Leseprobe Das verlorene Herz des Earls

Prolog

SCHOTTLAND, 1817

„Gott steh uns bei, Mylady! Gewiss wartet eine Kreatur wie diese nur darauf, uns anzugreifen! Halten Sie es wirklich für klug, die Bestie zu füttern?“

Lady Phoebe Francesca Maitland ignorierte den übermäßig dramatischen Ausruf ihrer Kammerzofe, Sarah, und platzierte ein saftiges Stück Braten auf dem schneebedeckten Boden unweit der besagten Bestie. Es schien sich um einen großen Wolf mit schwarzgrauem Pelz zu handeln. Bislang waren ihr die stolzen Tiere nur in Märchenbüchern begegnet. Seine Augen waren feucht, als schimmerten Tränen darin, und obwohl er halb verhungert und gequält wirkte, fletschte er bedrohlich die Zähne.

Trotz der Kälte schlüpfte Phoebe aus ihrer dunkelgrünen Redingote, breitete sie auf dem Schnee aus und kniete sich darauf, um das im Unterholz kauernde Tier näher zu betrachten. Es starrte sie aus dunklen, misstrauischen Augen an. Vorsichtig schob sie ihm das Stück Braten zu, in der Hoffnung, es ließe sich dazu bewegen, etwas zu fressen. Obwohl es völlig abgemagert war, ignorierte es die saftige Köstlichkeit, die Sarah aus einem der Picknickkörbe geholt hatte.

„Bitte, friss doch etwas“, flüsterte sie. „Sei nicht so stur. Ich kann sehen, wie dir das Wasser im Maul zusammenläuft.“

Der stattliche Wolf winselte nur und verkroch sich noch tiefer in das Gestrüpp. War er vielleicht misshandelt worden? Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass dem nicht so war. „Warum willst du denn nichts fressen?“

„Die Person, die uns vorhin von jenem Hügel aus beobachtet hat, kommt näher, Mylady!“, rief Sarah beunruhigt.

Vor wenigen Minuten hatte sie Phoebe auf die Gestalt aufmerksam gemacht, die von einem nahe gelegenen Hang auf sie hinabstarrte. Da sie zunächst jedoch Abstand wahrte, war Phoebe nicht sonderlich besorgt gewesen. Außerdem befanden sich ein paar Lakaien in Rufweite, sollten sie in Schwierigkeiten geraten.

„Ist es ein Gentleman oder eine Lady, Sarah?“

„Das lässt sich noch nicht sagen, Mylady. Ich … Oh! Allem Anschein nach handelt es sich um eine junge Dame“, erwiderte ihre Zofe, während sie zögerlich ein paar Schritte in Richtung Phoebe und des Wolfs trat, als fürchtete sie nach wie vor, die Bestie könne ihr jeden Moment an die Gurgel springen. „Und sie steuert zweifellos auf uns zu.“

Sie hörte, wie jemand knirschend durch den Schnee stapfte.

„Sind Jeffers und Thomas noch in der Nähe?“, erkundigte sie sich. Die beiden Lakaien waren ihnen in diskretem Abstand gefolgt, nachdem sie die Kutsche verlassen hatten.

„Ja, Mylady.“

Die Schritte kamen hinter ihnen zum Stehen, doch Phoebe drehte sich nicht um.

„Lassen Sie ihn lieber in Ruhe“, sagte eine sanfte Stimme mit schottischem Akzent. „Der Hund hat jeglichen Lebenswillen verloren. Ich habe die letzten Tage über erfolglos versucht, ihn zu füttern.“

Ein Hund? Sie bog einige der schneebedeckten Zweige beiseite, um das Tier noch eingehender zu studieren. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es ein Halsband mit einer metallischen Erkennungsmarke trug. „Warum will er nicht mehr leben?“

„Weil sein Herrchen im Sterben liegt und er ihm scheinbar in den Tod folgen will.“ Die Unbekannte klang verwundert, allerdings auch ein wenig ungeduldig.

Phoebe ließ das Geäst los, erhob sich und wandte sich der jungen Frau zu. Sie konnte nicht älter als sechzehn sein und stand breitbeinig vor ihr, gekleidet in Hemd und Hose. Ihre prachtvollen, roten Locken fielen ihr wild über die Schultern. Unverwandt musterte sie Phoebe aus großen, grauen Augen.

„Der bevorstehende Tod des Hundebesitzers scheint Ihnen nicht sehr nahezugehen“, murmelte sie. Sie selbst hatte ihren geliebten älteren Bruder, Francis, vor wenigen Jahren verloren, doch der Schmerz saß immer noch tief. Oftmals lag sie im Garten ihres Familienanwesens in Derbyshire und schwelgte in Erinnerungen an sein herzliches Lachen, seinen vertrauten Duft und die innige Art, auf die er sie umarmte. Das Schweigen der jungen Dame ließ Phoebe schlussfolgern, dass sie sich in der Tat wenig um den im Sterben Liegenden scherte.

„Warum ist das arme Tier denn nicht an der Seite seines Herrchens?“

„Der Arzt hat es verboten“, erwiderte die Fremde knapp.

Phoebe musterte sie eingehend. „Wer sind Sie eigentlich?“

Das Mädchen stemmte eine Hand in die Hüfte und hob das Kinn. „Ich bin Caroline, Verwalterin von Glencairn Castle.“

Phoebe betrachtete sie voll Neugier. „Eine weibliche Verwalterin? Wie erfrischend modern!“

Caroline hob eine elegant geschwungene Braue. „In der Tat, und ich verrichte ausgezeichnete Arbeit, außer, was ihn betrifft“, seufzte sie. „Und wer sind Sie?“

„Lady Phoebe“, stellte sie sich mit einem höflichen Knicks vor. „Die Kutsche meiner Familie musste anhalten, weil es ein Problem mit der Radachse gab, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, um mir ein wenig die Beine zu vertreten.“

Nun bedachte Miss Caroline sie mit einem neugierigen Blick. „Dann sind Sie aber ziemlich weit gekommen, Mylady. Ich sehe nirgendwo Kutschen.“

Phoebe drehte den Kopf in östliche Richtung. „Offenbar habe ich meine Reisegesellschaft in einiger Ferne zurückgelassen.“ Die raue Schönheit des schottischen Hochlands hatte sie zu einem ausgedehnten Spaziergang beflügelt. Außerdem war sie bestrebt gewesen, der unablässigen Tirade ihrer Mutter zu entkommen. Phoebes Verlobung mit einem gewissen Earl stand kurz bevor, und ihre Einwände trafen auf heftige Kritik.

Ein leises Knurren erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie sich wieder dem Hund zuwandte, bemerkte sie, dass er sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte. Er erinnerte sie an Lord Benjamin, Francis’ ehemaligen Kater, der an jenem Tag verschwunden war, als sie ihren Bruder in der Familiengruft zu Grabe trugen. Wenn man Carolines Worten glauben durfte, quälte ihn das Leid seines Herrchens. Voller Mitgefühl betrachtete sie das arme Tier. „Wie heißt er denn?“

„Köter“, erwiderte Caroline.

Phoebe runzelte die Stirn. „Was für ein grauenhafter Name!“ Erschüttert sah sie die junge Frau an. „Macht sein Besitzer sich denn rein gar nichts aus ihm?“

Etwas Raues, Stürmisches blitzte in Carolines Augen auf, bevor ihre Miene wieder steinern wurde. „Vielleicht hat er auch einen richtigen Namen, aber ich habe mir nie die Mühe gemacht, ihn herauszufinden.“ Sie zuckte mit den Schultern.

Phoebes Brust verkrampfte sich schmerzhaft. „Warum … warum liegt sein Herrchen im Sterben?“

Nun spiegelte Carolines Gesicht unverhohlenen Kummer wider. „Weil er ein Narr ist!“ Sie zog ein gefaltetes Blatt Papier aus ihrer Manteltasche und drückte es Phoebe in die Hand. „Hier. Ich habe nach einer einfältigen Person gesucht, der ich das hier übergeben kann.“

Einfältig? Wie außerordentlich unhöflich!

