Leseprobe Im Schatten des Zuckerrohrs

1

Havanna, Februar 2015

Lisandra

Eine große Welle des Atlantiks brach sich krachend an der steinernen Mauer der Uferpromenade Malecón, und die Gischt spritzte weit hinauf zu den Touristen und Einheimischen, die dort saßen und in die Sonne blinzelten.

Mit einem kleinen Aufschrei rutschte Lisandra von der hüfthohen Mauer und wich zurück, aber es war bereits zu spät. Das Meerwasser war gegen ihre rechte Körperhälfte geklatscht und hatte sie durchnässt.

Ihre Freundin Alina, die rechtzeitig in Deckung gegangen war, lachte. „Du wirst es nie lernen, oder?“

„Ich brauchte sowieso eine Dusche.“ Lisandra wischte sich die salzigen Tropfen aus dem Gesicht und wrang die nassen Strähnen ihrer überschulterlangen, dunkelbraunen Locken aus. Ihre Bluse klebte nass an ihrer Brust, aber zum Glück trug sie ein Bikinioberteil darunter.

Auf einmal bemerkte sie ein Frotteehandtuch, das ihr jemand hinhielt. Sie sah zur Seite und blickte in ein lächelndes Männergesicht. „Sieht so aus, als könntest du das brauchen, Señorita.“

„Danke. Spazierst du immer mit einem Handtuch unterm Arm durch Havanna?“, fragte sie spöttisch und begann ihre nassen Arme zu trocknen.

„Ja, so versuche ich, nass gewordene Habaneras kennenzulernen“, erklärte er ernsthaft, aber mit Schalk in den cognacbraunen Augen.

Lisandra lachte auf und rieb mit dem Handtuch über die nassen Stellen ihrer Bluse. „Und funktioniert das gut?“

„Das hängt von dir ab, du bist die Erste.“

Lisandra ließ den Blick von seinem charmanten Lächeln tiefer gleiten, über seinen trainiert wirkenden Oberkörper in dem verwaschenen T-Shirt, über die auf Kniehöhe abgeschnittenen Jeans und die leicht muskulösen Waden.

„Du bist Tourist, oder?“, schaltete sich nun Alina ein. Um dies zu erraten, genügte bereits ein Blick auf die teure Kamera, die vor seiner Brust baumelte. Und natürlich sein Akzent, obwohl sein Spanisch beinahe fehlerfrei war.

„Ich komme aus Deutschland. Aber mein Vater ist Kubaner, und ich bin hier, um meine Familie zu besuchen. Ich bin also kein richtiger Tourist.“ Es klang, als wolle er sich rechtfertigen.

Alina verzog ihre vollen Lippen zu einem Lächeln. „Wär auch nicht schlimm, wenn du einer wärst. Und Deutschland ist bestimmt super. Wie heißt du? Thomas, Michael, Andreas?“

„Fast. Andy.“

„Das ist kubanisch“, wunderte sie sich.

„Ist aber auch die deutsche Kurzform von Andreas. Meine Eltern wollten einen Namen, der in beiden Sprachen funktioniert. Und wie heißt ihr?“

„Ich bin Alina.“

„Lisandra.“

„Seid ihr aus Havanna?“

„Ja, wir verbringen hier unseren Feierabend. Das heißt, ich tue das. Lisandra muss nachher noch arbeiten.“

Andy blinzelte in die Sonne, die langsam tiefer sank und das Meer silbrig glitzern ließ.

Eine Windböe durchbrach die Nachmittagshitze und trieb Schaumkronen der Brandung bis auf die Uferstraße. Das Februar-Wetter war in Havanna manchmal noch launisch. Lisandra fröstelte und rieb sich die nackten Arme.

„Zeit für einen Aperitif, oder? Darf ich euch auf einen Drink einladen?“, fragte er.

