Leseprobe Das Schweigen von Mayfair

Kapitel 1

Montag, 4. Mai 1812

Die junge Frau starrte aus dem Fenster und fuhr sich in einem fort mit der Hand am Arm entlang, den ein Schultertuch umhüllte – eine nervöse und ruhelose Bewegung. Draußen dimmte der dichte Nebel das Licht des sterbenden Tages und dämpfte die Geräusche der Stadt.

»Sie mögen den Nebel nicht, stimmt’s?«, fragte Hero Jarvis, die sie beobachtete.

Sie saßen in einem goldenen Lichtkegel, den die Lampe auf den glänzenden Teetisch warf. Hero hatte darauf ihr Notizbuch, Federhalter und Tinte sowie die übliche Frageliste ausgebreitet, die sie entwickelt hatte. Die junge Frau wandte ihren Blick wieder Heros Antlitz zu. Sie war älter als manche der anderen Prostituierten, die Hero bereits befragt hatte. Trotzdem war sie noch so jung! Ihr Gesicht wirkte noch weich, die Haut glatt, und ihre grünen Augen blickten wach und intelligent. Sie hatte gesagt, ihr Name sei Rose Jones, aber nach Heros Erfahrung nannten Frauen in diesem Gewerbe selten ihren echten Namen.

»Gibt es überhaupt jemanden, der Nebel mag?«, sagte Rose. »Man weiß nie, was da draußen lauert.«

Der Akzent der jungen Frau verwirrte Hero, denn sie sprach reines Mayfair-Englisch, ohne die geringste Spur von Cockney oder anderen ländlichen Einschlägen. Hero betrachtete das feine Gesicht und die graziöse Haltung der Frau, und sie verspürte einen Anflug von Interesse, das persönlicher und zugleich ablehnender Natur war, sodass sie es nicht genauer hinterfragen wollte. Wie hatte diese junge Frau – sicherlich nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre und ganz offensichtlich von vornehmer Herkunft und Erziehung – hier stranden können, im Magdalene House, einem Zufluchtsort der Society of Friends, einem Verein zur Unterstützung von Frauen, die aus der Prostitution entkommen wollten?

Hero griff nach ihrem Federhalter, tauchte ihn in das Tintenfässchen und fragte: »Wie lange gehen Sie bereits diesem Gewerbe nach?«

Auf Roses Lippen erschien ein bitteres Lächeln. »Ihr meint, wie lange ich schon eine Hure bin? Nicht einmal ein Jahr.«

Sie sagte es, um zu schockieren. Doch Hero Jarvis war nicht die Art Frau, die leicht zu schockieren war. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren sah sie sich selbst als eine Person, die immun gegen die Exzesse der Gefühlsduselei war, die so viele ihres Geschlechts umtrieben. So nickte sie schlicht und ging zu ihrer nächsten Frage über. »Welcher Arbeit sind Sie vorher nachgegangen?«

»Vorher? Vorher habe ich nichts gemacht.«

»Sie lebten bei Ihrer Familie?«

Rose legte den Kopf schräg, und ihr Blick taxierte Hero auf eine Weise, die diese nicht billigte. »Warum seid Ihr hier und stellt mir diese Fragen?«

Hero räusperte sich. »Ich untersuche eine Theorie.«

»Welche Theorie?«

»Ich glaube, dass die meisten Frauen sich nicht aus einer angeborenen moralischen Schwäche heraus prostituieren, sondern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit.«

Eine Gefühlsregung glitt über Roses Antlitz, und ihre Stimme klang schroff. »Was wisst Ihr schon davon? Eine Frau wie Ihr?«

Hero legte ihren Federhalter zur Seite und erwiderte Roses Blick ohne ein Zwinkern. »Sind wir wirklich so unterschiedlich?«

Rose antwortete nicht. In der einsetzenden Stille hörte Hero von unten die Stimmen der anderen Frauen, das Klirren von Besteck, ein helles Lachen herauf klingen. Es wurde spät; schon bald würde Heros Kutsche wieder vorfahren, um sie zurück zum Berkeley Square zu bringen, in die Sicherheit und Bequemlichkeit ihrer privilegierten Welt. Vielleicht hatte Rose in gewisser Weise recht. Vielleicht …

Der Lärm einer Faust, die unten an die Haustür pochte, scholl durch das Haus. Hero hörte den erschrockenen Aufschrei einer Frau und das schroffe Grummeln einer Männerstimme. Ein Wutschrei wurde plötzlich zu Angstgebrüll.

