Leseprobe Dem Himmel so nah

1. Laurie

Neujahr

Greenwich Village / Manhattan

Ein leises Brummen in ihrem Kopf erinnerte Laurie beim Aufwachen daran, dass der Champagner um Mitternacht zu köstlich gewesen war. Probeweise öffnete sie die Augen. Die strahlende Sonne über Manhattan hatte sich durch einen Spalt in den Vorhängen einen Weg ins Schlafzimmer gesucht und kitzelte jetzt ihre Nasenspitze. Laurie schloss die Augen wieder und tastete mit der Hand neben sich. Die andere Seite des Betts war noch warm aber leer. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Ryan, der Frühaufsteher. Selbst am Neujahrsmorgen hielt es ihn nicht lange im Bett. Laurie lauschte. In der Wohnung blieb alles still. Gedämpfte Straßengeräusche drangen von unten herauf. Sirenengeheul flammte auf, erlosch nach einiger Zeit wieder. Laurie kuschelte sich tiefer in die warme Decke. Es reichte auch aufzustehen, sobald der erste Kaffeeduft durch die Wohnung ziehen würde. Frühstück machen gehörte glücklicherweise zu Ryans Aufgaben. Bestimmt war er jetzt wie üblich laufen im Washington Square Park und würde anschließend beim Bäcker anhalten. Frische Croissants, Bagels, Orangensaft … Laurie hatte den Geschmack eines opulenten Frühstücks bereits auf der Zunge. Aber vorher wollte sie noch ein paar Minuten schlafen. Danach würde vielleicht auch das Brummen in ihrem Kopf verstummt sein. Sie hätte so vernünftig wie ihr Mann sein und nach dem ersten Glas aufhören sollen … egal, die guten Vorsätze fingen schließlich heute erst an. Sanft glitt sie zurück in eine Traumwelt.

 *** 

Sie war tiefer eingeschlafen, als sie es für möglich gehalten hatte. Wilde Traumszenen wechselten sich rasant ab. War sie eben noch mit tausend anderen auf dem Times Square unterwegs, mit Ryan dem neuen Jahr entgegenfiebernd, fand sie sich im nächsten Moment alleine in einer dunklen Seitenstraße wieder. Ohne Ryan, in ihrer Hand nur ein leeres Champagnerglas. Ein ungutes Gefühl ergriff Besitz von ihr. Wo war sie? Schon wechselte die Umgebung wieder. Eine urige Hütte, perfekt für einen romantischen Winterurlaub, wie sie ihn für das kommende Jahr in den Whiteface Mountains geplant hatten. Kerzenlicht spendete mattes Licht und ein Kamin sorgte für heimelige Wärme. Laurie lag in Ryans Armen auf dem Sofa und blickte in die züngelnden Flammen. Bis die Türklingel die friedliche Stille durchbrach.

„Nicht aufmachen. Wir sind einfach nicht da!“ Laurie lachte und drückte sich enger an ihren Mann.

Ryan nickte zustimmend und strich langsam mit seinen Lippen ihren Hals hinab. Die Schauer, die über ihren Rücken liefen, bestärkten Laurie darin, wen auch immer vor der Tür stehen zu lassen. Aber der Ankömmling blieb hartnäckig. Es klingelte erneut. Schließlich wurde anhaltend geklopft. Mit einem Ruck wachte Laurie auf. Mühsam setzte sie sich auf.

„Wieder den Schlüssel vergessen“, murmelte sie, während sie seufzend die Beine aus dem Bett schob. Das Brummen in ihrem Kopf war nicht leiser, sondern lauter geworden. Ihr fielen die drei Gläser Rotwein ein, die ihr Abendessen im Jim’s, ihrem Lieblings-Italiener in der MacDougal Street, abgerundet hatten. Heute würde es ausschließlich Wasser und Saft geben, so viel war klar.

Die Kälte des Parketts, auf das ihre nackten Füße traten, ließ sie erschauern. Sie war froh, im Flur über Teppich laufen zu können. Mit Schwung riss sie die Wohnungstür auf. Das Lächeln gefror auf ihren Lippen. Zwei uniformierte Polizisten blickten ihr entgegen.

