Leseprobe Dem Adel auf der Spur

Kapitel 1

Castle Rannoch

Perthshire, Schottland

14. Dezember 1933

Wetter: kalt, grau, trüb.

Stimmung vor Ort: kalt, grau, trüb.

Aussichten: kalt, grau, trüb. Heute keine gute Laune. Warum wohl? Könnte es damit zu tun haben, dass Weihnachten vor der Tür steht und ganz grauenvoll werden wird?

Ach, Weihnachten: Maroni wurden geröstet, Christscheite knisterten fröhlich im Kamin, Tische bogen sich unter der Last von Gänsebraten, Truthahn, Pasteten und brennendem Plumpudding, es gab Weihnachtslieder und Mistelzweige und man war wohlwollend gegenüber seinen Mitmenschen. Ich war mir sicher, dass es britische Häuser gab, in denen dies trotz der Wirtschaftskrise gelebt wurde – allerdings nicht auf Castle Rannoch, im öden schottischen Moor, wo ich in diesem Augenblick den Winter über festsaß. Nein, ich war weder eine Gefangene noch war ich eingeschneit. Ich war Lady Georgiana Rannoch, die Schwester des gegenwärtigen Dukes, und dieses triste Schloss war der Wohnsitz meiner Familie.

Castle Rannoch festlich zu schmücken war ein aussichtsloses Unterfangen, selbst wenn man es versucht hätte. Erstens war es unmöglich, diese großen höhlenartigen Räume zu heizen, egal, wie viele Holzscheite man ins Feuer legte, und zweitens war meine Schwägerin Hilda, die Duchess von Rannoch, gemeinhin Fig genannt, gerade auf strengem Sparkurs. Die Zeiten wären hart, meinte sie. Die Wirtschaftskrise hielte das Land fest im Griff und es läge an uns, mit gutem Beispiel voranzugehen und uns in Bescheidenheit zu üben. Es war sogar so ernst, dass wir Baked Beans auf Toast als herzhaftes Häppchen nach dem Dinner ertragen mussten.

Wir Rannochs durchlebten tatsächlich schwere Zeiten, obwohl wir mit der Königsfamilie verwandt waren und mein Bruder sowohl Castle Rannoch als auch ein Londoner Stadthaus in Belgravia geerbt hatte. Ihr müsst wissen, dass unser Vater sein Vermögen bis auf den letzten Pence beim großen Börsenkrach von ’29 verloren hatte, dann ins Moor gegangen war und sich erschossen hatte, woraufhin der arme Binky auf horrenden Erbschaftssteuern sitzengeblieben war. Mein Unterhalt war an meinem einundzwanzigsten Geburtstag eingestellt worden und seitdem versuchte ich mehr schlecht als recht mich durchzuschlagen. Unsere Lage war natürlich nicht mit der der armen Menschen in den Schlangen vor den Suppenküchen vergleichbar. Ich könnte reich heiraten, einen dieser kinn- und rückgratlosen, halbverblödeten europäischen Prinzen, oder, falls mir das nicht gelang, die Kammerzofe einer ältlichen Tante der Königsfamilie werden.

Bisher hatte ich mich für nichts davon entschieden, aber während Weihnachten näher rückte und der Wind durch die Korridore von Castle Rannoch pfiff, kamen mir diese Optionen rosiger vor als meine gegenwärtige Lage. Ihr fragt euch vielleicht, warum ich in einer so trostlosen Umgebung verweilte. Es hatte mit dem berühmten Pflichtbewusstsein der Rannochs zu tun, das mir von Geburt an eingetrichtert worden war. Wir waren mit Geschichten über Vorfahren wie Robert Bruce Rannoch großgeworden, der weitergekämpft hatte, nachdem ihm im Kampf der Arm abgeschlagen worden war. Lediglich das Schwert hatte er von der rechten in die linke Hand genommen. Ich glaubte nicht, dass mein Pflichtbewusstsein es damit aufnehmen konnte, aber es war zweifellos vorhanden.

Im vergangenen Sommer hatte Fig nämlich einen zweiten kleinen Rannoch in London zur Welt gebracht. Obwohl sie dem Aussehen nach die Konstitution eines Ackergauls besaß, war sie ziemlich angeschlagen gewesen. Sie war nach Schottland heimgekehrt, um sich zu erholen, und hatte mich angefleht mitzukommen, damit ich ihr Gesellschaft leistete (was beweist, wie schlecht es um sie bestellt gewesen war). Gutherzige Seele, die ich war, hatte ich zugesagt.

Der Sommer war dem Herbst gewichen und der Besuch bei den königlichen Verwandten auf Balmoral stand an, es gab Hausgesellschaften und Moorhuhnjagden – wir hofften, all das würde Fig aufmuntern. Aber sie blieb träge und niedergeschlagen und zeigte kaum Interesse an der kleinen Adelaide – ja, so hatte sie das arme Kind genannt. Adelaide Gertrude Hermine Maude. Wie konnte man einem armen Säugling einen so monströsen Namen geben? Sie hatten sich noch nicht einmal einen guten Spitznamen ausgedacht. Man konnte sie schließlich nicht Addy oder Laidy nennen, nicht wahr? Denn dann wäre sie Lady Addy oder Lady Laidy, was einfach unpassend wäre. Bisher wurde sie „Baby“ oder manchmal „Kleines“ genannt.

Schließlich war ich geblieben. Das Kindermädchen kam bewundernswert mit der kleinen Adelaide zurecht, während Fig lustlos war und immer knauseriger und missmutiger wurde. Binky machte Wanderungen über das Anwesen und wirkte besorgt. Ich bezweifelte, dass ich das noch lange aushalten würde, als mir die Entscheidung abgenommen wurde. Figs Mutter, Lady Wormwood, traf ein und nahm sich der Sache an. Nach wenigen Augenblicken war mir klar, woher Figs Knauserigkeit und herrische Art stammten. Obwohl Fig anstrengend war, war sie verdammt noch mal nichts gegen Lady Wormwood. (Ja, ich wusste, dass eine Lady das Wort „verdammt“ nicht benutzen sollte, aber was Lady Wormwood anging, war das noch freundlich ausgedrückt. Leider war mein Vokabular begrenzt. Hätte ich derbere Wörter gekannt, hätte ich sie benutzt.)

