Leseprobe Das wilde Herz des Westens

PROLOG

Blut, überall war Blut. Briana Magee starrte in die toten Augen ihres Onkels Caiden, der mit einem Loch in der Brust vor ihr auf dem Holzfußboden lag. Sein Blick wirkte überrascht, so als ob er nicht glauben könnte, was mit ihm geschehen war. Briana bekam kaum Luft. Sie roch den Tod. Das metallische Aroma des Blutes legte sich auf ihre Schleimhäute und sie würgte trocken.

»Geh Pilze sammeln«, hatte Caiden zu ihr gesagt. Sie war nur eine Stunde fort gewesen.

Langsam öffnete Briana die Haustür ein Stückchen weiter. Sie ahnte bereits, was sie als Nächstes sehen würde. Der Korb mit den Pilzen fiel zu Boden und die Champignons und Lacktrichterlinge rollten in die Blutlache zu ihren Füßen. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Biddy!

Ihre Tante saß in dem Schaukelstuhl, den sie so geliebt hatte, aber sie lächelte nicht dabei. Vielmehr hing ihr Kopf in einem eigenartigen Winkel zur Seite und die bleichen Lippen enthüllten ihre Zunge. Ihre Brust war ebenfalls zerfetzt, das Blut hinter ihr an der Wand verteilt. Briana ging zu ihr. Fassungslos berührte sie die roten Locken ihrer Tante und strich ihr über die schmalen Schultern. Biddys Herz schlug nicht mehr, und für eine Sekunde setzte auch Brianas aus. Sie krallte sich in Biddys grünes Leinenkleid. »Wach auf!«

Der Kopf ihrer Tante rollte herum und Briana sprang zurück. Panik erfasste sie. Biddy und Caiden hatten ihr versprochen, sie niemals zu verlassen. Sie hatten Briana versichert, dass in Amerika ein neues, besseres Leben auf sie wartete. Doch nach nur einem Jahr war dieses Leben vorbei. Ausgelöscht. Das Versprechen versickerte mit ihrem Blut im Holzfußboden und ließ sie einsam zurück. Briana zitterte. Sie zerrte an ihren Haaren, keuchte und spürte heiße Tränen auf ihren Wangen. Obwohl sie es nicht wollte, konnte sie nicht anders, als auf ihre toten Verwandten zu starren. Heute Morgen waren sie noch alle gemeinsam am Frühstückstisch gesessen. Tante Biddy hatte Pfannkuchen gemacht und Onkel Caiden geschimpft, weil er unanständige irische Lieder gesungen hatte. Briana lachte und weinte gleichzeitig bei der Erinnerung daran. Ihr Schluchzen wurde immer hysterischer. Sie schlug sich ins Gesicht und wusste nicht, warum sie das tat. Vielleicht, weil sie sich von dem tauben Gefühl in ihrem Inneren ablenken wollte, vielleicht aber auch nur, um etwas zu tun. Irgendetwas.

Ihre Wangen glühten von ihren eigenen Schlägen, als sie mit einem Mal Stimmen hörte.

»Warum hast du das getan?«, fragte eine aufgebrachte Männerstimme.

»Ich schwöre, dass er etwas mit den Überfällen auf die Züge zu tun hat. Er hat’s geleugnet, aber ich wusste, dass er lügt. Diese verdammten irischen Katholiken nehmen uns nicht nur unsere Jobs weg, sondern bestehlen auch noch unseren Arbeitgeber! Du bist der Bahnhofsvorsteher, Elkanah, du musst verstehen, dass mir keine Wahl blieb. Der Vorarbeiter hat ihn mit diesem blauäugigen Iren aus Boston gesehen, diesem Henricks. Der holt seine Landsleute schiffsweise hierher und setzt sie für seine Zwecke ein!«

Briana lugte aus dem rückwärtigen Fenster mit der gesprungenen Scheibe. Sie sah zwei Männer, die die Gleise entlanggingen und auf ihre Hütte zuhielten. Einer war klein und stämmig, sein Gesicht wirkte zornig. Der andere überragte seinen Kameraden um mindestens zwei Köpfe. Er rieb sich aufgebracht sein bärtiges Kinn.

