommt auf den Winkel an und auf das Körperteil, das man erwischt. Da kann man schon mal erblinden.«

»Sind Sie total bescheuert? Was wollen Sie damit? Wieso haben Sie so etwas?«

»Ach, du meinst, weil ich kein Bulle bin? Weil nach dem Waffenschutzgesetz der Umgang mit Distanz-Elektroimpulsgeräten verboten ist?«

»Sie sind doch nicht ganz gesund, Mann! Ich will jetzt hier weg.« Der Redakteur ruckte mit den Schultern und trat mit den hellblauen Sneakers in die Luft. »Was soll die Scheiße? Machen Sie mich sofort los!« Mit hektischen Hüftbewegungen versuchte er, den Sessel zu kippen, den Konrad aber mit den Rollstoppern gesperrt hatte.

»Pass mit dem Sessel auf! Wenn der umfällt, tust du dir unnötig weh.«

»Verflucht! Was willst du von mir? Wer bist du?«

»Na, na, dass ich dich duze, bedeutet nicht, dass du das darfst. Machst du das noch mal, bekommst du die nächste Ladung. Du sagst Sie und Konrad, wenn du mit mir kommunizieren möchtest, kapiert?«

»Hab ich kapiert, ja. Sie und Konrad. Mann, ich kenne Sie doch gar nicht.«

»Das stimmt. Wieso konntest du dann so einen verlogenen Mist über mich schreiben?«

»Was

»Egal … dazu kommen wir nachher. Ich erkläre dir jetzt den Ablauf unserer Lehrstunde, die ich Du sollst nicht lügen nennen möchte.«

»Ich lüge nicht. Sie haben doch gelogen. Das mit den Fotos war ein Trick. Die gibts doch gar nicht.«

»Schnauze! Also, die Putzkolonne rückt um halb sechs an. Uns bleiben somit fünf Stunden, um uns zu unterhalten, wenn das überhaupt nötig sein sollte. Es liegt ganz an dir.«

Zäher Sabber zog in Fäden von Klatts Kinn. Er zitterte und fragte: »Worüber? Über Riemann?«

»Nein, den treffe ich ein anderes Mal«, sagte Konrad mit monotoner Stimme. »Wir sprechen über dieses dreckige Boulevardblatt und seinen schäbigsten Redakteur. Wer das ist, weißt du am besten.«

»Ich? Wieso? Ich mache lediglich meinen Job. Um welche Artikel soll es überhaupt gehen?«

»Ich würde mal behaupten, alles, was du schreibst, ist verlogene Scheiße, aber ich hab für unseren Workshop ein paar ausgewählte Dreistigkeiten mitgebracht.«

»Ich bin doch einfach nur ein Reporter«, sagte er in einer jetzt fast demütig wirkenden Sprechweise. »Ich schreibe nun mal Texte. Wenn Sie wollen, dass ich irgendwas für Sie verfasse, tue ich das. Wenn ich was Falsches geschrieben habe, kann ich eine Richtigstellung rausbringen. Ich muss nur wissen, worum es geht. Binden Sie mich endlich los! Bitte.«

»Ich lege keinen Wert auf Richtigstellungen, das bringt mir meine Tochter auch nicht zurück, du Arschloch.« Kurz kribbelte es Konrad in den Fingern. Er überlegte, den Strom erneut auszulösen, beherrschte sich dann aber.

»Wer ist Ihre Tochter? Ich habe über mehr als tausend Töchter geschrieben. Ich muss konkret wissen, wen Sie meinen und was Sie wollen.«

»Hoffentlich leben wenigstens von den anderen noch welche«, sagte Konrad und schaute Klatt mit ernster Miene an. »Bleib jetzt ein bisschen entspannt, ja? Bevor ich dich an meine Tochter erinnere, sollten wir uns für den Anfang ein paar Artikel anschauen. Ich will ja, dass du aus deinen Fehlern lernst, Schmierfink!«

Aus seinem Rucksack, der mit Zeitungen prall gefüllt war, zerrte er ein Exemplar heraus, schlug es auf und las vor: »Osnabrück. Tierheim muss schließen. Verdacht auf Misshandlung bestätigt … Unterzeichnet mit VK. Dein Kürzel.« Er klatschte mit dem Handrücken auf die Seite.

