Leseprobe Der große Fang

Prolog

Vor zehn Jahren …

„Grace?“

Sie tippte sich mit den Fingerspitzen aufs Kinn und blickte in ihren Spind. Sie musste sich neue Pinsel kaufen. Die Borsten ihrer alten waren viel zu trocken.

„Grace, hast du mich gehört?“

Abschlussball. Alle redeten vom Abschlussball, aber sie wusste ehrlich gesagt noch gar nicht, ob sie überhaupt gehen sollte. Ihre Mitschüler waren alle so dämlich. Wollten Polizisten, Anwälte oder gar Baseballer werden – dabei waren sie alle so untalentiert und dumm, dass sie kaum als Kartoffel geeignet waren. Nein, sie würde nicht gehen. Es gab wichtigere Dinge, auf die sie sich konzentrieren musste.

„Grace!“

Sie schloss ihren Spind und wandte sich ungeduldig zu der Stimme um, die sie einfach nicht in Ruhe lassen wollte. Sie gehörte einem schlaksigen Jungen, dessen Nase so groß war, dass man eine ganze Farbtube darauf hätte abstellen können.

„Was?“ fragte sie genervt.

Sie kannte den Typen von irgendwoher. Vielleicht aus dem Unterricht. Hatte er sie nicht sogar schon einmal gefragt, ob sie einen Kaffee mit ihm trinken wollte?

„Ähm …“ Der Junge rang nervös seine Hände ineinander. „Ich hatte gefragt, ob du … nun ja … möglicherweise mit mir zum Abschlussball gehen wollen würdest.“

Irritiert betrachtete sie ihr Gegenüber, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, danke.“

„Ähm … du hast nicht einmal darüber nachgedacht.“

„Das muss ich auch nicht. Ich werde meine Zeit nicht auf einem langweiligen Tanzball vergeuden.“

„Oh. Bist du sicher?“

„Ja, bin ich. Außerdem kenne ich nicht einmal deinen Namen, das spricht nicht gerade für dich. Und jetzt hör auf, dich lächerlich zu machen, indem du nochmal fragst.“

Ihr Gegenüber war weiß geworden, die Augen weit aufgerissen. „Er … ist Eric Green.“

„Was?“ Wieso sprach er immer noch mit ihr?
„Mein Name. Er ist Eric Green.“

„Das ist ja schön für dich, warum sollte mich das interessieren? Geh.“

Das brauchte er sich nicht zweimal sagen zu lassen. Er stolperte über seine Füße und rannte beinahe Nelly um, die ihm entgegenkam.

Die Haare von Grace’ Freundin waren schwarz und glatt, ihre Haut makellos. Grace hatte sie immer darum beneidet, dass sie so graziös aussah – wie ein ganz eigenes Kunstwerk.

„Hey“, murmelte sie, während ihr Blick dem Typen folgte, dessen Namen Grace schon längst wieder vergessen hatte. „Was ist denn mit ihm?“

„Keine Ahnung, wollte mit mir ausgehen.“
„Oh, okay.“ Ihre Freundin schien abgelenkt und knabberte an ihren Fingernägeln herum.

„Alles okay?“, wollte Grace wissen, während sie den Spind abschloss und auf ihre Uhr sah. Sie musste unbedingt noch ins Atelier, wenn sie ihren Zeitplan einhalten wollte.

„Nein, nicht echt“, stellte Nelly fest und ließ ihre Hand vom Mund sinken. „Mein … mein Opa ist ja letzte Woche gestorben und heute soll die Beerdigung sein …“

„Oh, richtig.“ Grace nickte. Das hatte sie schon fast wieder vergessen. „Du schaffst das schon.“

Nellys Mundwinkel zuckten. „Ich weiß nicht … ich dachte, du könntest vielleicht mitkommen? Als emotionale Unterstützung?“

„Oh.“ Grace’ Augenbrauen flogen nach oben.

Ihr tat es wirklich leid, dass Nellys Opa tot war. Sie wusste, dass es ihrer Freundin nicht gerade gut ging und sie hätte ihr die Situation gerne erträglicher gemacht. Aber sie war nicht wirklich in der Position dazu. Sie konnte ihn nicht zurückholen und sie hatte so viel um die Ohren …

Sie tätschelte Nelly tröstend den Arm. „Nelly, das würde ich wirklich gerne, aber ich habe heute den Termin mit der Galeristin und …“

Ihre Freundin versteinerte unter ihrer Berührung und machte einen Schritt zurück. „Grace, die Beerdigung geht nur ein paar Stunden und ich dachte, du könntest deine Kunst vielleicht für einen Moment hintenanstellen.“

Also, das war jetzt nicht fair. Sie hatte so hart gearbeitet!

„Nelly“, sagte sie geduldig. „Wenn es jeder andere Zeitpunkt wäre, ich würde sofort mitkommen. Aber … du weißt, wie wichtig das für mich ist. Der Termin steht fest. Ich will nächstes Jahr meine zweite Ausstellung machen, ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren, ich …“

„Du! Du, du, du, du!“ Nelly biss die Zähne aufeinander und wandte den Kopf ab. „Lass es einmal auch um mich gehen, Grace! Ich brauche dich heute.“

„Ich … ich …“ Grace’ Kehle schnürte sich enger. Sie wollte ihr helfen, aber … sie hatte so viel Zeit in ihren Traum investiert und ihr Vater zählte auf sie.