»Und wenn schon!« Briana hörte die Besorgnis in der Stimme des größeren Mannes. »Das ist Selbstjustiz!«

»Genau das ist es!« Der Kleinere ballte seine Hände zu Fäusten. »Liest du keine Zeitung? New York leidet unter dem irischen Mob! Sie tyrannisieren die Bevölkerung. Raubüberfälle, Taschendiebstähle, Schlägereien mit rivalisierenden Gangs. All das geht auf das Konto der verfluchten Iren. Wir brauchen dieses Gesindel hier nicht, Elkanah. Wir wissen doch alle selbst kaum, wie wir in Ellicott’s Mills überleben sollen! Eine Sägemühle nach der anderen stellt ihren Betrieb ein.«

»Seit wir die Bahnstation haben, geht es uns besser.«

Der Riss in der Scheibe zog sich durch die zwei sich nähernden Männer. Er schien sie zu trennen und ihre unterschiedlichen Ansichten zu untermalen. Ängstlich trat Briana einen Schritt zurück.

»Es ging uns gut, bis die B&O Railroad damit begann, Iren einzustellen. Dieser Henricks bringt einen stinkenden Paddy nach dem anderen in den Verladestationen unter. Ich sage dir, Elkanah, der Mob wird diese Stadt eines Tages überrennen, und dann gnade uns Gott!«

Der Angesprochene blieb stehen und packte seinen Kameraden am Hemdkragen. »Und deshalb bringst du eine Einwandererfamilie um? Sie haben uns nichts getan! Die Frau war Wäscherin im Patapsco Hotel.«

»Sie war eine dreckige Irin! Und ihr feiner Ehemann trug die Anstecknadel des Mobs.« Angewidert hielt der Kleine seinem Begleiter etwas unter die Nase. »Die teuflischen Kartoffelfresser machen bei allem gemeinsame Sache. Glaubst du etwa, sie hätten nur eine Sekunde gezögert, uns dasselbe anzutun? Dieser Henricks ist eine hinterhältige Ratte. Ich schwöre dir, dass er Stokes und Vaughn auf dem Gewissen hat.«

»Niemand kann beweisen, dass Henricks etwas mit den verschwundenen Kohlelieferungen zu tun hat.«

»Unsere Kollegen wurden hinterhältig erschlagen! Wann begreifst du das endlich? Denkst du, es ist Zufall, dass nur die Züge überfallen werden, die von den Iren beladen wurden? Die verschließen die Türen nicht richtig. Ich schwöre dir, Elkanah, da ist etwas im Gange, und ich werde mir das nicht länger mitansehen!«

Der groß gewachsene Mann schüttelte unwirsch den Kopf. Er betrachtete den Gegenstand, der ihm vors Gesicht gehalten wurde, und erwiderte: »All das rechtfertigt keinen Mord, Dave!«

»Es war kein Mord! Ich habe unsere Stadt beschützt. Und unsere Familien.«

»Willst du das jetzt mit jedem Iren in Ellicott’s Mills tun?«

»Wenn’s sein muss.« Der Mann namens Dave spuckte aus und warf den Gegenstand ins Gras. »Und du wirst mir dabei helfen, Elkanah! Du bist mein Schwager, und ich erwarte, dass du alles daransetzt, um meine Schwester und das Kind zu beschützen, das ihr noch geblieben ist. Iren haben in Ellicott’s Mills nichts verloren. Ebenso wenig wie Nigger.«

Elkanah blickte zur Hütte und Briana duckte sich instinktiv. »Sie hatten eine Tochter, weißt du das?«, hörte sie seine Stimme.

»Ich habe kein Kind gesehen. Und jetzt hilf mir, die Leichen der Kartoffelfresser wegzuschaffen.« Die Schritte kamen näher.

Briana sah sich um. Würden die beiden ihr dasselbe antun wie Biddy und Caiden? Für einen Augenblick wusste sie nicht, was sie tun sollte. Die Hütte, in der sie lebte, war winzig. Sie bestand nur aus einem einzigen Raum und stand direkt an den Gleisen, die in Richtung Ellicott’s Mills führten. Es gab keine Versteckmöglichkeiten und die Männer kamen immer näher. Briana registrierte die offen stehende Haustür und hastete gerade noch rechtzeitig hinaus, bevor sie ins Blickfeld der beiden Fremden geriet. Mit eingezogenem Kopf rannte sie um die Ecke, blieb stehen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Splitter der grob gezimmerten Holzbretter bohrten sich durch ihr Kleid. Briana lauschte.

