Leseprobe Der Fluch der Götter

Kapitel 1

Willkommen im Irrenhaus

„Und da vorne ist der Mädchentrakt“, endet Mr Hendriks endlich. Seit mehreren Minuten habe ich ihm nicht mehr zugehört, sondern lediglich ab und an mit dem Kopf genickt. Ob er ‚das Refugium der weiblichen Schülerschaft’ wohl betreten wird? Seine Wortwahl, nicht meine, versteht sich. Nach dem Vortrag über die strikte Trennung der Geschlechter bin ich mir nicht so sicher.

Er stößt die kotzgrüne Flügeltür auf, und ich bin verblüfft, wie hell es im Inneren des Korridors ist, obwohl das alte Gemäuer aus dicken Steinwänden besteht. Die Fenstervorsprünge sind mindestens dreißig Zentimeter tief, doch helles Holz auf dem Boden und weiße Farbe an den Wänden verschönern diesen Teil der Schule und lassen ihn im Gegensatz zum Rest, den ich bisher gesehen habe, richtig heimelig wirken.

Mr Hendriks räuspert sich und ich blicke ihn an. Lächelnd deutet er ans Ende des Korridors. „Dein Zimmer befindet sich ganz hinten rechts.“

„Danke für die Führung“, brumme ich und mache mich endlich auf den Weg Richtung Bett. Ob Mr Hendriks den Flügel tatsächlich grundsätzlich nicht betritt oder spürt, in welcher schlechten Stimmung ich bin und mir meinen Freiraum lassen will, weiß ich nicht und es ist mir egal. Seit Stunden wünsche ich mir kaum etwas sehnlicher, als mich unter das Bettlaken zu verkriechen und den Tränen freien Lauf zu lassen.

Schnellen Schrittes gehe ich den Flur entlang. Links scheint die Sonne durch die Fenster, während rechts Türen in verschiedene Räume abgehen. Ich drücke die Schuluniform, die man mir ausgehändigt hat, an meine Brust. Beinahe so, als könnte sie mich vor allem Unheil schützen.

Kingswood Castle wird für die nächsten zwei Jahre mein Zuhause sein, ob ich will oder nicht. Und ich will nicht. Definitiv nicht. Aber mich fragt niemand. Weder meine Tante noch das Schicksal. Alle treffen munter Entscheidungen für mich, zu meinem Besten … schon klar.

Vor der letzten Tür bleibe ich stehen. Mein zukünftiges Zimmer. Ich atme tief durch und straffe die Schultern. Dann trete ich ein, ohne zu klopfen, schmeiße die Tür hinter mir ins Schloss und warte darauf, dass mich jemand für den Ausbruch rügt. Doch es bleibt still.

Gott sei Dank.

Ich bin alleine, endlich. Leider wird das wohl nicht lange so bleiben, denn es stehen zwei Betten im Zimmer.

Scheiße, ich habe es befürchtet.

Mein Koffer und die Tasche stehen rechts neben einem der Schreibtische. Meine wenigen Habseligkeiten hat ein Angestellter auf mein Zimmer gebracht, während Mr Hendriks mir das Internat gezeigt und die Hausregeln erklärt hat.

Frustriert schmeiße ich mich auf das Bett, dessen Laken unberührt sind. Aus dieser Perspektive ist meine Lage zwar kaum besser, dennoch fühle ich mich geborgener. Das Bett versteht mich, es tröstet mich. Mein bester Freund, der mich noch nie enttäuscht hat. Sanft fahre ich mit den Fingern über die weiße Decke, als würde sie meine Gefühle erspüren.

Okay, Laurie, jetzt drehst du durch.

In dem Moment fliegt die Tür auf, was mich vor einem hysterischen Lachanfall oder einer verzweifelten Heulattacke bewahrt. Die Chancen stehen jedes Mal fifty-fifty.

„Holy shit“, entfährt es der jungen Frau, die mir gegenübersteht. „Was ist denn mit dir los?“

Gute Frage, die ich lieber unbeantwortet lasse. „Ich bin Laurie“, sage ich stattdessen und richte mich mühsam auf. Der Tag war zu viel. Und das vor dem Nachmittagstee.

„Samira“, antwortet meine neue Zimmergenossin und schließt die Tür hinter sich. Ihr dunkles Haar fällt in leichten Wellen über ihre Schulter und blendet mich beinahe mit seinem Glanz. „Geht’s dir gut? Du siehst aus wie ein Zombie.“

Ihre Offenheit überrascht mich, trotzdem ist sie erfrischend und angenehm. An einer Schule, deren Schulgebühr das Jahresgehalt vieler Engländer übersteigt, habe ich mit mehr aufgesetzter Höflichkeit gerechnet.

„Das ist leider mein Gesicht, das sieht immer so aus“, antworte ich trocken.

„Ach du Kacke.“ Sofort schlägt sie sich die Hände vor den Mund. Dann lässt sie die Finger langsam sinken. „Wie unhöflich von mir. Das tut mir leid. Also nicht dein Gesicht, sondern die Tatsache, dass mein Mund schneller ist als mein Hirn.“

Ich pruste los und verschlucke mich beinahe an meinem eigenen Lachen. Das Geräusch klingt fremd in meinen Ohren und verwirrt halte ich inne.

„Ich mache es wohl nur schlimmer“, stellt sie fest und schaut mich reumütig an, ich schüttle lediglich den Kopf.

„Tut mir leid. Das war ein Scherz.“

„Oh, dann hab ich dich nicht beleidigt?“, fragt sie vorsichtig.

„Nein.“ Tatsächlich fühle ich mich zum ersten Mal seit … keine Ahnung wann frei und ausgelassen.

Samira setzt sich auf ihr Bett, das meinem direkt gegenüber steht. „Gut, ich neige leider dazu, alles auszusprechen, was mir durch den Kopf geht. Das kommt bei den meisten eher schlecht an.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Die Wahrheit ist schwer zu verkraften. Keiner weiß das besser als ich.

Samira mustert mich und ich tue es ihr gleich. Sie trägt die grüne Schuluniform mit dem Wappentier, dem Hirsch, daher lässt mich ihre Erscheinung kaum Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit ziehen.

„Wenn du magst, zeige ich dir den Mädchenflügel“, sprudelt es auf einmal aus ihr hervor, und ich frage mich, ob sie Luft holt, während sie spricht.

Ich wäge einen Augenblick meine Möglichkeiten ab. Eigentlich habe ich keine Lust, mich länger zu unterhalten, und wäre lieber alleine. Doch ohne Samiras Hilfe werde ich mich hier sicher nie zurechtfinden und morgen beginnt bereits der Unterricht. Außerdem muss ich zwangsläufig mit ihr klarkommen, immerhin wohnen wir die nächste Zeit zusammen. Und das soll so unkompliziert wie möglich sein. Daher nicke ich. „Gern. Muss ich meine Uniform dafür anziehen?“ Der Internatsalltag ist mir fremd, ich habe zuvor eine öffentliche Schule in London besucht. Zumindest bis meine Tante genug von mir hatte und beschloss, dass sie zu jung sei, um ein Kind aufzuziehen. Dabei spielte es keine Rolle, dass ich fast erwachsen bin und gar keine Erziehung mehr brauche.

„Nein, ich wollte mich sowieso gerade umziehen.“ Samira springt förmlich auf und schüttelt sich den Blazer von den Schultern. Woher nimmt sie nur die Energie? Von ihrem Enthusiasmus angesteckt erhebe ich mich, streiche meinen schwarzen Rock glatt und ziehe den Hoodie, der nach oben gerutscht ist, zurecht. Ein kurzer Blick in den Spiegel an der Tür zeigt mir das ganze Ausmaß von Zombie-Laurie. Kein Wunder, dass Samira sich erschreckt hat. Der dunkelrote Lippenstift ist verschmiert und die Wimperntusche verwischt. Schnell krame ich in meinem Rucksack nach dem Kosmetiktäschchen und mache mich … Mist, wo ist das Badezimmer?

Samira scheint meine Verwirrung zu bemerken. „Dritte Tür links.“

„Auf dem Gang?“, entfährt es mir und mir wird mit einem Schlag das Ausmaß ihrer Worte bewusst.

Gemeinschaftsduschen. Gemeinschaftstoiletten.

Oh. Mein. Gott.

„Scheiße, du dachtest wir haben unser eigenes Bad“, umreißt Samira meine Gedanken, die mir offensichtlich ins Gesicht geschrieben stehen. Ich nicke nur, unfähig das Gefühl, das mich komplett ausfüllt, zu beschreiben. Welcher Unmensch ist auf den Gedanken gekommen, Gemeinschaftsbäder zu erfinden? Privatsphäre schreibt man auf Kingswood Castle anscheinend groß.

„So schlimm ist es nicht, versprochen“, tröstet Samira mich.

Obwohl ich das bezweifle, verlasse ich unser Zimmer, habe schließlich gar keine Wahl. Zombie-Laurie muss verschwinden, bevor sie noch mehr Menschen erschreckt.

Wie ferngesteuert tragen mich meine Beine drei Türen weiter und ich male mir die schlimmsten Dinge aus: Wild kreischende Mädchen, die missbilligend die Körper der anderen begutachten.

Langsam drücke ich die Klinke hinunter und trete ein. Meine Angst, mir einen Waschraum mit all den Mädchen auf dem Stockwerk zu teilen, stellt sich als unbegründet heraus. Es gibt vier Waschbecken, die sich jeweils zwei Mädchen zu teilen scheinen, denn auf jedem stehen je zwei Zahnbürstenbecher und diverse verschiedene Fläschchen und Tiegelchen. Nur eine Seite des hintersten Waschbeckens rechts ist leer, das wird dann wohl mein Platz sein.

Ein Durchgang führt in einen etwas kleineren Raum, in dem zwei separate Duschkabinen untergebracht sind. Samira hatte recht, so schlimm ist es nicht. Zumindest wenn wir zu unterschiedlichen Zeiten duschen. Und die Toiletten sind in einem eigenen Raum untergebracht, ein enormer Pluspunkt.

Ich sehe mich einen Moment um, überprüfe den Sauberkeitszustand (alles top, kein Schimmel) und stelle meine Kosmetiktasche dann auf das Waschbecken mit nur einer Zahnbürste. Sicher Samiras, doch eigentlich ist es egal. Ich kenne sie nicht besser als die anderen Mädchen, mit denen ich mir das Bad teile.

Kurz umklammere ich den kalten Beckenrand mit meinen Fingern und lasse den Kopf hängen. Ich atme durch und gönne mir den Moment des Alleinseins. Ich vermisse meine Eltern, meine Freunde und mein altes Leben.

Stopp, nicht zurückschauen, Laurie. Es geht nach vorne. Immer nur voraus, höre ich meine Mom im Geiste. Sie hasste es, wenn ich den Kopf in den Sand steckte, all die guten Dinge in meinem Leben vergaß und stattdessen der Dunkelheit die Oberhand ließ. Doch ehrlich gesagt fällt es mir gerade schwer, etwas Positives zu finden.