Rose sprang von ihrem Stuhl auf, die Augen aufgerissen. »Oh Gott, sie haben mich gefunden.«

Hero erhob sich. »Was meinen Sie? Was geschieht hier?«

Sie hörte jetzt mehr Männerstimmen, das Rumpeln umgeworfener Möbelstücke, das Klirren zerschlagener Keramik. Frauen schrien. Eine von ihnen flehte mit tränenerstickter Stimme, dann ging sie zu einem Wimmern über, das kurz darauf abrupt abbrach.

»Sie sind hier, um mich zu töten.« Rose wirbelte herum, ihr Blick huschte durch den Raum und blieb an einem Schrank hängen, der den größten Teil der Wand verstellte. »Wir müssen uns verstecken.«

Von unten klang das Geräusch laufender Füße herauf, und der Schrei einer Frau verwandelte sich auf ekelerregende Weise in ein ersticktes Gurgeln. Rose riss die Schranktür auf. Hero streckte eine Hand aus, um sie aufzuhalten. »Nein. Hier werden sie zuerst suchen.«

Hero ging quer durch den Raum und öffnete das Flügelfenster, das auf die nebelverhangene Gasse darunter wies. Das Fenster lag über einem abschüssigen Dach, das wahrscheinlich zur Küche oder zur Wäschekammer gehörte. »Hier entlang«, sagte Hero. Sie nahm einen hektischen Atemzug, und die feuchte, rauchgeschwängerte Luft stach ihr in die Lungen, als sie ein Bein über die niedrige Fensterbank schwang und sich unter dem Rahmen hindurch duckte.

Die Dachziegeln aus Schiefer, bedeckt mit Moos, Wasser und Ruß, waren glatt unter den weichen Ledersohlen von Heros halbhohen Ziegenlederstiefeln. Sie bewegte sich vorsichtig und stützte sich mit einer Hand an dem rauen Gestein der Hauswand ab, als sie sich umdrehte, um Rose durch die schmale Öffnung zu helfen.

Als sie das Fenster hinter ihnen vorsichtig schloss, hörte Hero einen Mann aus dem Hausinneren rufen: »Hier ist sie nicht.«

Ein anderer antwortete ihm mit tieferer Stimme. Seine Tritte waren bereits im Treppenhaus zu hören. »Sie ist hier. Sie muss oben sein.«

»Sie kommen«, flüsterte Hero und spürte, wie Roses Griff sich warnend fester um ihren Oberarm schloss.

Sie folgte der Richtung, in die der zitternde Zeigefinger der jungen Frau wies, und erkannte die Gestalt eines Mannes, die sich unten im Nebel abzeichnete. Eine an der Hintertür postierte Wache, die sicherstellen sollte, dass keine der Frauen aus dem Haus auf die Gasse flüchten konnte.

Geduckt schlich Hero über das rutschige Schieferdach bis zum Rand. Sie sah den Mann unten hektisch auf und ab gehen. Den Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, und er verkrampfte die Schultern, um sich vor der Feuchte zu schützen.

So leise wie möglich schwang Hero ihre Füße über den Rand. Ihre in cremeweiße Strümpfe gekleideten Beine hoben sich kaum von dem weißen Nebel ab, als ihr edles, blaues Reisekleid aus Alpaka an der Dachkante hängen blieb und nach oben wanderte. Sie wartete, bis der Wachmann genau unter ihr stehenblieb. Dann drückte sie sich vom Dachvorsprung ab und ließ sich auf ihn fallen.