„Ja?“ Auf Fremde war sie nicht eingestellt. Mit ihren zerzausten langen Haaren, bekleidet mit nichts als Ryans kariertem Hemd, das nicht einmal die Hälfte ihrer nackten Beine bedeckte, war sie sicher gewesen, ihrem Mann gegenüber zu stehen.

„Mrs. Parker?“ Der Ältere der beiden, der bestimmt dreißig Kilo mehr wog, als seinem Arzt recht sein konnte, sah sie ernst an.

Laurie nickte und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

„New York City Police Department. Ich bin Officer Blake, mein Kollege Officer Johnson. Dürfen wir hereinkommen?“

Verwirrt trat sie zurück und machte eine einladende Geste. Waren sie heute Nacht zu laut gewesen? Blödsinn, dann wären die Ordnungshüter Stunden früher gekommen … Laurie runzelte die Stirn und ging ins Wohnzimmer vor.

„Nehmen Sie ruhig schon Platz. Ich ziehe mir nur schnell etwas über.“ Laurie deutete auf die Sofaecke. Als sie kurz darauf in Ryans dunkelblauen Bademantel gehüllt wieder erschien, übernahm der Jüngere die Führung. Mit seinen fein gezeichneten Gesichtszügen, der schmächtigen Figur und den rötlichen Locken hätte man ihm viele Berufe zugetraut, ganz sicher aber nicht den des Polizisten.

„Mrs. Parker, bitte setzen Sie sich.“ Officer Johnsons Stimme war sanft und überraschend tief. Er deutete auf das Sofa.

Laurie sah ihn an, wollte etwas sagen, doch ihre Lippen schienen die Fähigkeit verloren zu haben, Worte zu formen. Stumm gehorchte sie. In ihrem Kopf herrschte eine eigenartige Leere. Wie ein Kind sank sie in die weichen Polster und starrte auf den Weihnachtsbaum in der Ecke neben den Fenstern. Ein Traum in Silber, Türkis und Blau. Ryan und sie waren sich bei den Farben sofort einig gewesen.

Die Polizisten setzten sich ebenfalls. Officer Blake direkt neben Laurie und Officer Johnson ließ sich auf dem Sessel gegenüber nieder.

„Es tut uns sehr leid, Mrs. Parker.“ Officer Johnson räusperte sich, bevor er weitersprach. „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann soeben einen tödlichen Verkehrsunfall erlitten hat.“ Er warf seinem Kollegen einen Blick zu.

„Das ist nicht möglich. Mein Mann ist gerade zum Bäcker gegangen. Er wird jeden Moment zurück sein.“ Was für ein schlechter Scherz am Neujahrsmorgen. Laurie begann zu frösteln. Wo blieb denn nur Ryan? Es wurde wirklich Zeit für einen heißen Kaffee.

„Mrs. Parker?“ Officer Blake berührte vorsichtig Lauries Arm. Verwundert blickte sie auf seine fleischigen Finger, die sich rot von dem dunkelblauen Stoff abhoben.

„Ihr Mann ist tot, Mrs. Parker. Haben Sie das verstanden?“

Was für ein seltsamer Jahresanfang. Da standen zwei komische Käuze in ihrer Wohnung und behaupteten, Ryan sei tot. Aus Lauries Kehle entstieg ein Lachen. Kein fröhliches Lachen. Eher eins, das sich hervorstiehlt in einer Situation, die weniger lustig als grotesk ist. Ryan tot! Was für eine absurde Vorstellung! Wieder ein Lachen, noch etwas lauter als das erste. Sie wippte mit den Zehen. Die rote Farbe auf den Nägeln mutete mit einem Mal seltsam an. Ihr Mund war trocken, sie schluckte mühsam.

„Mrs. Parker, können wir jemanden anrufen, der zu Ihnen kommt?“ Blakes Blick ruhte ernst und besorgt auf ihr. Sie spürte es, wollte ihn nicht ansehen. Auf keinen Fall wollte sie ihn ansehen. So lange sie die Wahrheit in seinen Augen nicht las, gab es sie nicht. Das Frösteln wurde stärker. Sie zitterte. Ihr Körper fühlte sich wie schockgefroren an.