Ich drehe den Hahn auf, lasse Wasser in meine Hände laufen, die ich zu Schalen forme, und benetze dann die Augen damit. Die Kälte ist erholsam und hilft mir, meine Gedanken im Zaum zu halten. Das hier ist nicht das Ende, es ist ein neuer Anfang. Das muss es sein.

Während das Wasser von meinem Gesicht tropft, wird mir bewusst, dass ich gar kein Handtuch mitgenommen habe. Kurzerhand wische ich mir mit den Ärmeln meines schwarzen Lieblingshoodies über die Haut. Der Blick in den Spiegel offenbart mir, dass ich es damit allerdings nur schlimmer gemacht habe. Mein schwarzes Haar hängt verstrubbelt und glanzlos herunter und meine schmalen Augen mustern mich kritisch. Ich ziehe die Haarbürste hervor, doch leider hilft es nur wenig, die dicken Strähnen zu bändigen. Eindeutig die südländischen Gene meiner Mutter. Mithilfe eines Wattepads und Seife entferne ich die Reste des verbliebenen Make-ups, tusche mir dann die Wimpern und versuche die dunklen Ringe unter den Augen zu verstecken. Die letzten Nächte habe ich kaum geschlafen, aber das muss ja nicht gleich die ganze Schule wissen. Kurz überlege ich, ob ich den dunkelroten Lippenstift weglasse, dann entscheide ich mich, ihn aufzutragen. Ich fühle mich gut mit ihm, ansehnlich und normal. Wieso sollte ich darauf verzichten, nur weil hier die Uhren anscheinend noch auf Achtzehnhundert stehen? Zumindest was die strikte Trennung der Geschlechter anbelangt.

Halbwegs vorzeigbar verlasse ich das Badezimmer und gehe zurück zu Samira. Sie hat sich mittlerweile aus ihrer Uniform geschält und ist auf bequemere Klamotten umgestiegen. Ihr grauer Hoodie sitzt perfekt und ist im Gegensatz zu meinem keine zwei Nummern zu groß. Dazu hat sie eine schwarze Jeans kombiniert und ihr Haar zu einem kunstvollen Zopf geflochten.

„Besser“, kommentiert Samira mein Aussehen und beißt sich dann auf die Unterlippe.

Ich überprüfe derweil mein Outfit im Spiegel. Die dicken Wollsocken schauen aus meinen schwarzen Schnürstiefeln und ich ziehe sie zuerst ein Stück hoch, um sie dann zusammenzuraffen. Dabei fahre ich über eine Laufmasche in meiner dunklen Strumpfhose, aber sie stört mich nicht. Den Hoodie stecke ich vorne leicht in meinen schwarzen Jeansrock und schiebe die Ärmel bis zu den Ellbogen nach oben.

„Ich mag deinen Style“, kommentiert Samira und ihre Worte schmeicheln mir. Normalerweise bin ich nicht eitel, doch ich will einen guten Eindruck hinterlassen. Unter dem Radar der anderen fliegen und keinesfalls auffallen. Deswegen ist es mir wichtig, dass ich mich an meinem ersten Tag wohlfühle und der Nervosität die Stirn biete.

„Danke. Jetzt bin ich wieder vorzeigbar. Normalerweise lasse ich Zombie-Laurie nur selten raus.“

Samira überlegt einen Augenblick, dann kommt sie auf mich zu, hakt sich bei mir ein und dreht uns herum. „So schlimm fand ich dein Zombie-Ich gar nicht. Ich hab mir nur Sorgen gemacht, dass du auf mein Gehirn aus bist.“

„Gehirn gibt’s nur an Vollmond, ich kann dich also beruhigen, du kannst dich noch einige Tage an deiner Intelligenz erfreuen“, entgegne ich auf ihren Kommentar und lasse die Unbeschwertheit in mein Herz. Es sticht einen Moment, doch der Schmerz ist mir vertraut und ich heiße ihn willkommen. Seit dem Tod meiner Eltern beherrscht er mich und hält mich auf dem Boden der Tatsachen. Er ist zu einem Freund geworden, auf den ich mich bisher stets verlassen konnte.

„Los geht’s.“ Samira greift nach meinem Handgelenk und zieht mich mit sich. Wir gehen über den Korridor, am Badezimmer vorbei, fast bis zum Treppenhaus. Eine Tür vorher hält Samira inne, und jetzt breitet sich Unbehagen in mir aus. Zwar scheint meine Zimmergenossin nett zu sein, doch ob das auf die anderen Mädchen auch zutrifft? Eigentlich spielt es keine Rolle, denn ich bin hier, um meine A-Levels zu bestehen und nicht, um Freunde zu finden. Es würde die Sache allerdings wesentlich leichter machen, wenn wenigstens alle freundlich wären. Das Herz pocht mir bis in die Ohren und ich höre nur noch Rauschen. Veränderung ist mein Feind, war sie schon immer. Deswegen drücke ich die Fingernägel in meine Handinnenflächen und atme ruhig, bis sich mein rasender Puls beruhigt.

Als Samira sich zu mir dreht, begreife ich, dass sie etwas gesagt hat, das mir entgangen ist. „Wie bitte?“

Durch die Fenster hinter uns scheint die Sonne in den Flur und projiziert unsere Schatten an die Wand. Für September ist es ziemlich warm.

„Was bist du?“, wiederholt Samira, nur ergibt die Frage ohne Hintergrund keinen Sinn.

„Was ich bin?“

„Ja, reich oder intelligent?“

„Hä?“

„Na ja, wenn man Kingswood Castle besucht, ist man entweder überdurchschnittlich intelligent, sodass man ein Stipendium bekommt, oder man hat stinkreiche Eltern, die ein Vermögen für unsere Schulbildung ausgeben“, erklärt sie.

„Ich wünschte, ich könnte sagen, ich sei intelligent“, antworte ich und überlasse den Rest Samiras Fantasie. Wenn sie daraus schließt, dass ich reich bin, kann ich schließlich nichts dafür, oder? Denn ich bin keins von beidem. Stattdessen hatte ich nur Glück – oder Pech, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Für meine Tante, die mich endlich los ist, war es wohl der glücklichste Tag ihres Lebens. Für mich … nun ja, ich kann es nicht ändern.

„Mir gehts genauso“, meint Samira und stößt leicht mit ihrem Ellbogen gegen meine Rippen. „Dann gehörst du zu den Normalos, denn es gibt nur ein oder maximal zwei Stipendiaten im Jahrzehnt. Aber es könnte schlimmer sein, oder?“

„Ja“, bestätige ich mit einem aufgesetzten Lächeln und bin froh, dass sie das Thema fallen lässt.

„Also, bist du bereit?“

Ich nicke, aber die Nervosität ist mit einem Schlag zurück.

„Es sind sowieso fast alle rausgegangen, das schöne Wetter genießen, bevor morgen der Ernst des Lebens und der Unterricht beginnen. Aber ich hab ein paar Freundinnen erzählt, dass jemand Neues bei mir einzieht. Sie sind ganz gespannt.“

Na wundervoll. Allerdings verwirrt mich eine Kleinigkeit. „Wieso hattest du deine Uniform an, wenn noch kein Unterricht ist?“

„Ich war in der Kirche“, sagt sie.

Neugierig blicke ich sie an. „Glaubst du an Gott?“

„Du nicht?“

„Nein.“ Schon lange nicht mehr.

„Oh, das ist okay. Wir sind sehr offen. Du darfst an das glauben, was du magst. Keiner wird dich deswegen verurteilen.“

Verwirrt von ihrer Reaktion fahre ich mir durchs Haar.

Für meinen Geschmack viel zu bald darauf öffnet Samira die Tür zum Gemeinschaftsraum. Leise Stimmen dringen zu uns, doch Samira hatte recht, es sind kaum eine Handvoll Mädchen anwesend. An den Wänden stehen große Sofas, die wild zusammengewürfelt den Charme des Raumes ausmachen. Es ist hell und lichtdurchflutet, sogar wohnlich und nahezu gemütlich. Gardinen und frische Blumen verleihen dem Zimmer einen Hauch von Zuhause.

Das Gespräch verstummt und die Mädchen mustern mich. Aufgeregt stehen sie auf und kommen auf uns zu. Ihre Blicke sind mir unangenehm und ihre hochgezogenen Augenbrauen verraten mir ihren ersten Eindruck: Ich bin anders als erwartet. Vielleicht liegt es auch nur an meiner Lieblingsfarbe, in der nahezu all meine Klamotten sind – Schwarz.

„Leute, das ist Laurie, sie kommt … okay, eigentlich weiß ich noch gar nichts von dir“, wendet Samira sich an mich. „Vielleicht solltest du dich besser selbst vorstellen.“

„Hey, ich …“, stammle ich und atme tief ein. Beruhig dich, Laurie. Das sind nur Menschen. „Ich bin Laurie und komme aus London.“

Samira nickt zufrieden. Ich scheine die erste Hürde geschafft zu haben. War gar nicht so schwer. „Das sind Maren, Diana, Sarah und Aurora.“

„Wie …“

„Nein, sag’s nicht“, unterbricht mich Aurora, bevor ich den Satz beende. „Bitte, du siehst nett aus, doch wenn du jetzt Dornröschen ins Spiel bringst …“

Ich schlucke den Vergleich herunter. „Schwere Kindheit?“

„Lass uns das Thema wechseln.“ Aurora streicht sich eine blonde Strähne hinters Ohr und ich nicke.

„Sie übertreibt“, meint Maren lachend und reicht mir höflich die Hand.

Aurora schnaubt. „Du wirst ja auch nicht dauernd mit Dornröschen verglichen.“

„Das ist ein Kompliment, Aura“, entgegnet Sarah und geht zu ihrem Platz zurück. Die anderen Mädchen folgen ihr und Samira zieht mich mit. „Immerhin ist sie eine Prinzessin.“

„Und unglaublich hübsch“, pflichtet Maren ihrer Freundin bei.

Diana beugt sich nach vorne und mustert zuerst meine Doc Martens, dann die Socken und schließlich den kurzen Rock. Zuletzt bleibt ihr Blick an meinem roten Lippenstift hängen und ich setze ein Lächeln auf, halte ihrem Blick stand, als sie mich ertappt anschaut. „Erzähle uns was über dich, Laurie“, haucht sie nach der Schrecksekunde und verschränkt die Arme vor der Brust.

Klar, gern. Vor einem Jahr sind meine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich hätte ebenfalls im Auto sitzen sollen, doch das tat ich nicht. Während ich lebe, sind sie tot. Danach musste ich zu meiner Tante ziehen. Mein altes Zuhause und meine Freunde hinter mir lassen und mich neu orientieren. Zumindest bis ich meiner Tante zu viel wurde. Bis sie die Trauer und die Aussichtslosigkeit, die mich seit einem Jahr ausfüllen, nicht mehr ertragen konnte. Deswegen bin ich jetzt hier und ihr so?