Sie war bereits etwa eine Woche lang im Haus, als ich nach der Rückkehr von einem Spaziergang ihre schneidende Stimme vernahm. „Das ist ungesund, Hilda.“ (Da sie diesen grauenvollen Namen ausgesucht hatte, war sie der einzige Mensch, der Fig Hilda nannte.) „Es ist unnatürlich für ein junges Mädchen, sich so abzuschotten und den ganzen Tag nichts zu tun. Denkt sie kein bisschen an ihre Zukunft?“

Regungslos blieb ich in der Eingangshalle stehen, hinter einer Rüstung vor Blicken geschützt. Ich erwartete, dass Fig mich verteidigen und ihrer Mutter sagen würde, dass ich mich nur auf Castle Rannoch abschottete, weil sie mich angefleht hatte, bei ihr zu bleiben. Stattdessen hörte ich sie sagen: „Ich weiß wirklich nicht, was sie sich dabei denkt, Mummy.“

„Sie kann unmöglich erwarten, dass ihr sie weiterhin unterstützt. Ihr habt eure Pflicht mehr als erfüllt. Das Mädchen hatte schon seine Saison, nicht wahr?“ (Leute wie Lady Wormwood sprachen es „Määdchen“ aus.) „Warum ist sie nicht verheiratet? Sie sieht nicht schlecht aus. Sie hat Verbindungen zur Königsfamilie. Man würde meinen, jemand hätte sich ihrer inzwischen angenommen.“

„Sie hat schon Prinz Siegfried von Rumänien abgewiesen“, sagte Fig. „Ich glaube, sie hat keinerlei Pflichtgefühl. Die Königin hatte so auf diese Verbindung hingearbeitet. Seine Familie gehört nämlich zur Hohenzollern-Sigmaringen-Linie. Verwandt mit der Familie der Königin. Und Siegfried war ein so charmanter junger Mann. Aber sie hat ihm einen Korb gegeben.“

„Auf wen zum Teufel wartet sie – auf einen König?“, fragte Lady Wormwood mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Sie ist ja nicht gerade die nächste in der Thronfolge, was?“

Das stimmte. Bis zu Adelaides Geburt war ich die Vierunddreißigste gewesen. Jetzt war ich auf den fünfunddreißigsten Platz verwiesen worden.

Fig senkte ihre Stimme. „Unter uns gesagt hat sie ihr Herz an einen ehrlosen Kerl namens Darcy O’Mara verloren. Ein wirklich verdorbener Charakter.“

„O’Mara? Lord Kilhennys Sohn?“

„Genau der. Seiner Familie geht es noch schlechter als unserer. Wie man hört, war sein Vater gezwungen, den Familiensitz und seinen Rennstall zu verkaufen, um seine Schulden zu begleichen. In dieser Hinsicht ist also nichts zu erwarten. Dieser O’Mara hat weder Vermögen noch Karriereaussichten. Er wird sich nie eine Ehefrau leisten können.“

„Tja, sie würde ihn ohnehin nie heiraten dürfen, nicht wahr?“, schallte Lady Wormwoods Stimme durch die große Halle. „Er ist katholisch. Als Mitglied der Thronfolge ist es ihr verboten, einen Katholiken zu ehelichen.“

Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück, stieß gegen eine Ritterrüstung und schaffte es gerade noch, die Lanze zu fangen, bevor sie polternd zu Boden fiel. Mir war klar, dass das britische Gesetz der Königsfamilie verbot, jemanden zu heiraten, der katholisch war, aber das traf bestimmt nicht auf mich zu. Schließlich würde ich nicht eines schönen Tages Königin werden, es sei denn, eine besonders ansteckende Seuche bräche aus oder Nummer eins bis vierunddreißig fielen einem Angriff zum Opfer. Nicht, dass Darcy mir einen Antrag gemacht hätte. Um ehrlich zu sein passten wir nicht einmal in das traditionelle Bild eines Liebespaars. Wenn ich mit ihm zusammen war, schwebte ich wie auf Wolken, aber die meiste Zeit wusste ich nicht einmal, wo er sich aufhielt. Noch viel weniger wusste ich, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Scheinbar war er einer von vielen Lebemännern, der wie die meisten Söhne von Adligen sorglos in den Tag hinein lebte, aber ich hatte ihn im Verdacht, als eine Art Spion für die britische Regierung zu arbeiten. Ich hatte ihn mehrmals ausgefragt, aber er hatte stets geheimnisvoll geschwiegen. Als ich das letzte Mal von ihm gehört hatte, war er auf dem Weg nach Argentinien gewesen. Meine Kehle wurde eng.

„Man muss dieses Mädchen in seine Schranken weisen, Hilda.“ Lady Wormwood erhob wieder ihre Stimme. „Lass keinen Zweifel daran, dass von ihr erwartet wird, ihre Pflicht zu tun wie alle anderen auch. Schließlich hat keine von uns sehnsüchtig auf einen Kerl gewartet, der nicht infrage kam. Wir haben wie befohlen geheiratet und uns damit abgefunden. So eine dumme Idee, aus Liebe zu heiraten.“

„Moment mal, Mummy“, unterbrach Fig sie. „Ich mag Binky wirklich sehr gern, musst du wissen. In dieser Hinsicht habe ich großes Glück gehabt, wie ich finde.“

„Niemand behauptet, dass Liebe sich nicht später einstellen kann“, sagte Lady Wormwood. „Wenn ich mich recht entsinne, hast du sehr für den örtlichen Pfarrer geschwärmt, bis wir dich eines Besseren belehrt haben. Wirst du dem Mädchen also ins Gewissen reden, Hilda, oder soll ich es tun? Stell ihr ein Ultimatum – sag ihr, dass du sie nicht länger unterstützen kannst und es an ihr liegt, sich sofort einen Ehemann zu suchen.“