„Na klar“, antwortete Alina sofort. „Da schräg gegenüber ist eine coole Bar. Du stehst bestimmt auf kubanische Musik, oder?“

„Solange es nicht Guantanamera ist.“

Sie lachten. Egal wo auf Kuba Touristen waren, tauchten Musiker auf, die sich vor ihnen aufbauten und Guantanamera zu fiedeln begannen.

Sie schlenderten den Malecón entlang und versuchten, die Straßenseite zu wechseln. Es war kein leichtes Unterfangen, die belebte Ufer- und Umgehungsstraße in der Rushhour zu überqueren. Surrende Ladas, klapprige Oldtimer, Busse und knatternde Motorradtaxis rauschten nahezu lückenlos an ihnen vorbei.

Kurz darauf erreichten sie die Bar, aus der kubanische Rhythmen erklangen.

Alina führte sie eine Treppe hinauf zu einem großen Balkon, auf dem kleine Korbsessel und Tischchen standen. Von hier aus konnten sie aufs Meer und die Uferpromenade sehen, ohne allzu sehr vom Lärm und Gestank des Verkehrs belästigt zu werden.

„Was wollt ihr trinken?“, fragte Andy.

„Cuba Libre.“ Das war Lisandras Lieblingsdrink.

„Für mich einen Mojito“, sagte Alina.

Andy bestellte zwei Cuba Libre und einen Mojito, dann lehnte er sich entspannt zurück.

„Ich würde gerne Fotos von euch machen.“ Er blickte Lisandra an. „Du wirkst sehr fotogen.“

„Ich zieh mich nicht aus, das kannst du vergessen“, wehrte sie sofort ab.

Er lachte und zeigte dabei ebenmäßige, weiße Zähne. „Sollst du ja auch gar nicht. Ich will euch nicht in irgendein dubioses Studio locken. Einfach nur ein paar Fotos machen, am Malecón oder im Café oder so. Irgendwas aus eurem Alltag.“

„Na, für Fotos muss wenigstens eine Einladung zum Abendessen drin sein.“ Alina blinzelte ihm zu.

„Darüber lässt sich reden. Wenn ihr mir dann auch was von eurem Leben erzählt.“

„Warum interessiert dich das? Und was willst du mit den Fotos von uns?“, fragte Lisandra misstrauisch.

„Ich bin freier Mitarbeiter für zwei Reisemagazine. Manchmal kaufen die meine Fotos und Artikel. Ich hoffe, mir so meinen Kuba-Aufenthalt zu finanzieren.“

„Willst du länger bleiben?“, fragte Lisandra und hoffte, dass es nicht zu interessiert klang.

„Mindestens einen Monat. Ich bin erst vor wenigen Tagen angekommen und möchte auch den Süden und Osten Kubas sehen. Bis jetzt kenne ich nur Havanna und das Valle de Viñales.“

Alina winkte ab. „Damit kennst du das Wichtigste.“

Lisandra betrachtete Andy fasziniert. Wenn das bei deutsch-kubanischen Kindern herauskam, konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Ausdrucksvolle Augen, hohe Wangenknochen, ein stolzes Kinn. Er hatte sein welliges, dunkles Haar aus dem ovalen Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Und seine Lippen… noch nie hatte sie bei einem Touristen so sinnliche Lippen gesehen – nicht zu voll und nicht zu schmal, und perfekt geschwungen. Wie es sich wohl anfühlen würde, sie zu küssen?

Er sah Lisandra an, und sie fühlte sich ertappt. Etwas verschämt senkte sie den Blick.

„Was macht ihr so im Leben?“, fragte er.

„Ich bin Assistentin im CENESEX“, erwiderte Alina.

„Was?“ Er starrte sie an, und seinem Gesicht war deutlich anzumerken, wie er versuchte, die Worte Assistentin und Sex miteinander in Verbindung zu bringen.

Alina brach in helles Gelächter aus. „CENESEX ist das kubanische Nationale Zentrum für Sexualaufklärung. Das ist eine der liberalsten und fortschrittlichsten Institutionen auf Kuba. Ich arbeite für den Leiter der wissenschaftlichen Abteilung.“

„Ich wusste nicht, dass es hier so etwas gibt“, stellte Andy verwundert fest.