„Nelly, ich kann dir nicht helfen. Dein Opa, er … er ist tot, aber meine Karriere ist es nicht. Ich muss mich nun einmal darauf konzentrieren.“

Sie hatte ein Ziel. Einen Traum. Das musste ihre Freundin doch verstehen! „Es tut mir leid, ich kann nicht mitgehen.“

Ihre Freundin starrte sie mit großen Augen an und Grace’ Magen zog sich zusammen, als sie Tränen darin glitzern sah.

„In Ordnung, Grace“, sagte Nelly mit zitternder Stimme. „Werde doch glücklich mit deiner Kunst. Ich glaube, du hast keine Zeit für eine Freundschaft, also mache ich es einfacher für dich: Unsere ist hiermit beendet.“

Sie drehte sich auf dem Absatz um und lief davon.

Grace’ Augen brannten und Wut fraß sich durch ihre Adern. „Schön!“, schrie sie ihr zornig nach. „Ich wollte mir sowieso Freunde suchen, die ein wenig hübscher sind als du! Die besser zu mir passen! Die mir nicht dauernd im Weg stehen!“

Nelly lief schneller und Grace schloss die Augen.

Warum hatte sie das gesagt? Das hätte sie nicht tun sollen.

Nur … die Worte waren ihr aus dem Mund geflogen, bevor sie sie hatte aufhalten können. Sie waren ihr so leichtgefallen. Grace starrte ihrer Freundin nach, die so unendlich verletzt ausgesehen hatte und schluckte.
Schön. Sie brauchte sie nicht. Sie brauchte niemanden. Es war, wie ihr Vater immer sagte: Wenn man seine Bestimmung gefunden hatte, gab es nichts, was einen daran hindern konnte, diese zu erfüllen. Ihr ganzes Leben lag noch vor ihr! Sie hatte keine Zeit, sich von ihren Freunden herunterziehen zu lassen. Sie hielten sie nur auf. Sie …

Das Brennen in ihren Augen wurde unerträglich und sie senkte ihr Kinn. Grace starrte auf ihre Schnürsenkel, auf ihre Finger, an denen Kobaltblau klebte.

Es war ihr Traum, oder? Erfolgreich zu sein. Berühmt zu werden. All das zu haben, was ihr Vater ihr prophezeite. Träume forderten nun einmal Opfer.

Sie brauchte keine Freunde. Sie würde sie nächstes Jahr auf dem College ja ohnehin aus den Augen verlieren. Ja, sie war vielleicht egoistisch gewesen, aber Nelly musste es doch verstehen! Verstehen, dass … dass was?

Sie hatte ihren Opa verloren und eine Freundin gebraucht. Nichts weiter. Grace’ Fingernägel gruben sich in ihre Handinnenfläche und sie atmete tief ein und aus. Tränen bahnten sich ihren Weg und sie versuchte verzweifelt sie wegzublinzeln. Ihr Leben war so, wie sie es wollte. So wie sie es sich ausgemalt hatte.

Oder?

Nur – warum tat ihr Herz dann so weh?

Kapitel 1

Heute …

„Ich bin kein Held!“
Ryan Hale zog sich genervt die Baseballkappe tiefer ins Gesicht und versuchte sich sanft, aber bestimmt weiter mit der Schulter einen Weg durch die Reportermasse zu kämpfen. Mit dem sanften Teil hatte er ernsthafte Probleme, aber es würde niemandem helfen, wenn er jemanden zu Boden schubste und er am nächsten Tag vom Helden zum Feindbild gemacht wurde.

„Aber Sie haben den Jungen doch gerettet!“, schrie ihm einer der Anzugträger ins Gesicht.

Jetzt ging das wieder los!

„Jeder hätte den Jungen gerettet.“

„Aber nicht jeder hat den Jungen gerettet.“

„Das ist mir doch egal, was nicht jeder hat“, fluchte er und stieß das Mikrofon, das ihm jemand den Hals hinunterzustopfen versuchte, aus seinem Gesicht. „Es macht mich nicht zum Helden, den Arm ausgestreckt und jemanden umgeschubst zu haben. Das macht mich lediglich zu einem Mann mit guten Reflexen.“

„Aber es waren Ihre Reflexe, die den Jungen gerettet haben.“

Es war aussichtslos.