Ich hielt es keine Sekunde länger aus. Ich machte kehrt, öffnete die Eingangstür und trat hinaus, wo mich der Sturmwind, der sich während meines Spaziergangs zusammengebraut hatte, sofort mit voller Kraft traf. Es hatte zu schneien begonnen und Schneeregen, der sich wie Nadelstiche anfühlte, wehte mir entgegen. Er klebte an meinen Kleidern, meinen Haaren, meinen Augenbrauen, aber es kümmerte mich nicht. Ich lief, schneller und schneller, weg vom Haus und hinein in den Sturm. Beim Laufen konzentrierte ich mich auf meine Wut, um die Furcht fernzuhalten. Wie konnte sie es wagen! Castle Rannoch war das Zuhause meiner Vorfahren, nicht ihrer. Sie konnte mich nicht davonjagen. Und dann begann die Angst an mir zu nagen … Wohin würde ich gehen, wenn sie mich verstießen? Ich hatte schon wer weiß wie oft versucht, meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, aber da die Wirtschaftskrise die Welt in Atem hielt, fanden sich sogar Menschen mit Qualifikationen und Erfahrung in den Schlangen vor den Suppenküchen wieder. Und dann die größere Angst – die eigentliche Angst. Was, wenn ich Darcy nicht heiraten konnte? Wartete ich auf die Erfüllung eines unmöglichen Traums? Wäre es nicht besser, ich blickte den Tatsachen ins Auge?

Aus dem Schnee wurde ein Schneesturm, der mich in ein weißes Tuch hüllte und mir das Atmen erschwerte. Eine Sache stand immerhin fest – ich würde Fig und ihrer Mutter nicht den Gefallen tun, praktischerweise in einem Sturm ums Leben zu kommen. Ich kehrte um und bahnte mir einen Weg zurück zu dem dräuenden schwarzen Umriss des Schlosses. Da meine Anwesenheit nicht länger erwünscht war, würde ich nicht länger bleiben. Ich würde mein Dienstmädchen Queenie anweisen, meinen Koffer zu packen, und wir würden am nächsten Morgen nach London abreisen. Ich war ziemlich gut darin geworden, allein in unserem Londoner Haus zurechtzukommen. Dort war mein Großvater nicht weit und meine Freundin Belinda wusste immer von aufregenden Unternehmungen. Und vielleicht würde Darcy schon bald nach London zurückkehren. Es war an der Zeit, dass ich mein Leben wieder selbst in die Hand nahm.

Kapitel 2

Unser älterer Butler Hamilton begrüßte mich, als ich die Eingangshalle betrat. „Ich habe überall nach Ihnen gesucht, Mylady“, sagte er. „Ich hätte nicht erwartet, dass Sie bei diesem rauen Wetter ausgehen würden. Lassen Sie mich Ihnen aus dem Mantel helfen.“

Als erprobter Butler bemerkte er scheinbar nicht, dass sich um mich herum auf dem Fliesenboden eine große Lache geschmolzenen Schnees gebildet hatte. Stattdessen zog er mir mit geübten Handgriffen den Mantel aus. Auch fragte er mich nicht, was um alles in der Welt ich überhaupt während eines Schneesturms draußen verloren hatte. „Sie werden sich zweifellos aufwärmen wollen“, sagte er in dem munteren Tonfall, der charakteristisch für die Highlands war. „Wenn Sie in das Studierzimmer seiner Gnaden gehen, werde ich die Köchin anweisen, Ihnen sofort einen Kakao mit einem Schuss Brandy hochzuschicken.“

„Ins Studierzimmer meines Bruders?“

„Ja, Mylady. Sie werden am Telefon verlangt und ich glaube, am Apparat dort ist es ungestörter.“ Er schenkte mir die Andeutung eines wissenden Lächelns.

Mein Herz überschlug sich. Es war Darcy. Er war zurück in England und ich würde ihn wirklich bald wiedersehen. Mit undamenhafter Eile rannte ich durch die große Halle und das klackende Echo meiner Schritte klang ganz ähnlich wie einst, als Murdoch Jamie Rannoch sein Streitross ins Schloss hinein und die Treppe hinauf geritten hatte. Er war aus dem Krieg heimgekehrt, weil er das Gerücht gehört hatte, seine Frau sei mit dem Gutsverwalter ins Bett gegangen. Das Gerücht erwies sich als wahr und Murdoch Jamie entledigte sich der beiden an Ort und Stelle mit einem Hieb seines treuen Zweihänders. Wenn Liebe im Spiel war, konnten wir Rannochs ganz schön hitzköpfig werden.

Als ich den Hörer aufnahm, war ich so außer Atem, dass ich kaum ein „Hallo?“ hervorbrachte.

„Schätzchen, bist du es?“, ertönte eine weibliche Stimme.

Mein erster Gedanke galt meiner Freundin Belinda Warburton-Stoke, eine der wenigen Personen, die mich „Schätzchen“ nannten. Aber dann wurde mir klar, dass die Stimme tiefer, sanfter und verführerischer war, geschliffen von jahrelanger Bühnenerfahrung in London. „Mummy?“, antwortete ich. „Was ist passiert?“ In meinem mittellosen Umfeld benutzte man das Telefon nur für die schlimmsten Notfälle und es war Monate her, seit ich zuletzt mit meiner Mutter gesprochen hatte.

„Nichts ist passiert, Schätzchen“, sagte sie ungehalten. „Ich habe mich nur darauf gefreut, mit meinem einzigen Kind zu plaudern.“

„Woher rufst du an?“ Das Knistern einer Fernverbindung lag in der Leitung.