Natürlich denke ich das nur und sage stattdessen: „Bis vor einem Jahr habe ich in London gelebt und bin dort zur Schule gegangen, dann musste ich leider aufs Land ziehen und schließlich bin ich in Kingswood Castle gelandet.“

„Wir verbringen die Winterferien immer in London und feiern mit der ganzen Familie Weihnachten. Ich liebe die Stadt. Die Weihnachtsbeleuchtung ist einmalig“, meint Maren verträumt.

„Ja, ich vermisse es sehr.“

„Das Leben auf Kingswood Castle wird dir gefallen“, verspricht Samira und ich erkenne die Ehrlichkeit in ihren Augen.

Wir unterhalten uns kurz über die Herkunft der anderen, dann wenden sich die Mädchen wieder dem Gespräch zu, bei dem wir sie unterbrochen haben. Da es um den Unterricht und die Lehrer Kingswood Castles’ geht, kann ich nicht viel dazu beitragen, außerdem bin ich mir unsicher, ob meine Meinung überhaupt erwünscht ist, deswegen lasse ich meine Gedanken schweifen.

Als Lachen den Raum durchbricht, schrecke ich zusammen. Die letzten Minuten hatte ich komplett abgeschaltet. Zum Glück ist es keinem aufgefallen.

„Wieso hast du die Schule gewechselt?“, fragt Sarah mich plötzlich. Die Frage kommt so überraschend, dass mir einen Moment die Worte fehlen.

„Ähm … ich … wollte nicht mit umziehen, zumindest nicht aus England weg, da haben wir uns für diesen Weg entschieden“, lüge ich und es geht mir leichter über die Lippen als gedacht.

Diana sieht mich skeptisch an und ich erkenne selbst die Lücken in der Lüge. „Wie meinst du das? Sind deine Eltern ohne dich weggezogen?“ Erleichtert atme ich auf. Immerhin hat meine Wortwahl dazu geführt, dass sie annimmt, meine Eltern wären lediglich umgezogen und nicht tot.

„Ja, nach Afrika“, nenne ich den ersten Kontinent, der mir einfällt und möglichst weit weg ist.

Doch Diana bohrt weiter. „Und was führt sie dorthin?“

„Ein Job“, kommt es mir fast zu schnell über die Lippen.

Samira, die neben mir sitzt, fährt mir über den Unterarm. „Krass, da hätte ich auch nach einem Ausweg gesucht.“

Wenigstens eine scheint auf meiner Seite zu stehen und ich lächle sie dankbar an. „Komm, ich zeig dir den Rest“, meint Samira dann. „Wir können uns später weiter unterhalten.“

Die mir dargebotenen Finger ergreifend lasse ich mich von Samira auf die Beine ziehen und folge ihr auf den Korridor.

Das ist besser gelaufen als erwartet. Dennoch spüre ich die Zurückhaltung und Skepsis der Mädchen. Was daran liegen könnte, dass ich sie die meiste Zeit angelogen habe. Nicht was mich direkt betrifft, aber die Geheimnisse meiner Vergangenheit will ich um jeden Preis schützen. Wahrscheinlich merken die Mädchen meine eigene Zurückhaltung und bleiben deswegen auf Abstand. Und genau das ist es, was ich möchte. Ich will keine lästigen Fragen beantworten, niemandem vorspielen, ich würde meine Eltern nicht vermissen und wäre total glücklich mit der Situation. Solange ich beim Essen und im Unterricht Gesellschaft habe, reicht mir das vollkommen.

„Hier ist das zweite Badezimmer der Etage, die Toiletten findest du immer rechts daneben. Und wenn es Bohnen zum Essen gibt, ist das auch definitiv besser so.“ Während Samira mich weiter durch den Flügel der Mädchen führt, flüstert sie mir immer wieder geheime Informationen wie diese zu, die mich zum Lachen bringen. Wir verlassen den Korridor und gehen ein Stockwerk nach unten.

Das Treppenhaus imposant zu nennen, wäre eine Beleidigung. An den Wänden hängen unglaublich große Gemälde, die verschiedene Motive zeigen. Von Portraits über Stillleben bis hin zu Landschaftsdarstellungen. Die Stufen sind mit Teppich überzogen, und ich halte mich am Geländer fest, da ich Angst habe zu stolpern. Unten angekommen sehe ich noch mal nach oben und lasse die Schönheit einen Augenblick auf mich wirken. Ich bilde mir ein, dass der Boden vibriert und das alte Gemäuer mit mir kommuniziert. Belustigt schüttle ich den Kopf.

„Hier geht’s zur Küche und in die Speisekammer. Der Gang ist absolut tabu“, fährt Samira fort, doch ich habe es aufgegeben, mir zu merken, was sie erzählt. Die ersten Tage werde ich mich gnadenlos verlaufen. Beinahe erinnert mich Kingswood Castle an Hogwarts. Ob sich die Treppen hier ebenfalls bewegen?

Samira beugt sich zu mir. „Wenn allerdings Alfredo Dienst hat, gibt es immer frische selbstgebackene Muffins. Manchmal lässt er abends die Tür unverschlossen und stellt Muffins für uns bereit. Wir schleichen dann nach der Sperrstunde nach unten“, flüstert sie mir eins ihrer Geheimnisse zu und ich glaube mich verhört zu haben.

„Sperrstunde?“

„Ja, um zweiundzwanzig Uhr geht das Licht aus und wir müssen alle auf unseren Zimmern sein. Am Wochenende sehen die Lehrer das etwas lockerer, da haben wir eine Stunde länger“, erklärt Samira gelassen.

„Dein Ernst?“

„Eigentlich ist das sogar ziemlich gut, so haben wir einen Rhythmus.“

Klar, einer, der vorgegeben ist und alles andere als selbstbestimmt. Mich zu ärgern bringt nichts. Da muss ich jetzt durch.

Wir lassen den verbotenen Korridor und meine Empörung über die Sperrstunde hinter uns, und ich bin mir sicher, dass der nächste Gang dem letzten exakt gleicht.

„War J. K. Rowling eigentlich mal hier?“, frage ich Samira scherzhaft und versuche mir zumindest den Weg zurück in den Mädchenflügel zu merken.

Verwirrt dreht sie sich zu mir um. „Was? Ich glaube nicht, wieso?“

„Ach, nur so“, murmle ich und lasse das Thema fallen, denn nach Samiras Reaktion habe ich Angst, dass sie mir offenbaren könnte, Harry Potter nicht zu kennen, und das würde meine Meinung von ihr unweigerlich beeinflussen.

Während es draußen immer dunkler wird, geht in den Gängen und Räumen das Licht an. Große Leuchter hängen von der Decke und verbreiten warmweiße Gemütlichkeit.

Vor einer Wendeltreppe bleibt Samira stehen. „Hier geht’s aufs Dach. Wir dürfen nur unter Aufsicht nach oben, deswegen ist die Tür abgeschlossen.“ Ihre Augenbrauen wandern in die Höhe. „Aber manchmal vergisst ein Lehrer abzuschließen, dann treffen wir uns dort. Und dann“, verschwörerisch bohrt sie mir ihren Ellbogen in die Rippen, „gibt es keine Regeln, Laurie.“ Leider verstehe ich nur Bahnhof. Ganz zu Samiras Missfallen. „Jungs und Mädchen kommen sich näher als zwanzig Zentimeter, wenn du verstehst.“

„Scheiße, Mr Hendriks meinte das ernst?“, entfährt es mir.

Samira nickt und öffnet die Flügeltüren zum nächsten Raum. Die Regel kann nur ein schlechter Scherz sein. Im Speisesaal wird mir allerdings klar, wie falsch ich liege. Mädchen und Jungen sitzen streng voneinander getrennt an verschiedenen Tischen. Nur eine Gruppe ist gemischt. Verblüfft lasse ich meinen Blick durch den großen Saal schweifen. Lange Holztische bieten mindestens mehreren hundert Schülern Platz. Links an der Wand befindet sich die Essensausgabe, an der sich eine kleine Schlange gebildet hat. Buffetähnlich sind verschiedene Speisen in großen Behältern aufgereiht, an denen sich jeder Schüler selbst bedient. Fleisch hingegen wird von einer Köchin ausgegeben. Genau gegenüber befindet sich die Getränkebar, die ebenfalls keinen Wunsch offenlässt. Ich erkenne Wasser, Säfte und Softdrinks. Aber auch eine Kaffeemaschine und Tee. Für einen Saal dieser Größe ist es angenehm ruhig und heimelig. Weiße Stoffbahnen, die in Wellen an der Decke befestigt sind, erhellen den Raum, der durch hohe Glasfenster und rohe Steinmauern ansonsten einen rustikalen Eindruck hinterlässt.

„Ah, da sind die Mädels. Komm.“ Ohne zu zögern, packt Samira mein Handgelenk und zieht mich zu einem Tisch am hinteren Ende des länglichen Saals. Gekonnt manövriert sie uns durch das Labyrinth an Schülern, die mit vollbeladenen Tabletts zu ihren Plätzen eilen. Einem Kartoffelbrei an Erbsen ausweichend bleibe ich an einer Tischkante hängen und strauchle. Samira greift nach meinem Handgelenk, doch es entgleitet ihr. Bevor ich das Gleichgewicht endgültig verliere, bietet mir im letzten Moment ein weiterer Arm Halt und hilft mir, meinen Stand wiederzufinden.

Eine plötzliche Hitze durchfährt mich und ich blicke auf die Finger, die meinen Oberarm umklammern. Sofort werden sie zurückgezogen und ich reibe mir über die Stelle, an der sie Sekunden zuvor noch gelegen haben.

„Sorry“, murmelt der Junge, der mir gegenübersteht, und senkt den Kopf. Sein blondes Haar fällt ihm ins Gesicht und verwehrt mir einen genauen Blick auf ihn.

„Wieso entschuldigst du dich denn?“, frage ich verblüfft, werde aber von Samira weitergezogen. „Danke“, rufe ich dem Jungen zu und stolpere hinter meiner Zimmergenossin her. Erst jetzt fällt mir auf, dass der halbe Speisesaal verstummt ist und mich mustert. Na wunderbar, mit meiner peinlichen Aktion habe ich direkt die Aufmerksamkeit aller auf mich gezogen.

Ich mustere den Boden, entgehe den Blicken und weiche ihrer Aufforderung aus, etwas über mich preiszugeben. Nur einige Sekunden später setzen die Gespräche wieder ein und ich hoffe, sie drehen sich um etwas anderes als um mich.

Aber selbst wenn ich nun Gesprächsthema Nummer eins bin, spielt es keine Rolle, denn es gibt vieles, das ich kontrollieren und ändern kann, doch die Meinung anderer gehört nicht dazu.