Zu Phoebes Entsetzen drehte Caroline sich anschließend auf dem Absatz um und marschierte zurück den Hügel hinauf, in Richtung eines weit entfernt liegenden Herrenhauses. Hin und her gerissen zwischen Unmut und Belustigung, starrte Phoebe ihr nach, bevor sie sich wieder dem im Gestrüpp kauernden Hund zuwandte. „Kennst du dieses unhöfliche Geschöpf tatsächlich?“

Ein Knurren war die Antwort. Phoebe seufzte. „Komm her … Köter“, rief sie streng.

„Vielleicht sollten wir ihn lieber in Ruhe lassen, so wie die junge Dame es uns riet, Mylady“, sagte Sarah nervös. „Immerhin weiß sie um seine Widerspenstigkeit, und sie schien ihm nicht sonderlich wohlgesonnen zu sein.“

„Aber wenn wir ihn hier zurücklassen, wird er gewiss verhungern.“

Sarah seufzte. „Die Duchess wird darüber nicht erfreut sein. Bestimmt wird sie mich ebenso streng zurechtweisen wie Sie.“

„Dann stellen wir uns ihrem Missfallen gemeinsam. Sei unbesorgt, Sarah, ich werde die volle Verantwortung übernehmen.“ Phoebe versuchte weiterhin erfolglos, den Hund durch Befehle zum Fressen zu bewegen, änderte ihre Taktik nach einigen Minuten jedoch und redete dem Tier in schmeichelndem Tonfall zu. Als auch das nichts brachte, fiel ihr Blick auf den Brief in ihrer Hand. Warum hielt sie ihn überhaupt noch fest?

„Wollen Sie ihn nicht öffnen, Mylady?“

Phoebe stieß einen Seufzer aus. „Und diesem unhöflichen Geschöpf somit beweisen, dass ich in der Tat einfältig bin?“

Ihre Zofe schnappte empört nach Luft, was Phoebe ein Lächeln entlockte.

„Sie sagte doch, sie habe auf eine einfältige Person gewartet, der sie die Nachricht überreichen könne.“ Neugierig und frustriert zugleich musterte sie den gefalteten Zettel. „Ich glaube kaum, dass sie ewig mit diesem Brief herumgewandert ist, um ihn einem dahergelaufenen Fremden zu überreichen. Er kann also unmöglich von hoher Wichtigkeit sein. Oder aber sie hat uns zufällig beobachtet und aus irgendeinem Grund entschieden, dass ich die geeignete Empfängerin dieser Nachricht sei.“

„Werden Sie sie denn nun lesen oder nicht?“, fragte Sarah mit einem nervösen Blick gen Himmel, der sich langsam, aber stetig verdunkelte.

Schließlich siegte Phoebes Neugier doch, sehr zu ihrem Missfallen.

Sei gegrüßt.

Die ungewöhnliche und saloppe Anrede überraschte sie.

Vielen Dank, dass Du diesen Brief angenommen hast. Es war mein Wunsch, dass er jemandem übergeben wird, der freundlich, geduldig und warmherzig ist. Vor Dir steht mein bester und womöglich sogar einziger Freund auf dieser Welt. In jedem Fall ist er der treuste Gefährte, den man sich wünschen kann. Wie meine Schwester mir unverblümt mitteilte, bin ich durch meine eigene Narrheit schwer erkrankt, und die düstere Stimmung in diesen Gemäuern lässt mich vermuten, dass es keine Hoffnung auf Genesung gibt. Ich fürchte mich nicht vor dem unausweichlichen Schicksal des Todes, meine Sorge gilt einzig der Zukunft meines treuen Freundes, wenn ich nicht mehr bin. Seit sieben Jahren hat er mich auf jedem Abenteuer und durch gefährliche Situationen begleitet. Er ist mutig und besitzt ein großes Herz.

Phoebe blickte flüchtig auf. „Ich … ich glaube, es handelt sich um einen Brief des Besitzers“, sagte sie grübelnd. „Und dieser hat ihn wohl jenem äußerst unhöflichen Mädchen übergeben.“

Sein Name ist Wolf.

„Natürlich ist er das“, flüsterte sie und betrachtete den Hund mit einem erleichterten Lachen. „Wolf … bitte, friss etwas!“ Gebannt hielt sie den Atem an. „Wolf!“ Was für eine höchst sonderbare Situation.

Das Tier reagierte nicht, sondern starrte sie nur weiterhin an. Stirnrunzelnd las sie die nächsten Zeilen.

Auf den Namen Wolf wird er nicht reagieren, da er nicht gelernt hat, das Wort mit seinem besonderen Zeichen zu assoziieren. Hebe eine Hand mit geöffneter Handfläche an das Kinn, drehe sie seitlich und krümme die Finger, dann schnippe schnell, während Du seinen Namen sagst.

Verwundert betrachtete sie die eigenartigen Anweisungen. Von einem undefinierbaren Impuls getrieben, folgte sie ihnen, und ihr Herz machte einen freudigen Satz, als der Hund sich zitternd erhob.

„Wolf“, sagte sie leise und wiederholte die Geste.

Wenn er auf Dich reagiert hat, muss er Dich für vertrauenswürdig halten. Bitte kümmere Dich gut um ihn. Nachstehend beschreibe ich weitere Gesten, durch die Du ihm Befehle erteilen kannst. Sobald er sich an Dich gewöhnt hat, wirst Du gewiss auf Deine eigene Weise mit ihm kommunizieren können. Ich habe Anweisungen hinsichtlich einer Vergütung hinterlassen, die für seine Haltung und Verpflegung aufkommen soll. Bitte nenne meiner Schwester hierzu alle nötigen Details.

Ich kann friedlich ruhen in dem Wissen, dass Wolf ein neues Zuhause gefunden hat.

Meine wärmsten Empfehlungen

Hugh.

Danach folgten in der Tat weitere merkwürdige Anleitungen zu Gesten, mit denen man den Hund zum Fressen, Rennen, Apportieren und, gute Güte, sogar zum Angreifen bringen konnte.

„Wie sonderbar!“

Phoebe faltete den Brief zusammen, steckte ihn in eine ihrer Taschen und kniete sich erneut auf ihren Mantel. Sie formte mit den Fingerspitzen einen Schnabel und deutete damit drei Mal auf ihren leicht geöffneten Mund. Erleichtert lachte sie auf, als Wolf endlich in den saftigen Braten biss.

„Du bist ziemlich stur, nicht wahr? Wie konntest du nur so lange widerstehen, obwohl du doch so ausgehungert warst?“

Nach ein paar Augenblicken fasste sie den Mut, die Hand auszustrecken, um ihn zu streicheln. Kurz erstarrte er unter der Berührung, dann entspannten seine Muskeln sich langsam und ein tiefes, kehliges Geräusch entwich ihm. „Komm zu mir“, sagte sie leise, während ihre Hand die entsprechende Geste formte: Komm!

Wolf näherte sich ihr, und als sie ihm die Arme um den Hals legte, knurrte er auf eine, wie sie hoffte, wohlgefällige Weise. Aus irgendeinem Grund krampfte ihre Brust sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte nie ein eigenes Haustier besessen, da ihre Mutter gegen sämtliche Kreaturen allergisch zu sein schien und ihr Vater die hysterischen Ausbrüche seiner Duchess vermeiden wollte, sobald ein Tier sich ihr auch nur näherte. Francis’ geliebter Kater, Lord Benjamin, war stets die einzige Ausnahme gewesen.

„Wir werden uns bestimmt prächtig verstehen“, flüsterte sie dem Hund zu, wobei sie seinen etwas unangenehmen, nassen Geruch ignorierte. „Ich wollte schon immer einen Freund haben, dem ich meine intimsten Hoffnungen und Ängste anvertrauen kann, ohne dass er Gerüchte darüber verbreitet oder mich bei meiner Mutter anschwärzt.“

Anschließend erhob sie sich und griff nach ihrem Mantel. Seufzend tätschelte sie Wolfs Kopf, der ihr beinahe bis zur Hüfte reichte. Mit ihren achtzehn Jahren hatte sie akzeptiert, dass sie wohl nicht mehr über ihre stolzen einen Meter einundsechzig hinauswachsen würde. Der Hund trottete brav neben ihr her, und Sarah folgte ihnen in sicherem Abstand, nicht überzeugt von dem, was sie eben beobachtet hatte.