»Ja und? Das kommt vor. Ich hab nur drüber berichtet, und sonst nichts damit zu tun.«

»Mmh. War es denn nicht eben dieses Tierheim, das ein paar Wochen nach dem Bericht abgerissen wurde?« Er legte eine kurze Pause ein und holte tief Luft. »Da, wo dann ratzfatz der Golfplatz gebaut wurde, auf dem du Schnöselkopp seither kostenlos trainierst?« Er wurde lauter. »Wird er nicht von diesem Club betrieben, der jahrelang vorher schon einen Anspruch auf das Gelände geltend gemacht hatte?«

»Mann, was hat das damit zu tun?«, schrie Klatt. »Vielleicht war es eine Gefälligkeit, weil ich gut recherchiert habe.«

»Blödsinn! Du warst nicht einziges Mal da zum Recherchieren. Nicht ein einziges, beschissenes Mal, und der Chefbonze vom Golfklub, ist nicht dein Kumpel, nein?«

»Ich habe das ni…« Diesen Satz sprach Klatt nicht zu Ende, denn der Taser knatterte wieder. Der Journalist kniff die Augen zusammen, sein Brustkorb schnellte nach oben und die Halsschlagader trat rotblau hervor. Ein leichter Geruch von angebranntem Stoff durchzog den Raum.

Klatt brüllte ein paar Sekunden, dann entspannte sich sein Körper schlagartig. Er rang nach Luft. »Okay, okay. Das klingt merkwürdig, aber …«

Konrad schnitt ihm das Wort ab. »Reiß dein Lügenmaul nicht so weit auf! Ich weiß alles darüber, hörst du? Alles! Lassen wir die Spielchen und kommen wir jetzt zur Buße.«

»Was

»Buße. War dir bisher wohl ein Fremdwort, was? Aber du wirst jetzt lernen, wie das geht.« Konrad hob drohend den Zeigefinger in die Luft.

Der Reporter tippelte mit den Spitzen seiner Sneakers auf dem Laminatboden, Knie und Ellenbogen zitterten. »Okay, was auch immer, ich bereue es.«

»Das wird nicht reichen, Spinner. Pass auf, ich erkläre dir die Spielregeln. Sie sind ganz einfach.«

Er stand auf und ging auf Klatt zu. Es knirschte, als er auf dessen Brille trat. »Ups«, sagte Konrad, dann riss er ihm mit einem heftigen Ruck die Drähte aus der Haut. Der Journalist gab einen schrillen Schrei von sich.

Konrad entfernte die Gaskartusche aus dem Taser und ließ sie samt Drähten in der Manteltasche verschwinden. Er setzte sich. »Wir brauchen die Verlängerung nicht, wir machen im Kontaktmodus weiter, das heißt, ich geh mit dem Gerät direkt auf deinen Körper. So sind wir uns näher, und ich kann bei den Körperstellen variieren. Außerdem ist der Schockeffekt intensiver.«

»Kontaktmodus? Was? Nein, ich will das nicht.« Der Journalist grunzte und flehte. »Bitte, ich halte das nicht aus, ich habe doch gar nichts getan. Ich mache alles, was Sie wollen. Ich werde mich um einen neuen Platz für das Heim bemühen. Ja?«

»Scheiße, es geht doch hier nicht um das verfluchte Heim oder die Tiere. Die sind mir völlig egal. Du hast nichts verstanden.« Konrad legte den Taser auf seinen Schoß und knüllte mit beiden Händen die Zeitung zusammen. »Also, hier sind die Spielregeln. Ich möchte, dass du dieses Lügenblatt bis auf die letzte Seite frisst. Das ist eine vergleichbar harmlose Ausgabe. Danach wirst du ein paar ganz dicke Klopper verschlingen, die ebenfalls aus deiner Feder stammen. Fang endlich an oder du bekommst mein Spielzeug da zu spüren, wo du es lieber nicht spüren möchtest.« Er deutete auf die Pistole. »Du hast eben fünfzigtausend Volt abbekommen. Das, was die Pistole serienmäßig verschießt. Ich habe aber vorher ein bisschen daran rumgefrickelt und sie aufgerüstet. Wir erreichen jetzt hunderttausend Volt. Das bedeutet doppelte Schmerzen für dich.«

»Nein, bitte nicht!« Klatt liefen Tränen aus den Augen und Rotz aus der Nase.

»Das ist noch nicht alles. Ich kann mit dem Teil zehn Sekunden am Stück feuern. Das eben waren nur fünf. Heißt insgesamt, doppelte Schmerzen, doppelt so lange.«

»Sie bringen mich um damit, ich flehe Sie an! Konrad, haben Sie denn kein Herz? Was auch immer Ihrer Tochter passiert ist, ich mache es wieder gut … irgendwie. Ich habe auch eine Tochter, Mann!«

»Nichts kannst du wiedergutmachen, und erzähl mir bloß nichts von deiner Göre, okay?« Konrad schlug sich mit dem Handballen gegen die Schläfe. Diese entsetzlichen Bilder, die ihn seit zwei Jahren folterten, zogen erneut an seinem inneren Auge vorbei. Er sah sich im Auto sitzen und hörte Klara schreien. Blut auf dem Airbag und auf seinem Arm. Sehr viel Blut … und dann dieser Junge auf dem Feld, der ihn verängstigt anstarrte.