„Laurie“, flüstert Diana mir zu, nachdem wir uns zu den anderen Mädchen aus dem Gemeinschaftsraum gesetzt haben. Neben bekannten Gesichtern sind auch unbekannte dazugekommen und Samira stellt mich kurz vor, allerdings lässt Diana sie kaum zu Wort kommen. „Gleich am ersten Tag machst du solche Sachen.“

Ich zucke mit den Schultern. Kann schließlich jedem Mal passieren.

„Laurie lässt eben nichts anbrennen“, meint Samira grinsend und ich sehe verwirrt zu ihr.

„Wie bitte?“

Francesca, die ich gerade kennengelernt habe, ist es, die mich aufklärt. „Lucas ist einer der mysteriösesten Typen auf der Welt. Und ein Royal.“ Dunkle schwarze Locken fallen ihr ins Gesicht, die nur von dem großen Brillengestell davon abgehalten werden, ihre Augen zu verdecken. Mit dem Zeigefinger fährt sie sich über die Nase und ich warte auf eine weitere Erklärung, doch leider bleibt diese aus.

„Er ist adlig?“, frage ich und sehe mich gleichzeitig nach Lucas um. Er sitzt zwischen diversen Jugendlichen am Tisch und mir fällt sofort auf, was anders ist. Jungs und Mädchen. Das gleicht an dieser Schule nahezu einem Skandal. Ob es das ist, was alle so aus der Fassung bringt?

„Nein, er ist nicht wirklich adlig“, erklärt Samira. „Obwohl es mich kaum wundern würde, käme eines Tages heraus, dass er von der königlichen Familie abstammt. Wir nennen diejenigen so, weil sie einfach alles können. Sie sind intelligent, reich und privilegiert. Sie haben sogar andere Unterrichtseinheiten.“

„Sie?“

„Die Royals“, haucht Diana ehrfürchtig und Aurora seufzt. Irgendwas entgeht mir hier. Dennoch spüre ich eins deutlich: Die Zurückhaltung der Mädchen mir gegenüber ist verschwunden. Aus irgendeinem Grund behandeln sie mich plötzlich nicht länger wie einen Gast. Selbst Diana hat ihre Skepsis abgelegt. Sie spricht mit mir, als wäre ich eine ihrer Freundinnen. Offensichtlich gehöre ich jetzt dazu. Ob ich will oder nicht. Und ich will definitiv nicht. Enge Freundschaft bedeutet unweigerlich enttäuscht zu werden und dafür habe ich keinen Nerv.

Der Zusammenstoß mit Lucas hat mich zu einem Mitglied dieser Gruppe werden lassen, und ich begreife beim besten Willen nicht, wieso.

„Die Royals“, wiederhole ich und langsam geht mir ein Licht auf. Das sind die coolen Kids. Die, die keiner anspricht, weil alle Angst haben, mit Ignoranz gestraft zu werden. Früher habe ich ebenfalls zu ihnen gehört. Doch meine Arroganz schützte mich nicht vor all dem Leid. Und das ist der Punkt: Schmerz macht uns gleich, denn keiner kann ihn ignorieren, er fordert, gespürt zu werden. Egal ob reich, intelligent und schön oder arm, einfältig und mit krummer Nase.

Ich beuge mich nach vorne, mustere die Gruppe genauer. „Habt ihr ihnen den Namen gegeben oder woher kommt der?“

„Keine Ahnung“, meint Francesca. „Sie heißen schon immer so.“

Aurora beißt von einem Apfel ab, kaut kurz und spricht dann mit halbvollem Mund – so gar nicht Dornröschen-like. „Stimmt.“

Am Tisch in der Mitte des länglichen Raums sitzen neben Lucas zwei weitere Jungs und drei Mädchen. Sie unterhalten sich während des Essens, nur Lucas scheint eher der schweigsame Typ zu sein. Er hält sich weitestgehend aus der Unterhaltung raus, allerdings erkenne ich, dass er dennoch zuhört, da er manchmal nickt oder leicht den Kopf schüttelt.

„Ehrlich gesagt sehen sie für mich genauso aus wie alle anderen“, sage ich und ziehe damit den Unglauben der Mädels auf mich. „Bis auf die Tatsache, dass sie sich offensichtlich über die Regel hinwegsetzen, dass Jungs und Mädchen getrennt voneinander essen müssen.“

Diana räuspert sich. „Müssen wir eigentlich nicht.“

„Und wieso tut ihr es dann?“, frage ich überrascht.

„Weil wir kaum etwas mit den Jungs gemein haben. Außerdem trauen wir uns meistens nicht, mit ihnen zu sprechen“, erklärt Sarah und ich muss grinsen. Oje, wie süß. Das Konzept der Schule funktioniert offensichtlich. „Die Royals jedoch sind …“

„… unglaublich cool. Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel“, unterbricht Maren sie.

„Und wir haben etwas zum Schwärmen, denn die Jungs sind einfach unfassbar heiß. Diana ist in Manuel verliebt“, flüstert Samira mir lächelnd zu.

„Gar nicht wahr“, ereifert Diana sich. „Aber er ist einfach … na ja, schön eben.“

„Und Phil erst“, schwärmt Francesca.

Grinsend schweift mein Blick zurück zu den Royals. „Wer ist wer?“

„Der mit den blonden Locken ist Phil. Elena, seine Zwillingsschwester, sitzt links von ihm, sie haben beide das gleiche Haar, oder? Daneben siehst du Cassandra, sie ist unglaublich intelligent. Manchmal weiß sie mehr als die Lehrer“, erklärt Aurora. „Lucas kennst du bereits. Bleiben Manuel und Kira. Die beiden zoffen sich manchmal so richtig. Da fliegen die Fetzen, das sag ich dir.“

Lucas blättert in einer Zeitschrift und einer der anderen Jungs – Manuel – lehnt sich so weit zu ihm, dass er ebenfalls einen guten Blick darauf hat. Seine Lippen bewegen sich und Lucas lacht, stößt seinen Freund mit dem Ellbogen leicht an, als wolle er ihm zustimmen. Plötzlich nimmt Manuel eine seiner Pommes und wirft sie ohne Vorwarnung auf den Jungen ihm gegenüber, war es Phil? Entgegen meiner Erwartung dreht der sich zur Seite und fängt sie gekonnt mit dem Mund. Erleichtert atme ich auf. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe. Sie lachen, während Kira sich von Manuels Teller bedient. Und obwohl er sie mit einem bösen Blick straft, hindert er sie nicht daran. Nein, im Gegenteil, er schiebt ihr seine Reste sogar entgegen. Jetzt verstehe ich, was die Mädchen meinen, die Royals haben ihre ganze eigene Ausstrahlung. Sie funktionieren wie ein gut geöltes Uhrwerk und scheinen sich ohne Worte zu verstehen. Ihre Dynamik ist unübersehbar und es passt kein Blatt zwischen die Freunde.

Mein Magen knurrt. „Lass uns zur Essensausgabe, ja?“

„So eine Erkundungstour macht hungrig, was?“, meint Samira und erhebt sich.

Ich folge ihr. „Und müde.“

Je näher wir den Speisen kommen, desto köstlicher riecht es. Es gibt alles, was das Herz begehrt. Von frischem angebratenem Gemüse über Nudeln und Reis bis hin zu Quinoa und Couscous. Verschiedene Salate sowie Fisch und Fleisch.

Samira reicht mir einen Teller und wir gehen am Buffet entlang. Ich schlage ordentlich zu. Neben gebratenem Gemüse und eingelegter Aubergine landet ein Haufen Nudeln und Salat auf meinem Speiseplan.

„Das Hühnchen ist unglaublich kross“, erzählt Samira, aber ich schüttle den Kopf.

„Danke, ich esse kein Fleisch.“

„Oh, bist du Vegetarierin?“

„Ja, ich versuche, soweit es geht, auf tierische Produkte zu verzichten. Meine Mom war ein großer Verfechter von guter, tierfreier Ernährung.“

Scheiße. Ich bemerke meinen Fehler zu spät.

„Wow, ich glaube das könnte ich nicht“, meint Samira und ich atme erleichtert auf. Glücklicherweise hat sie überhört, dass ich in der Vergangenheitsform von Mom gesprochen habe.

Wir gehen zurück zu unserem Tisch. Während mein Teller gnadenlos überfüllt ist, hat sie sich lediglich etwas Fleisch und einige Blätter Salat genommen.

„Ich bin so aufgewachsen, daher war es für mich keine Umstellung.“

Als wir uns setzen, haben die anderen längst aufgegessen und der Saal leert sich bereits.

„Wird hier in Schichten gegessen?“, frage ich und koste das Gemüse. Verdammt lecker.

„Nein, allerdings gibt es nur innerhalb von anderthalb Stunden etwas an der Essensausgabe. Danach wird sie geschlossen“, klärt Diana mich auf.

„Und die Jüngeren? Wo essen die?“

„Die haben ihren eigenen Speisesaal zusammen mit dem Lehrpersonal. Sie müssen noch die Tischmanieren lernen.“

Ich verkneife mir einen Kommentar und widme mich weiter dem Essen. Die Aubergine ist köstlich und ich lasse sie mir auf der Zunge zergehen. Die Mädchen quasseln während des gesamten Essens, allerdings höre ich ihnen kaum zu. Ich vermisse mein Bett, mein Zuhause und meine Freunde. Auch wenn Tante Allory mich schon vor einem Jahr aus meinem Umfeld gerissen hat, fällt mir mit jeder Veränderung auf, wie sehr ich mein altes Leben vermisse. Und wie präsent der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, immer noch ist. Wahrscheinlich wird er mich mein ganzes Leben begleiten.

Kauend blicke ich mich um und versuche meine Gedanken abzulenken. Verwirrt halte ich inne. Mir gegenüber an der Wand steht ein junger Mann, der mich unverhohlen mustert. Neugier steht ihm ins Gesicht geschrieben, und ich habe das Gefühl, dass unzählige ungestellte Fragen zwischen uns hängen. Seine hochgezogenen Augenbrauen sorgen für tiefe Falten auf seiner Stirn und lassen mich erschaudern. Ich lege meine Gabel ab, verschränke die Arme stattdessen vor der Brust, denn ich fühle mich plötzlich nackt. Als hätte er all die Lügen, die ich heute ausgesprochen habe, im Bruchteil einer Sekunde durchschaut. Das Atmen fällt mir schwer und Hitze durchdringt mich. Sein Blick brennt auf meiner Haut, verteilt sich über den ganzen Körper und steckt mich in Brand. Irgendetwas an ihm nimmt mich gefangen und …

Samira zieht an meinem Arm. „Laurie? Laurie!“

Ich blinzle, sehe weg und sofort ist mir kalt. Die Hitze ist verschwunden. „Was?“, würge ich hervor.