Besäße Phoebe einen Sinn für Vernunft, hätte sie das Tier einfach seinem Schicksal überlassen. Sie war mit ihrer Familie nur zur Erholung in Schottland. Seit dem Tod ihres Bruders vor zwei Jahren bestand ihre Mutter auf dieser jährlichen Reise, um dem Trubel des Londoner ton zu entkommen. Zum Entsetzen ihrer Eltern und der Empörung der Gesellschaft hatte der zweitälteste Sohn, Richard – der Marquess of Westfall –, vor Kurzem auch noch öffentlich seine uneheliche Tochter anerkannt. In Phoebes Augen war er ein ehrenhafter Mann, den sie von Herzen liebte. Gewiss würde er sie ermutigen, das arme Tier zu behalten.

Vier Kutschen rollten ihnen langsam entgegen. In der vorderen saßen ihre Mutter sowie deren Reisebegleitung und Kammerzofe. Ihr Vater, der Duke of Salop, war bereits letzte Woche zurück nach England aufgebrochen. Die zweite Karosse war leer, da Phoebe nur in Begleitung von Sarah reiste. In den letzten beiden Wägen befanden sich das Gepäck sowie die Bediensteten. Aus der vordersten Kutsche ertönte kein Gezeter, als Phoebes Wagen anhielt und ein Lakai ihr hineinhalf.

Augenblicklich war sie von wohliger Wärme umgeben, und mit einem zufriedenen Seufzer ließ sie sich auf die weichen Polster sinken. Sarah ließ sich ihr gegenüber nieder und niemand protestierte, als sie Wolf anwies, neben ihr Platz zu nehmen. Sie griff nach einem der Picknickkörbe, der bis zum Rand mit Leckereien gefüllt war, und steckte dem Hund weitere Bratenstücke zu, die er gierig verschlang.

„Um ehrlich zu sein, freue ich mich nicht darauf, nach London zurückzukehren“, sagte sie zu Wolf, nachdem er auch den letzten Happen vertilgt hatte. Zu Sarahs Entsetzen tätschelte sie ihren Schoß. Ihre Zofe schien immer noch zu erwarten, dass die wilde Bestie sie jeden Moment anfallen könnte.

Wolf starrte sie einige Zeit lang reglos an, bevor er näher rückte und den Kopf auf ihre Beine legte.

„Braver Junge! Zweifellos werden wir noch die besten Freunde. Allerdings müssen wir dich dringend baden, sobald wir unsere Unterkunft für heute Nacht erreichen.“ Mit einem Seufzer fügte sie hinzu: „Wenn mein liebster George nicht wäre, würde ich einfach weglaufen. Vielleicht sollten wir gemeinsam durchbrennen und auf den Skandal pfeifen, den es nach sich ziehen würde.“

„Ich bitte Sie, Mylady“, sagte Sarah nervös. „Es ist gefährlich, auf diese Weise über den jungen Herrn zu sprechen. Die Duchess …“ Sie hielt inne und zog den Vorhang beiseite, als wolle sie sich vergewissern, dass die Duchess nicht auf wundersame Weise neben ihrer Kutsche herschwebte und lauschte. „Sie darf nicht erfahren, dass Sie Gefühle für ihn hegen!“

In Phoebes Augen war Mr George Hastings ein ehrenwerter und anständiger junger Mann, aber obwohl er einer angesehenen Familie entstammte, erachtete man ihn kaum als angemessene Partie für die Tochter eines Dukes. Sie und George waren bereits seit Kindertagen befreundet, und in letzter Zeit hatten sich zwischen ihnen zartere Gefühle entwickelt. „Er liebt mich, Sarah“, flüsterte Phoebe. „Und die Wärme, die mich bei seinem Anblick erfüllt, wird gewiss bald zu etwas weitaus Tiefgründigerem gedeihen, da bin ich mir ganz sicher!“

„Pah, Liebe ist doch nicht nur ‚warm’!“

Phoebe runzelte die Stirn und rutschte auf ihrem Sitz herum. „Wie ist sie dann? Erzähl mir von deiner eigenen Erfahrung.“

Sarah errötete und senkte den Blick. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Mr Hastings ist lediglich der zweite Sohn eines Viscounts! Sie wissen doch, welch hohe Ziele die Duchess verfolgt, also warum widersetzen Sie sich ihr so vehement, Mylady?“

Diesmal schob Phoebe den Vorhang beiseite und blickte hinaus auf die schneebedeckte Landschaft. Es war ein schier aussichtsloses Unterfangen, ihre Mutter davon zu überzeugen, dass sie den Earl of Dumont nicht heiraten wollte. Dumont war einflussreich, überaus wohlhabend, und eine Verbindung zwischen ihren beiden Familien wäre in den Augen der Gesellschaft eine vortreffliche Wahl. Während der letzten sechs Wochen, die sie mit ihren Eltern auf Reisen verbracht hatte, versuchte Phoebe verzweifelt, nicht an die Bekanntmachung der Verlobung zu denken, sondern daran, wie sie dieser Zwickmühle entkommen konnte. Sie war es leid, die gehorsame, fügsame Debütantin zu spielen, die ihre Mutter zu sehen verlangte.

Auch wenn sie erst achtzehn Jahre alt war, verspürte sie den unbändigen Wunsch, ein erfülltes Leben zu führen. Aber wie sollte das gehen, wenn sie sich von ihren Eltern zu einer unglücklichen Ehe zwingen ließ?

Ich werde einen Weg aus dieser Misere finden … Ganz bestimmt!

Kapitel 1

FÜNF MONATE UND DREI TAGE SPÄTER …

MULBERRY PARK, DERBYSHIRE

Ein Mann, der in einem Nachrichtenblatt eine Heiratsannonce aufgab, war unter jedweden Umständen unerwartet, schockierend und höchst alarmierend, doch dieser spezielle Fall war so ungeheuerlich, dass Phoebe nur belustigt den Kopf schütteln konnte.

Ein Gentleman von Rang und Namen sucht eine vernünftige sowie sanftmütige Dame zum Zwecke der Eheschließung. Die Lady muss aus gutem Hause stammen und sich in den gehobenen Kreisen des Londoner ton bestens auskennen. Zudem wird erwartet, dass sie als vortreffliche Gastgeberin zahlreiche Bälle, wohltätige sowie politische Soireen und andere Veranstaltungen ausrichtet. Attraktivität ist ein zusätzlicher Vorteil, aber keine Voraussetzung. Allerdings muss die Dame praktisch veranlagt sein und darf nicht zu Theatralik und Hysterie neigen. Es ist wichtig, dass die Familie angesehen und in keinerlei Skandale verwickelt ist. Einflussreiche, verlässliche Beziehungen sind natürlich ebenfalls vorteilhaft, Vermögen spielt jedoch keine Rolle.

Interessentinnen können ihre Antworten an die unten angegebene Adresse senden, woraufhin sie weitere Anweisungen erhalten werden. Bitte beachten Sie, dass jede Bewerbung eingehend geprüft wird.

Mit besten Empfehlungen.

„Das ist doch wohl nicht zu glauben! Was bildet dieser angebliche Gentleman sich ein?“, rief Phoebe aus und lachte ungläubig angesichts der schieren Dreistigkeit, sich auf diese Weise eine Frau zu suchen, anstatt wie alle anderen auf dem Heiratsmarkt zu werben. Die Annonce war allerdings eine willkommene Abwechslung zu der dunklen Verzweiflung, die sie während der letzten paar Monate stets begleitet hatte.