Die Wucht des Aufpralls zwang ihn grunzend in die Knie, Hero fiel zur Seite. Sie landete im Matsch. Der Sturz auf die Hüfte ließ sie leise aufschreien, doch rasch rappelte sie sich auf die Füße. Der Mann war noch immer auf Händen und Knien, als Heros Absatz ihn hart seitlich am Kopf traf und gegen die Hauswand taumeln ließ, wo er in sich zusammensackte und still liegen blieb.

Rose glitt über den Dachrand und landete in einem Wust aus zerrissen Unterröcken unten, ihre Haut darunter wurde zerkratzt. »Gütiger Himmel. Wo habt Ihr das gelernt?«

»Ich habe früher mit meinem Bruder gespielt.«

Das Geräusch des Fensters, das über ihnen aufgerissen wurde, ließ beide mit dem Kopf nach oben rucken. Eine Männerstimme drang durch den Nebel. »Drummond? Bist du da?«

Rose griff nach Heros Hand, und sie rannten los.

Sie hetzten durch eine schlammige Gasse mit lockeren Pflastersteinen, die von hoch aufragenden, rußgeschwärzten Hauswänden aus Backstein gesäumt war. Schweratmend, die Finger der jungen Frau fest in der Hand, lief Hero auf den rechteckigen weißen Fleck am Ende der Gasse zu, in dem die Silhouette einer Kutsche sich aus dem Nebel schälte. Sie hatten den Bürgersteig fast erreicht, da hörte Hero den Knall einer Pistole hinter ihnen. Neben ihr sank Rose nieder.

Hero wirbelte herum und fing die junge Frau auf, die in sich zusammensackte. Die Kugel hatte ein klaffendes, bluttriefendes Loch in ihre Brust gerissen.

»Oh, nein. Nein«, flüsterte Hero.

Roses Lippen öffneten sich, und dunkelrotes Blut rann über ihr Kinn. Hero spürte das Blut der jungen Frau warm und nass über ihre Hände laufen, und sie sah, wie das Licht in Roses Augen schwächer wurde und verlosch.

»Nein!«

Der Knall eines zweiten Schusses hallte durch die Gasse. Hero hatte das Gefühl, sie spürte die Kugel wie das Flüstern eines Geistes an ihrer Wange vorbeifliegen.

»Es tut mir so leid«, sagte sie und schluchzte leise, als sie Rose in den Schlamm gleiten ließ und weiterrannte.

Kapitel 2

Dienstag, 5. Mai 1812

Der Morgen dämmerte bewölkt und viel zu kalt für die Jahreszeit herauf. Die Luft war schwer vom stinkenden Rauch der Kohlefeuer und der sich hartnäckig haltenden Nebelreste. Zwei Fahrzeuge bewegten sich in westlicher Richtung auf die City von London zu. Die gelbe Kutsche einer Dame folgte dem Schatten des Zweispänners eines Herrn, der um baufällige Droschken und die hohen Karren herumsteuerte, die von Männern in Kitteln und Lederschürzen gelenkt wurden. Als sie an der Strand ankamen, zügelte der Fahrer des Zweispänners die beiden Füchse vor dem letzten einer Reihe von kleinen Läden mit bogenförmigen Eingängen. Die Pferde schnaubten und bewegten unruhig die Köpfe. Die Dame beugte sich vor und bedeutete ihrem Kutscher, hinter ihm anzuhalten.

»Wollten grad ein Wettrennen beginnen«, sagte der Laufbursche des Gentlemans von seinem Platz hinten auf der Kutsche. Die scharfen Laute seines Cockney-Englisch trugen weit in der feuchten Luft.

»Das bekommen sie noch früh genug«, sagte der Gentleman und übergab seinem jungen Stallburschen die Zügel.