„Ich bin in London, Schätzchen, wo ich gehofft hatte, dich anzutreffen.“ Nun klang sie verärgert, als würde ich ihr absichtlich aus dem Weg gehen. „Was um Himmels willen treibst du um diese Jahreszeit oben in Schottland? Meine Güte, es muss trostlos sein.“

„Ziemlich“, gab ich ihr recht. „Ich habe Fig Gesellschaft geleistet.“

„Freiwillig?“ Sie klang entsetzt.

„Eher aus Pflichtgefühl, schätze ich“, meinte ich. „Sie ist furchtbar niedergeschlagen, seit sie das Kind zur Welt gebracht hat, und Binky hat mich angefleht, zu bleiben und sie aufzumuntern. Der Arme ist ziemlich überfordert mit ihrer Situation.“

„An seiner Stelle hätte ich sie schon längst von einer Klippe gestoßen“, sagte Mummy.

„Mummy, du bist furchtbar.“ Ich musste lachen. „Wie auch immer, ich hatte gehofft, dass es sie aufmuntern würde, über Weihnachten nach London zu fahren, aber du weißt ja, wie sie ist. Sie ist überzeugt davon, dass es günstiger wäre, in Schottland zu bleiben als das Londoner Haus herzurichten. Also sitzen wir hier oben fest. Aber wie geht es dir? Was bringt dich nach London? Ich dachte, du hättest vor, ein fröhliches deutsches Weihnachtsfest mit Max zu verbringen.“

„Max feiert ein fröhliches deutsches Weihnachtsfest, ich nicht“, sagte sie. „Er ist abgereist, um das Fest mit seinen alten Eltern in Berlin zu verbringen, und er hielt es für besser, wenn ich ihn nicht begleite, da sie sehr altmodisch sind und nichts von mir wissen.“

„Du liebes bisschen“, sagte ich. „Ich dachte, er wollte dich unbedingt heiraten.“

„Das will er immer noch“, sagte sie, „aber er hielt es nicht für den richtigen Zeitpunkt, mich auf seine alten Eltern loszulassen. Und um ehrlich zu sein finde ich es herrlich, Weihnachten zur Abwechslung einmal in England zu verbringen. Ich freue mich schon auf Weihnachtslieder, Christscheite, brennenden Plumpudding und Knallbonbons.“

Ein wunderbares Bild erschien vor meinem inneren Auge – Mummy und ich verbrachten Weihnachten mit allem Drum und Dran gemeinsam in einem eleganten Londoner Hotel mit traumhaftem Essen, glamourösen Partys, Gesellschaftsspielen …

„Bist du im Ritz?“, fragte ich.

„Im Brown’s, Schätzchen. Ich hatte ein unsägliches Verlangen danach, mich zur Abwechslung einmal schrecklich britisch zu geben, und sie sind so liebreizend und altmodisch. Außerdem haben sie bequemerweise vergessen, dass ich keine Duchess mehr bin, und es ist so angenehm, Euer Gnaden genannt zu werden.“

„Du warst diejenige, die Daddy verlassen hat“, rief ich ihr ins Gedächtnis. „Du könntest immer noch Euer Gnaden sein, wenn du wolltest.“

„Ja, aber das hätte bedeutet, die Hälfte des Jahres im scheußlichen schottischen Hochmoor zu verbringen, nicht? Ich wäre vor Langeweile gestorben. Wenigstens vergnüge ich mich jetzt.“

Mit vielen Männern auf allen sechs Kontinenten, wollte ich hinzufügen, ließ es aber sein. Meine Mutter wechselte ihre Männer je nach Laune und hatte meinen Vater für einen französischen Rennfahrer, einen argentinischen Polospieler, einen Bergsteiger, einen texanischen Ölmillionär und seit Neuestem einen deutschen Industriellen verlassen.

„Also wirst du Weihnachten im Brown’s Hotel verbringen? Oder wirst du vielleicht hoch nach Schottland fahren, um uns einen Besuch abzustatten?“ Natürlich erhoffte ich mir eine Einladung zu ihr nach London, aber mein Stolz ließ nicht zu, das direkt auszusprechen.

„Nach Schottland fahren? Im Winter? Schätzchen, ich mag dich wirklich sehr, aber keine zehn Pferde würden mich im Winter nach Castle Rannoch bringen. Vielleicht könntest du eine Visite in London machen, wenn ich im neuen Jahr zurückkomme. Dann gehen wir zusammen einkaufen und unternehmen Mädchendinge.“

„Zurückkommen? Ich dachte, du würdest Weihnachten in England verbringen?“

„Ja, Schätzchen, aber nicht in London. Lach nicht, aber ich bin auf dem Weg in ein Dorf, das ausgerechnet Tiddleton-under-Lovey heißt. Ist der Name nicht köstlich? Ich dachte, Noel hätte ihn erfunden, als er mir davon erzählte. Er klingt, als wäre er einem seiner Theaterstücke entsprungen, nicht wahr?“

„Noel? Du meinst Noel Coward?“

„Kennst du einen anderen Noel, Schätzchen? Weißt du noch, wie ich vor einer Weile erwähnte, dass er ein Stück schreiben wollte, in dem wir beide auftreten sollten? Tja, er verlangt, dass wir uns über Weihnachten zusammen verkriechen und an den Dialogen arbeiten. Stell dir vor, meine Wenigkeit in einem Theaterstück mit Noel. Einfach himmlisch. Natürlich wird er sich ins Scheinwerferlicht drängen und sich selbst die besten Zeilen zuschreiben, aber wen kümmert es?“

„Was meint Max dazu, dass du dich mit einem anderen Mann verkriechst?“

Sie lachte. „Darling, es ist kein anderer Mann. Es ist Noel.“

„Und deine Rückkehr auf die Bühne? Wird Max das gutheißen?“

„Max hat mir nichts zu sagen“, meinte sie leichthin. „Ich bin noch nicht Frau von Strohheim und außerdem möchte Max, dass ich alles tue, was mich glücklich macht. Und ich bin dem Theater zu lang ferngeblieben. Mein Publikum verzehrt sich immer noch nach mir.“

Darauf fiel mir keine Antwort ein, außer der Frage, wie eine Mutter mit so außergewöhnlichem Selbstbewusstsein eine so schüchterne und unbeholfene Tochter wie mich hervorgebracht haben konnte.