Kurz überflog sie die restlichen Seiten der Zeitung, um zu sehen, ob es noch weitere Anzeigen dieser Art gab. Dieser Mann war wirklich unmöglich. Wie konnte er der Gesellschaft seine Brautsuche in diesem Format präsentieren? Seine arme Zukünftige, wer auch immer sie sein mochte, wäre unweigerlich den spitzen Zungen des ton ausgesetzt. Es würde gewiss nicht allzu schwer sein, die Identität dieses Gentlemans von Rang und Namen aufzudecken. Sein eigenes Handeln war zutiefst skandalträchtig, und doch besaß er die Unverfrorenheit zu verlangen, dass seine potenzielle Braut nicht in Skandale verwickelt sei.

Was für ein Heuchler!

Phoebe biss herzhaft in ihr Blaubeertörtchen und studierte amüsiert die Adresse, die der Annonce beigefügt war. Dieser selbsternannte Gentleman erwartete also ernsthaft, dass eine Dame aus gutem Hause sich bei ihm melden würde? Er verdiente eine vernichtende Zurechtweisung. Der Gedanke ließ sie laut aufglucksen.

„Phoebe!“, schalt ihre Mutter sie und schaute von ihrer Stickerei auf. Die Nadelarbeit war kitschig und nicht sehr geschickt angefertigt, aber zumindest widmete die Duchess sich einer damenhaften Beschäftigung.

„Ich habe dir schon so oft gesagt, dass derartiges Gelächter äußerst unziemlich ist …“

„Vor allem für die Tochter eines Dukes“, vollendete Phoebe den Satz, wobei sie innerlich die Augen verdrehte. Langsam ließ sie das Nachrichtenblatt sinken und fragte sich, ob der Inserent Engländer oder Schotte war. Letzteres würde seine Taktlosigkeit und den Mangel an Anstand erklären. Ihre Mutter beschwerte sich bei jedem Aufenthalt in Schottland über die rauen Manieren der Einwohner. Phoebe hingegen empfand die entspannte gesellschaftliche Haltung und die unverblümte Natur ihrer Landsnachbarn als willkommene Abwechslung.

Als sie den missbilligenden Blick ihrer Mutter auf sich spürte, antwortete sie: „Ich weiß ja, Mama. Aber ich habe soeben etwas höchst Unterhaltsames in der Gazette gelesen und mich für einen Augenblick vergessen.“

Die schmalen Schultern der Duchess verspannten sich. „Geht es um deinen Bruder?“

„Nein, Mama …“, erwiderte Phoebe leise. „Nicht jeder Skandal involviert Richard. Außerdem berichten die meisten Nachrichtenblätter sowieso lauter erfundene Dinge über ihn.“

Obwohl Richard der Marquess of Westfall und künftiger Duke of Salop war, war er auf dem Anwesen ihres Vaters nicht willkommen. Zudem wurde er von der Londoner Gesellschaft gemieden, was Phoebe als den Gipfel der Heuchelei erachtete. Sie wusste genau, dass alle sich um Richard scharen und ihm Honig um den Bart schmieren würden, sobald der jetzige Duke das Zeitliche segnete.

„Ein Gentleman von Rang und Namen sucht nach einer Gemahlin! Hast du je etwas Anrüchigeres gehört? Er muss doch wissen, was für einen Skandal die Annonce nach sich ziehen wird, vor allem, sobald seine Identität bekannt wird.“

Ihre Mutter schürzte nur die Lippen, ohne ihre Bemerkung einer Antwort zu würdigen. Für derart niveauloses Geschwätz hatte sie nicht viel übrig. Phoebe unterdrückte ein Lächeln und widmete sich wieder dem Nachrichtenblatt, um zu sehen, ob es noch weitere skandalöse Anzeigen dieser Art gab. Plötzlich fiel ihr der Name ihres Bruders ins Auge und sie schluckte schwer.

Zu ihrer Erleichterung war es jedoch nur eine kurze Bemerkung darüber, dass er gemeinsam mit seiner atemberaubend schönen Marchioness auf einem Ball erschienen war und gleich dreimal hintereinander mit ihr getanzt hatte.

„Wie schockierend“, murmelte sie trocken, wieder einmal halbherzig amüsiert über die Theatralik des ton. Beflügelt von dieser Erheiterung ließ sie sich Schreibfeder, Tinte sowie Papier an einen kleinen Schreibtisch bringen, um eine Antwort an den schamlosen Brautsuchenden zu verfassen. Sie glaubte kaum, dass eine andere Dame ihn zurechtweisen würde, also übernahm sie diese Aufgabe mit einem nicht unbedeutenden Anflug von Genugtuung.

Verehrter Gentleman von Rang und Namen,

aus Gründen, die einem Mann wie Ihnen nur zu geläufig sein dürften, werde ich Ihnen meine Identität nicht verraten. Andererseits halte ich Sie nicht unbedingt für vernünftig, wenn man bedenkt, aus welchem Anlass ich Ihnen schreibe. Seien Sie versichert, dass ich eine Dame aus gutem Hause bin, die Ihre Zeitungsannonce, in der Sie eine Braut suchen, unzumutbar sowie flegelhaft findet. Für meine Direktheit kann und will ich mich nicht entschuldigen, da es keine aufrichtige Entschuldigung wäre. Gewiss geben Sie nicht viel auf die Meinung einer Fremden, aber dennoch bin ich entschlossen, Ihnen zu antworten.

Obwohl von uns Damen der Gesellschaft erwartet wird, jederzeit fein herausgeputzt und respektabel aufzutreten, während wir zudem noch alle Zähne im Mund haben und einigermaßen attraktiv erscheinen, werden Sie wohl oder übel feststellen müssen, dass wir so viel mehr sind als die gehorsamen Geschöpfe, für die man uns hält. Eine Dame von Adel und Anstand würde zumindest einige Gedichte, Blumen, anregende Gespräche sowie Spaziergänge durch den Park erwarten, bevor sie einen Mann als geeigneten Gemahl erachtet. Offensichtlich mangelt es Ihnen an Respekt und Zuneigung dem schöneren Geschlecht gegenüber. Es würde mich sehr wundern, wenn Sie enthusiastische Zusagen auf Ihre Annonce erhielten. Oder sollte mich im Gegenzug Stillschweigen mehr überraschen, da Sie ja unverhohlen mit Ihrem Reichtum prahlten? Wage ich zu fragen, weshalb ein Mann Ihres Rang und Namens zu derartigen Methoden greift, anstatt sich zivilisiert zu zeigen und die Dame Ihres Herzens den Anstandsregeln nach zu umwerben? Wo bleibt da die Liebe? Und die Freundschaft? Sind dies nicht die Bausteine, auf denen man eine Ehe errichten sollte?

Ergebenst,

eine neugierige Lady

Phoebe hinterließ keine Anschrift, sondern wies den Lakaien an, den Brief schnellstmöglich zu überbringen und gegebenenfalls zu warten, falls der besagte Gentleman ihr seinerseits eine Antwort zukommen lassen wollte.

Zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, dass sie auf eine Erwiderung des unhöflichen Flegels hoffte.

***

Einige Tage später überbrachte der Butler Phoebe zu ihrer Überraschung einen Brief auf dem Silbertablett, während sie gerade in der prunkvollen Bibliothek ihres Elternhauses saß. Schnell legte sie ihr Buch beiseite – Ivanhoe von Walter Scott –, als Mr Martin ihr zu verstehen gab, der Absender habe den Kurier dafür bezahlt, die Nachricht zu überbringen und auf Antwort zu warten.

Trotz ihrer heimlichen Hoffnung hatte Phoebe nicht wirklich erwartet, dass der unbekannte Gentleman auf ihre scharfe Rüge antworten würde.