„Alles in Ordnung?“

„Ähm …“, beginne ich, verliere allerdings den Faden. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Sofort wandert mein Blick zurück zu dem Typen. Das Feuer ist wieder da und ich schlucke schwer. „Wer ist denn der Junge da drüben?“, flüstere ich, aus der absurden Angst, er könnte uns hören.

Das schwarze Haar zur Seite streichend funkelt der Kerl mich weiterhin an. Ich bilde mir ein, seine Augen leuchteten golden. Doch über die Entfernung kann ich das unmöglich erkennen.

„Wer?“, fragt Samira und schaut sich um. Ich deute mit dem Kopf zur Wand und der Junge erschrickt. Meine Zimmergenossin dreht sich erneut zu mir um. „Wo denn, Laurie?“

„Das Mädchen? Patricia Elcott“, meint Francesca, aber ich verneine.

„Genau uns gegenüber.“

„Meinst du Manuel?“ Samiras Tonfall verrät ihre Verwirrung.

Manuel habe ich nicht einmal wahrgenommen, dafür kann ich endlich wieder klarer denken. Denn der Blick des Jungens droht mich nicht länger zu verbrennen, ganz im Gegenteil, er wärmt mich angenehm von innen. „Nein, dahinter. Direkt an der Wand. Jetzt geht er Richtung Tür. Schwarzes Haar, dunkle Klamotten, Hände in der Jeansjacke und geschmeidiger Gang.“

Geschmeidiger Gang? Was sage ich da? Aber es stimmt, der Kerl hat etwas von einer Katze. Sein Blick war fordernd und nach Neuigkeiten gierend, trotzdem wirkte er bestimmt und überlegen. Gleichzeitig sanft, als wüsste er genau, wie ich mich fühle. Als hätte er meine Traurigkeit gespürt.

„Laurie, da ist niemand. Alle sitzen an ihren Tischen. Nur Manuel macht irgendeinen Blödsinn“, holt Samira mich auf den Boden der Tatsachen zurück. „Bei dem er verdammt heiß aussieht.“

Ich ignoriere Samiras Schwärmerei. „Was? Seht ihr ihn denn nicht? Da, fast am Ausgang.“ Mit jedem Wort werde ich lauter und mein Herz pocht wie wild in meiner Brust.

Maren steht auf und streckt sich. „Nein, da ist niemand.“

„Ich sehe auch keinen Jungen“, bestätigt Aurora und Diana nickt zustimmend.

„Was? Aber …“, stammle ich und versuche die Lüge in ihren Augen zu finden. Vergeblich.

Verwirrt presse ich die Lippen aufeinander und suche nach dem Jungen, der jetzt an der Tür angekommen ist. Ein letztes Mal dreht er sich zu mir und ein helles Licht legt sich in dünnen Fäden um ihn herum. Dann ist er weg. Verschwunden. Einfach so. Ich blinzle, schlucke die plötzlich staubtrockene Luft herunter und huste.

Was zur Hölle?

Ist das gerade wirklich passiert?

Unmöglich.

Doch ich hab es gesehen, mit meinen eigenen Augen.

Fuck! Tante Allory hatte recht. Die Trauer verändert mich … sie macht mich wahnsinnig. Mir wird übel und ein Kloß drückt auf meine Luftröhre, macht das Atmen unmöglich. Ich wische mir die schweißnassen Hände am Jeansrock trocken und versuche mich zu beruhigen.

„Laurie?“ Samira schüttelt mich leicht am Arm. „Alles in Ordnung?“

Nein, nichts ist in Ordnung. Ich werde verrückt. Ich bilde mir Dinge ein, die unmöglich stattgefunden haben können.

Statt die Worte auszusprechen, nicke ich. Der Appetit ist mir vergangen, deswegen schiebe ich den Teller zur Seite und schließe die Augen einige Sekunden. Die Mädels verfallen zurück in ihr Gespräch, und ich bin froh, dass sie mich für einen Moment in Ruhe lassen.

Wieso sehe ich Menschen, die einfach verschwinden? Und warum ausgerechnet jetzt?

Das Licht blendet mich, nachdem ich die Lider öffne und den Raum nach ihm absuche.

Nichts.

Keine Spur, dass er je da gewesen wäre. Nicht die leiseste Andeutung. Trotzdem spüre ich immer noch seinen Blick, das Feuer in mir und es macht mich wahnsinnig. Verzweifelt vergrabe ich die Finger in meinem Haar und schlucke die Tränen runter.

Okay, Laurie, reiß dich zusammen. Du bist müde, du bist gestresst und du hast abermals dein Zuhause verloren. Da kann man sich schon mal Dinge einbilden. Das ist ganz normal. Es kommt einfach vom Stress. Genau!

„Laurie, bist du sicher, dass alles gut ist?“, fragt Francesca leise und ich nicke stumm. „Magst du dein Gemüse nicht mehr? Du hast fast die Hälfte liegen lassen.“

„Bin satt.“

„Okay, dann lasst uns gehen. Wir machen uns einen schönen Abend“, schlägt Francesca vor und erhebt sich. Ich tue es ihr gleich und hoffe, dass wir ohne Umschweife in den Mädchenflügel gehen, denn ich bin mir ziemlich sicher, den Weg bereits vergessen zu haben. Ich will in mein Bett und schlafen. Endlich alles hinter mir lassen, was heute passiert ist.

Langsam beruhigt sich mein aufgeregter Herzschlag und auch das Denken fällt mir leichter. Die Erkenntnis, dass ich mir etwas eingebildet habe, dies aber stressbedingt normal ist, lässt mich frei atmen. Trotzdem spüre ich das Rumoren in meinem Magen, der von der Theorie weniger überzeugt zu sein scheint.

Diana geht einen Schritt vor unserer Gruppe, dreht sich um und läuft rückwärts weiter. „Welchen Film wollen wir sehen?“

„Irgendwas von Disney“, beschließt Aurora.

Wonder Woman“, ruft Francesca gleichzeitig.

Samira lacht. „Den schauen wir fast immer.“

„Weil er so gut ist“, verteidigt Francesca ihre Wahl und wendet sich mir zu. „Was ist dein Lieblingsfilm?“

Ich höre nur mit halbem Ohr zu, hänge immer noch bei der Szene im Speisesaal, auf der Suche, eine Lösung für dieses Rätsel zu finden.

„Laurie“, erinnert mich Francesca an ihre Frage und ich vertreibe die Gedanken, ignoriere die Erinnerungen und verbanne sie aus meinem Kopf.

„Es gibt viel zu viele“, murmle ich.

„Dann zähle ein paar auf, vielleicht mögen wir sie auch“, ermutigt Diana mich und ich bin fast gerührt, wie sich die Mädels um mich bemühen. Doch ich will mich nicht auf sie einlassen, hab die letzten Monate zu viel verloren und ertrage keinen Schmerz mehr, den Freundschaft unweigerlich erschafft. Denn nur Menschen, die einem etwas bedeuten, können verletzend werden.

Die Tür zum Mädchenflügel erscheint und ich atme auf. „Wisst ihr was? Ich bin unglaublich müde und muss noch auspacken, bevor morgen der Alltag losgeht“, entschuldige ich mich. „Deswegen würde ich lieber auf mein Zimmer gehen.“

„Wir können etwas anderes machen, ein Spiel spielen oder so“, meint Aurora schnell, aber ich winke ab und gehe in Richtung meines Zimmers, während sie vor dem Gemeinschaftsraum stehen bleiben.

„Nein, daran liegt es nicht. Heute war ein anstrengender Tag“, fasse ich zusammen und quäle ein Gähnen aus mir heraus. „Wir sehen uns morgen.“

Schnell drehe ich mich um und marschiere entschiedenen Schrittes den Korridor entlang. Ich höre das Flüstern hinter mir, dann verstummt es und eine Tür wird geschlossen. Erleichtert werde ich langsamer und kann es kaum erwarten, unter die Dusche … Shit, ich habe die Gemeinschaftsduschen vergessen. Dennoch zögere ich nicht, ziehe, im Zimmer angekommen, ein Handtuch aus meiner Tasche, schnappe mir den Kulturbeutel und renne beinahe zurück ins Bad. Hauptsache, ich begegne niemandem. Der Raum ist leer. Ich nutze die Chance, entledige mich in Windeseile meiner Klamotten und springe unter das heiße Wasser. Die Handflächen gegen die kühlen Fliesen gelegt warte ich auf die Erlösung, klare Gedanken und das Verschwinden der inneren Unruhe, die sich seit der Begegnung mit dem Unsichtbaren in mir ausbreitet. Vergebens.

Selbst nachdem ich eine Stunde später in meinem Bett liege, den Koffer und die Reisetasche ausgepackt und alle Kleider und Habseligkeiten verstaut habe, sehe ich ihn immer noch vor mir. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, brennt sich sein Bild in die Rückseite meiner Lider. Neben der Tatsache, dass ich ihn mir eingebildet habe, ist da noch etwas anderes, das mich gefangen hält und meinen Kopf komplett ausfüllt.

Traurig drücke ich mein I-Aah-Kuscheltier näher an mich und schlinge die Arme um uns beide. Seit dem Tod meiner Eltern ist es nachts mein ständiger Begleiter. Es spendet mir Trost, lässt das Gefühl der Einsamkeit verschwinden. Und dann verstehe ich es. Ich begreife, was den Schmerz in meiner Brust auslöst. Mit jeder Sekunde, die der Kerl mich länger angestarrt hat, hatte ich den Eindruck, dass meine Fassade ein Stückchen mehr fällt, als könne er dahinter blicken und mich sehen. Nicht das Konstrukt, das ich aufgebaut und allen präsentiert habe, sondern mich ganz allein, mit all meinen Macken und all der Trauer.

Und das ist schön und beängstigend zugleich.

Kapitel 2

Sobald du erwachsen bist, leben die Monster nicht länger im Schrank

Am nächsten Morgen weckt mich die Sonne, die mein Gesicht kitzelt. Zuerst bin ich verwirrt, dann füllt sich mein Hirn mit den Geschehnissen der letzten Tage. Meinem Schicksal ergeben lausche ich in die Stille. Ich höre die gleichmäßigen Atemzüge meiner Mitbewohnerin und ziehe mir die Decke bis zum Kinn.

Fest drücke ich die Lider aufeinander, bin noch nicht bereit, die morgendliche Ruhe und den inneren Frieden gehen zu lassen. Doch mein Herzschlag beschleunigt sich und ich sehe den Schwarzhaarigen aus dem Speisesaal vor mir. Mit jeder Sekunde, die vergeht, erscheint mir die Begegnung unwirklicher. Trotzdem brennt sein Blick weiterhin auf meiner Haut, bedrängt mich mit tausend Fragen, die zwischen uns in der Luft hängen. Es hat sich echt wahnsinnig angefühlt …

Um mich abzulenken, schnappe ich mir mein Handy, das auf dem Nachttisch liegt, und öffne Instagram. Die Nachricht von meiner Tante klicke ich ungelesen weg. Sie schickt mir beinahe täglich Neuigkeiten, allerdings habe ich keine einzige geöffnet und gelesen, dazu ist es zu früh und meine Wut zu groß. Selbst wenn Allory wieder Frieden schließen wollen würde, bin ich dazu momentan nicht bereit.