„Wir sind kein Entwicklungsland, mein Lieber! Unser Land wurde nur von vielen Jahren Sozialismus beeinträchtigt, das ist alles.“

„Mir brauchst du das nicht zu erklären. Ich bin noch in der ehemaligen DDR geboren. Allerdings nur fünf Jahre vor der friedlichen Revolution.“

„Dein Vater ist von Kuba aus in die DDR ausgereist?“

„Genau. Er hat in Ost-Berlin studiert und dort meine Mutter kennengelernt. Sie haben geheiratet, und dann kamen meine Schwester und ich.“

„Lebt er jetzt wieder auf Kuba?“

„Nein, seit einiger Zeit lebt er in Italien. Er hatte zwar früher oft Heimweh, aber nach dem Mauerfall lebte es sich in Deutschland eindeutig besser als auf Kuba in den Neunzigern.“

Alina nickte. „Zu Anfang der Nullerjahre war es auch noch eine Katastrophe hier. Erst seit Raúl Castro an der Macht ist, bessert sich alles so langsam.“

„Das sagen meine Verwandten auch.“

„Leben die in Havanna?“

„Ja, nicht weit von hier. Und dann habe ich noch Verwandte in Cienfuegos, da will ich als Nächstes hin. Die kenne ich noch gar nicht persönlich. Wir hatten bisher nur Kontakt über Facebook, seit sie dort ein Internetcafé haben.“

„Bist du zum ersten Mal auf Kuba?“

„Nein, aber das letzte Mal ist fast zwanzig Jahre her. Als ich ein Kind war, haben wir zwei Mal Urlaub hier gemacht, weil mein Vater seine Heimat wiedersehen wollte. Aber er wollte auch die Welt entdecken, und so haben Geld und Urlaubszeit nicht immer für alles gereicht.“

„Dafür ist dein Spanisch echt gut“, sagte Alina anerkennend. „Du hast nur einen etwas putzigen Akzent.“

Er seufzte. „Den krieg ich nicht weg.“

„Oh, ich könnte dich unterrichten. Ich bin sehr zungenfertig“, sagte Alina und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihr vom Wind zerzaustes, krauses Haar.

Lisandra ahnte, was nun kommen würde. Ihre Freundin war sich nicht zu schade, ihren Sexappeal dafür zu nutzen, sich an gut betuchte Männer heranzuschmeißen. Und für Durchschnittskubanerinnen waren fast alle Touristen gut betucht.

Lisandra hatte dies bisher immer amüsiert verfolgt und die Anekdoten über die Abenteuer ihrer Freundin stets recht unterhaltsam gefunden.

Der Kellner brachte die Cocktails.

Alina nahm den dicken Strohhalm zwischen ihre Lippen und begann daran zu saugen. „Also, Andy, wann machen wir diese Fotos?“, fragte sie.

„Bleib so.“ Er nahm seine Kamera, drehte ein wenig am Objektiv herum und drückte auf den Auslöser. Dann warf er einen prüfenden Blick gen Himmel. „Das Licht wird langsam schlechter. Vielleicht treffen wir uns lieber ein anderes Mal für Aufnahmen am Malecón.“

„Denk dran, wenn du mich noch mal fotografieren willst, kostet dich das mindestens ein Abendessen.“ Alina lehnte sich so weit über das kleine Tischchen, dass ihre vollen Brüste in dem weit ausgeschnittenen Top Andy förmlich entgegensprangen.

Zum ersten Mal störte Lisandra das aufreizende Verhalten ihrer Freundin, und sie verspürte einen Stich von Eifersucht.