Jeder sah, was er sehen wollte und zuhören tat ihm ohnehin keiner. Abrupt blieb er stehen und hob mit einem verkniffenen Lächeln das Gesicht in die Kamera. „Schön. Ich bin ein beschissener Held! Man sollte mir eine Statue bauen und einen Feiertag nach mir benennen. Den Ryan-Hale-ist-ein-Held-Tag. Dort halte ich dann auch gerne eine Rede darüber, was für ein toller Mensch ich bin! Würden Sie mir jetzt bitte das Mikro aus dem Gesicht nehmen? Sonst werde ich meine außergewöhnlichen Reflexe dafür nutzen, es Ihnen aus der Hand zu schlagen.“

„Moment. Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie Sie sich dabei gefühlt haben.“

„Grandios natürlich“, knurrte Ryan und trat mit seinem Fuß gegen ein fremdes Schienenbein. „Endlich konnte ich der Held sein, als der ich geboren wurde! Ich habe meine Bestimmung gefunden.“

„Möchten Sie der Familie des Jungen noch irgendetwas sagen?“

„Ja, ich würde gerne allen Eltern auf der Welt etwas sagen: Besorgen Sie sich eine Leine und achten Sie drauf, dass Ihre verdammten Kinder nicht einfach so auf die Straße laufen!“

„Ähm …“ Der Reporter ließ sein Mikrofon etwas sinken, bevor er leise murmelte: „Könnten Sie das noch einmal ohne das verdammt vor den Kindern sagen? So können wir das nicht für die 12-Uhr-Nachrichten benutzen.“

„Das ist mir doch egal!“, fuhr Ryan ihn an. „Ich habe sowieso keinen Schimmer, warum Sie mich verfolgen. Meine heroischen Zeiten sind vorbei. Mehr als ein Leben rette ich nicht pro Monat!“

„Aber …“

„Meine Güte, sind denn alle heute Strühs!?“, rief er aufgebracht, bevor er im nächsten Moment die rettende Tür erreicht hatte und sich ins Innere des Stadions flüchtete.

Sobald die Tür hinter ihm zuschlug, konnte er wieder frei atmen und die Stille, die ihn plötzlich umgab, war ihm so willkommen, dass er gerne für mehrere Sekunden einfach nur dagestanden und gelächelt hätte – aber wer wusste schon, wie lange sich die Schakale von so etwas wie einer Tür würden aufhalten lassen? Deswegen schritt er schleunigst weiter. Einfach immer weiter weg von dem verdammten Blitzlicht und dem wirren Stimmdurcheinander.

Ryan hatte sich die letzten Jahre nichts sehnlicher gewünscht, als dass die Presse endlich aufhören würde, ihn wie einen Frauenhasser und bösartigen, gemeinen Menschen darzustellen. Wenn er gewusst hätte, dass es noch viel schlimmer war, der Gute zu sein, hätte er doch glatt lieber nochmal seine Ex-Freundin auf offener Straße als Miststück beschimpft.

Kopfschüttelnd ging er die steril-weißen Gänge entlang auf die Treppen zu. Es war schon absurd genug, dass er sich gerade dabei hatte fotografieren lassen müssen, wie er zu einem Fotoshooting ging, bei dem er sich würde fotografieren lassen! Er fragte sich, ob irgendeiner der Hampelmänner da draußen auch die Ironie darin sah.

Er war nicht erfreut gewesen, als Sam Parker, der PR-Manager der Delphies, ihn darum gebeten hatte, an einem Publicity Shooting teilzunehmen. Das Problem war nur: Wenn Sam um etwas bat, dann war es eigentlich ein Befehl und wenn Sam etwas befahl, dann wehrte ein intelligenter Mensch sich nicht dagegen.
Und Ryan war intelligent. Das hatte ihm zumindest seine Mutter immer gesagt – und die würde ja schließlich nicht lügen …

Jedenfalls durfte er jetzt, wegen eines bescheuerten Nachmittags, an dem er aus Versehen ein Leben gerettet hatte, das Werbegesicht der Delphies sein! Die Saison ging in zwei Monaten los und er verstand ja, dass Sam seinen derzeitigen Heldenstatus ausnutzen wollte, doch … Gott.

Heldenstatus! Er musste dringend ein paar Kaninchen überfahren und ein paar kranke Kinder auslachen, damit er dieses Wort nie wieder denken oder gar benutzen musste. Sein Handy klingelte und er war dankbar für die Ablenkung.

„Hale.“

„Ryan, Schatz, wie geht es meinem Helden?“

Großartig. „Witzig, Mom“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Sehr witzig.“

„Ach, du darfst die ganzen Leute nicht ernst nehmen. Die reden eben gerne. Freu dich stattdessen lieber darüber, deinen alten Titel losgeworden zu sein. Nach deiner letzten furchtbaren Freundin warst du immer nur der ‚Frauenhasser‘ – so eine Schauspielerin kommt mir nicht mehr ins Haus, hast du das verstanden? Ich hoffe doch, du wählst dir deine nächste Liebhaberin sorgfältiger aus.“

Er verzog das Gesicht bei dem Wort ‚Liebhaberin‘ aber im Grunde genommen … ja, das hoffte er auch. Nur schien die Vergangenheit bewiesen zu haben, dass er in dem Bereich kein gutes Händchen hatte. Trotzdem versprach er: „Die nächste Frau, die ich nach Hause bringe, wird süß und einfach und lieb sein.“ Und nicht das Verlangen haben, unsere ganze Beziehung in den Medien breitzutreten, setzte er in seinem Kopf hinzu.

Wo er gerade schon dabei war: Sie würde keine Drama-Queen sein und außerdem genau wissen, was sie wollte und immer klar artikulieren können, wo sie in der Beziehung gerade stand.

Mehr als diesen bescheidenen Wunsch hatte er nicht.

Er wollte wissen, woran er war.

Das sollte nicht zu viel verlangt sein, oder?