„Wo ist dieses Piddleton-under-Lovey?“, fragte ich.

Sie stieß ein weiteres glockenhelles Lachen aus. „Tiddleton, Schätzchen. Nicht Piddleton. In Devon. Am unteren Ende von Dartmoor, wie man hört. Noel hat es sicher seines Namens wegen ausgewählt. Du kennst ja seinen abgründigen Humor. Aber auch weil es in Country Life als eines der reizendsten und malerischsten Dörfer Englands beschrieben wurde. Er hat ein Reet-Cottage an der Dorfwiese gemietet und mir prasselndes Kaminfeuer, heißen Toddy und alle Freuden versprochen, die es auf dem Land gibt.“

„Das klingt herrlich.“ Ich gab mir Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen.

„Ich würde dich einladen, Schätzchen, aber es ist eigentlich ein Arbeitsausflug und Noel besteht darauf, dass wir uns nicht ablenken lassen. Er kann so zielstrebig sein, wenn er schöpferisch ist. Er ist in seiner Londoner Wohnung bereits fieberhaft an der Arbeit und hat natürlich mir alle Einzelheiten dieser Tiddleton-under-Lovey-Angelegenheit überlassen. Ich muss eine ordentliche Köchin auftreiben, die gute, altmodische englische Gerichte zubereiten kann. Wir brauchen außerdem jemanden, der sich um uns kümmert, was wahrscheinlich bedeutet, dass ich das Brown’s verlassen und vor ihm nach Devon reisen muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bedienstete, die ich in London einstelle, mitten im Winter nach Devon reisen möchten, du etwa?“

Hätte ich kochen können, hätte ich mich selbst dazu bereit erklärt. Aber da ich nur Toast, gekochtes Ei und Baked Beans im Repertoire hatte, glaubte ich nicht, dass ich in dieser Hinsicht zufriedenstellend wäre.

„Wie auch immer, ich muss los, Schätzchen“, unterbrach Mummy meinen Gedankengang. „Ich muss tausend Dinge erledigen. Soll ich die Verpflegung von Fortnum’s oder Harrods bestellen, was denkst du? Ich meine mich zu erinnern, dass ich letztes Mal von Harrods ziemlich enttäuscht war – sie hatten eine schreckliche bourgeoise Auswahl.“ (Und das sagte jemand, der in einem Haus mit vier Zimmern in Barking aufgewachsen war, wo Luxus bedeutet hatte, samstagabends eine Extraportion Bratkartoffeln zu essen.) „Hab ein schönes Weihnachtsfest, ja, meine Süße, hinterher treffen wir uns in London und ich lade dich auf einen wunderbaren Einkaufsbummel als Weihnachtsgeschenk ein. In Ordnung?“

Bevor ich mich verabschieden konnte, war die Leitung verstummt.

Kapitel 3

Noch immer auf Castle Rannoch

Schneesturm wütet weiterhin.

Als ich zum Dinner hinunterging, strahlte ich, wie ich hoffte, Selbstsicherheit und Unbekümmertheit aus. Ich würde mir vor Fig und ihrer Mutter nicht anmerken lassen, dass ich ihr Gespräch belauscht hatte.

„Grässlicher Tag“, sagte ich, als ich mich setzte. „Ist jemand von euch draußen gewesen?“

„Auf keinen Fall“, sagte Fig. „Nach allem, was ich durchgemacht habe, muss ich aufpassen, mich nicht zu erkälten.“

„Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, würde bei solchem Wetter nach draußen gehen“, fügte ihre Mutter hinzu.

„Ich bin wie üblich spazieren gegangen“, sagte Binky auf seine ihm eigene herzliche Art und bemerkte nicht, dass er gerade zugegeben hatte, seine fünf Sinne nicht beisammen zu haben. „Es war gar nicht so schlimm. Ziemlich starker Wind, aber um diese Jahreszeit muss man mit kräftigen Böen rechnen. Bist du etwa ausgeritten, Georgie?“

„Natürlich nicht. Ich würde Rob Roy dieses Wetter niemals zumuten, der Arme. Aber ich bin heute Nachmittag ein bisschen über das Anwesen gelaufen, bevor mich der Schneesturm beinahe begraben hat. Ein bisschen Bewegung ist notwendig, nicht wahr?“ Ich warf Fig einen raschen Seitenblick zu. Sie verzog das Gesicht. „Wisst ihr schon, wie wir Weihnachten verbringen werden?“, fuhr ich unbeschwert fort. „Glaubt ihr nicht, dass es in London lustiger wäre? Hier oben ist es so abgeschieden und niemand wird uns besuchen.“

„Im Gegenteil“, sagte Lady Wormwood, „wir erwarten unsere restliche Familie. Hildas Schwester Matilda, ihren Ehemann und ihre Tochter. Ich glaube, du hast sie bereits Anfang des Jahres in Frankreich kennengelernt.“

Oh Gott. Nicht Ducky, ihr lüsterner Ehemann Foggy und ihre schreckliche Tochter Maude!

„Vielleicht kannst du Maude wieder mit ihren Französischstunden helfen, während sie hier ist“, sagte Fig. „Ihr beide habt euch so gut verstanden, daran erinnere ich mich.“

Es war eher ein Fall von gegenseitiger Abneigung gewesen. Ich räusperte mich. „Oh, nun, ich glaube, ich werde doch nicht hier sein. Ich habe beschlossen, zum Londoner Haus zurückzukehren, wenn es euch nichts ausmacht. Dort gibt es Partys und Unternehmungen und ihr möchtet ja, dass ich einen passenden Kerl finde, nicht wahr?“

Die Stille, die meinen Worten folgte, hätte man mit einem Messer schneiden können. Sie wurde nur von dem Klirren des Silberlöffels gegen die Terrine durchbrochen, als der Lakai Suppe verteilte.