Verehrte neugierige Lady,

weder werde ich mich für Ihre kränkenden Worte bedanken noch meine Zeit mit belanglosen Floskeln vergeuden. Nichts ist ermüdender, als sich gegenseitig mit heuchlerischen Schmeicheleien zu überhäufen. Ich fühle mich jedoch gezwungen, auf Ihre … Direktheit zu reagieren. In meinen Augen ist eine Gemahlin in erster Linie eine Gehilfin, die den Haushalt ihres Mannes einwandfrei führt, die Kinder entsprechend der Anstandsregeln erzieht, die für Rang und Namen der Familie angemessen sind, und ihrem Gatten loyal zur Seite steht. Liebe hat damit jedoch nichts zu tun. Wäre die Lage nicht äußerst dringlich, hätte ich mich durchaus im traditionellen Brautwerben versucht, wenn auch nicht mit ausgiebigen Spaziergängen und dem Herunterleiern von Gedichten. Was würde das über mich aussagen, außer dass ich stramme Beine besitze und lesen kann?

Da Sie im Übrigen keine Anschrift beifügten, habe ich Ihren Kurier gebeten, mich noch einmal aufzusuchen. Ich habe ihn damit beauftragt, Ihnen meinen Brief zu bringen, und, sofern erwünscht, mir Ihre Antwort zukommen zu lassen. Selbstverständlich werde ich ihn für seine Mühen fürstlich entlohnen.

Ihr Gentleman von Rang und Namen

Seine Nachricht war der Auftakt eines regen Briefwechsels über die kommenden Wochen. Mit vor Aufregung zitternder Hand hatte Phoebe erwidert:

Teurer Gentleman von Rang und Namen,

Loyalität ist wohl kaum ein Ersatz für Wärme und Zuneigung. Fänden Sie es nicht unzumutbar, eine Frau zu erwählen, die nur an Ihrem Reichtum und Ihren Beziehungen interessiert ist?

***

Verehrte neugierige Lady,

eine solche Frau wäre zumindest ehrlich in ihren Absichten. Und ist es nicht das, wonach man in dieser Gesellschaft strebt? Eine Ehe aufgrund von Rang und Beziehungen zu führen? Was sonst sollte ich als Kriterien erachten?

Ergebenst, Ihr Gentleman von Rang und Namen

***

Teurer Gentleman von Rang und Namen,

Liebe und Freundschaft. Wie kann eine Ehe ohne ein solches Glück existieren?

Ihre neugierige Lady

***

Verehrte neugierige Lady,

Liebe? Sie überraschen mich. Die direkte und unerschrockene Weise, auf die Sie mich zurechtwiesen, ließ mich annehmen, Sie seien eine von Logik und Pragmatismus gelenkte Frau. Mit dieser Vermutung lag ich wohl offensichtlich falsch. Sie geben sich also doch unrealistischen romantischen Vorstellungen hin, was Liebe und Brautwerben anbelangt. Zugegeben sind mir derartige Empfindungen nicht wichtig. In meinen Augen haben sie keinen Platz in einer Ehe. Man heiratet nicht aus Zuneigung, sondern aufgrund geschäftlicher und politischer Verbindungen. Die Wahl des Ehepartners sollte aus praktischen Gründen erfolgen, und ich wünsche mir eine Gemahlin mit einer ähnlichen Gesinnung.

Ergebenst, Ihr Gentleman von Rang und Namen

Phoebe legte den jüngsten Brief beiseite, den sie erhalten hatte, und wandte sich den Köstlichkeiten zu, die ihre Köchin zum Frühstück gezaubert hatte. Verzückt wählte sie ein Stück von ihrem Lieblingskuchen, während sie darüber nachgrübelte, wie sehr sie sich mittlerweile auf eine Antwort des unbekannten Gentlemans freute. Oftmals fragte sie sich, wer er wohl sein mochte und warum er sich von der Gesellschaft fernhielt. Gewiss konnte er niemand sein, der einen Adelstitel besaß. Vielleicht ein Kaufmann, ein Händler oder auch ein wohlhabender Landbesitzer?

Und warum war er der Liebe gegenüber so gleichgültig eingestellt?

Wer sind Sie, und warum faszinieren Sie mich so?

Während sie über eine Antwort nachgrübelte und sich eine Tasse heiße Schokolade eingoss, betrat ihr Butler das Zimmer.

„Euer Gnaden“, begrüßte er ihre Mutter mit einer knappen Verbeugung. „Seine Gnaden lässt sich mit dem größten Bedauern entschuldigen. Er schafft es leider nicht, heute Morgen mit Ihnen und Lady Phoebe zu frühstücken. Mr Hastings hat um eine dringende Unterredung gebeten, die sich nicht aufschieben lässt.“

Vorsichtig füllte Phoebe ihre Tasse, obwohl ihr das Herz wie wild in der Brust hämmerte. Hoffentlich wirkte sie nach außen hin gefasst. Mr George Hastings, einer ihrer ältesten und liebsten Freunde, war zwei Stunden zu früh erschienen. Ihr Magen verkrampfte sich. Er wollte bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten. Gemeinsam hatten sie sich jedes Wort überlegt, das er dem Duke gegenüber äußern sollte. Ihrer beider Glück hing davon ab.

Ihre Mutter musterte sie scharf. „Weißt du etwas davon, Phoebe?“

„Nein, nichts“, murmelte sie und nahm einen Schluck von ihrer Schokolade. „Mein Unterricht heute beginnt erst um zehn. Gestern erwähnte Mr Hastings nicht, dass er früher kommen wollte.“

Das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit. So sehr sie es auch hasste, ihre Mutter anzulügen, ging es in diesem Fall nicht anders.

„Mr Hastings wartet im Salon auf Seine Gnaden“, erklärte der Butler. Phoebe wusste, dass die Worte an sie adressiert waren. Mr Martin hatte sie und George vor wenigen Wochen bei einer innigen Umarmung erwischt, doch zu ihrer Verblüffung hatte er es nicht ihren Eltern gemeldet.

„Wenn du mich entschuldigen würdest, Mama, ich würde gerne im Musikzimmer eine Sonate üben, die ich Mr Hastings vorspielen möchte.“

Die Duchess presste die Lippen zusammen. „Ich verstehe nicht, warum dein Vater den jungen Mann nicht endlich entlässt. Du bist mittlerweile viel fortgeschrittener am Klavier als er, man weiß ja kaum noch, wer lehrt und wer studiert. Außerdem habe ich neulich gesehen, wie unverfroren er dich während des Unterrichts angelächelt hat.“

Phoebe stockte der Atem. Die Tür zum Musikzimmer stand immer offen, und ein Lakai wartete die ganze Zeit über davor. Seit jener Nacht vor ein paar Wochen hatten sie versucht, sich peinlich genau an die Anstandsregeln zu halten. „Mama …“

„Mr Hastings ist nicht die Sorte Mann, dem eine Frau deines Rangs und Namens Beachtung schenken sollte! Ich werde deinem Vater auftragen, ihn aus unserem Dienst zu entlassen. Heute wirst du deine letzte Unterrichtsstunde bei ihm nehmen.“ Mit diesen Worten und einem knappen Kopfnicken ließ sie Phoebe gehen.

Sie jagte die Korridore entlang in Richtung der Bibliothek ihres Vaters, als wären Dantes Höllenhunde höchstpersönlich hinter ihr her. Was würde George dem Duke mitteilen? Sie beschloss, schamlos zu lauschen. Vorsichtig klopfte sie an, und als niemand antwortete, schlüpfte sie schnell hinein und versteckte sich hinter einem der halb zugezogenen Vorhänge vor den deckenhohen Fenstern, kurz bevor die Tür sich erneut öffnete.

Sie schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

Die gedämpften Stimmen gehörten ihrem Vater sowie George. Nur Mut, mein Liebster. Nur Mut.

Mit angehaltenem Atem verharrte Phoebe in ihrem Versteck. Sie war gegen das große Fenster gedrückt, das die weitläufigen Gärten des Anwesens überblickte, verhüllt von schweren, dunkelgrünen Vorhängen.

„Was gibt es denn? Spucken Sie es schon aus, Mann!“, schnauzte der Duke ungeduldig. Mit seiner schroffen Art war Phoebe nur allzu vertraut.

Am liebsten würde sie um die Ecke spähen, um zu sehen, wo die beiden standen. Gewiss hatte ihr Vater seinen Platz hinter dem Schreibtisch eingenommen und missmutig die Arme vor der Brust verschränkt. Sein gut aussehendes, wenn auch strenges Gesicht würde kaum verbergen, was er von dieser Situation hielt.