Augenblicklich zittert meine Hand und Tränen verschleiern mir die Sicht. Heimweh macht sich breit und sitzt wie eine dicke Katze auf meiner Brust, nimmt mir die Luft zum Atmen. Dabei vermisse ich nicht Allorys kleine Wohnung, sondern unser großes Haus in der Londoner Vorstadt. Mom, Dad und den Hund, dessen Haare sich jetzt noch auf meinen Klamotten finden. Amy, Derek und Blake. Vor allem Blake, denn unsere Leben waren seit Kindertagen miteinander verwoben. Bis der Tod uns schied … im wahrsten Sinne des Wortes, denn nach dem Unfall meiner Eltern habe ich ihn abgewiesen und den Kontakt abgebrochen. Dabei waren wir seit der Geburt, bei der sich unsere Mütter kennenlernten, befreundet. Bei Blake zu sein, verlieh mir ebenso das Gefühl, zu Hause zu sein, wie das Haus, in dem wir wohnten, die Grillpartys, die meine Eltern jeden Sommer veranstalteten, oder die Filmabende, die Tradition waren.

Wehmütig scrolle ich durch die Bilder meiner Freunde, die ich seit Monaten nicht mehr persönlich gesehen habe. Trotzdem geben mir die Fotos das Gefühl, weiterhin ein Teil ihres Lebens zu sein. Ich erkenne das Café, in dem Mackenzie und Emery sich nachmittags treffen. Weiß genau, über welchen Englischlehrer Mike sich auslässt, und fühle mit Jeremy, der Sport bei Mr Jeffreys hat und das für reine Folter hält. In meiner Brust kämpfen zwei Wesen: Traurigkeit und Hoffnung. Dieses Internat könnte eine neue Chance für mich sein. Hier weiß keiner etwas von meinem Schicksal. Niemand kennt mich. Ich kann einen Strich unter die Vergangenheit setzen und endlich in die Zukunft sehen.

Dann wirst du sie vergessen oder wieder jemanden verlieren, flüstert eine Stimme in meinem Inneren und alles verkrampft sich.

Niemals!, schreie ich zurück. Ich könnte sie niemals vergessen.

Das weißt du nicht, keift die Angst und ich bleibe an einem Bild von Blake hängen. Er wirbelt Amy lachend durch die Gegend, und plötzlich steigen mir Tränen in die Augen. Ich vermisse sie unglaublich und verfluche mich, für die Situation selbst verantwortlich zu sein. Aber ich habe ihr Mitleid keine Sekunde länger ertragen.

„Guten Morgen“, sagt Samira, reißt mich aus meinen Gedanken, und ich wische mir schnell die Tränen weg. „Wie hast du geschlafen? Meine Mom sagt immer, dass ein Traum, den man in der ersten Nacht in einem neuen Bett träumt, wahr wird.“

Ausgelaugt setze ich mich auf, ziehe die Knie an die Brust und bin verblüfft, wie jemand direkt nach dem Aufwachen derart munter sein kann. Samira lächelt mich an und dreht sich mit ihrem ganzen Körper zu mir. Ihr Haar ist wirr und eine Strähne hängt ihr ins Gesicht. Sie streicht sie zurück und gähnt. „Oje, bist du etwa sauer auf mich? Hab ich dich gestern Abend geweckt? Ich bin extra direkt nach dem Film gegangen, aber du hast schon geschlafen … es tut mir leid, ich wollte …“

„Samira“, unterbreche ich sie und sehne mich nach einem Kaffee. „Kein Grund zur Sorge, ich bin nur müde.“

„Oh, verstehe, du bist ein Morgenmuffel.“

Ich nicke, lege mein Handy weg und stehe auf. Die Schuluniform habe ich bereits gestern Abend an die Tür meines Schranks gehängt. Der Rock ist mit grünen und braunen Karos überzogen und wird nur noch von der Hässlichkeit des dunkelgrünen Pullovers übertroffen. In Brusthöhe befindet sich auf der linken Seite das Wappen. Ich höre den Hirsch beinahe röhren und seufze tief. Trotzdem ziehe ich zuerst den Rock, dann den Pulli und schließlich die Bluse vom Kleiderbügel, wechsle meine Unterwäsche und schlüpfe in die Kleidungsstücke. Samira steht ebenfalls auf und huscht mit ihrem Bademantel bewaffnet an mir vorbei ins Bad.

Vor dem Spiegel in unserem Zimmer tusche ich mir die Wimpern und überlege kurz, Lippenstift aufzulegen. Dann verwerfe ich den Gedanken, denn ich will keinen Ärger mit den Lehrern. Und sind wir mal ehrlich, an einer derart konservativen Schule ist Lippenstift sicher eine Art Ausgeburt der Hölle.

Da mir den ganzen Morgen nicht ein Mädchen begegnet, das übermäßig geschminkt ist, könnte ich mit meiner Vermutung sogar recht haben. Den Vormittag verbringe ich im Sekretariat, wo ich vom Schulleiter, später von der Schulpsychologin willkommen geheißen werde. Beide kenne ich bereits, sie waren auch bei meinem Vorstellungsgespräch anwesend. Mit Miss Henriette gehe ich meinen Stundenplan noch mal durch. Weitestgehend gibt die Schule vor, welche Kurse besucht werden müssen, nur bei einigen Ausnahmen habe ich die Wahl. So gewinnt Kunst gegen Musik und ich wähle Astronomie anstatt Psychologie. Mathe, Englisch, Physik, Französisch, Biologie und Religion sind Pflicht. Außerdem gibt es unglaublich viele AGs und Sportkurse, zu denen mir Miss Henriette dringend rät. Nicht auszudenken, hätte ich einmal Zeit für mich und könnte diese mit Nachdenken verbringen …

Gut, Zynismus hilft mir nicht.

Deswegen bedanke ich mich bei der Schulpsychologin dafür, dass sie sich Zeit für mich genommen hat, und mache mich auf den Weg zum Mittagessen.

„Laurie“, begrüßt mich Samira und springt von ihrem Platz auf. Hüpfend kommt sie auf mich zu und legt mir einen Arm um die Schulter. Automatisch versteife ich mich, ertrage die Berührung und ihre Anhänglichkeit kaum. Schnell balle ich die Hände zu Fäusten und drücke die Nägel in die Haut. Der kurze Schmerz hilft mir, mit der unerwarteten Situation umzugehen und mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Einen Augenblick überlege ich, mich von Samira zu lösen und zu einem anderen Tisch zu gehen. Die Besprechung des Stundenplans war anstrengend und ich hätte gern einige Sekunden für mich. Dann verwerfe ich den Gedanken. Zum einen wäre es seltsam und die Mädchen könnten es als Ablehnung auffassen. Zum anderen ist etwas Gesellschaft sicher schön.

Verstohlen blicke ich mich um und suche nach dem mysteriösen Kerl vom vorherigen Abend. Lachend schüttle ich den Kopf über mich selbst. Wie dämlich. Er wird nicht hier sein und auch nie wieder auftauchen. Zumindest hoffe ich das.

„Wie war dein erster Tag bisher?“, fragt Samira und drückt mich an sich. Zusammen bahnen wir uns einen Weg zwischen hungrigen Schülern hindurch zu dem Tisch, an dem wir gestern gesessen haben. Anscheinend gibt es eine inoffizielle Sitzordnung, an die sich jeder hält. Auch die Royals sind da und besetzen ebenfalls die Plätze vom Tag zuvor.

„Ganz gut, meinen Stundenplan kann ich jetzt jedenfalls auswendig“, fasse ich die letzten Stunden zusammen.

„Welche Fächer hast du? Es gibt jeweils zwei Klassen in jeder Jahrgangsstufe, vielleicht haben wir Glück und einige Kurse zusammen“, meint Samira und ich begrüße die anderen Mädchen, während wir uns setzen. Francesca, Diana und Aurora lächeln mir aufmunternd zu und ich erwidere die Geste. Aura streicht eine Strähne hinter ihr Ohr und spießt eine Kartoffel auf. Mein Magen knurrt und ich freue mich auf das Essen. Immerhin tröstet mich die gute Küche etwas, denn Allorys Kochkünste ließen stets mehr als zu wünschen übrig. Tiefkühlfraß gleicht daneben einem Festmahl. Allerdings haben Mom und Dad mich verwöhnt, denn sie liebten das Kochen und probierten viele neue Dinge aus. Sogar Blake und ich halfen manchmal mit, bevor wir uns die Bäuche vollschlugen.

Mich an Samiras Frage erinnernd ziehe ich meinen Stundenplan aus der Tasche, lege ihn in die Mitte von uns und lenke damit meine Gedanken vom Heimweh ab. Die Mädels beugen sich nach vorne und mustern das zerknitterte Stück Papier.

„Mathe bei Professor Jenkins hast du mit Aura und mir“, freut sich Diana.

Samira klatscht in die Hände. „Englisch und Bio haben wir zusammen.“

In den nächsten Fünfzehn Minuten stellen wir fest, dass ich nahezu in keinem Kurs alleine bin, immer wird eins der Mädchen an meiner Seite sein. Ihre Begeisterung überträgt sich auf mich. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ich erlaube mir, das warme Gefühl im Inneren zu genießen. In meiner Brust streiten Freude über ihre Offenheit und Angst, erneut jemanden zu verlieren, miteinander. Bisher ist unklar, wer gewinnt, denn beide halten sich die Waage. Ich will keinem der Gefühle nachgeben und bin selbst noch unentschlossen, wie ich zu den Mädchen stehe. Durch den Zusammenstoß mit Lucas scheine ich jetzt ein Teil ihrer Gruppe zu sein, aber will ich das? Wahrscheinlich ist das der einzige Weg, die nächsten Schuljahre unbeschadet zu überstehen, denn jeder Mensch braucht Gesellschaft. Und solange ich darauf achte, niemanden in mein Herz zu lassen, laufe ich wohl kaum Gefahr, verletzt zu werden.

„Oje, wir haben dich vom Essen abgehalten“, meint Diana plötzlich und ich sehe auf, direkt in ihre braunen Augen, die mich mitleidig mustern. Der Raum hat sich geleert und ich blicke auf meine Armbanduhr. Mist, die Zeit ist viel zu schnell vergangen und ich muss mich beeilen, wenn ich noch vor dem Gottesdienst etwas in den Magen bekommen will.

In Windeseile gehe ich zum Buffet, lade mir den Teller voll und schlinge es, zurück an meinem Platz, herunter.