„Ich fürchte, das steht außer Frage, nicht wahr, Binky?“, sagte Fig.

„Tut es das?“ Binky, ahnungslos wie immer, sah von seiner Suppe auf. „Wenn Georgie das will, halte ich es für eine famose Idee. Ein junges Ding wie sie kann doch nicht auf Weihnachtspartys verzichten, was?“

„Binky!“ Figs Stimme bekam einen schneidenden Unterton. „Das haben wir doch schon besprochen, weißt du noch? Wir haben beschlossen, dass es viel zu teuer wäre, das Londoner Haus im Winter zu öffnen, auch wenn Georgie nur wenig Kohlen und Elektrizität verbrauchen würde. Also fürchte ich, dass du bei uns festsitzt, Georgiana, und du kannst dich zur Abwechslung einmal nützlich machen, indem du Maude unterhältst.“

Mit diesen Worten wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer schottischen Cock-a-leekie-Suppe zu.

Ich saß kochend vor Wut da, brachte aber kein Wort heraus. Ich wollte ihr in Erinnerung rufen, dass ich nur hergekommen war, weil sie mich darum gebeten hatte, ihr Gesellschaft zu leisten. Ich war allein auf Binkys Flehen hin so lang geblieben. Dafür, dass ich Fig monatelang ertragen hatte, waren sie mir gewiss etwas schuldig. Aber anscheinend war sie anderer Meinung. Rannoch House gehörte dem gegenwärtigen Duke und ich hatte keinen Anspruch mehr darauf. Eigentlich gehörte mir gar nichts. Ich fing an mich wie eine von Jane Austens Heldinnen zu fühlen. Ich saß in Schottland bei Verwandten fest, die mich nicht mochten und keinen Wert auf meine Anwesenheit legten. Um ehrlich zu sein konnte ich mir kein schlimmeres Weihnachtsfest vorstellen, aber mir fiel keine Fluchtmöglichkeit ein.

Dann kam mir eine wunderbare Idee. Ich würde meinen Großvater besuchen! Das würde für Aufregung sorgen. Der Vater meiner Mutter war nämlich ein Cockney-Polizist im Ruhestand, der in einem kleinen Reihenhaus in Essex lebte und Gartenzwerge im Vorgarten hatte. Während meiner Jugendjahre hatte man mir nicht erlaubt, ihn zu besuchen. Diese Jahre hatte ich inzwischen aufgeholt und liebte ihn innig.

Ich holte tief Luft. „Dann werde ich wohl bei meinem Großvater unterkommen, wenn mir das Londoner Haus nicht offensteht.“

Löffel klapperten. Jemand verschluckte sich.

„Deinem Großvater?“, sagte Lady Wormwood im selben Tonfall wie dereinst Lady Bracknell in dem Theaterstück von Oscar Wilde, als es um eine Handtasche gegangen war. „Ich dachte, dein Großvater wäre schon seit vielen Jahren tot.“

„Der Vater ihrer Mutter“, sagte Fig kühl.

„Oh, der Vater ihrer Mutter. Ich glaube, ich bin ihm nie begegnet.“

„Wie auch“, sagte Fig. „Er ist nicht … du weißt schon.“ Dann senkte sie ihre Stimme und murmelte: „NUKD.“ (Das war die Abkürzung der Oberschicht für „Nicht unsere Klasse, Darling“.)

Binky hatte rote Ohren bekommen. „Georgie, also wirklich. Dein Großvater ist ein netter alter Knabe und so weiter, aber das gehört sich einfach nicht. Wir haben das doch schon einmal besprochen. Du kannst nicht in einem Cottage in Essex wohnen. Denk daran, welche Schande das Ihren Majestäten bereiten würde, wenn die Presse es herausfände.“

„Man würde meinen, es wäre die Kasbah oder eine Lasterhöhle“, sagte ich hitzig. „Überhaupt, wie sollten sie es herausfinden? Die Klatschreporter sind mir nicht gerade auf den Fersen, eher meiner Mutter. Ich bin ein Niemand. Es kümmert keinen, ob ich im Belgrave Square oder in Essex wohne.“

Plötzlich spürte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen, aber ich würde mir nicht gestatten, in der Öffentlichkeit zu weinen. „Ich bin über einundzwanzig, also könnt ihr mich nicht davon abhalten zu tun, was ich will“, sagte ich. „Und wenn mein Verhalten Ihren Majestäten peinlich ist, können sie mir Unterhalt zahlen, damit ich nicht ständig als mittelloses Anhängsel leben muss.“

Damit stand ich auf und verließ den Speisesaal.

„Also wirklich, so hysterisch“, hörte ich Lady Wormwood sagen. „Schlägt offensichtlich nach ihrer Mutter. Schlechtes Blut.“

 

***

 

Ich war gerade auf dem oberen Treppenabsatz angelangt, als das Licht ausging. Auf Castle Rannoch war das nicht ungewöhnlich, da Elektrizität in dem jahrhundertealten Gebäude eine neue Erweiterung war und die Leitungen bei Stürmen stets umgeweht wurden. Daher gab es im ganzen Schloss Kerzen und Streichhölzer. Ich tastete mich die letzten beiden Stufen hinauf, dann an der Wand entlang, bis ich die erste Fensterbank erreichte. Dort befanden sich tatsächlich eine Kerze und Streichhölzer. Ich zündete die Kerze an und setzte meinen Weg fort. Draußen heulte der Wind wie eine Todesfee. Die Fenster klapperten, als ich vorbeiging. Ein Wandteppich bauschte sich auf und berührte mich, woraufhin ich nervös zusammenzuckte. Ich war in dieser Umgebung aufgewachsen und hatte Geschichten von Familiengespenstern, Ungeheuern und Poltergeistern gehört. Normalerweise machten sie mir nichts aus. Aber heute Nacht lagen meine Nerven blank.