„Wenn Sie so gütig wären … Ich muss etwas höchst Dringliches mit Ihnen besprechen, Euer Gnaden.“

„Das erwähnten Sie bereits in Ihrer Nachricht“, erwiderte ihr Vater mit leiser, harter Stimme. „Ich habe Ihnen diese Audienz gewährt, weil Sie Worte wie ‚schwerwiegend’ und ‚desaströs’ im Zusammenhang mit dem Namen meiner Tochter verwendeten!“

Vorsichtig zog sie den Vorhang einen Spalt breit auf und spähte hindurch. George stand mit knallrotem Kopf mitten im Raum und zerrte an seinem Krawattentuch, als schnürte es ihm die Luft ab. Sie konnte buchstäblich hören, wie er vor Nervosität schwer schluckte. Wie gerne wäre sie an seiner Seite, um seine Hand zu ergreifen und ihm zu versichern, dass sich alles zum Guten wenden würde.

„Ich … ich bitte um Erlaubnis, Ihre Tochter heiraten zu dürfen.“

Phoebe stockte der Atem. So hatten sie das nicht besprochen. Zunächst hätte George die Vorzüge einer Verbindung zwischen ihnen darlegen müssen, so gering diese in den Augen ihrer Eltern auch sein mochten. Anschließend sollte er sein Gesuch unterbreiten, mit der unterschwelligen Drohung, eine Heirat sei unabdinglich. Die Andeutung einer intimen Beziehung würde ihren respektablen, wenn auch rücksichtslosen Vater gewiss überzeugen.

„Wie bitte?“

Phoebe ballte die Hände zu Fäusten. Wann immer der Duke die Stimme auf diese Weise senkte, geriet selbst ihre Mutter, eine selbstsichere Frau, die sich ihres Platzes in der Welt nur zu bewusst war, ins Stocken. George jedoch ließ sich nicht einschüchtern.

„Lady Phoebe und ich sind seit über zehn Jahren eng befreundet. Wir lieben einander … Deshalb möchte ich bei Ihnen um ihre Hand anhalten. Ich bin der Sohn eines Viscounts und habe durchaus meine Beziehungen, Euer Gnaden. Gestern habe ich meinen … meinen Vater von unseren Gefühlen füreinander unterrichtet, und er ist äußerst erfreut über diese Verbindung.“

Sehr gut, George, ermutigte sie ihn im Stillen. Wenn ihnen nicht gestattet wurde zu heiraten, obwohl Dritte von ihrer Beziehung wussten, könnte dies zu einem Skandal führen.

Ein bedrohliches Schweigen legte sich über die Bibliothek. Nervös verflocht Phoebe die Finger ineinander und wartete mit angespannten Nerven.

„Es wird mir großes Vergnügen bereiten, Sie für Ihre maßlose Unverfrorenheit niederzustrecken“, erwiderte ihr Vater gefährlich leise. „Der zweite Sohn eines Viscounts bittet um die Hand der Tochter eines Dukes? Wie lachhaft! Ihre Familie ist es nicht einmal wert, den Dreck von meinen Stiefeln zu lecken!“

George erblasste und warf einen verzweifelten Blick in Richtung Tür. Da sie ihn nicht länger allein für ihre Zukunft kämpfen lassen wollte, trat sie hinter dem Vorhang hervor und eilte auf die beiden Männer zu. „Papa, verzeih mir meine ungebührliche Unterbrechung, aber es ging nicht anders. Diese Angelegenheit ist wirklich von höchster Dringlichkeit!“

George schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. Mit hochrotem Kopf hielt er den Blick gesenkt. Kalte Wut stand ihrem Vater ins Gesicht geschrieben.

Phoebe hielt einen Moment inne. „Papa“, setzte sie dann erneut an, wobei ihre Stimme zu ihrem Missmut zitterte. „Bitte …“

„Schweig! Dein eigensinniges Benehmen wird schwere Konsequenzen nach sich ziehen!“

Sein scharfer Tonfall ließ sie zurückweichen, doch dann hob sie entschlossen das Kinn an. „Es tut mir leid, aber ich kann unmöglich schweigen, Papa. Ich muss unbedingt meine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit G… mit Mr Hastings zur Sprache bringen.“

„Wie kannst du nur an etwas Derartiges denken, wo du doch genau weißt, welche Erwartungen deine Mutter und ich an dich stellen?“, verlangte der Duke zu wissen und musterte sie kühl. „In Anbetracht unseres Rangs und Namens ist eine Heirat zwischen dir und ihm völlig undenkbar.“

Aus dem Grund, dass George und ich die besten Freunde sind und eine viel zu intime Nacht miteinander verbrachten. Zu ihrer Verlegenheit erinnerte sie sich kaum noch an jenen Abend, als sie sich heimlich in der Gartenlaube getroffen hatten, um Georges Aufnahme an der Royal Academy of Music zu feiern. Es war ihre Idee gewesen, den Sherry sowie zwei Gläser aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters zu entwenden und sich im Garten zu verabreden, nachdem der übrige Haushalt zu Bett gegangen war.

Sie hatten ungehemmt getrunken und gelacht … Es war so wild und befreiend gewesen, und es hatte ihr den Mut gegeben, sich nach vorne zu lehnen und George auf den Mund zu küssen. Sie erinnerte sich an die etwas unbeholfene Vereinigung ihrer Lippen, die schüchterne Art, auf die sie einander kichernd entkleideten, die Wärme in ihrer Brust, als er ihr versprach, immer für sie da zu sein. Es war ein wenig unangenehm und ziemlich rasch vorüber gewesen, und George hatte ihr stammelnd versichert, dass die Hochzeitsnacht weitaus besser verlaufen würde. Zu ihrer Enttäuschung und Verwirrung war das große Feuerwerk der Leidenschaft augeblieben, über das sie so viele Gedichte gelesen hatte. Trotz der Trunkenheit hatte sie sich jedoch nichts anderes gewünscht, denn nun musste sie den alternden Earl nicht länger heiraten, sondern durfte ein Leben führen, das ihr ein glückliches Heim und Herz bescheren würde.

„Mr Hastings liebt mich, und ich hege ebenso tiefe Gefühle für ihn. Es ist unabdingbar, dass wir heiraten“, erwiderte sie tapfer, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug.

Der Duke erstarrte. Ein Ausdruck von Ungläubigkeit trat in seine bernsteinfarbenen Augen. „Du bist ruiniert?“

Phoebe senkte den Blick und errötete. „Papa, bitte, ich …“

Als ein lautes Klirren ertönte, hob sie ruckartig den Kopf. Die Scherben einer Karaffe lagen auf dem Teppich verteilt, an der Wand neben dem Kamin rann eine Flüssigkeit hinab. So wütend hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Neben ihr sackte George ohnmächtig zu Boden. Vor Schmerz und Furcht schnürte sich ihr die Kehle zusammen.

Die Tür flog auf und ihre Mutter stürmte herein, hielt jedoch pikiert inne, als sie die Situation erfasste. „Winston!“, rief sie aus und fasste sich schockiert an die Brust. „Was geht hier vor sich?“

„Schließ die Tür“, wies ihr Gemahl sie unwirsch an.

Die Duchess befolgte seine Anordnung und trat dann zu ihnen. Ihr Blick wanderte von George über Phoebe zu den Scherben auf dem Teppich. „Was hat das alles zu bedeuten?“

„Deine Tochter … unsere eigensinnige, närrische Tochter, hat sich ruinieren lassen von diesem …“ Ihr Vater brach ab und schloss die Augen.

Die Duchess atmete scharf ein. „Sie ist ruiniert?“

Phoebe faltete nervös die Hände vor dem Bauch. Eigentlich hatte sie geglaubt, auf die Reaktionen ihrer Eltern vorbereitet zu sein, doch im Moment war sie überwältigt vor Angst.