„Mrs. Parker?“ Der Polizist verstärkte sanft den Druck auf ihrem Arm.

Sie presste die Lippen zusammen und hob zögernd den Kopf. Als sich ihr Blick mit dem von Officer Blake traf, brach ihre Welt zusammen. Nicht mit lautem Getöse, sondern still und gnadenlos. Ein erstickter Laut verließ ihren Mund.

Auf dem Tisch standen noch die Champagnerflasche und die leeren Gläser von letzter Nacht. Eines davon verschmiert mit dem Lippenstift im Ton dunkle Rose, eine satte bräunliche Farbe. Eins der Weihnachtsgeschenke von Mom. Passt hervorragend zu deinen dunklen Haaren, Liebes! Mom.

„Meine Mutter … anrufen …“, flüsterte Laurie. Die Uhr über der Anrichte zeigte 10 Uhr 30 an. Ryan war tot.

2. Laurie

„Liebling, soll ich dir einen Tee machen?“ Rose Cunningham war leichenblass und rieb unablässig ihre Perlenkette, die sie um den Hals trug.

„Ja, Mom, gerne.“ Laurie kauerte immer noch auf dem Sofa. Die Polizisten waren nach einem kurzen Gespräch mit Rose gegangen und diese hatte Laurie inzwischen in eine Wolldecke gehüllt. Gegen die Eiseskälte in ihrem Innern, die sie unkontrolliert zittern ließ, half sie nicht. Tee würde ebenso wenig helfen, aber wenigstens würde sie einen Moment nicht dem Anblick ihrer stetig umherwandernden Mutter ausgesetzt sein. Als Laurie alleine war, versuchte sie, das Chaos in ihrem Kopf zu entwirren. Es gelang ihr nicht. Die Gedanken schossen unkontrolliert umher, fassen konnte sie keinen davon. Viel zu schnell erschien Rose wieder im Türrahmen, in den Händen zwei dampfende Becher.

„Hier, Liebes.“ Sie stellte die Tassen auf dem Tisch ab, setzte sich neben Laurie und nahm deren Hände in ihre. „Schatz, eins musst du wissen: Du bist nie alleine, ich werde immer für dich da sein!“

Laurie schluckte, versuchte zu nicken, aber es war nur eine Andeutung. Die Worte kamen ihr seltsam bekannt vor, aber in ihrem Kopf war alles so durcheinander, dass sie sich nicht mehr an die entsprechende Situation erinnern konnte.

„Ach, Liebes.“ Rose streichelte sanft über Lauries Hand. In ihren blauen Augen standen Tränen.

„Vielleicht ist es ja doch ein Irrtum.“ Lauries Stimme klang wie ein Hauch. „Und es war gar nicht Ryan, der diesen Unfall hatte …“

„Aber er hatte seinen Ausweis dabei …“

„Typisch Ryan, nimmt seinen Ausweis sogar zum Brötchenkaufen mit.“ Sie legte beide Hände um den heißen Teebecher und starrte durch das Fenster nach draußen.

Eine Träne löste sich aus Roses Auge.

„Vielleicht hat er sein Portemonnaie verloren. Oder er wurde bestohlen.“ Die leise Hoffnung legte sich wie Balsam auf den scharfen Schmerz, der Lauries Inneres zerschnitt.

„Liebling, Ryan ist tot.“ Die Endgültigkeit, die in den Worten ihrer Mutter lag, fegte den Balsam mit einer Stahlbürste weg. Und plötzlich wusste Laurie wieder, wo sie die Worte schon einmal gehört hatte. Du bist nie alleine, ich werde immer für dich da sein!

Es waren ihre eigenen gewesen. Damals. Als Dad fortgegangen war und sie versucht hatte, Mom zu trösten. Es war ihr ebenso wenig gelungen wie ihrer Mutter heute.