»Allmächtiger!«, hörte sie den groß gewachsenen Mann aufstöhnen.

»Sie waren tot, ehe sie’s gemerkt haben.« Es klang, als wenn etwas über den Boden gezerrt wurde. »Der Kerl sieht dürr aus, aber er wiegt so viel wie eine gut genährte Sau. Pack mal mit an!«

Briana schloss die Augen. Das hatten Biddy und Caiden nicht verdient! Sie waren gute Menschen gewesen. Sie hatten ihr Hoffnung gegeben. Ein Heim. Etwas zu essen. Zwischen ihren Schmerz mischte sich Wut. Sie musste etwas tun! Bebend holte sie Atem, öffnete die Augen und stutzte. Ein Junge mit dreckigen Wangen pirschte um das Haus und blieb wie angewurzelt stehen, als er sie sah. In seinen hellen Haaren klebten Erdklumpen und er sah aus, als wäre er geradewegs aus einer Höhle gekrochen. Über seiner Schulter hing ein Gewehr, an dessen Kolben ein toter Hase baumelte. Misstrauisch sahen sie einander an.

»Wo willst du sie hinbringen?«, drang Elkanahs Stimme aus dem Inneren der Hütte.

»Wir legen sie auf die Gleise, Dummkopf. Der nächste Zug kommt in einer Viertelstunde. Der wird den Rest erledigen. Du als Bahnhofsvorsteher wirst ihren Selbstmord bezeugen. Bei dreckigen Iren wird keiner weiter nachfragen.«

Briana schüttelte den Kopf. Zögernd erst, dann immer heftiger. Das würde sie nicht zulassen!

In diesem Moment war der Junge auch schon bei ihr und hielt ihr die Hand vor den Mund. Er sprach kein Wort, aber seine braunen Augen sahen sie warnend an. Sie schüttelte weiterhin den Kopf und spürte, wie er sie mit sich fortzog. Sie wehrte sich, doch er war stark. Briana trat um sich, und als er die Hand von ihrem Mund nahm, schrie sie auf. Der Junge stieß ebenfalls einen erschreckten Laut aus und sie blieben stehen.

»Joseph!« Hinter ihnen waren die Männer aus der Hütte getreten. Briana drehte sich um und sah das Blut an ihren Händen.

»Mörder!«, rief sie, und die Tränen begannen erneut zu fließen.

Dave machte einen Schritt auf sie zu, doch Elkanah hielt ihn zurück. »Nicht das Kind!«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

»Wir können sie nicht gehen lassen!«, zischte dieser. »Sie wird zu Henricks rennen und uns verpfeifen. Das ist unser verdammtes Ende!«

»Nicht das Kind«, wiederholte Elkanah.

Briana spürte Daves feindseligen Blick auf sich. Sie wagte nicht, ihn zu erwidern.

»Was geht hier vor, Vater?« Der Junge, dessen Hand sie noch immer hielt, klang verunsichert.

»Was denkst du?«, murrte Dave. »Wir räumen auf, mein Sohn. Diese Leute waren Verbrecher.«

»Das waren sie nicht!« Brianas Stimme war schrill. »Sie haben niemandem etwas getan.«

»Ich werde dir dein gottloses Maul stopfen.« Dave machte einen Satz nach vorne. Elkanah griff nach seinem Arm, während sich der Junge beinahe zeitgleich schützend vor Briana stellte. Sie wich nicht zurück. Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah. In einer Viertelstunde würde der Zug aus Baltimore Biddy und Caiden zermalmen und sie würde mutterseelenallein in einem Land zurückbleiben, das ihr fremd war. Ein Land, das sie und ihre Landsleute hasste.

Dave warf die Arme in die Luft. »Dann mach mit ihr, was du willst.« Er ging zurück in die Hütte und rief: »Joseph! Hilf mir!«

Der Junge zögerte. Briana umklammerte seine Hand. Er war ihr einziger Halt inmitten des Schmerzes und sie spürte, dass sie ihm vertrauen konnte. »Lass nicht zu, dass er meinen Verwandten das antut«, flüsterte sie.