„Wie geht es dir denn nun, Schatz? Hast du den Schock überwunden?“

Ryan brauchte ein paar Momente, um zu verstehen, dass seine Mutter nicht von seiner Ex-Freundin sprach, sondern von seinem neu gewonnen und lächerlichen Ruhm. „Ich ja! Die Presse offenbar nicht.“

„Nun, die schreibt doch sowieso, was sie will. Vielleicht ist alles, was du brauchst, ein wenig Ablenkung.“

„Vielleicht. Du hörst dich an, als hättest du auch schon einen Vorschlag, was genau diese Ablenkung sein könnte.“

„Das habe ich in der Tat. Deswegen rufe ich auch an. Ich habe entschieden, deinen Bruder zu dir zu schicken.“

Ryan hielt mitten im Schritt inne. „Du hast was?“

„Ich werde deinen Bruder für ein paar Wochen zu dir schicken.“

„Aha … in Ordnung“, sagte er langsam nickend. „Mom, nur noch eine kurze Frage: warum?“

„Er will das College abbrechen, Ryan! Er schreibt erstklassige Noten, meint aber, er will nicht mehr hingehen. Stattdessen möchte er die Welt bereisen und DJ werden.“

Ryan musste grinsen. „Na, das hört sich doch nach einem Plan an.“

„Ryan Michael Hale, wage es nicht, dich darüber lustig zu machen! Ich werde Ruffy seine Zukunft nicht wegwerfen lassen. Doch er hört einfach nicht auf mich. Dein Vater hat es auch schon versucht und hat kläglich versagt, deswegen bist du jetzt dran. Zu dir hat er immer aufgesehen.“

Schnaubend erklomm Ryan die nächste Treppe. „Hat er nicht! Er findet Baseball bescheuert.“

„Nun ja, ich will nicht bestreiten, dass er dich lieber als Basketballer sehen würde, aber dennoch hast du immer eine gewisse Vorbildfunktion erfüllt. Wann darf er also kommen?“

„Wann? Würdest du ihn gerne direkt morgen schicken, oder was?“

„Wenn ich könnte, ja. Aber eine kleine Wahl möchte ich dir schon geben. Wie wäre es mit März?“

„Im März bin ich in Arizona beim Frühlingstraining und mitten in der Saisonvorbereitung.“

„Dann wird er eben danach kommen und dann wirst du ihm in ganzer Bandbreite davon berichten, wie das College – und vor allem der Abschluss – dich menschlich und intellektuell gefordert, verbessert und reifer hat werden lassen.“

Wenn Ryan ehrlich war, dann war das College für ihn Zeitverschwendung gewesen und das Einzige, was er gelernt hatte, war, wie man Frauen aufriss. Also ja, schon: Es hatte ihn verbessert. Über das reifer werden ließ sich diskutieren. Aber er würde einen Teufel tun, seiner Mutter das zu sagen.

„Ich weiß nicht, Mom, ich bin im Moment sehr beschäftigt. Dieses Heldentum ist gerade sehr anstrengend und zeitaufwändig. Da sollte ich mich voll und ganz drauf konzentrieren.“

„Du bist kein Held, das wissen wir beide, also reiß dich zusammen und rücke Raphael den Kopf gerade! Ich melde mich noch einmal, wenn ich Genaueres weiß.“

Ryan lachte leise. Es ging doch nichts über mütterliche Liebe. Wenigstens sprach sie endlich aus, was er schon längst wusste. Er war kein Held!

Er war Baseballspieler, machte sich gut auf Cornflakes-Packungen, war ein talentierter Koch und Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spieler – aber er war kein bescheuerter Held, nur weil er ein anständiger Mensch war!

„Okay, in Ordnung. Ich versuche, Raphaels Kopf deine Werte und Vorstellungen zu infiltrieren. Kann aber nichts versprechen.“

„Könntest du das bitte taktvoller ausdrücken?“

„Ich werde versuchen, Raphaels Traum kaputtzumachen?“

„Besser. Und du hast ja noch mehr als zwei Monate, in denen du vorbereiten kannst, was du zu ihm sagst. Hab’ dich lieb, Ryan.“

„Ich dich auch, Mom. Grüß Dad und pass auf deinen Blutdruck auf.“

„Meinem Blutdruck wird es fantastisch gehen, sobald Ruffy wieder auf dem College ist.“

„Klasse, Mom. Setz mich bloß nicht unter Druck.“

„Das ganze Leben besteht aus Druck, Schatz, und meine Aufgabe ist es, dich darauf vorzubereiten! Wir sehen uns, rette nicht allzu viele Jungen, bis dann!“

„Bye“, seufzte Ryan und legte auf.

Einige Sekunden blieb er auf dem Treppenabsatz stehen und sah auf sein Handy. Wenn er sich nicht irrte, dann würde … jap.

Das Telefon vibrierte und eine Nachricht von Ruffy leuchtete auf:

Versuch ruhig, mich zu überzeugen, du rennst bei mir gegen eine Wand.