Zwar hatte Lisandra keine Komplexe, sie wusste, dass sie hübsch war: Ihre bräunliche Haut war ebenmäßig, ihre Augen groß und dunkel und ihre Gesichtszüge fein geschnitten. Aber mit Alinas Kurven und ihrer sinnlichen Ausstrahlung konnte ihr gertenschlanker Körper nicht mithalten. Alina war das, was man gemeinhin eine Latina-Bombe nannte, und ihre üppigen Kurven verkörperten das weibliche Schönheitsideal Kubas. Lisandra hingegen war als Teenager oft damit gehänselt worden, dass sie zu dünn war. Inzwischen hatten sich einige zarte Rundungen eingestellt, aber es blieb eine Tatsache, dass sie für den Geschmack der meisten Kubaner zu schlank war. Durstig trank sie ihren Cocktail aus Cola und Rum.

„Und was machst du beruflich, Lisandra?“, hörte sie Andy in ihre Gedanken hinein fragen.

„Meine Eltern und ich betreiben ein Paladar“, antwortete sie.

„Meinst du diese Wohnzimmer-Lokale?“

„Privates Restaurant ist die korrekte Bezeichnung. Wir vermieten auch Zimmer an Touristen.“

„Trifft sich gut, ich suche eins. Das Hotel wird mir auf Dauer zu teuer.“

„Wohnst du nicht bei deinen Verwandten?“

„Das war mir zu kompliziert mit diesem Familienvisum, das man dafür beantragen muss. Außerdem haben die keinen Platz.“

„Wir wohnen in einer wunderschönen Villa aus der Kolonialzeit, auch wenn es überall bröckelt – aber die Touristen lieben das. Und meine Mutter ist eine tolle Köchin. Man kann bei uns an fünf Tagen in der Woche essen.“

„Dann reserviere mir bitte einen Tisch für morgen Abend“, sagte er.

„Ich muss erst mit meiner Mutter klären, ob noch einer frei ist. Oft haben wir Reisegruppen, dann ist alles voll.“

Alinas Handy klingelte. Es war ein modernes Smartphone, Souvenir einer Liebesnacht mit einem Kanadier. Lisandra besaß kein Handy und vermisste es auch nicht.

Alina meldete sich. „Ah, hallo Elena! Wie geht’s dir?“

Als Lisandra den Namen ihrer Mutter hörte, durchfuhr sie sofort eine ungute Vorahnung. Es kam nicht oft vor, dass Elena Alvarez Ortega hinter ihrer achtundzwanzigjährigen Tochter hertelefonierte.

„Ja, sie sitzt neben mir.“ Alina reichte das Telefon weiter.

„Mama? Was gibt es?“, fragte Lisandra beunruhigt.

„Es geht deiner Großmutter schlechter. Dr. Ramos ist hier und meint, es könnte noch heute Abend zu Ende gehen.“ Sie hörte, wie ihre Mutter ein Schluchzen unterdrückte.

Lisandra sprang auf. „Ich komme sofort nach Hause.“

„Ja, deswegen habe ich angerufen.“

„Bin unterwegs.“ Lisandra gab Alina das Smartphone zurück.

„Madelin?“, fragte diese ahnungsvoll.

„Ja. Der Arzt sagt, sie liegt im Sterben.“ Sie blickte Andy an. „Tut mir leid, ich muss gehen. Danke für den Drink.“

„Wann kann ich dich wiedersehen?“, fragte er sofort.

„Komm einfach irgendwann mal zum Essen vorbei“, erwiderte sie zögernd und nannte ihre Adresse.

„Das mache ich auf jeden Fall. Tschüss, ihr beiden, hat mich gefreut.“

Alina leerte schnell ihren Mojito und stand auf. „Warte, Lissy, ich komme mit dir.“

„Willst du nicht bleiben, um ihn aufzureißen?“, fragte Lisandra spöttisch, als sie außer Hörweite waren.