Ihre Mutter wandte sich ihr zu. „Du wirst die skandalöse Anschuldigung deines Vaters auf der Stelle zurückweisen!“

„Mr Hastings und ich haben … haben uns …“ Unter den Blicken ihrer Eltern brachte sie kaum ein Wort heraus. „Wir haben uns geküsst und … und …“ Ein längst überwunden geglaubtes Zartgefühl erfasste sie, und sie lief puterrot an.

Die Duchess straffte die Schultern. „Welche Art von Torheit du auch immer begangen haben magst, wird nicht länger diskutiert oder in Erwägung gezogen. Du wirst nach wie vor Lord Dumont heiraten. Mit deinem Verhalten hast du uns nur bewiesen, dass wir die Hochzeit schon vor Wochen hätten abhalten sollen, anstatt dich die Ballsaison genießen zu lassen.“

Phoebes Herz verkrampfte sich schmerzhaft. So war es keineswegs gewesen. Ihre Eltern hatten dem Earl lediglich einen angemessenen Zeitraum zum Trauern gewährt. Anstand und Sittsamkeit waren ihnen äußerst wichtig, daher würden sie es niemals gutheißen, eine Verlobung bekannt zu geben, während noch kein Jahr seit dem Tod seiner zweiten Ehefrau vergangen war. Phoebe hatte der Bekanntmachung ihrer Verlobung in den letzten Monaten und Wochen mit Verzweiflung und Beklemmung entgegengesehen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass irgendetwas Unverhofftes geschehen möge.

„Mama, beharrst du so sehr auf meiner Vermählung mit Lord Dumont, dass du gewillt bist, die heikle Situation zwischen Mr Hastings und mir zu ignorieren? Ist dir mein zukünftiges Glück denn völlig egal?“

Die Duchess warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Du kannst heiraten, wen du willst, sobald der Earl tot ist. Wenn das Schicksal dir wohlgesonnen ist, wird er vielleicht schon in wenigen Jahren das Zeitliche segnen. Gerüchten zufolge hat er ein schwaches Herz.“

Die kalten, grausamen Worte ihrer Mutter durchbohrten Phoebe wie Pfeile. „Bedeute ich dir denn wirklich so wenig, Mama? Bin ich nichts weiter als ein Instrument, mit dem ihr euren Wohlstand und Besitz noch weiter vermehren wollt? Was ist mit meinen eigenen Hoffnungen und Träumen?“

Bevor sie registrierte, was geschah, war die Duchess auf sie zumarschiert und hatte ihr eine schallende Ohrfeige verpasst. Schockiert keuchte sie auf und hielt sich eine Hand an die brennende Wange.

Sie wagte kaum zu atmen. „Mama?“

„Ich war schon immer der Ansicht, dass du zu viel Zeit mit diesem Burschen verbringst, und nun hast du dich ihm tatsächlich auf solch schamlose Weise an den Hals geworfen. Keinesfalls werden wir einer Vermählung zwischen euch zustimmen.“

Die Duchess ging zum Schreibtisch hinüber, nahm eine Karaffe voll bernsteinfarbener Flüssigkeit, wandte sich George zu und schüttete ihm etwas von dem Inhalt ins Gesicht. Er öffnete die Augen und wischte sich verwirrt mit der Hand über die Wange. Dann sprang er hastig auf und versuchte, sich das Krawattentuch zu richten. „Euer Gnaden, ich …“

„Mr Hastings, Sie werden eine Auszahlung von fünftausend Pfund annehmen und sich nie wieder auf diesem Grundstück blicken lassen oder mit unserer Tochter verkehren. Ist das klar?“

Der genannte Betrag war ein Vermögen für einen zweitgeborenen Sohn, dessen einzige Hoffnung auf Erfolg in einer Ausbildung zum Geistlichen oder an Royal Academy of Music lag. Der Schmerz und die Verzweiflung in seinem Blick trieben Phoebe beinahe die Tränen in die Augen.

„Euer Gnaden“, setzte er leise an. „Ich bitte Sie inständig …“

„Achttausend Pfund, Mr Hastings“, unterbrach die Duchess ihn mit kühler Höflichkeit.

Er kniff die Augen zusammen. „Ich liebe Lady Phoebe aufrichtig …“

„Zehntausend Pfund!“

Die Worte brannten wie Säure auf ihrer Haut. „Mama, bitte!“, rief sie gedemütigt aus. „Hör auf damit.“ Langsam breitete sich die Angst in ihr aus, dass ihre Mutter mit der Ansicht, Geld könne jedes Problem beseitigen, in diesem Fall recht behalten sollte. Gleichzeitig überkamen sie Schuldgefühle, weil sie George so wenig Vertrauen entgegenbrachte.

Als dieser sich dem Anschein nach gekränkt aufrichtete, wurde ihr wieder etwas leichter ums Herz. Sie wollte sich ebenso entschlossen zeigen wie er und gemeinsam mit ihm kämpfen, auch wenn es Tage oder gar Wochen dauerte.

Er fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar und seufzte frustriert auf. „Euer Gnaden …“

„Kommen Sie schon, Mann, nennen Sie uns Ihren Preis!“, knurrte ihr Vater ungehalten. „Bringen wir dieses ordinäre Feilschen hinter uns, es ist unziemlich und geschmacklos.“

George errötete bis zu den Haarwurzeln und mied Phoebes Blick. Ihr blieben die Worte im Hals stecken, die sie ihrem Vater hatte entgegenschleudern wollen. „George?“

Er starrte angestrengt auf seine glänzenden Stiefelspitzen. Eine eisige Hand umklammerte ihr Herz.

„Zwanzigtausend Pfund“, sagte er schließlich so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Doch dann straffte er die Schultern und richtete den Blick auf die grün-goldenen Vorhänge hinter ihrem Vater. „Zwanzigtausend Pfund, Euer Gnaden.“

Kummer und Scham schwangen in seiner Stimme mit. Er wagte es nicht, sie anzusehen. Sie kam sich so überaus töricht vor. Ihr schnürte sich die Kehle zusammen, doch sie hielt die Tränen mit aller Macht zurück. Sein Verrat war wie ein mit Gift benetzter Dolch, den er ihr ins Herz gestoßen hatte. Sie waren doch seit so langer Zeit eng befreundet gewesen! Auch jetzt noch konnte sie sich genau an den Moment vor über zehn Jahren erinnern, als sie einander kennenlernten. Erinnerungen an die Zeiten, als sie barfuß über die Weiden rannten und in dem See schwammen, der an ihre Grundstücke angrenzte, übermannten sie.

Sie war sich ihrer Freundschaft so sicher gewesen … und ebenso der aufkeimenden Gefühle zwischen ihnen. Bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit hatte er ihr voll Inbrunst seine Liebe gestanden. In jedem Blick, den sie während des Klavierunterrichts wechselten, hatten tiefe Sehnsucht und Bewunderung gelegen. Doch das alles hatte offenbar seinen Preis. Zwanzigtausend Pfund.

Ein so heftiger Schmerz, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte, durchfuhr ihre Brust, sodass sie vor Pein am liebsten aufgestöhnt hätte, doch ihr Stolz gebot es ihr, sich zusammenzureißen. Sie widerstand dem Drang, eine Erklärung von George zu verlangen. Weder er noch ihre Eltern sollten ihre Verletzlichkeit bemerken, da sie damit gewiss nur scharfe Kritik auf sich ziehen würde.

„Einverstanden!“, sagte ihr Vater, umrundete den Schreibtisch und holte Papier sowie eine Schreibfeder hervor.

Phoebe wandte sich ab, da sie es nicht ertragen konnte, ihm beim Verfassen des Briefes an den Anwalt, der sich um die Finanzen kümmerte, zuzusehen. George warf ihr einen reumütigen, aber auch entschlossenen Blick zu.

„Sie hätten einer Vermählung niemals zugestimmt“, murmelte er. „Es … es tut mir aufrichtig leid …“

Ihr Traum von einem einfachen, glücklichen Leben war zerstört. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie auf jede nur erdenkliche Weise ruiniert war. „Sie sind ein Feigling, Mr Hastings … ein ehrenloser Mann … Und ich … ich war so töricht, auf Ihre leeren Versprechungen hereinzufallen …“

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt, und lief puterrot an.