Ich habe mehr Angst vor Mom als vor dir, tippte er zurück und schob sich das Telefon wieder in die hintere Jeanstasche. Raphael und er hatten es sich angewöhnt, über den Zweitapparat in ihrem Haus die Gespräche ihrer Mutter zu belauschen. Sie war bis heute nicht dahintergekommen – was vor allem daran lag, dass Ryans Dad die Leitung ebenfalls benutzte, um sie dabei zu belauschen, wenn sie sich über ihn bei ihren Freundinnen beschwerte und das Geheimnis akribisch unter Verschluss hielt. Ryan hatte das schon immer für sehr intelligent von seinem Vater gehalten, denn so wusste dieser, was er tun musste, um seine Frau Janine glücklich zu machen – und konnte es so aussehen lassen, als wäre er selbst darauf gekommen. Er wollte die Ehe seiner Eltern nicht riskieren, würde seiner Mutter also nie etwas verraten.

Er nahm die letzten Stufen und warf der Tür, vor der er nun stand, einen miesepetrigen Blick zu.

Manchmal wünschte er sich, einfach so richtig hässlich zu sein. Dann würde sicherlich niemand sein Gesicht in einer Zeitschrift sehen wollen.

Leider war er wunderschön.

„Verdammte Gene!“, murmelte er, bevor er die Tür aufstieß.

Kapitel 2

„Oh mein Gott, Grace, oh mein Gott, Grace!“
„Was? Alles gut? Dein Gesicht ist ganz fleckig, Kay.“

„Ich weiß!“, sagte ihre Freundin aufgeregt und lief hastig um sie herum, um die Tür hinter ihr zu schließen. „Aber Grace! Ryan hat es im Fernsehen benutzt!“

Grace seufzte und eilte mit den vollgepackten Einkaufstüten in die Küche. Sie war spät dran. Wieder einmal.

„Was hat er benutzt? Ein Kondom? Einen Sonnenhut?“

„Nein, du Verrückte! Strüh! Er hat das Wort Strüh im Fernsehen benutzt!“

Ach, Strüh. Das Wort, das eine Million Bedeutungen hatte und das ihre beste Freundin in Amerika verbreiten wollte. Das Wort, das ihr tierisch auf die Nerven ging.

„Das ist der Anfang, ich sag’ es dir“, fuhr Kaylie fort. „Bald werden es alle kennen und dann …“ Sie hielt abrupt inne, als Grace sich zu ihr umdrehte und sie sie offenbar zum ersten Mal ansah.

Ihr Mund öffnete sich zu einem schockierten ‚Oh‘.

„Ja, ich weiß, ich weiß!“, seufzte Grace und bückte sich, um die Milch aus der Papiertüte zu fischen und im Kühlschrank zu verstauen. „Meine Haare sind kurz!“

„Ähm, ja …“, sagte Kaylie langsam. „Und orange.“

Mist. Grace hatte gehofft, sie hätte das verdrängen können.

„Ja, sie sind orange und kurz und hätte ich das Geld, würde ich meinen Frisör verklagen!“, stöhnte sie und richtete sich wieder auf. „Aber ich habe das Geld nicht und ich bin spät dran für einen Termin.“

„Oh, okay.“ Entschuldigend hob ihre Freundin die Hand. „Ich sage nichts mehr.“

„Natürlich musst du etwas sagen, Kaylie! Meine Haare sind orange“, jammerte Grace und legte sich beide Hände aufs Gesicht. „So kann ich doch nicht rausgehen! Ich hab’ gleich einen wichtigen Job und ich will nicht gefeuert werden, weil ich unangemessen am Arbeitsplatz erscheine!“

Dieser Tag war ein verdammtes Desaster – und Grace hatte nicht einmal die Zeit dafür, sich darüber ausgiebig zu beschweren, denn wie gesagt: Sie war spät dran.

Schon wieder!

Und sie durfte nicht zu spät kommen.

Schon wieder!

„Hier, warte“, sagte Kaylie optimistisch, machte einen Schritt in den Flur hinein und zog eine Kappe vom Garderobenhaken. „Setz die auf.“

Skeptisch nahm Grace die Kappe entgegen. „Und dann?“

„Dann setzt du sie nie wieder ab!“

„Toller Rat!“, schnaubte sie und beeilte sich damit, auch die restlichen Einkäufe zu verstauen. Die Kappe platzierte sie dennoch auf ihrem Kopf.

Kaylie lächelte entschuldigend und bückte sich nun nach dem Gemüse. „Hast du wenigstens dein Geld zurückverlangt?“

„Ich …“ Grace stockte, öffnete den Mund und schüttelte schließlich verdrießlich den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Sie sah so jung aus. Und ich glaube, sie hat Kinder, da konnte ich ihr doch nicht mein Geld wegnehmen.“

„Grace, deine Haare sind orange! Du hättest ihr viel mehr als ihr Geld wegnehmen sollen!“

Ja, rein logisch gesehen war das richtig, aber … die Frisörin hatte so begeistert ausgesehen. Und wer war Grace, ihr die Laune kaputtzumachen? Außerdem war sie ja schließlich dort gewesen, um eine kleine Typänderung zu durchlaufen und die hatte sie nun definitiv bekommen, oder? Und der Schnitt an und für sich war ja gar nicht schlecht. Vielleicht etwas kürzer als schulterlanges Haar, wie sie es sich vorgestellt hatte, und auch etwas stufiger und mit etwas mehr Pony als sie verlangt hatte, aber … das Mädchen war sehr höflich gewesen und hatte ihr einen amüsanten Witz erzählt und … ach, verdammt nochmal, ihre Haare waren orange und Grace hasste eben Konfrontationen mit fremden Menschen! Harmonie war so viel angenehmer als Streit und Missbilligungen und Missgunst und all diese anderen hässlichen Gefühle.