Der Name des Herrn war Sebastian St. Cyr Viscount Devlin. Viertes Kind und jüngster von drei Söhnen des Earls of Hendon und seiner Gräfin Sophia, hatte er diesen Titel durch das Ableben seiner beiden älteren Brüder erworben. Dem jetzt neunundzwanzigjährigen Viscount sagte man nach, seine Erfahrungen als Soldat in den Kriegen hätten ihn sehr mitgenommen. Jedoch schienen nur wenige Londoner die genaue Natur der Umstände zu kennen, die ihn zu der Entscheidung geführt hatten, sein Offizierspatent vor etwa zwei Jahren zu veräußern und nach England zurückzukehren. Bis zum vergangenen Herbst war die berühmte Schauspielerin Kat Boleyn seine Geliebte gewesen, doch diese Liaison hatte aus ebenfalls geheimnisumwitterten Gründen abrupt geendet.

Die Dame in der Kutsche beobachtete, wie der Viscount von seinem Zweispänner heruntersprang, wie sein Reisemantel und das Cape um ihn herum schwangen und er den Kopf in den Nacken legte, um zu dem hölzernen, im Wind schaukelnden Ausleger hinaufzublicken, auf dem ein Dolch und zwei gekreuzte Schwerter zu erkennen waren. Der Viscount war schlank und groß, sein Haar sogar noch dunkler als das seines Vaters in dessen Jugend. Doch während die Augen seines Vaters von einem durchdringenden Blau waren, ließ das wilde Gelb der Augen seines Sohnes an nächtliches Wolfsgeheul denken. Vor einiger Zeit hatte Seine Lordschaft die Jagd nach Mördern zu seiner Spezialität gemacht. Doch in den letzten acht Monaten hatte er sich dem Saufen, dem Glücksspiel und der Treibjagd verschrieben, mit einer unbekümmerten Risikofreudigkeit, die anscheinend dem Ziel dienen sollte, in naher Zukunft zu sterben.

Die Dame in der Kutsche sah, wie der Viscount den Laden betrat. »Warten Sie hier«, wies sie ihren Kutscher an und bedeutete dem Lakaien, den Tritt herauszuklappen.

 

Sebastian wog den Dolch in der Hand und prüfte vorsichtig sein Gewicht. Es handelte sich um ein prächtiges Stück, den Ebenholzgriff zierte ein filigranes maurisches Muster aus Silber und Messingintarsien.

»Er ist gerade diese Woche aus Spanien hereingekommen«, sagte der Ladenbesitzer, ein kurzer, rundlicher Mann mit vollen, rosigen Wangen und kahl werdendem Schädel, der hinter dem Tresen seines unauffälligen kleinen Lokals in der Strand stand. »Feinster Toledo-Stahl. Und das Kunsthandwerk auf dem Griff ist von ungewöhnlicher Exzellenz, würdet Ihr nicht auch sagen?«

Mit einem Nicken wirbelte Sebastian herum und schleuderte den Dolch auf die Zielscheibe an der Rückwand des Ladens. Die Klinge drang links ein, unmittelbar neben dem Schwarzen in der Mitte, zitterte noch einen Augenblick, dann stand sie still.

Die Hände des Kaufmanns bewegten sich unruhig. Er war verärgert, denn Devlin verfehlte niemals sein Ziel. »Offenbar gibt es einen unsichtbaren Makel. Lasst mich Euch einen anderen zei…«

»Nein. Die Klinge ist richtig geflogen.« Sebastian rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Er war sich eines feinen Tremors in seiner Hand bewusst, der von zu vielen schlaflosen Nächten, zu vielen Flaschen Brandy und zu vielen ungegessenen Abendmahlzeiten herrührte. »Ich nehme ihn.« Er griff nach seiner Börse, da klingelte die Glocke an der Tür, und eine Dame betrat den Laden. Sie trug einen Hut mit Straußenfeder zu ihrer jagdgrünen Pelisse und brachte den Duft des Frühlingsmorgens mit sich herein.