„Ich gebe es ja nur ungerne zu, Schatz, aber der steht auf dich, nicht auf mich.“ Alina zupfte verdrossen an dem schmalen Träger ihres Tops. „Du kennst doch das Sprichwort: Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“

Lisandra schnalzte genervt mit der Zunge. „Wann kapierst du endlich, dass ich nicht so bin wie du? Ich habe kein Interesse daran, mit Touristen ins Bett zu gehen, in der Hoffnung, dass ich dann teure Geschenke kriege.“

„Du hast ja durch deine Gäste auch jederzeit Zugang zu Devisen. Ich bin auf die Touristen angewiesen. Von meinem Gehalt könnte ich mir nicht mal einen verdammten Lippenstift kaufen! Außerdem, so wie du das sagst, hört es sich an, als wäre ich eine Nutte!“, sagte Alina beleidigt.

„Das habe ich nicht gemeint. Du hast eben deinen Spaß an Abenteuern mit wechselnden Männern. Ich nicht, ich will eine richtige Beziehung. Den Mann fürs Leben.“

Alina seufzte. „Was findest du daran so toll? Du weißt doch, wie unsere Männer sind: Spätestens nach den Flitterwochen ist Schluss mit der Romantik; sie wollen zwei Mal täglich Sex, und das ist ja nicht so deins, oder? Dann macht er dir drei Kinder, von denen du nicht weißt, wie du sie durchbringen sollst – wenn er sich nicht schon nach dem ersten aus dem Staub macht. Sechzig Prozent aller Ehen auf Kuba werden geschieden, wusstest du das? Da frage ich mich: Wozu überhaupt heiraten?“

„Ich will auf keinen Fall wie meine Cousine Marcia enden, mit vier Kindern von vier Männern“, knurrte Lisandra.

Alina zuckte mit den Schultern. „Ist doch normal. Meine Mutter hat schließlich auch vier Kinder von drei Männern, und durch meinen Erzeuger hab ich noch fünf weitere Halbgeschwister.“

„Wozu gibt es dann eigentlich dein Institut für Sexualaufklärung, wenn so was wie Verhütung offenbar nicht bekannt ist?“

Alina hob entschuldigend die Arme. „Theorie und Praxis.“

„Meine Eltern führen seit über dreißig Jahren eine glückliche Ehe“, betonte Lisandra.

„Eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Deine Großeltern haben sich schließlich auch getrennt.“

„Aber erst nach rund zwanzig Jahren Ehe.“

„In den alten Zeiten haben sie eben noch länger durchgehalten.“

„Da kommt der Bus“, rief Lisandra und begann schneller zu laufen.

Wie immer war der Bus vollkommen überfüllt, und es gelang ihnen gerade noch so hineinzukommen. Es war keine Seltenheit, dass sich die Einheimischen außen auf die Trittbretter schwangen und dort festgeklammert mitfahren mussten.

„Wie findest du den Typen?“, fragte Alina, als sie dicht beieinander im Gedränge standen, und klammerte sich an Lisandras Schultern, da sie keinen Haltegriff erreichen konnte.

„Wen?“, fragte Lisandra, in Gedanken bereits bei ihrer Großmutter.

Alina verdrehte die Augen. „Wen schon? Diesen Andy!“

„Was weiß ich? Ich kenne ihn ja kaum.“

„Na, rein optisch hat er schon mal alles, was frau sich so erträumt, oder?“ Alina grinste. „Er ist noch kubanisch genug, um heiß zu sein, und europäisch genug, um irgendwie exotisch zu wirken.“

Lisandra gluckste. „Das hast du schön formuliert. Okay, er sieht verdammt gut aus und scheint nett zu sein, aber in einem Monat ist er wieder weg, was soll ich also mit dem?“

„Lissy! Deine Beziehung zu Dario ist seit fast einem Jahr vorbei. Meinst du nicht, du solltest mal wieder mit einem Mann zusammen sein? Und sei es auch nur für ein paar Wochen? So lange allein zu bleiben ist doch nicht normal.“