Und wenn sie mit orangefarbenen Haaren leben musste, um einer Frisörin nicht das Herz zu brechen, dann würde sie das eben tun.

„Ich muss mich wirklich beeilen“, sagte sie und stopfte die nun leere Tüte in eine Schublade. „Das ist mein erstes Sport-Shooting und ich bekomme einen Haufen Geld, wenn ich mich vernünftig anstelle.“

„Ach, das schaffst du schon. Sportler zu fotografieren stelle ich mir simpel vor. Zieh ihnen das T-Shirt aus, lass sie die Arme hinter dem Nacken überkreuzen und schon hast du ein Bild, das alle lieben werden!“

„Du meinst, Frauen.“

„Ja. Ist das nicht die Leserschaft?“

Grace lachte. „Eigentlich nicht wirklich.“ Aber sie hatte keine Zeit, Kaylie zu erläutern, dass die SportsIn größtenteils an Männer verkauft wurde, von denen sich die meisten nicht sonderlich für einen muskulösen Oberkörper interessieren würden. Abgesehen von den Steroid-Opfern, die sich an dem Blick von Muskeln ergötzten. Aber höchstwahrscheinlich würde es dennoch mindestens ein Bild geben, auf dem das Fotoobjekt halbnackt zu sehen war. So war die ungeschriebene Regel. Und die Bilder konnten immer noch an ein Frauenmagazin verkauft werden.

„Ist auch egal“, stellte sie fest und fegte an Kaylie vorbei in ihr Schlafzimmer, um sich aus ihrer Jeans zu schälen und in einen grauen Businessrock zu schlüpfen. Sie hatte den Job erst seit zwei Wochen und sie war darauf angewiesen, einen professionellen Eindruck zu machen.

Na ja, andererseits hatte sie orangefarbene Haare, sie könnte also auch gleich mit zerrissenen Jeans und Bikinioberteil zum Termin gehen.

Sie stopfte die weiße Bluse in den Rock und sah zu ihrer Freundin auf, die im Türrahmen lehnte. „Bist du wirklich nervös?“, wollte Kaylie wissen.

Grace zuckte mit den Schultern und suchte nach ihren Perlenohrringen, die ihrer Meinung nach Professionalität ausstrahlten.

Eigentlich, wenn sie ehrlich war, machte sie sich keine großen Sorgen darum, dass sie einen guten Job erledigen würde. Grace war gut in dem, was sie tat. Sie war einer der glücklichen Menschen, denen alles zuflog. Sie strengte sich an, ja, aber oftmals musste sie nicht ganz so viel Disziplin aufbringen wie so manch anderer. Ja, sie hatte Glück gehabt mit ihrem Genpool – aber leider gab es zu jedem Talent auch eine Kehrseite.

„Keine Ahnung“, stieß sie schließlich aus, als ihr klar wurde, dass Kaylie noch immer auf eine Antwort wartete. „Ich habe nicht direkt Angst, eher … Respekt?“

Ja, das war eine akkurate Beschreibung.

„Respekt zu haben ist immer gut!“, unterstützte sie Kaylie. „Und wenn ich das so sagen darf: Es wurde Zeit, dass du aufhörst, dich unter Wert zu verkaufen! Dieser blöde Foto Shop, in dem du vorher gearbeitet hast, war wirklich keine Herausforderung für dich. Ich bin stolz auf dich.“

Grace nickte, hielt ihren Blick jedoch auf die Stiefel gesenkt, die sie sich gerade über die Füße zog. Es war Ende Januar und noch immer verdammt kalt draußen.

„Grace, das war ein Kompliment, das dich zum Lächeln, nicht zum Nachdenken bringen sollte“, bemerkte Kaylie misstrauisch. Ach, sie war einfach zu aufmerksam.

Grace sprang auf und seufzte schwer. „Ich weiß! Ich bin auch stolz auf mich.“

„Du hörst dich aber nicht so an.“

„Woher willst du das wissen? Wie hört sich denn eine Stimme an, wenn sie Stolz ausstrahlt?“

Kaylie tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger gegen das Kinn und schien kurze Momente über diese Frage nachzudenken, bevor sie sagte: „Ich weiß nicht … schwulstig?“

„Na, dann hoffe ich wirklich, dass ich mich nicht stolz angehört habe“, bemerkte Grace und lief wieder an ihr vorbei, um ihre Jacke überzuwerfen. „Würdest du die restlichen Einkäufe einräumen?“, bat sie und schlang sich einen Schal um den Hals. Vielleicht konnte sie den ja auch einfach um ihren Kopf binden …

„Mach’ ich.“

„Danke. Ich werde dich auf ewig lieben“, versprach Grace und fiel ihrer Freundin spontan um den Hals.