Der Korridor erstreckte sich in endloser Dunkelheit vor und hinter mir. Meine Kerze flackerte und drohte alle paar Yards zu verlöschen. Nirgends gab es Anzeichen für andere lebendige Menschen, obwohl das Haus voller Bediensteter war. Mir ging auf, dass sie sich alle unten in den Tiefen des Dienstbotensaals beim Abendessen befinden mussten. Endlich erreichte ich die Tür zu meinem Zimmer. Als ich eintrat, blies ein starker Windstoß meine Kerze aus. Ich tastete mich zu meinem Bett vor, da ich wusste, dass auf dem Nachttisch weitere Streichhölzer lagen. Als ich eine Hand nach dem Bett ausstreckte, berührte ich kaltes, schlaffes Fleisch. Ich unterdrückte einen Schrei, als sich eine weiße Gestalt vor mir erhob, größer und größer wurde, bis sie das Zimmer ausfüllte.

„Was’n, verdammt nochmal?“, brummte eine Stimme.

„Queenie?“, rief ich und entzündete hastig meine Kerze. Vor mir stand mein Dienstmädchen mit zerzaustem Haar und schiefer Schlafkappe und blinzelte im Kerzenlicht.

„Menschenskinder, Miss“, sagte sie. „Haben Sie mich aber erschreckt. Hab’ mir fast ins Hemd gemacht.“

„Ich habe dich erschreckt?“ Ich versuchte, nicht allzu zittrig zu klingen. „Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich eine kalte Hand berührte anstatt meiner Daunendecke? Was hattest du in meinem Bett verloren?“

Immerhin besaß sie genug Anstand, etwas beschämt dreinzublicken. „Entschuldigung, Miss. Nachdem ich zu Abend gegessen hab’, bin ich raufgekommen, um Ihre Wärmflasche hinzulegen, und hab’ mich nur eine Minute hingesetzt, dann muss ich eingenickt sein.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass du dich nicht in mein Bett legen sollst, oder nicht?“, antwortete ich.

„Ich weiß. Und es war keine Absicht, ehrlich. Aber nach all dem Eintopf, den sie uns im Dienstbotensaal vorgesetzt haben, bin ich so schläfrig geworden. Ich könnte schwören, dass es drei Abende hintereinander Klöße mit Brühe gab.“

„Du solltest froh sein, dass du genug zu essen hast“, sagte ich und versuchte, wie eine Herrin zu klingen, die ihre Bedienstete in die Schranken wies. „Du hättest all die armen Schlucker in London sehen sollen. Sie standen für Suppe Schlange. Du hast eine Anstellung und ein Dach über dem Kopf, also solltest du dich mehr anstrengen, um sie zu behalten.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich geb’ mir doch Mühe, Miss“, sagte sie. „Ehrlich, das tu ich. Aber Sie wissen, dass ich dumm wie ein Stück Brot bin. Das war Ihnen klar, als Sie mich eingestellt haben.“

„Da hast du wohl recht“, seufzte ich. „Aber ich hatte die Hoffnung, du würdest dich mit der Zeit verbessern.“

„Hab’ ich mich etwa kein bisschen verbessert?“

„Du hast noch immer nicht gelernt, mich ‚Mylady‘ zu nennen, nicht ‚Miss‘“.

„Verdammich noch mal, das hab’ ich wirklich nich’.“ Sie kicherte. „Ich versuch’s, aber wenn ich überrumpelt werd’, entfällt es mir.“

Ich seufzte. „Was stelle ich nur mit dir an, Queenie? Meine Schwägerin piesackt mich jeden Tag, ich solle dich loswerden.“

„Bösartige Kuh“, murmelte Queenie.

„Queenie. Du sprichst von der Duchess von Rannoch.“

„Mir egal, wer sie ist, sie ist trotzdem eine bösartige Kuh“, sagte Queenie. „Und undankbar noch dazu, nach allem, was Sie für sie getan haben. Monatelang sind Sie hiergeblieben, weil sie Gesellschaft wollte, und jetzt fällt sie Ihnen so in den Rücken. An Ihrer Stelle würde ich abhauen, solange es geht, und sie allein lassen.“

„Das werde ich vielleicht tun“, sagte ich. „Kannst du eine weitere Kerze für mich suchen? Ich möchte einen Brief schreiben.“

„Klar wie Kloßbrühe, Miss“, sagte sie, sofort wieder munter gestimmt. „Ich werde eine aus ihrem Badezimmer holen – wollen wir sehen, wie es ihr gefällt, mitten in der Nacht im Dunkeln aufs stille Örtchen zu gehen.“

„Queenie, du bist unverbesserlich“, sagte ich und versuchte, mein Lachen zu unterdrücken. „Die Kerze auf meiner Kommode reicht völlig aus. Außerdem möchte ich, dass du mir morgen meinen Koffer vom Dachboden holst.“

„Wir reisen also wirklich ab?“

„Vielleicht. Aber ich möchte bereit sein, für alle Fälle.“

Nachdem die Kerze angezündet war, verließ Queenie den Raum.