3. Ryan

Vorhimmel

Verwirrt sah Ryan sich um. Er blickte über einen menschenleeren Strand. Das Meer vor ihm lockte mit intensivem Türkis und einer spiegelglatten Oberfläche. Unter anderen Umständen wäre er sofort hineingesprungen. Aber er war nicht im Urlaub, da war er sicher. Und so galt sein Verlangen weniger einer Schwimmeinlage als vielmehr einer Erklärung für das, was mit ihm passiert war. Denn irgendetwas war mit ihm passiert. Sein Gedächtnis hatte ihn noch nie so im Stich gelassen. War er ausnahmsweise komplett betrunken gewesen? Filmriss? Er schüttelte den Kopf. Möglich war es, aber er glaubte nicht daran. Dann sah er nachdenklich an sich herunter. Er trug seine Laufkleidung: Schwarzweißes langärmliges T-Shirt, seine winddichte und atmungsaktive Jacke, eine schwarze Jogginghose und Turnschuhe. Falls er einen Kater gehabt hätte, wäre er sicher nicht laufen gegangen. Wieder schüttelte er den Kopf. Verdammt, was war geschehen? Und dann kam die Antwort. Die herrliche Silvesternacht mit Laurie. Der nächste Morgen, Laurie schlief noch, vermutlich leicht verkatert. Er wollte erst seine Morgenrunde drehen und anschließend Brötchen kaufen gehen. Für ein stundenlanges Frühstück mit Laurie im Bett. Einen Moment lang fühlte er wieder die Vorfreude darauf. Doch soweit war es nicht gekommen. Er hörte Bremsen in einem grässlichen Ton quietschen, sah einen weißen SUV wie ein Mammut vor sich aufragen. Beinahe im selben Moment hatte ihn das Mammut mit einem heftigen Schlag zu Boden geworfen. Er erinnerte sich an einen brennenden Schmerz, der aber so kurz aufflammte, dass er nicht der Rede wert war. Und dann? Nichts … Danach hatte er keine Erinnerung mehr. Zwischen dem Auftauchen des Mammuts und seiner Ankunft am Traumstrand klaffte eine Lücke. Ryan rieb sich über die Augen. Einem Impuls folgend tastete er seinen Brustkorb ab. Kein Schmerz. Entweder war der Aufprall des SUVs doch nicht so heftig gewesen oder … ganz langsam tauchte ein Gedanke auf. So ungeheuerlich und bizarr, dass er erneut den Kopf schüttelte. Nein, konnte es sein, dass er … tot war? Ausgeschlossen! Laurie wartete auf ihr Frühstück. Er musste dringend zum Bäcker. Sein Blick irrte von links nach rechts. Verdammt, wo war er? Eine paradiesische Kulisse, trotzdem fühlte er sich eher wie ein Gefangener der Hölle. Abgeschnitten von allem, was sein Leben ausmachte. Er wollte zurück nach Hause. Sofort! Zurück nach Greenwich Village, zu dem Platz, an den er gehörte. Dorthin, wo Laurie auf ihn wartete …

Er seufzte frustriert.

Einen Augenblick später lüftete sein Gedächtnis den letzten Teil seiner jüngsten Vergangenheit.

Nur einen Sekundenbruchteil, nachdem das Mammut ihn zu Boden gestreckt hatte, hatte er die Szene aus einer anderen Perspektive wahrgenommen. Erstaunt hatte er seinen verrenkten Körper auf der 8th. Street liegen sehen. Die weizenblonden Haare waren vom Blut dunkel gefärbt und seine weiße Jacke eindeutig für alle Zeit ruiniert gewesen. Vom Eingang des Bäckers hatten ihn nur wenige Meter getrennt.

Rasch hatte sich eine aufgeregte Menschentraube um seinen lädierten Körper gebildet. Eine Frau hatte geschrien. Er wollte die Passanten beruhigen, ihnen sagen, dass es alles nicht so schlimm sei, wie es aussähe und dass es ihm gut gehe. Aber er hatte schnell gemerkt, dass sie ihn weder hören noch sehen konnten. Mit dieser Erkenntnis hatte sich Panik in ihm ausgebreitet. Hilfe suchend hatte er sich umgesehen. Bis sein Blick auf eine junge Frau in einem weiß-goldenen Kleid mit wallenden rotgoldenen Haaren getroffen war. Sie war die Einzige gewesen, die ihn ansah. Also wirklich ihn. Verloren und unsichtbar, wie er gerade war. Ihn, nicht seinen armen geschundenen Körper, der auf dem Asphalt lag. Zögernd hatte er einen Arm gehoben und war auf sie zugegangen.