Dieser Tag war jetzt schon so unglaublich anstrengend gewesen – dabei hatte ihre Arbeit doch noch nicht einmal angefangen! Aber ihre kleine Schwester hatte sie darum gebeten, sich um das Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter zu kümmern und Grace hatte nicht Nein sagen können, weil Madison doch gerade erst – vor zwei Monaten – den Blinddarm entfernt bekommen hatte und Amelia, ihre ältere Schwester, hatte sie auch nicht behelligen wollen. Sie war Krankenschwester und ohnehin schon dauergestresst. Also war sie in das Einkaufszentrum gehetzt, nur um sich von einem Verkäufer für Lederwaren vollquatschen zu lassen und komplett die Zeit zu vergessen – schon wieder!

„Ich weiß deine Liebe zu schätzen“, murmelte Kaylie und tätschelte ihr den Rücken. „Und Grace, ich weiß, du bist gerade in Eile, aber ich wollte dir noch etwas sagen …“

Grace ließ ihre Freundin los und grabschte nach den Schlüsseln, die sie vorher auf die Anrichte gelegt hatte. „Klar, wenn du dich beeilst.“
Kaylie nickte und erst jetzt bemerkte Grace, dass sie die Hände ineinander verkrampft vor ihren Körper hielt.

Na, das war ja mal ein gutes Omen …

„Nun, du weißt doch, dass ich mit Dex zusammen bin …“

„Dex? Ist das der riesige Muskelmann, der mir meine Milch wegtrinkt und andauernd halbnackt in unserer Küche steht? Nein, der ist mir noch nicht aufgefallen.“

Kaylie verdrehte grinsend die Augen. „Haha. Nun, Dex und ich sind jetzt schon über drei Monate zusammen und es ist vielleicht zu früh, aber wir hängen sowieso fast die ganze Zeit aufeinander. Und jetzt, wo Chloe ausgezogen ist und Dex das Penthouse für sich alleine hat …“

Der Schlüssel fiel aus Grace’ Fingern und schlug auf dem Boden auf. „Du willst ausziehen?“

Dexter war ein toller Kerl. Er war Spieler der Delphies, der ortsansässigen Baseballmannschaft, kümmerte sich liebevoll um seine Chaoten-Schwester Chloe und war wohl als Jackpot im Männerlotto zu bezeichnen, aber … Grace wollte Kaylie trotzdem nicht an ihn verlieren!

„Na ja, nicht jetzt sofort, aber nächsten Monat, wenn der Mietvertrag ausläuft … natürlich nur, wenn du eine neue Mitbewohnerin gefunden hast! Oder vielleicht willst du ja auch alleine wohnen? Mit deinem neuen Job verdienst du deutlich mehr und könntest es dir ganz sicher leisten …“

Grace starrte ihre Freundin an, deren Lippen sich weiterbewegten, doch sie fühlte sich nicht dazu imstande, weiter zuzuhören. Natürlich hatte sie damit gerechnet, dass sie und Kaylie nicht ewig zusammen wohnen bleiben würden, aber sie hatte zumindest gehofft, dass sie noch mindestens ein halbes Jahr hatte, bevor Kaylie, die bisher vor jeder Beziehung weggelaufen war, sich mit ihrem Baseballgott in einem Bunker verschanzte. Sie wohnten nun bereits seit fünf Jahren zusammen und wenn sich das plötzlich änderte, dann …

„… hoffe, das ist okay, Grace.“

Grace blinzelte und zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich ist das okay. Du liebst Dexter, ihr wollt zusammenziehen. Das kommt nicht überraschend.“

Doch es kam überraschend! Und Grace wollte es nicht zugeben, aber sie brauchte Kaylie. Sie mochte es, nach Hause zu kommen und mit ihr zu tratschen. Sie mochte es, sie einfach in den Arm nehmen zu können, wenn sie sich gerade verloren fühlte.

Sie war ihre beste Freundin und sie freute sich, dass sie so glücklich war … aber konnte sie mit Dexter nicht noch eine Weile in getrennten Wohnungen glücklich sein?

„Ich freue mich für dich“, sagte Grace und bückte sich hastig nach dem Schlüssel. „Wirklich. Danke, dass du so früh Bescheid gibst. Ich muss jetzt wirklich los, aber wir reden heute Abend drüber!“

Kaylies Ohren liefen dunkelrot an. „Ich bin heute Abend schon bei Dex, tut mir …“

„Dann morgen Abend“, setzte sie beschwingt hinzu, mit Mühe und Not das Lächeln haltend.

Gott, sie war ein schrecklicher Mensch. Sie wollte ihrer besten Freundin ihr Glück verwehren, nur damit sie selbst nicht einsam war? Was war nur los mit ihr? Sie hatte auch einen Freund. Sie war auch glücklich. Und vielleicht würde sie Henry einfach fragen, ob er nicht bei ihr einziehen wollte!

Sie mochten in ihrer Beziehung nicht so innig sein wie Dex und Kaylie – aber ganz ehrlich, wer war das schon? Das hieß nicht, dass sie nicht verliebt waren!