Beim letzten Bissen steche ich mir mit der Gabel beinahe ein Loch ins Gesicht, da mir jemand in den Rücken fällt. Wortwörtlich, wohlgemerkt.

„Hast du sie noch alle, Erin?“, echauffiert Aura sich, bevor ich die Situation in Gänze erfasst habe. Ich drehe mich um und erwarte ein zerknirscht dreinblickendes Mädchen. Pustekuchen. Das fieseste Grinsen, das ich je gesehen habe, prallt mir entgegen und stellt sofort klar: Dieser Rempler war kein Versehen.

„Was sollte das?“ Mir platzt der Kragen und ich springe auf, stemme die Hände in die Hüfte und funkle Erin wütend an. „Willst du mich erdolchen, oder was?“

„Lediglich eine kleine Demonstration, damit du weißt, wo dein Platz ist“, flötet Erin zuckersüß und ihre Freundinnen lachen über ihre Worte. Ich weiß sofort, welche Art Mädchen sie ist. Sicher lieben die Lehrer sie für ihre Hilfsbereitschaft und Intelligenz, während sie hinter ihrem Rücken zu jedem gemein ist, der sich ihr nicht unterwirft und den Boden vor ihren Füßen küsst.

„Das hätte man höflicher und weniger gefährlich tun können“, schnauze ich und fuchtle mit der Gabel in der Luft herum. Erin ist mir unsympathisch und das, obwohl wir uns erst seit zwei Sekunden kennen.

Sie ignoriert meinen Kommentar, lacht nur und verlässt mit ihrer Entourage den Speisesaal. Es ist mir unbegreiflich, wie jemand mit ihr befreundet sein möchte.

„Das war unglaublich mutig“, haucht Francesca, als ich mich setze und die Gabel auf den Tisch lege. Der Appetit ist mir vergangen. Ich hatte angenommen, dass das Kingswood Castle sich in diesem Punkt von anderen Schulen unterscheidet und es keine Gruppe von Schülern gibt, die sich anderen überlegen fühlen. Leider lag ich falsch. Auch hier gibt es Kids, die sich für etwas Besseres halten und sich das Recht herausnehmen, andere zu schikanieren.

„Ignoriere Erin“, flüstert Samira mir zu. „Sie hat es wirklich schwer zu Hause.“

Als wäre das ein Grund, gemein zu anderen zu sein. Doch ich habe keine Zeit, auf ihren Rat zu reagieren. Die Mädchen erheben sich und ich werfe erneut einen Blick auf die Armbanduhr an meinem linken Handgelenk. Shit, jetzt kommt der Teil des Tages, auf den ich mich am wenigsten gefreut hatte – der Gottesdienst zum Schuljahresbeginn. Seit dem Unfall habe ich den Glauben an eine höhere Macht, die uns beschützt, verloren. Wie könnte sie es ertragen, meinen Schmerz und den eines jeden, der jemanden verloren hat, zu sehen?

Trotzdem schlurfe ich hinter den anderen her. Wir nehmen den Korridor zur Eingangshalle und die leeren Gänge zeugen von unserer Verspätung.

„Bist du irre, Phil? Darius bringt uns um, wenn wir zu spät kommen.“ Kiras Stimme klingt erhitzt, während sie um die Ecke biegt. Dicht gefolgt von Phil stößt sie beinahe mit Francesca zusammen, die geistesgegenwärtig bremst und zur Seite ausweicht.

Die Royals leben komplett in ihrer eigenen Welt, zögern nicht eine Sekunde und rauschen einfach an uns vorbei. Als wären wir Luft. Und vielleicht sind wir das für sie. Unter ihrem Niveau oder so. Nach dem Auftritt von Erin würde mich das kaum überraschen. Mein Vater sagte immer, dass die Schulzeit wie ein Schlachtfeld sei. Nur die Starken überleben es ohne Wunden. Und Narben, die jetzt entstehen, werden nie wieder ganz verheilen, sie bleiben unser Leben lang und machen uns zu dem, was wir sind. Er hatte recht. All die Erlebnisse der letzten Wochen und Monate werden mich für immer begleiten. Wer zu mir stand, wer mich im Stich gelassen hat.

Regen empfängt uns, als wir durch die große Flügeltür ins Freie treten, und ich wünschte, meine Schuluniform hätte eine Kapuze. Stattdessen ziehe ich die Schultern nach oben und versuche meinen Kopf vor dem eiskalten Nass zu schützen. Vergebens, denn die dicken Tropfen laufen mir schon nach wenigen Sekunden die Wangen hinab. Die Stufen vor dem Gebäude sind rutschig und ich halte mich am massiven Eisengeländer fest, um auf den Beinen zu bleiben. Unten angekommen werden wir schneller, bis wir schlussendlich über den Schotter zur kleinen Kapelle neben dem Schulgebäude rennen. Samira stößt die dunkle Holztür auf und wir schütteln uns das Wasser von den Uniformen. Zum Glück ist der Stoff recht dick.

Schon im Vorraum, der durch Glastüren von dem Innenschiff getrennt ist, höre ich das Stimmengewirr. Die Schüler reden alle durcheinander, tauschen Ferienerlebnisse und Neuigkeiten aus. Sie freuen sich miteinander und fallen sich glücklich in die Arme. Der Geräuschpegel ist enorm. An den hohen Steinwänden und der spitzzulaufenden Decke hallt jedes Geräusch wider. Ich rechne mit mindestens fünfhundert Schülern, doch als ich das Langhaus betrete, korrigiert sich mein Eindruck. Der Hall hatte mich in die Irre geführt. Es sind kaum hundert Mädchen und Jungen anwesend, die lachen und quatschen. Wie auch im Speisesaal herrscht hier eine strikte Sitzordnung. Rechts und links stehen lange Bänke. Allerdings sind sie zur Mitte des Raumes ausgerichtet, anstatt nach vorne zum Altar zu zeigen. Das heißt, die Anwesenden blicken einander an, wenn sie sitzen. Im vorderen Teil steht ein Tisch mit einem weißen Überwurf, darauf erkenne ich eine Leinwand. In unserer Kirche gab es so was nicht, dort hingen überall sakrale Gemälde und Blumen. Der Altar war unfassbar groß und pompös. Hier scheint das Konzept ein anderes zu sein. Die Kapelle dient vielmehr dem schulischen Zusammenkommen als dem gemeinsamen Anbeten einer Gottheit. Direkt vor dem Pseudoaltar beginnen auf beiden Seiten die Sitzreihen der Jungs, dann folgen, durch einen schmalen Zwischengang getrennt, die der Mädchen. An den Wänden ragen Säulen in die Höhe, die in geschwungenen Bögen enden und der Halle etwas Magisches verleihen.

Beeindruckt blicke ich mich um. Meine Haut prickelt und beinahe erwarte ich den fast-kopflosen Nick durch die Luft schweben zu sehen. Ich fahre mit der Hand das kühle Holz entlang und lausche den Tropfen, die an die großen Glasfenster prasseln und das Geschnatter der Schüler untermalen.

„Wenn normaler Gottesdienst ist, wird der Altar nicht abgedeckt und das Wandgemälde dahinter ist sichtbar“, erklärt Samira und ich nicke, immer noch von der Kapelle beeindruckt. Von außen hatte sie viel kleiner und unscheinbarer gewirkt. Wir setzen uns in die zweite Reihe und ich beuge mich zu Samira.

„Alle Schüler müssen an dem Gottesdienst teilnehmen?“

„Ja, wobei um diese Uhrzeit nur die Oberstufe anwesend ist. Die jüngeren Jahrgänge hatten über den Tag verteilt ihre Willkommensfeier. Ansonsten würde die Kirche aus allen Nähten platzen.“

„Und was ist mit den Royals?“, hake ich nach, denn ich glaube kaum, dass die beiden, die wir in der Eingangshalle getroffen haben, auf dem Weg in die Kapelle waren.

Francesca beugt sich vor und stützt ihre Arme auf die Oberschenkel. „Die natürlich nicht.“

„Natürlich nicht“, wiederhole ich und verdrehe die Augen. In ihrer Stimme lag so viel Ehrfurcht, wie man sie nur vor Daenerys Targaryen, der Mutter aller Drachen, haben sollte.

„Die haben jetzt Unterricht bei Mr Blackcrown“, meint Diana und ich lasse mich gegen die Holzlehne der Bank sinken.

Das habe ich ganz vergessen. „Also bedeutet das, dass sie komplett anderen Unterricht haben als wir?“

„Ja“, bestätigt Samira. „Sie sind super intelligent. Außerdem haben sie nicht nur ihre eigenen Lehrer, sondern auch andere Fächer und ihren eigenen Flügel. Manchmal habe ich das Gefühl, sie bereiten sich auf andere A-Levels vor.“

„Wie meinst du das?“

Samira spielt mit dem Saum ihres Pullovers und ich beuge mich näher zu ihr, da sie mit jedem Wort leiser geworden ist. „Ab und an sitzen sie in der Bibliothek zusammen und da ist mir aufgefallen, dass sie andere Schulbücher haben.“

„Vielleicht mussten sie die für einen Aufsatz lesen?“, vermute ich. Es fällt mir schwer, Samira zu glauben. Die Mädchen bewundern diese Clique viel zu sehr, um sie objektiv beurteilen zu können. „Habt ihr sie mal gefragt, wieso sie andere Kurse besuchen?“

Francesca zieht die Augenbrauen nach oben. „Sie gefragt?“

„Ja?“

„Nein, sie sondern sich ab“, erklärt sie. „Bleiben stets unter sich.“

Diana nickt und wendet den Blick nachdenklich ab. „Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, sie zu fragen?“

Sofort schüttelt Francesca den Kopf. „Ich nicht, dazu wirken sie zu … keine Ahnung, anders.“

„Geht mir genauso“, stimmt Samira zu und ich mustere sie ungläubig.

„Aber ihr sprecht schon mit ihnen, oder?“, frage ich lachend, doch es bleibt mir im Hals stecken, weil Samira den Blick senkt. Scheiße, was ist nur los mit diesen Mädchen? Derartige Schüchternheit gehört eigentlich verboten. Die Royals sind nur Menschen, selbst wenn sie sich durch ihre Intelligenz oder andere Merkmale von anderen abheben. Das macht sie keineswegs zu etwas Besserem.

Einige letzte Schüler strömen in die Kapelle und ich erkenne manche Gesichter aus dem Speisesaal wieder. Andere sind mir völlig unbekannt. Erin würde ich allerdings überall ausmachen. Ihr glockenhelles Lachen hallt durch den Saal und einen Augenblick habe ich das Gefühl, selbst das Gemäuer erschaudern zu sehen.

„Seid ihr nicht neugierig?“, hake ich nach, ungläubig, welchen Status die sechs Jugendlichen an diesem Internat haben. Beinahe habe ich das Gefühl, dass die Mädels sie verehren, als wären sie Götter oder wirklich königlichen Geblüts.