»Joseph!«

Der Junge zuckte zusammen, dann löste er sich von ihr. Ein letzter bekümmerter Blick, dann folgte er seinem Vater. Briana wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Trauer und Wut wurden von einem Gefühl der Leere abgelöst, und sie glaubte, diese Leere würde sie auffressen.

»Du brauchst keine Angst zu haben.« Elkanah sah sie an. Er hatte gütige Augen, aber er schien nicht zu verstehen, wie es in ihr aussah. Sie hatte keine Angst mehr. Sie kannte den Tod, war ihm selbst schon einmal näher gewesen als dem Leben, und bereits damals hatte sie ihn nicht gefürchtet. Im Gegenteil. Er wäre eine Erlösung gewesen. Ebenso wie in diesem Moment.

»Was ist jetzt?« Dave und sein Sohn zerrten Caiden aus der Hütte. Briana konnte nicht hinsehen.

»Ich werde das Mädchen mit nach Hause nehmen.«

Dave lachte spöttisch. »Du weißt, dass das eine dumme Idee ist.«

»Nicht dümmer als deine.« Elkanah wandte sich zum Gehen. »Ich werde kein Wort über die ganze Sache verlieren.«

»Das erwarte ich von dir. Sorg dafür, dass es diese Göre ebenfalls nicht tut.« Dave grunzte. »Du weißt, dass ich das einzig Richtige getan habe.«

»Schuldige zu richten obliegt allein Gott. Die Rache ist mein, sprach der Herr, ich will vergelten.« Elkanah ging auf Briana zu. »Ruf mich, wenn man die Leichen auf den Gleisen gefunden hat.«

»Was immer du sagst.« Dave wirkte amüsiert. »Tu was Gutes, lieber Schwager, aber wunder dich nicht, wenn du eines Tages am eigenen Leib erfährst, was Rache bedeutet.«

Elkanah ignorierte ihn und sah auf Briana hinunter. Vorsichtig nahm er ihre Hand und führte sie von der Hütte fort. Unfähig, sich zu wehren, stolperte sie hinter ihm her, den Blick weiterhin auf das Geschehen gerichtet. Der Junge hielt inne. Er wirkte betreten und ließ die Schultern hängen. Es war das Letzte, was Briana sah, bevor die Umrisse der Hütte verdeckten, was Schreckliches hinter ihr geschah.

»Hier.« Elkanah blieb stehen und hob etwas auf. »Das hat deinem Vater gehört, nicht wahr?« Er gab Briana die Anstecknadel mit der roten Hand. »Es war nicht richtig, was er getan hat. Daran soll dich dieses Symbol für immer erinnern.«

Sie presste die Lippen aufeinander, weil sie nicht verstand, weshalb es falsch war, eine Anstecknadel zu tragen. Alles an diesem Tag war unverständlich und schmerzhaft. Betäubt steckte sie die Nadel ein und folgte dem fremden Mann, der ihre Hand nicht losließ. Sie gingen die Schienen entlang, wichen nach einer Weile dem stampfenden Zug aus, der sie mit dem schrillen Pfeifton von den Gleisen scheuchte, und erreichten schließlich Ellicott’s Mills. Die kleine Stadt lag verschlafen in der herbstlichen Mittagssonne. Sägemühlen säumten den Patapsco River, und die Rauchschwaden, die noch in der Luft hingen, zeigten an, wo der Bahnhof lag. Pferdegespanne schleppten Baumstämme durch die Hauptstraße, die sich schnurgerade durch das Städtchen zog. Der Mann achtete darauf, dass sie ihnen auswichen, und Briana folgte ihm wie ein Hund an der Leine.

»Mein Name ist Elkanah Harrington«, brach er schließlich das Schweigen. Briana reagierte nicht. Die Leere in ihrem Inneren überlagerte ihr Denken, ihre Gefühle und ihre gesamte Wahrnehmung. »Ich habe eine Tochter, ihr Name ist Phoebe Ann und sie ist gerade erst acht Jahre alt geworden. Ihr werdet Freundinnen sein und du wirst ihr über den Verlust ihrer kleinen Schwester hinweghelfen.«

Briana sah auf ihre Schuhe, deren Spitzen abgeschabt waren. Weshalb dachte der Mann, dass ausgerechnet sie dazu geeignet war, Trost zu spenden?