„Hallo Ryan. Du musst jetzt leider mit mir mitkommen. Alles Weitere erkläre ich dir später …“

Er war so perplex gewesen, dass er stumm gehorcht hatte. Vielleicht hätte er sich zu diesem Zeitpunkt schon weigern müssen. Aber er hatte das Gefühl gehabt, keine Wahl zu haben. Alleine, inmitten von unzähligen Menschen, mit denen er keinen Kontakt aufnehmen konnte, schien die einzige Option zu sein, dem rothaarigen Wesen zu folgen. Inzwischen war er da nicht mehr so sicher. Er hätte sich einfach weigern müssen und stattdessen zu Laurie gehen sollen. Sie hätte ihn bestimmt wahrgenommen. Wer, wenn nicht sie …

Ryan beschattete mit einer Hand seine Augen gegen die Sonne, die von einem wolkenlosen Himmel schien, und suchte den Strand nun gezielt ab. Wo war die kleine Person abgeblieben, die ihn hergebracht hatte?

„Hi!“ Sie stand direkt neben ihm. Ein sanfter Duft nach Vanille und Zimt stieg Ryan in die Nase. Verblüfft drehte er sich in ihre Richtung.

„Ich bin übrigens Ava.“ Saphirblaue Augen strahlten ihn an.

„Ryan.“ Er nickte und sah sie forschend an.

Sie lachte ein glockenhelles Lachen. „Ich weiß. Schließlich begleite ich dich schon seit deiner Geburt.“

„Aha.“ Ratlos musterte er sie.

„Ich bin dein Schutzengel!“ Sie stieß ihm eine winzige Faust in die Seite, begleitet von einem weiteren glockenhellen Lachen. Obwohl die Wucht erstaunlich stark war, spürte Ryan keinen Schmerz.

„Aha“, machte er wieder.

„Erinnerst du dich an das, was passiert ist?“

Zögernd nickte er.

„Weißt du, es ist einfach dumm gelaufen, aber Irrtümer passieren nun mal.“ Sie rollte vielsagend mit den Saphiraugen.

„Was soll das heißen, es war ein Irrtum?“ Ryan starrte sie an.

„Na ja, weißt du, niemand ist fehlerfrei. Selbst Schutzengel nicht.“ Die kleine Frau mit den wirren roten Haaren, die bis auf ihre Taille hinab fielen, rang nervös die Hände. „Es tut mir sehr leid, aber in letzter Zeit war es bei mir ein bisschen stressig. Da ist es nicht einfach, alles immer exakt so zu berechnen, dass alles nach Plan verläuft. Außerdem war da dieser Stand mit den Schokomuffins. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du ausgerechnet in dem Moment über die Straße rennst, während ich beschäftigt bin …“

„Also sollte ich eigentlich noch gar nicht sterben?“ Er sah sie ungläubig an. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Verwirrung, Angst und Wut bildeten ein Potpourri aus Gefühlen, das ihn schwindelig machte.

Ava schüttelte den Kopf und starrte schuldbewusst auf ihre Füße, die in goldenen Stiefeln mit Plateauabsätzen steckten. Dann hob sie den Kopf wieder und breitete die Arme zur Seite, ihre Handflächen zeigten nach oben. „Aber schau doch mal, das, was jetzt auf dich wartet, ist so viel besser als jedes Erdenleben es je sein könnte.“ Sie setzte ein Lächeln auf, das so strahlend war, dass Ryan geblendet zurückwich.

„Danke, aber ich würde lieber mein Leben behalten.“ Er stemmte die Hände in die Hüften. „Weißt du, Ava, ich kenne es so, dass man Fehler, die man gemacht hat, wieder in Ordnung bringt.“

„Na ja, das würde ich ja gerne, aber das ist leider vollkommen unmöglich.“ Das Strahlen erlosch und ihre Unterlippe begann zu zittern.