Phoebe sagte nichts weiter, da sie fürchtete, ihre Stimme würde brechen. Sie presste zwei Finger gegen die Lippen, schüttelte wortlos den Kopf und floh aus der Bibliothek.

Ich bin unwiderruflich ruiniert … Oh, was soll ich nur tun?

Sie eilte die Treppe hinauf zu ihrem Schlafgemach und rief nach Wolf, der sofort herbeieilte und ihr in das Zimmer folgte. Als sie sich auf das Bett fallen ließ, legte er sich neben sie und rieb seinen Kopf an ihrem Kinn. Dabei knurrte er leise und beruhigend. Sanft kraulte sie ihn hinter den Ohren.

„Mylady“, sagte Sarah nervös, die eben dabei war, ein Kleid in den Schrank zu hängen. Sie legte es beiseite und kam zu Phoebe herüber. „Sie sind ja ganz blass. Soll ich den Arzt rufen lassen?“

„Nein.“ Zu Phoebes Entsetzen entwich ihr ein Schluchzen. „Mein einziger Wunsch ist es, ein glückliches Leben zu führen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“ Wie töricht sie doch gewesen war, diese Hoffnung einem Fremden anzuvertrauen, noch dazu einem, der mit seinen Ansichten völlig richtiggelegen hatte … Gefühle waren nur etwas für Narren.

„Keineswegs, Mylady“, erwiderte Sarah sanft. Ihre hellgrauen Augen schimmerten besorgt.

Phoebes geliebter Bruder, Francis, hatte ähnliche Wünsche gehegt. Während seiner letzten Tage war er in tiefe Verzweiflung versunken, da er gezwungen worden war, einer arrangierten Ehe zuzustimmen. Die Verlobte, die ihre Mutter für ihn auserkoren hatte, war jedoch nicht die Dame seines Herzens gewesen. Und so war ihr Bruder ohne die Liebe seines Lebens an seiner Seite verstorben. Am schlimmsten war, dass er in seinem Fieberwahn nach ihr gerufen hatte, doch die Duchess hatte ihm den Wunsch verwehrt, sie ein letztes Mal zu sehen.

Phoebe erinnerte sich noch genau an das Entsetzen, das sie verspürte, als sie sich nachts aus dem Haus geschlichen hatte, nur in Begleitung einer völlig verängstigten Sarah. Gemeinsam waren sie zum Mayfair Square gefahren, wo sie Miss Minerva Tilby aufsuchten. Doch ihre Bemühungen waren vergeblich gewesen. Mit Gewalt verdrängte sie die Gedanken an Miss Tilbys erbittertes Schluchzen, als sie von Francis’ Tod erfahren hatte. „Ist es töricht und launenhaft von mir, auf ein solches Glück zu hoffen?“, fragte sie Wolf.

Der Hund stupste sie mit dem Kopf gegen das Kinn und gab ein leises Grollen von sich. „Wirklich?“, fragte sie. „Ich soll mich also Vater widersetzen und alles tun, um meine eigene Zukunft zu sichern?“

Sarah schnappte schockiert nach Luft und warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tür, bevor sie sich wieder Phoebe zuwandte. „Ich glaube kaum, dass diese Kreatur etwas Derartiges angedeutet hat, Mylady!“

„Sein Name ist Wolf.“ Phoebe lächelte unter Tränen, als ihr treuer Freund erneut leise winselte. „Und ich glaube schon, dass er genau das damit sagen wollte. Nicht wahr, mein Junge?“

Ein erneutes Grollen quittierte ihre Frage und seine Zunge fuhr über ihr Kinn.

„Du hast ganz recht“, murmelte Phoebe mit einem matten Lächeln. „Ich bin Phoebe Maitland! Die Tochter eines Dukes darf sich nicht von der Angst bezwingen lassen! Und keinesfalls sollte sie im Selbstmitleid versinken oder sich dem Willen anderer beugen. Ich muss mit Bedacht handeln … und klüger sein als diejenigen, die mein Leben kontrollieren wollen, als wäre ich eine hirnlose Marionette!“

Ein erstickter Laut entwich Sarah, aber Phoebe beachtete sie nicht.

„Warum darf ich keine eigene Wahl treffen?“, flüsterte sie stattdessen in Wolfs weiches Fell. „Bin ich nicht auch ein Mensch, der bluten und Tränen vergießen und hoffen kann?“

„Sie sind völlig durcheinander. Ich werde Ihnen ein heißes Bad einlassen und das Teewasser aufsetzen“, sagte Sarah und verließ geschäftig das Zimmer.

„Ich darf nicht aufgeben, nicht wahr, Wolf?“

Der Hund knurrte zustimmend. Vielleicht gefiel ihm aber auch nur die Art, wie sie ihn hinter den Ohren kraulte. Richard hatte sie oft für ihren übermäßigen Leichtsinn gescholten. Dem konnte Phoebe nur widersprechen. Sie wollte sich lediglich nicht damit abfinden, dass die Ansichten ihrer Eltern und der Gesellschaft ihr Leben diktierten.

Für die meisten Mitglieder des ton war es unvorstellbar, dass es junge Frauen gab, die sich den strengen Vorstellungen und Regeln ihrer Familien und der Gesellschaft widersetzten, doch in Phoebes Augen war es gerade diese Rebellion gegen Konventionen, die berühmte Heldinnen wie Mary Wollstonecraft, Charlotte Lamb und Lady Hester Stanhope hervorgebracht hatte, welche wiederum zahlreiche junge Damen dazu inspirierten, Eigenständigkeit anzustreben. Hätte Caroline Herschel sich dem Willen ihrer Mutter gebeugt, wäre sie zu einer fähigen Dienstmagd ausgebildet worden anstatt zu einer intelligenten Wissenschaftlerin, die acht Kometen entdeckt hatte!

Wie soll ich der Zukunft entkommen, die du für mich vorsiehst, Vater?

Könnte sie nicht ihren Bruder um Hilfe bitten? Richard hatte allerdings mit seinen eigenen Sorgen zu kämpfen, da wollte sie ihn nicht auch noch mit ihren Problemen belasten. Außerdem durfte sie keinesfalls die Kluft zwischen ihm und ihren Eltern vertiefen. Es schien also niemanden zu geben, an den sie sich mit ihren Zweifeln und dem Schmerz in ihrer Brust wenden konnte. Phoebe war verwirrt und fühlte sich furchtbar einsam, ein Zustand, in dem sie sich genau genommen schon befunden hatte, seit Francis gestorben war und Richard den Kontakt zur Familie abgebrochen hatte.

Da neben ihren Brüdern nur noch sie in der Erbfolge übrig blieb, lag die Hoffnung ihrer Eltern nun auf ihr. Sie erwarteten, dass Phoebe eine vorteilhafte Partie wählte und eine Ehe einging, die den Einfluss ihrer Familie in der Gegend festigen würde. Der Duke und die Duchess strebten unablässig nach mehr Macht und Ansehen für die Maitlands, und jeder ihrer politischen Schachzüge war wohlüberlegt, um die Konkurrenz zu schwächen und sich selbst zu bereichern. Selbst ihr Erscheinen auf gesellschaftlichen Anlässen war sorgfältig geplant und richtete sich nach der jeweiligen Gästeliste.

Manchmal wünschte Phoebe sich, sie hätte sich ebenso wie Richard aus der Affäre ziehen können. Er hatte sein Schicksal selbst in die Hand genommen, ohne auf die Konsequenzen zu achten. Aber für sie war das natürlich nicht so einfach, da man sie zu einer jungen Dame von Anstand, Pflichtbewusstsein und Gehorsam erzogen hatte. Frauen ihres Stands wagten es nicht, ihre Zukunft selbst zu gestalten oder sich in einen Gentleman ihrer Wahl zu verlieben.

Gott bewahre, dass wir eigene Träume und Sehnsüchte haben.