Er hatte einen Kloß im Hals und Tränen im Auge. Doch er durfte sich jetzt nicht der Trauer hingeben. Er hatte einen Plan zu verfolgen und fuhr damit fort. »Ich kann im Übrigen noch wesentlich empfindlichere Körperteile treffen.« Während Konrad auf der linken Hand den Zeitungsstapel balancierte, hob er mit der rechten den Taser auf und zielte damit auf Klatts Schritt. »Ich hab da mal ein Foltervideo gesehen. Ein Mann in Indien, der vergewaltigt hatte. Die aufgebrachte Menge wollte ihn mit einem Taser kastrieren. Hat sie geschafft. Der Hodensack soll gequalmt haben und geplatzt sein.«

Der Journalist wippte auf dem Sessel herum. Dieses Mal so hektisch, dass er damit auf den Boden knallte. Sein Kopf traf beim Fallen hart die Kante der Tischplatte. Auf dem Laminat robbte der Reporter mit dem Sitzmöbel in Richtung Tür und zog dabei eine dünne Blutspur hinter sich her, die von seiner Stirn ausging.

»Was bist du nur für ein elender Hampelmann«, sagte Konrad, stand auf, zog den zappelnden Journalisten an den Beinen zurück und richtete den Sessel vor dem Schreibtisch wieder auf. »Ruhe jetzt! Es liegt an dir. Du kannst verhindern, in Zukunft als Eunuche durch die Welt zu laufen.«

Klatt blinzelte, ein Rinnsal aus Blut und Schweiß lief ihm über die Stirn ins rechte Auge, das er kaum offenhalten konnte. »Wie denn? Ich mach es! Egal, was.«

»Das hatte ich dir bereits gesagt. Du musst die Zeitung fressen. Das ist alles.«

»Aber was soll das bringen?«

»Friss einfach, Arschloch! Das ist Teil unserer Lehrstunde. Danach sehen wir weiter. Solange du schluckst, wirst du nicht kastriert. Das ist ein Versprechen. Die Wahl hatten andere übrigens nicht, die jahrelang deinen Dreck fressen mussten.« Konrad drückte dem Journalisten mit einer Hand den Taser in den Schritt. Mit der anderen hielt er ihm den zusammengeknüllten Haufen Zeitung unter die Nase. »Ich werde dich wohl füttern müssen.«

Ohne ein weiteres Wort öffnete Klatt den Mund.

»Abbeißen!«

Der Reporter riss mit den Zähnen ein Stück Zeitungspapier heraus, kaute, schluckte es runter und verzog das Gesicht. Konrad schob nach.

»So werden wir niemals fertig. Friss mehr!« Er verstärkte den Druck auf Klatts Geschlechtsteil. Erst jetzt roch er den Urin. Der arrogante Journalist hatte sich eingenässt. Dieser Pisser!

»Es ist zu trocken, ich ersticke«, sagte Klatt und würgte.

Konrad grub die Waffe tiefer in die Hoden des Reporters, der daraufhin quiekte und hastig Papierfetzen abbiss. Er sah aus wie ein Karnickel vor einem Löwenzahn. Zwei Seiten … drei Seiten. Er machte sich.

»Mehr!«

Klatt schnappte mit den Zähnen und schlang so viel Zeitung in sich hinein, bis sein Kiefer sperrte. Seine Backen blähten sich auf und erreichten ungefähr die Größe einer Kokosnuss. Papierenden hingen ihm aus dem Mund, er weinte und wimmerte.

»Ruhe mal! Mist.« Konrad hielt inne. Die Scheinwerfer eines Autos, das auf den Parkplatz des Osna-Kuriers fuhr, blendeten ihn. »Wer ist das?«, fluchte er, rüttelte an den Schultern des Reporters, der versuchte, das Papier auszuwürgen, und dabei dumpfe Jammerlaute ausstieß.

Panik! Konrads Herz trommelte in seinem Hals. Das Ganze durfte nicht jetzt schon enden, noch bevor es richtig angefangen hatte. Ihm wurde schwindelig bei diesem Gedanken.