„Ich vermisse das nicht“, protestierte Lisandra. „Und nenn mich nicht unnormal!“

„Ich will ja nur, dass du ein bisschen mehr Spaß im Leben hast, Süße.“

„Ich frage mich wirklich, wie wir seit fünfundzwanzig Jahren Freundinnen sein können“, sagte Lisandra kopfschüttelnd. „Manchmal sind wir so gar nicht auf einer Wellenlänge.“

Alina lachte nur. „Gegensätze ziehen sich eben an. Ich hole dich auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn du vor lauter, romantischer Träumereien den Sinn für die Realität verlierst, und du…“ Sie überlegte. „Du bewahrst mich davor, eine total abgeklärte Zynikerin zu werden.“

„Mach ich gerne. Das ist nämlich noch viel schlimmer, als ein Jahr keinen Sex zu haben.“

Alina ließ sie los, um sich feierlich eine Hand aufs Herz zu legen. „Baby, nichts ist schlimmer als ein Jahr keinen Sex zu haben“, erklärte sie mit so dramatischer Stimme, dass Lisandra lachen musste.

„Manchmal denke ich, ich bin gar keine richtige Kubanerin“, sagte sie und blickte aus dem Fenster. „Komm, wir müssen uns zum Ausgang durchkämpfen, wir sind gleich da.“

2

Kurz darauf traf Lisandra in dem kleinen Stadtpalais ein, in dem ihre Familie lebte. Im Patio, dem Innenhof der typisch kubanischen Häuser, begegnete ihr ihr jüngerer Bruder Yannis, der gerade die Treppe hinuntergelaufen war.

„Warst du bei Oma?“, rief Lisandra ihm entgegen.

„Ja. Ich habe mich von ihr verabschiedet.“ Sein sonst so fröhliches Gesicht war ungewohnt ernst. „Mama ist jetzt bei ihr.“

„Und wo ist Papa?“

„Bereitet sich seelisch auf den Küchendienst vor, damit Mama nicht unter Druck ist.“

„Das wird er alleine nicht schaffen, wir haben heute ein volles Haus, oder? Kannst du nicht–?“

„Ich muss zur Nachtschicht, sorry.“ Yannis war Taxifahrer bei einem der staatlichen Unternehmen.

„Herrje. Na gut, ich beeile mich bei Oma.“ Lisandra verzog bekümmert das Gesicht.

Alina legte kurz den Arm um sie. „Lass dir die Zeit, die du brauchst. Ich helfe beim Servieren.“

„Ehrlich? Du bist ein Schatz!“ Lisandra gab ihrer Freundin einen raschen Kuss auf die Wange.

„Das wirst du nicht mehr sagen, wenn ich eure Teller zerdeppere und das Essen auf dem Schoß der Leute landet.“

„Ehrlich gesagt finde ich es gerade zweitrangig, wie du dich anstellst.“

„Dass deine Talente nicht in der Küche liegen, wissen wir, Alina“, sagte Yannis mit anzüglichem Unterton.

Sie streckte ihm die Zunge heraus.

Kurz darauf saß Lisandra mit ihrer Mutter am Krankenbett von Madelin. Das Krankenhaus konnte schon lange nichts mehr für sie tun, und da die hygienischen Zustände dort bedenklich waren, pflegten sie Madelin so gut es ging zuhause.

Lisandra betrachtete ihre Großmutter besorgt. Der Krebs, der sie seit Jahren auszehrte, schien nun die Oberhand zu gewinnen. Mit achtzig Jahren war die einst bildschöne Madelin nur noch Haut und Knochen, und ihr faltiges, hellbraunes Gesicht wirkte auf dem blassgelben Kissen winzig.

Ihre dunklen Augen flackerten unruhig, als sie die Hand nach ihrer Tochter ausstreckte. „Setzt euch näher zu mir“, flüsterte sie. „Bevor ich gehe, muss ich euch eine Geschichte erzählen.“

„Oma, nicht, das strengt dich zu sehr an.“ Lisandra drückte die andere Hand, die kraftlos auf der dünnen Decke über ihrem flachen Leib ruhte.