Francesca und Diana unterhalten sich mittlerweile über den neuen Lehrer, der Sport unterrichtet, und meine Frage geht an ihnen vorbei. Samira hingegen blickt mich forschend an. „Neugierig?“

„Ja, fragst du dich nie, wer sie sind, warum sie anderen Unterricht besuchen, woher sie kommen, was ihre Hobbys sind, welche Träume und Wünsche sie haben?“, sprudeln mir meine Gedanken über die Lippen.

Meine Zimmergenossin denkt einen Augenblick nach. Mittlerweile sind die Geräusche ohrenbetäubend laut. Am liebsten würde ich mich in eine ruhige dunkle Ecke zurückziehen und die Menschen, die mich einkesseln, hinter mir lassen. Stattdessen sage ich in Gedanken das Alphabet auf und beobachte die Mädchen, die mir gegenübersitzen, sauge jedes Detail in mich auf und lenke mich so ab. Minuten später, als ich schon nicht mehr damit rechne, antwortet Samira und ich beuge mich noch näher zu ihr, sodass unsere Köpfe fast zusammenstoßen. „Nein.“

Nein? Meint sie das ernst? Interessiert mustere ich Samira und plötzlich tritt das Stimmengewirr in den Hintergrund. Das Desinteresse der Mädchen verwirrt mich und mein ganzes Gehirn ist damit beschäftigt, die Worte zu entschlüsseln, ihnen Sinn zu geben und sie zu verstehen. Wie ist es möglich, dass diese Gruppe derart unbehelligt neben den anderen her lebt und sich keiner für ihren Sonderstatus zu interessieren scheint? Vor allem an einem Internat, an dem es sonst kaum Klatsch und Tratsch gibt. Bin ich die Einzige, die das seltsam findet? Aber hier scheinen die Rollen sowieso komplett vertauscht, denn an meiner alten Schule waren die hochbegabten Schüler genau das Gegenteil von den Royals. Sie wurden gemieden, nicht bewundert.

Eine Glocke erklingt, die Gespräche verstummen und die Schüler erheben sich synchron. Na ja, bis auf meine Wenigkeit, denn der Verhaltenscodex ist neu für mich. Peinlich berührt springe ich auf die Beine und verliere das Gleichgewicht. Samira stützt mich an meinem Ellbogen und ich lächle sie dankbar an. Plötzlich bin ich unglaublich aufgeregt und spüre meinen Herzschlag in den Ohren. Die Flügeltüren werden kraftvoll aufgestoßen und der Schulleiter kommt in einer wallenden Robe herein. Er schreitet den Mittelgang durch die Schülerscharen entlang und ihm folgt das gesamte Lehrerkollegium. Ich erblicke Mr Hendriks und Miss Henriette, beide blicken zu Boden, während sie ihrem Vordermann folgen. In den Händen halten sie Kerzen und nachdem sie sich im Altarbereich gesammelt haben, wird das Licht gedimmt. Der Schulleiter hebt die Arme und ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, was passiert. God Save the Queen hallt auf einmal durch das Gemäuer und alle Anwesenden singen die britische Hymne. Unsere Stimmen werden von den Steinmauern verstärkt und eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Die Akustik hier drin ist einmalig.

Danach bedeutet uns der Schulleiter durch das Senken seiner Arme, dass wir uns setzen können. Mit Sicherheit hat er heute Abend Muskelkater von der Pose, immerhin musste er schon mindestens drei Mal für die Dauer der Hymne mit erhobenen Armen dastehen.

„Willkommen zurück“, begrüßt der Schulleiter Higgins uns und Applaus wird laut. Ich zucke zusammen, doch meine Hände bleiben auf den Oberschenkeln. Zum einen bin ich überrascht von der Geste, da ich es nicht gewohnt bin, in einer Kirche zu klatschen, zum anderen freue ich mich einfach kein Stück. Viel lieber wäre ich jetzt zu Hause bei Mom und Dad und würde mich mit ihnen vor den Fernseher kuscheln und eine Folge Sherlock oder Doctor Who schauen. Leider ist das unmöglich. Tränen schießen mir in die Augen und ich blinzle sie weg. Wird dieses Gefühl, die Enge in der Brust, wenn ich an sie denke, jemals verschwinden? Oder wird es mein ständiger Begleiter sein? Ein Schatten auf meiner Seele, der jedes Ereignis zu verdunkeln vermag.

„Dieses Jahr wird anstrengend, eure A-Levels kommen näher. Arbeitet hart, konzentriert euch auf eure Zukunft, aber vergesst nie die wichtigen Dinge im Leben. Vertrauen, Zusammenhalt und Loyalität“, zählt der Rektor auf und ich sauge jedes Wort in mich, unterdrücke damit die Tränen und schiebe der Traurigkeit einen Riegel vor.

„Nutzt die Vergangenheit für eure Gegenwart und besiegelt mit ihr eure Zukunft“, fährt er fort und die Schwere seiner Worte legt sich auf meine Schultern. Sie sind zur Motivation gedacht, allerdings stimmen sie mich nachdenklich.

„Vergesst nicht, wo ihr herkommt, wo ihr seid und wo ihr hinwollt. Habt das Ziel ständig vor Augen und kämpft für euren Weg. Ihr könnt alles schaffen und jeder, der euch etwas anderes sagt, hat unrecht. Seid nett und freundlich, behandelt euer Gegenüber mit Respekt. Seid die Veränderung, die den Unterschied ausmacht. Einzigartig und wundervoll“, endet er und Jubel erfüllt die Kapelle. Seine kryptischen Worte scheinen ihre Wirkung zu erfüllen, und auch ich lasse mich mitreißen. Irgendwann werden Kerzen durch die Reihen gegeben und Samira reicht mir eine. Die Lehrer gehen durch den Mittelgang und entzünden in der vordersten Reihe die Dochte, dann drehen sich die Schüler um und das Feuer wandert so durch die ganze Kapelle, bis schließlich der gesamte Raum durch Kerzenlicht erhellt wird. Währenddessen erklingt die Melodie eines alten englischen Schlafliedes, das meine Großmutter mir früher vorgesungen hat, und wir erheben uns. Ich erinnere mich kaum noch an den Text, aber es spielt auch keine Rolle, denn Summen schwillt an und verleiht der ganzen Szene etwas Magisches. Wärme erfüllt mich und ich spüre, wie die Schüler zusammenrücken, bis wir alle Schulter an Schulter stehen. Leicht wiegen wir uns hin und her, verlieren uns in den Klängen und dem Schein des Feuers, spüren die Worte in uns, von denen der Schulleiter zuvor gesprochen hat: Vertrauen, Zusammenhalt und Loyalität. Die Eckpfeiler des Internats, die Grundsätze, nach denen hier gelebt wird. Und tatsächlich bin ich Teil des Ganzen, vervollständige das Gesamtbild zu etwas Großartigem und werde angenommen, so wie ich bin. Deswegen stimme ich in das Summen mit ein, lasse mich von dem Zusammenhalt mitreißen.

Nachdem das Lied geendet hat, werden die Kerzen ausgepustet und einige Sekunden ist es dunkel, bis das Licht angeht. Die Lehrer verlassen die Kapelle, trotzdem bleibt es im Inneren still. Wir hängen unseren Gedanken nach, sind weiterhin in dem Moment gefangen und keiner scheint bereit, ihn loszulassen. Vertrauen, Zusammenhalt und Loyalität, wiederhole ich abermals im Geiste. Ein schönes Motto – sollte es denn gelebt werden.

Dann setzen leise Gespräche ein und der Bann ist gebrochen.

Samira nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich aus der Bank in den Mittelgang. Dort hakt sie sich bei mir ein und legt einen Augenblick ihren Kopf an meine Schulter. „Ich liebe die Zeremonie.“

Zu mehr als einem Nicken bin ich nicht fähig, denn einerseits bin ich immer noch berauscht von dem Gefühl, das ich während der Worte des Schulleiters und dem Singen hatte, andererseits war es beängstigend, glich fast dem Ritual einer Sekte. Ich verdränge die schlechten Gedanken und genieße es, mich zugehörig zu fühlen. Doch das Gefühl bleibt mir nicht lang vergönnt.

Ich könnte sie verlieren, schießt es mir durch den Kopf und ich spanne die Muskeln an. Sie alle. Samira, Francesca und die anderen Mädchen, für die ich jetzt schon viel zu viel Sympathie hege.

„Kommst du mit in den Gemeinschaftsraum?“, fragt Francesca, während wir die Stufen zur Eingangshalle hinaufsteigen.

Ich schüttle den Kopf. „Zu müde. Das war ein aufregender Tag“, lüge ich und überlege, einen Spaziergang übers Gelände zu machen. Aber vermutlich verlaufe ich mich nur und finde dann weder den Weg zurück zum Internat, geschweige denn zum Mädchenflügel.

„Verstehe ich“, meint Diana verständnisvoll und die Lüge brennt in meinem Herzen. Die Wahrheit jedoch hätte die Mädchen nur verletzt und so schweige ich.

Wir trennen uns vor dem Gemeinschaftsraum und ich schlurfe zu meinem Zimmer, schnappe mir dort mein Handy und die Kopfhörer. Ich verbinde beides via Bluetooth und schmeiße mich aufs Bett. Wahrscheinlich sollte ich meine Uniform ausziehen und zusammenlegen, damit sie nicht zerknittert, denn die Wäsche muss ich selbst waschen. Das tue ich sowieso seit einigen Jahren, daher ist es kein Problem für mich, allerdings habe ich nur eine Wechselausrüstung und sollte daher pfleglich damit umgehen.

Ach, scheiß drauf. Was soll schon passieren? Ich werde wohl kaum vom Unterricht ausgeschlossen, nur weil meine Uniform zerknittert ist, oder?

Ich öffne Instagram, um mich abzulenken, scrolle durch die Posts meiner Freunde und bringe mich auf den neuesten Stand. Mittlerweile ertrage ich ihre Fotos und ihr Glück wieder. Vor einigen Wochen kochte mit jedem ihrer Grinsen die Wut in mir hoch. Womit habe ich den Tod meiner Eltern und das damit verbundene Leid verdient? Wieso dürfen sie lachen, während der Schmerz mich in meine Einzelteile zerlegt?

Darauf werde ich nie eine Antwort finden, denn es gibt keine.

Einem Impuls folgend mache ich ein Selfie von mir, will den Moment festhalten. Man sieht nur den unteren Teil meines Gesichts und das Schulwappen auf grünem Pullover. Zusammen mit meinem momentanen Lieblingssong von Alec Benjamin poste ich es in meiner Story.

Draußen wird es langsam dunkel und das helle Licht des Displays blendet mich. Deswegen sperre ich mein Smartphone, lege es zur Seite und tauche komplett in der Musik ab. Ich lasse mich tragen, schwelge in Erinnerungen und merke die Müdigkeit kaum.