»Halt dein Maul!«, schrie er Klatt an und stopfte ihm das Zeitungspapier noch tiefer in den Rachen. Der Journalist röchelte und hechelte. Konrad trat vor das Fenster, um zu sehen, wer da die Autotür zugeknallt hatte. Kurz spähte er nach unten, zuckte aber zusammen, als er ein Scheppern hinter sich auf dem Boden hörte. Er schnellte herum, und sah Klatt, der versuchte, seine Arme über die Rückenlehne des umgefallenen Sessels zu drücken. Das läuft nicht, wie es soll, dachte Konrad und spürte seinen hämmernden Herzschlag jetzt in jeder Faser seines Körpers. Für einen kurzen Moment wusste er nicht mehr, was er tun sollte. Er entschied sich dafür, auf den Gang zu laufen, an dessen Ende er den Fahrstuhl abwärtsfahren hörte. Der nächtliche Störenfried würde also nach oben fahren. Vielleicht würde er in der fünften Etage aussteigen? Panisch rannte Konrad zurück ins Büro, schnappte sich den Taser, den er auf dem Tisch abgelegt hatte, setzte ihn an Klatts Kopf und feuerte los. Einmal, zweimal, dreimal, immer mit voller Leistung. Es zischte und qualmte. Danach raste er erneut hinaus und über den Gang ins WC. Beißender Kloreiniger-Geruch empfing ihn. Aus Angst, zu hyperventilieren, hielt er sich Nase und Mund zu, und wartete. Der Fahrstuhl stoppte aber nicht auf der fünften Etage, sondern fuhr weiter nach oben. Das verschaffte ihm etwas Zeit zu handeln. Er stieß die Tür auf und rannte zurück. Er wollte, nein, musste Klatt jetzt ohne weitere Verzögerung töten.

Mit dem Fuß trat er so gegen den Sessel, dass die Rückenlehne sich zum Boden drehte. Der Redakteur lag nun mit dem Gesicht nach oben da. Seine dunkelblauen Augen wirkten grau und quollen aus dem Schädel hervor, und starrten ohne Bewegung ins Leere. Der Mund stand offen, nasses Zeitungspapier ragte heraus. Konrad riss mit den Zähnen seinen linken Handschuh runter, fühlte an Klatts Handgelenk nach einem Puls. Nichts. Leblos wie die Hand einer Gummipuppe.

Konrad blieb keine Zeit, sich zu ärgern. Er zog ein Blatt Papier aus dem Seitenfach seines Rucksacks und klemmte es unter die Tastatur. Dann lief er, den Handschuh noch im Mund, zurück in den Korridor, rannte zum Fahrstuhl, drückte den rot leuchtenden Knopf, und hielt den Taser dabei auf die Tür gerichtet. Ein Knacken im Fahrstuhlschacht kündigte die Fahrt abwärts an. Die Kabine surrte und quietschte. Eine Sekunde Stille, dann öffneten sich die silbernen Flügel behäbig … es war niemand darin. Konrad stürmte hinein und drückte die E-Taste.

Im Foyer brannte Licht, aber keiner hielt sich dort auf. Er lief zur Eingangstür und hoffte, dass sie … ja, sie war tatsächlich offen. Er stolperte ins Freie und holte tief Luft, dann rannte er nahe am Gebäude vorbei bis zum angrenzenden Waldstück, in das er kopfüber sprang, als wolle er eine 25-Meter-Bahn im Hallenbad durchschwimmen. Er raffte sich auf. Ohne etwas zu sehen, hastete er los. Er lief so lange, bis er die Laterne einer abgelegenen, unbefahrenen Straße erkannte.

Er blieb stehen, spuckte den nassen, zerbissenen Handschuh aus und hechelte. Er musste sich beruhigen und nahm sich vor, einfach lässig nach Hause zu laufen und dann in Ruhe über alles nachzudenken. Das hatte er so nicht geplant. Klatt hätte noch von Klara erfahren sollen, und das Gedicht lesen müssen, das er ihm geschrieben und gewidmet hatte. Aber zumindest war das Arschloch verreckt. Das war das Wichtigste. Außerdem würden jetzt die anderen Verbrecher seine Reime finden. So war es geplant und so wollte er es.

Bevor Konrad auf die Straße trat, verstaute er Handschuhe und Taser in den Taschen seines Mantels und tastete dann nach dem Notfall-Flachmann in seiner Brusttasche. Er nahm ihn heraus und schleuderte das Fläschchen so tief in den Wald, dass er den Aufprall gar nicht mehr hörte. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass er gar keinen Alkohol mehr brauchte, dann war es dieser Moment.