Fast schon tat sie Ryan leid. Jetzt glitzerten auch noch Tränen in ihren Augen. Weinende Frauen hatten ihn schon immer überfordert. Arme Ava. Aber dann dachte er an Laurie. Sie würde auch weinen, wenn sie erfuhr, dass er nie mehr nach Hause käme. Laurie … Sein Hals schnürte sich zu, jedes Mitgefühl für Ava verflog. Er ballte die Hände zu Fäusten und fühlte sich hilflos wie noch nie. „Ich bin also gestorben, weil du deinen Job nicht richtig gemacht hast“, stellte er tonlos fest.

„Na ja …“ Sie kaute an ihrer Unterlippe und sah an ihm vorbei. Einen Moment blieb es still, bevor sie weitersprach. „Weißt du, es war nicht mal eine Minute, um die ich mich verschätzt hatte. Und wenn du Laurie noch einen Kuss gegeben hättest, wäre das alles nicht passiert.“

„Ach, jetzt bin ich auch noch Schuld an deinem Fehler? Na großartig!“ Am liebsten hätte Ryan sie geschüttelt. Aber sein einziger Wunsch würde sich dadurch auch nicht erfüllen. Wenn er seinem unfähigen Schutzengel glauben konnte, war es ausgeschlossen, dass er zurückkehren konnte in sein Leben mit Laurie. Er konnte nicht mehr nach Hause! Sein Atem wurde flach. Er konnte nicht mehr nach Hause … Der Gedanke war genauso absurd wie schrecklich. Er war 29 Jahre alt, seit drei Jahren glücklich verheiratet und nun … tot!

„Nein, natürlich nicht.“ Avas Stimme war eine Mischung aus kleinlaut und trotzig. „Aber weißt du, man muss auch verzeihen können. Na ja, hier hast du jede Menge Zeit, es zu lernen, bevor ich dich ganz oben abliefere.“

„Was heißt ganz oben abliefern? Wo sind wir denn jetzt?“, fragte er misstrauisch.

„Hier bist du im Vorhimmel. Da stranden alle erstmal, deren Reise … nun, sagen wir mal, nicht ganz reibungslos verlaufen ist.“

„Präzisiere nicht ganz reibungslos.“ Zwischen Ryans Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Er musterte das engelhafte Wesen neben sich. Ihre porzellanweiße Haut schimmerte seidig. Wenn sie nicht für den ganzen Schlamassel verantwortlich wäre, könnte er zugeben, dass er noch nie eine schönere Frau gesehen hatte. Laurie einmal ausgenommen.

„Also jedenfalls bist du noch hier, weil du von hier noch gewisse Dinge tun könntest, die oben nicht mehr gehen.“

„Die da wären?“

„Nun ja, unter Umständen könntest du Lauries Leben beeinflussen, sie vielleicht sogar noch einmal besuchen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.“ Ava kaute wieder an ihrer Unterlippe.

„Und ob das eine gute Idee ist! Lass uns sofort los! Worauf wartest du?“

„Oh, nur keine übereilten Handlungen. Wir denken beide noch einmal darüber nach und dann entscheiden wir in aller Ruhe.“ Ihre Stimme war sanft wie die Meeresbrise, die um sein Gesicht strich.

„Und wenn ich nicht nachdenken will?“ Das Verlangen, sie zu schütteln wallte wieder in ihm auf, diesmal heftiger.

„Dann ändert das auch nichts. Ich denke jedenfalls nach. Da vorne ist übrigens deine Hütte.“ Sie deutete nach links. Tatsächlich, da wo eben nichts als weißer Sandstrand zu erkennen gewesen war, stand nun in der Ferne eine kleine Holzhütte. Bevor er etwas sagen konnte, sprach sie schon weiter. „Nur provisorisch erstmal, ich hatte ja nicht viel Zeit, sie einzurichten, aber fürs Erste dürfte es reichen. Im Schrank findest du die gleichen Klamotten, die du auch auf der Erde besessen hast. Bis morgen. Schlaf gut!“

„Aber …“ Weiter kam er nicht, da stand er schon alleine in der traumhaften Urlaubskulisse, die einfach nicht mit seinen Gefühlen zusammen passen mochte.