»Wie ist dein Name, mein Kind?« Der Druck seiner Hand verstärkte sich. »Wenn ich dich meiner Tochter vorstelle, muss ich ihr deinen Namen nennen. Wie heißt du?«

»Briana«, erwiderte sie mechanisch, ohne ihn anzusehen. »Briana Magee.«

»Wie alt bist du?«

»Ich bin sieben, Sir.«

Sie gingen weiter, bis sie vor einem Haus standen, das sich versetzt hinter die vorderste Häuserreihe der Hauptstraße schmiegte. Es war weiß gestrichen und hatte graue Fensterläden, deren Farbe bei genauem Hinsehen abblätterte. Sie passierten den windschiefen Zaun, der das Grundstück umrahmte. Drei Stufen führten auf eine Veranda, auf der sich eine Schaukel in der leichten Vormittagsbrise bewegte. Sie stiegen hinauf und blieben vor der Haustür stehen.

»Ich werde mich um dich kümmern«, sagte Elkanah Harrington. »Ich werde dafür sorgen, dass es dir gut geht. Aber im Gegenzug musst du schweigen, versprichst du mir das? Du darfst niemals erwähnen, was heute geschehen ist. Nur dann werde ich mein Versprechen halten können.«

Briana konzentrierte sich darauf zu atmen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Sie schwieg. Der Mann hob ihr Kinn an und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Wir werden niemals wieder über deine Eltern reden, hast du verstanden?« Briana nickte. Das fiel ihr leicht. Biddy und Caiden waren nicht ihre Eltern gewesen. Elkanah schien erleichtert. »Du wirst in unserem Haushalt helfen und meiner Tochter eine Freundin sein. Dafür gebe ich dir ein Zuhause.« Als sie nicht reagierte, umfasste er ihr Kinn fester. Briana nickte erneut. Was blieb ihr schon für eine Wahl?

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. »Daddy!«

Briana erblickte ein Mädchen mit hellblonden Zöpfen und einem bonbonrosa Kleid. Sie hielt saure Drops in der Hand und machte Briana schlagartig bewusst, dass sie in einer anderen Welt angekommen war.

»Phoebe Ann.« Elkanahs Stimme veränderte sich merklich. Die Liebe, die er für seine Tochter empfand, war kaum zu überhören. »Ich habe dir eine Freundin mitgebracht. Ihr Name ist Briana. Sie wird ab heute bei uns wohnen und deiner Mutter im Haushalt zur Hand gehen.«

Phoebe musterte Briana ungeniert. Dann zog sie ihre Stupsnase kraus und schrie über ihre Schulter: »Mutter, komm schnell! Vater hat uns eine Hausangestellte mitgebracht.« Sie schob sich die Drops in den Mund und zog Briana mit sich. »Was für eine Freude an diesem langweiligen Sonntag!«

Ehe Briana sich’s versah, wurde sie ins obere Stockwerk gezerrt. Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit hielt sie jemand an der Hand. Sie kam sich wie eine hilflose Puppe vor, mit der umgesprungen wurde, wie es sich beliebte. Sie war gerade auf halbem Weg nach oben, als sie das erstaunte Gesicht einer blonden Frau erblickte. Ehe diese etwas sagen konnte, beugte sich Elkanah auch schon vertraulich zu ihr und die beiden verschwanden aus Brianas Blickfeld.

Phoebe Ann stieß eine Tür auf und ließ Brianas Hand los. Dieser blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Der Raum hatte Wandbespannung und Briana kam nicht umhin, die rosa-weiß gestreifte Tapete mit den Fingern zu berühren. Phoebe Ann wirbelte mit ausgestreckten Armen im Kreis herum. »Woher kommst du?«, rief sie und ließ sich auf den Stuhl neben ihrem Schreibtisch plumpsen.

Ein Schreibtisch. Briana wagte sich kaum zu bewegen. Ein Bett. Puppen, Malkreide, Vorhänge an den Fenstern, ein Glas voller Bonbons.

»Irland«, murmelte sie, bevor sie sich auf die Zunge biss. Elkanah hatte vergessen zu erwähnen, worüber sie außer dem heutigen Ereignis nicht sprechen durfte.

»Wie kamst du hierher?« Phoebes Augen leuchteten vor Neugier.

»Mit dem Schiff.«

»Über das Meer? Das war bestimmt aufregend.«

Briana nagte an ihrer Unterlippe. Sie nahm sich vor, nichts mehr zu sagen.