Ich begann den Brief zu verfassen. Lieber Großvater …

Dann hielt ich inne, mein Stift mitten in der Luft. War es überhaupt in Ordnung ihn zu fragen, ob ich bei ihm wohnen konnte? Er besaß selbst nur wenig Geld und seine Gesundheit war in jüngster Zeit nicht die beste gewesen. In seinem letzten Brief hatte er mir geschrieben, dass seine Bronchitis zurückgekehrt war, die von dem Nebel über London verschlimmert wurde, der über die Marschenlandschaft nach Essex kroch. Ich machte mir große Sorgen um ihn. Wenigstens kümmerte sich Mrs Huggins, seine Nachbarin, um ihn und sorgte dafür, dass er etwas Ordentliches zu essen bekam. Ich wusste, dass sie sich in den Kopf gesetzt hatte ihn zu heiraten, aber ich war mir nicht sicher, ob er ihre Kochkünste lieber mochte als sie. Überhaupt …

Ich schnappte nach Luft, als mich ein Geistesblitz traf. Mir war ein wunderbarer Einfall gekommen, so wunderbar, dass ich mich kaum traute, den Gedanken zu formulieren. Mrs Huggins kochte gute, altmodische englische Gerichte und als ich einmal Bedienstete für eine Prinzessin auf Besuch gebraucht hatte, hatten sie und Großvater die Rolle der Haushälterin und des Butlers glänzend gespielt. Ich saß im Dunkeln und wartete, bis alle zu Bett gegangen waren. Dann schlich ich auf Zehenspitzen hinunter in Binkys Studierzimmer und nahm den Telefonhörer. Ich wusste, dass Fig einen Anfall bekommen würde, wenn sie wüsste, dass ich ein Ferngespräch führte, aber dieses Mal war es mir egal. Dies hier war wichtiger.

„Brown’s Hotel“, sagte die kultivierte Stimme am anderen Ende der Leitung, nachdem ich gefühlte Stunden darauf gewartet hatte, dass die Telefonisten die nötigen Verbindungen herstellten. Ich bat darum, die frühere Duchess von Rannoch zu sprechen.

„Ich kann Ihre Gnaden nicht zu so später Stunde stören“, sagte die Stimme streng. „Es wäre nicht ziemlich.“

Ich fragte mich, ob das eine höfliche Art war, mir mitzuteilen, dass meine Mutter nicht allein in ihrem Bett lag. Es wäre nicht das erste Mal. „Hier ist ihre Tochter, Lady Georgiana Rannoch, die in einer Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit anruft“, sagte ich. „Wenn Sie also bitte nachsehen könnten, ob Ihre Gnaden noch wach sind?“

Sofort wurde er unterwürfig. „Ja, ja, natürlich, Mylady. Bitte bleiben Sie am Apparat, ich versuche Sie zu verbinden.“

Ich wartete und dachte an die Minuten, die zu Figs Telefonrechnung addiert wurden. Endlich sagte eine verärgerte Stimme: „Georgie, Schätzchen? Was ist passiert?“

„Nichts ist passiert, Mummy, aber ich hatte gerade eine absolut geniale Idee für dich.“

„Ich habe tief und fest geschlafen“, sagte sie.

„Du wirst dich freuen, dass ich angerufen habe. Hör mal, du weißt doch, dass Großvaters Nachbarin Mrs Huggins gute Hausmannskost kocht“, sagte ich. „Ich dachte, du könntest sie und Großvater bitten, anzureisen und das Cottage in Tiddleton-under-Sonstwie für dich zu führen. Als ich diese deutsche Prinzessin beherbergen musste, waren sie mächtig gut darin, Butler und Köchin zu spielen.“

„Ich kann nicht von meinem eigenen Vater verlangen mich zu bedienen“, sagte sie. „Außerdem würde er sich niemals darauf einlassen. Er ist zu stolz.“

„Überzeuge ihn, Mummy. Ich weiß, dass du es kannst, wenn du es versuchst. Es wäre eine perfekte Lösung für euch beide. Du müsstest dich nicht nach passenden Bediensteten umsehen und Leute ins Haus lassen, die du nicht kennst. Ihm würden die frische Luft und das Landleben guttun. London ist im Winter so schlecht für seine Lunge.“

„Es würde die Dinge sehr vereinfachen, nicht? Und mir mehr Zeit zum Einkaufen verschaffen. Ich müsste es ihm richtig verkaufen, damit er das Gefühl hat, er ist ein Gast und kein Diener.“

„Du könntest vorschlagen, dass Mrs Huggins herkommt und für euch kocht, und sie würde natürlich nicht allein reisen wollen, daher schlägst du vor, sein Ticket zu bezahlen, damit er sie begleiten kann. Du kennst ihn doch. Er mag es nicht, untätig zu sein, also würde er das Feuerholz holen und solche Dinge, ohne dass man ihn darum bitten muss. Und dann stell ein Mädchen aus dem Ort ein, um zu putzen, und alles ist paletti, wie er sagen würde.“

Meine Mutter lachte ihr wunderbares glockenhelles Lachen, das die Theaterbesucher jahrelang verzaubert hatte. „Du bist inzwischen so gerissen wie ich, Schätzchen. In Ordnung, ich werde es tun. Und übrigens, rate mal, wen ich heute Abend gesehen habe, als er ins Café Royal ging? Niemand anderen als den köstlichen Darcy.“

„Darcy? Aber ich dachte, er wäre in Argentinien.“

„Offensichtlich nicht mehr. Ich bin mir sicher, dass er es war. Niemand sonst hat so ungebändigte schwarze Locken – so verführerisch.“

Ich wollte fragen, ob er allein gewesen war, aber ich traute mich nicht. „Dann gehe ich davon aus, bald von ihm zu hören“, sagte ich und versuchte, beiläufig und unbeeindruckt zu klingen, „obwohl er bestimmt nicht nach Schottland kommen wird. Fig behandelt ihn so furchtbar unhöflich.“

„Dann flüchte nach London und verabrede dich in einem Hotel mit ihm, Schätzchen. Du würdest himmlischen Spaß haben.“

„Mummy, so etwas solltest du deiner unverheirateten Tochter nicht vorschlagen. Außerdem, denk daran, was die Königsfamilie sagen würde, wenn das herauskäme.“

„Oh, vergiss die Königsfamilie“, sagte Mummy. „Es ist an der Zeit, dass du aufhörst anderen Leuten gefallen zu wollen und anfängst dein eigenes Leben zu führen. Das habe ich immer getan.“

 

***

 

Erst, als ich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt im Bett lag, um meine kalten Füße wiederzubeleben, wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich hatte mich dazu verdammt, Weihnachten mit Fig und ihrer Familie zu verbringen.