Schön, er hatte ihre Freunde bis heute nicht kennengelernt, weil er dauernd auf Geschäftsreise war und immer meinte, er sei nicht scharf darauf, neue Leute kennenzulernen, aber … das würde sie bald ändern. Er sollte sich nicht so anstellen. Sie massierte doch auch seine Füße, obwohl sie die ekelig fand. Jeder musste Opfer in einer Beziehung bringen.

„Ich freue mich wirklich“, wiederholte sie, an Kaylie gewandt, bevor sie aus der Tür trat. Denn sie sollte wahrlich kein schlechtes Gewissen haben, weil sie mit ihrem Freund zusammenzog.

Während sie die Treppe hinuntereilte, knöpfte sie ihren Mantel zu und sog schließlich auf der Straße die kalte Luft in ihre Lungen. Grace mochte den Winter. Im Winter schien alles ruhiger und entspannter.

Was für eine trügerische Jahreszeit.

Wenn sie es sich recht überlegte, fing sie langsam an, den Winter dafür zu verurteilen, dass er allen Menschen etwas vormachte!
Und als sie sah, dass innerhalb der letzten halben Stunde, die sie ihr Auto nicht benutzt hatte, wieder eine dünne Eisschicht die Windschutzscheibe befallen hatte, entschied sie spontan, dass sie den Winter wohl doch eher hasste.

Sie kratzte den eisigen Belag vom Glas, setzte sich hinters Lenkrad und rieb sich die abgefrorenen Hände. Grace zog die Brille aus dem Handschuhfach und setzte sie auf, bevor sie rückwärts aus der Parklücke fuhr. Natürlich klingelte in genau diesem Moment ihr Telefon …

Nur die Tatsache, dass es klug war, weiter auf die Straße zu schauen, hielt sie davon ab, sich die Hände vor die Stirn zu schlagen. Sie hätte es ausschalten sollen – doch jetzt blinkte schon das Wort Dad auf und womöglich brauchte er sie und … ach, Mist. Sie hob ab und schaltete den Lautsprecher ein.

„Hey, Dad. Was gibt’s? Ich hab’ nicht viel Zeit, ich sitze im Auto und …“

„Ich habe es beendet, Gracie“, unterbrach sie der aufgeregte Bass ihres Vaters unsanft. „Es ist fertig. Du musst herkommen und es ansehen.“

„Was ist fertig, Dad?“

„Die Delfinballerina natürlich!“

„Ach so. Klar.“ Vor Grace schaltete die Ampel auf orange und sie drückte das Gaspedal durch. Sie hatte noch zehn Minuten und eigentlich benötigte man diese Zeit beim Delphies Stadion schon allein dafür, einen Parkplatz zu finden. „Wann hast du den letzten Schliff angelegt?“

„Vor zwanzig Sekunden! Du musst herkommen und mir deine Meinung dazu sagen.“

„Dad, ich arbeite, ich kann nicht …“

„Ich spreche nicht von jetzt. Ich spreche von Sonntag. Bis dahin muss der Ton ohnehin noch gebrannt und getrocknet werden.“

Grace presste die Lippen aufeinander und bremste vor einer scharfen Kurve ab. Sie wollte pünktlich sein, aber sich deswegen nicht umbringen.

„Dad“, sagte sie vorsichtig, „du weißt, dass Mom Sonntag ihren Geburtstag feiert.“

„Natürlich weiß ich das. Wir waren über zwanzig Jahre verheiratet, glaubst du, nur weil wir jetzt geschieden sind, vergesse ich ihren Geburtstag?“

„Nein, natürlich nicht, nur …“

„Na also, was hat also ihr Geburtstag mit meiner Kunst zu tun? Du bist die Einzige von euch drei Mädchen, die mein Genie versteht und du musst dir die Delfinballerina ansehen! Sie ist wunderbar geworden.“

„Dad!“, sagte Grace lauter. „Mom feiert Sonntag ihren Geburtstag.“

„Du wiederholst dich, Gracie. Was hat das mit irgendetwas zu tun?“

„Ich bin auf dieser Feier, Dad!“

„Aber doch nicht den ganzen Tag!“

„Na ja, aber schon … fast den ganzen Tag.“

„Gracie, ich bitte dich nur um ein paar Stunden deiner Zeit, ist das zu viel verlangt?“

„Dad, komm schon, ich kann morgen doch schon kommen, da …“

„Der Ton muss noch brennen, er wird morgen nicht trocken sein.“

„Montagabend, ich könnte …“

„Montag wollen die Heinis von der Kunstgalerie sich die Skulptur schon angucken. Ich brauche eine professionelle Meinung von jemandem, bevor sie kommen.“

Er brauchte keine Meinung, er brauchte Bestätigung! Aber ihr Vater war seit der Scheidung einsam, auch wenn er es nicht zugab. Er verlor sich in seiner Kunst und hatte seine Freunde über den Erfolg hinweg schon längst vergessen. Sie schien die Einzige zu sein, die es noch mit ihm aushielt. Amelia und Madison hatten längst aufgegeben. Sie konnten weder mit Kunst noch mit ausgeprägtem Egoismus etwas anfangen. Grace war wohl der einzige Grund, warum sie überhaupt noch mit ihrem Vater redeten.

„Schön, ich komme“, seufzte sie. „Passt dir acht Uhr?“