»Ich mag Cowboyromane.« Phoebe kicherte, sprang auf und zog einen Stapel Hefte unter ihrem Bett hervor. »Mutter und Vater mögen nicht, dass ich sie lese, aber mein Freund Toby bringt sie mir heimlich vorbei. Sie werden dir gefallen. Komm her!« Phoebe setzte sich auf ihr Bett und klopfte neben sich. »Ich lese dir vor.«

Immer noch überwältigt von dem Überfluss um sie herum, ging Briana zu ihr. Das Bett war weich. Es hatte eine richtige Matratze, und eine Patchwork-Decke schützte die empfindliche Bettwäsche. Briana strich sich den Schmutz aus ihrem Kleid.

»Nun setz dich endlich!« Phoebe schlug eines der Hefte auf.

Briana kletterte neben sie und Phoebe rutschte vertraulich zu ihr heran. Die plötzliche Nähe und die Freundlichkeit des Mädchens ließen Brianas Tränen erneut fließen.

»Oh!« Phoebe legte ihr den Arm um die Schulter. »Was grämt dich denn?«

Briana wollte es ihr erzählen. Sie wollte Phoebe anvertrauen, dass sie in einem Haus aufgewachsen war, das mit Grassoden anstatt mit Ziegeln gedeckt gewesen war. Dass sich alles klamm angefühlt hatte, weil Feuchtigkeit durch hastig aufeinandergeschichtete Steine drang. Sie wollte über den Schmutz und die Kälte reden, die ein schlecht gestampfter Boden mit sich brachte. Brianas Elternhaus war nichts weiter als eine bessere Hundehütte gewesen, ihr Vater nur der Pächter eines winzigen Stückes Land in der Provinz Connacht, auf dem er gerade so viel Getreide und Kartoffeln anbaute, dass seine Familie nicht verhungern musste. Sie besaßen vier Schafe und einige Hühner, die in kalten Nächten mit ihnen im Haus schliefen. Briana hatte sich das Bett mit ihren fünf älteren Brüdern teilen müssen. Alles, was sie kannte, war Hunger. Sie wuchs während der Missernten auf, als die Kartoffelfäule Tausende von Iren in die Hungersnot trieb. Viele starben, viele wanderten aus. Im Februar 1847, als mehr Schnee fiel als jemals zuvor, gingen alle von Brianas Brüdern nach Nordirland, um sich Arbeit zu suchen; auch Sean, der mit sieben Jahren der jüngste war. Briana sah keinen von ihnen je wieder. Sie blieb bei ihren Eltern und ihre letzte Erinnerung an sie waren ihre ausgemergelten Körper und eingefallenen Gesichter am Weihnachtstag 1849. Einen Tag später kam ihre Tante Biddy in einer Kutsche vorbei. Ein Wortgefecht entbrannte zwischen den Schwestern, an das sich Briana kaum noch erinnern konnte. Sie war zu schwach, zu ausgehungert.

»Gib wenigstens einem deiner Kinder eine Zukunft«, hatte Biddy gesagt. »Das Mädchen kann sich in seinem Zustand nicht einmal Arbeit suchen.«

»Du wirst schon sehen, was ihr davon habt, wenn ihr euch an Fremde verkauft«, hatte ihre Mutter entgegnet.

So war es weitergegangen, und am Ende war Briana mit Biddy und Caiden in die Kutsche gestiegen, während ihre Mutter bittere Tränen vergossen hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie die mehrwöchige Überfahrt auf dem katastrophal ausgestatteten Emigrantenschiff überhaupt überlebte. ›Sargschiffe‹ nannten sie die Amerikaner, weil in ihnen mehr Leichen in New York anlegten als Immigranten. Doch Biddy und Caiden hatten sich um sie gekümmert. Sie waren für sie da gewesen. All das wollte Briana Phoebe anvertrauen, einschließlich der Leichen ihrer Verwandten, die sie vor gerade einmal einer Stunde gefunden hatte. Aber sie schwieg, und die Bitterkeit ihres Geheimnisses lag ihr schwer auf der Zunge.

»Alles wird gut, du hast jetzt ein Zuhause«, sagte Phoebe, doch Briana ahnte tief in ihrem verwundeten Herzen, dass sie in diesem feindseligen Land niemals wieder ein Zuhause finden würde.