„Es ist aber wichtig, dass ihr die Wahrheit erfahrt.“

Elena runzelte die Stirn. „Wovon redest du, Mama? Was für eine Wahrheit?“

„Es war während der Revolution. Er hieß Robert und war US-Amerikaner. Ein wunderschöner Mann, blond, mit blaugrauen Augen wie der Atlantik im Winter bei Sturm…“

Elena und Lisandra tauschten einen Blick.

„Bekommt sie Morphium?“, flüsterte Lisandra.

Elena nickte. „Regelmäßig. Sie fantasiert.“

„Sprecht nicht von mir, als wäre ich nicht da“, sagte die alte Frau ärgerlich und mit etwas kräftigerer Stimme. „Ich fantasiere nicht. Ich weiß genau, was ich sage.“

„Gut, Mutter, erzähl uns einfach alles, was du loswerden möchtest“, sagte Elena beruhigend und streichelte ihren Arm.

„Salvador und ich waren seit zwei Jahren verheiratet. Aber er hatte nur die Revolution im Kopf“, fuhr Madelin fort. „Er klebte förmlich an Che und Fidel, und war pausenlos mit ihnen unterwegs. Ich war ständig allein in Havanna. Und dann habe ich Robert kennengelernt.“

„Den Yankee?“, vergewisserte sich Lisandra. Das war der gängige Spitzname für US-Amerikaner.

„Ja. Er war anders als die Männer hier. Nicht nur, weil er schön war wie ein Gott und immer gut rasiert. Er hatte auch mit Politik nichts am Hut. Er hat für eine amerikanische Firma in Havanna gearbeitet. Und er war so höflich zu mir, ein richtiger Gentleman. Hat mir die Tür aufgehalten, in die Jacke geholfen, den Stuhl zurechtgeschoben, eben all das, was den Kerlen bei uns fremd ist. Und nie schlüpfrige Komplimente. Aber seine Blicke… Manchmal genauso kühl wie der Atlantik, und dann wieder voller Begehren, wenn er mich lange angesehen hat.“ Ein glückliches Lächeln überzog das runzlige Gesicht.

Lisandra lauschte gebannt. „Hast du dich in ihn verliebt, Oma?“

„Oh ja, mein Herz. Diesem Mann wäre ich für ein Lächeln bis ans Ende der Welt gefolgt.“

„Beim Lächeln ist es sicher nicht geblieben“, kommentierte Elena säuerlich. „Hast du Papa mit ihm betrogen?“

„Liebes, Salvador ist nicht dein Vater. Das war es, was ich euch sagen wollte.“

Elena rang nach Luft, während Lisandra die Kinnlade herunterklappte. „Du hast… dieser Robert ist…“

„Ja, Kind. Er ist dein leiblicher Vater.“

Lisandra warf ihrer Mutter Elena einen Seitenblick zu. Sie verdankte ihr die fein gezeichneten Gesichtszüge. Elenas Teint war heller als ihrer, und ihre Augen waren hellbraun. Nun war ihr endlich klar, wo das herkam. Madelin und Salvador hatten etwas dunklere Haut und fast schwarze Augen und Haare, genau wie der Rest der Familie. Lisandra hatte immer gedacht, dass ihre Mutter irgendwie europäisch aussah. Oder eben nordamerikanisch.

Elena fuhr sich mit zitternden Fingern über das glatte, braungraue Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt war. „Warum sagst du mir das erst jetzt, Mutter? Papa – ich meine Salvador – ist seit Jahren tot, du hättest es mir früher sagen müssen!“

„Wozu dich durcheinanderbringen, Kind?“

„Was ist mit meinem leiblichen Vater? Lebt er noch? Wo ist er? In den USA?“

„Dann wäre ich jetzt auch dort. Und du wärst in Amerika aufgewachsen. Er wollte mich mitnehmen, als er erfahren hat, dass ich schwanger bin.“

„Was ist passiert?“ Elena schluckte. „Warum hast du dich entschlossen, es mir nun doch zu erzählen?“

Madelin fiel merklich in sich zusammen, und ihr Gesicht wurde eine schmerzvolle Grimasse. Sie rang nach Luft.

„Oma, soll ich Dr. Ramos rufen?“, fragte Lisandra besorgt. „Ich glaube, er ist noch hier.“

„Nein, warte. Der spritzt mir nur wieder was und ich kann nicht mehr klar denken. Ich muss das hier zu Ende bringen. Ihr müsst es erfahren, so schmerzhaft es auch ist. All die Jahre… mein Gewissen erleichtern… Frieden finden…“ Sie begann, etwas Unverständliches zu stammeln.

Elena legte ihr die Hand auf die glühende Stirn. „Mama, du fantasierst. Du hast bestimmt nichts so Schlimmes gemacht, dass du es jetzt beichten müsstest.“

„Doch“, keuchte Madelin und krallte ihre Finger in Lisandras Handrücken. „Mein altes Tagebuch… der Brief… in meinem Zimmer. Lest es alles, dann wisst ihr… fahrt nach Trinidad, auf die Plantage. Zu Celia. Und in die Sierra Maestra. Mein Robert…“

Ihre Augen fielen zu und der Druck ihrer Finger erlosch.

„Oma?!“, rief Lisandra voller Angst.

„Mamita!“ Elena rüttelte vorsichtig an der zerbrechlichen Schulter ihrer Mutter.

Lisandra sprang auf. „Ich gehe Dr. Ramos holen.“

Sie stürzte in das zum Restaurant ausgebaute, große Esszimmer des Hauses, wo der Arzt zusammen mit einigen Touristen das Abendessen einnahm. Als er Lisandra erblickte, legte er sofort sein Besteck nieder und erhob sich.

„Bitte kommen Sie schnell, ich glaube, es ist vorbei!“

Alina, die gerade ein Tablett mit Getränken balancierte, warf ihr einen mitfühlenden Blick zu.

Der Arzt, der kurz darauf zusammen mit Lisandra in Madelins Zimmer eilte, konnte nur noch deren Tod feststellen.

Elena schluchzte laut, hatte den Kopf gesenkt und umklammerte eine Hand ihrer toten Mutter.

„Sie ist jetzt erlöst“, sagte Dr. Ramos sanft.

Elena hob ihren Kopf und schnäuzte sich in ein Taschentuch. „Sie hat merkwürdige Dinge erzählt, kann es sein, dass sie fantasiert hat?“

„Möglich. Das Morphium…“

„Was sie erzählt hat, kann unmöglich wahr sein“, flüsterte Elena.

Lisandra trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Warum denn nicht?“

„Mein Vater kann doch kein Yankee sein – du weißt, dass ich die nicht leiden kann.“

„Warum eigentlich nicht? Du hast die ersten Amerikaner erst vor sechs Wochen gesehen, als sie plötzlich wieder nach Kuba einreisen durften, oder? Die, die bei uns gegessen haben, waren nett und haben gutes Trinkgeld gegeben.“

„Stimmt schon. Aber weißt du, mein Leben lang waren US-Amerikaner für uns ein Feindbild. Vater hat sie gehasst.“

„Vielleicht hat er nur einen einzigen gehasst, aus sehr persönlichen Gründen. Wenn stimmt, was Oma erzählt hat, hat sie ihn mit dem Mann betrogen und ein Kind von ihm erwartet. Wow, ich bin vielleicht zu einem Viertel Amerikanerin!“ Sie blickte in erschreckter Faszination auf Madelin hinunter.

„Sie war bestimmt nur vom Morphium berauscht“, beharrte Elena.

Lisandra setzte sich wieder neben die Tote und berührte ein letztes Mal zärtlich die Wangen ihrer Großmutter. „Das wird sich zeigen“, sagte sie nachdenklich. „Wir müssen diese Tagebücher und Briefe finden.“