Sie war eine große Frau, gerade der ersten Blüte der Jugend entwachsen, mit braunem Haar, das sie streng zurückgesteckt trug, in einer wenig schmeichelhaften Frisur, die die Hakennase noch hervorhob, welche sie von ihrem Vater geerbt hatte: Charles Lord Jarvis, Vetter des Königs und bekanntermaßen die im Hintergrund agierende Macht hinter der zerbrechlichen Regentschaft des Prinzen. Sie reagierte auf die ehrerbietigen Grüße des Ladenbesitzers mit einem Nicken, richtete ihren direkten Blick aus grauen Augen jedoch auf Sebastian.

»Ich habe Euren Zweispänner draußen gesehen. Den mit dem perfekten Paar Füchse und einem Laufburschen, der nicht älter als zwölf zu sein scheint.«

Sebastian wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Aufgabe zu, die erforderliche Anzahl Banknoten abzuzählen. »Ich glaube, Tom ist dreizehn. Warum? Hat er Euch um Eure Börse erleichtert?«

Sie zog eine Braue hoch und bekam damit einen Gesichtsausdruck, der ihn unangenehm an ihren Vater erinnerte, wenn er sich am arrogantesten und skrupellosesten zeigte. »Ist er ein Taschendieb?«

»Das war er.«

»Wie … originell.« Sie räusperte sich. »Ich würde gerne eine Ausfahrt durch den Park unternehmen.«

Sebastian studierte Hero Jarvis’ feindseliges, aber entschlossenes Antlitz. Er hatte keinerlei Illusionen über die Gefühle dieser Frau ihm gegenüber. Sie hatte bei mehreren Gelegenheiten ihre Ansicht geäußert, dass er eingesperrt gehörte – oder standrechtlich erschossen. »Ich vermute, das ist eine Aufforderung, Euch zu einer Fahrt einzuladen.«

»Vielen Dank.« Sie huschte zur Tür. »Ich warte in Eurem Zweispänner auf Euch.«

Mit angestachelter Neugier verließ Sebastian wenige Augenblicke später den Laden und fand Miss Jarvis auf dem Hochsitz seines Zweispänners sitzend vor, einen geschlossenen Sonnenschirm neben sich, die Zügel in ihren kundigen Händen. Sebastians Laufbursche war nirgendwo zu sehen, obgleich die elegante Stadtkutsche von Miss Jarvis an der Ecke stand. Ihr Fahrer sah aus, als schliefe er.

»Wo ist Tom?«, fragte Sebastian und stieg neben ihr auf, um die Zügel zu übernehmen.

»Ich sagte ihm, dass er nicht gebraucht wird.«

»Zwei Dinge«, sagte Sebastian gleichmütig und trieb die Füchse an. »Ich schätze es nicht, wenn andere Menschen sich um meine Pferde kümmern, und ich gestatte es niemandem, meinen Dienstboten falsche Befehle zu erteilen.«

»Es steckt keine Bosheit dahinter. Ich wollte nicht, dass er dabei ist.« Sie öffnete mit einem Schnappen ihren Sonnenschirm und richtete ihn gegen den schwachen Sonnenschein. »Und wenn ich auch Eure Empfindlichkeit in Bezug auf Eure Pferde verstehen kann, so gab es, nachdem ich den Laufburschen weggeschickt hatte, keine andere Möglichkeit, nicht wahr?«

»Miss Jarvis«, entgegnete er, seine Stimme war ein raues Krächzen, »in den letzten achtzehn Monaten hat Euer Vater versucht, mich ermorden zu lassen und die Existenz einer mir sehr nahestehenden Person beinahe zerstört. Warum unternehmen wir diese Fahrt?«

»Er hat versucht, Euch töten zu lassen? Meines Wissens habt Ihr gedroht, ihn zu töten.«

»Mehrfach«, stimmte Sebastian ihr zu und steuerte den Wagen durch die Tore des Hyde Parks.

»Und Ihr habt mich entführt«, erinnerte sie ihn.

»Zusammen mit Eurer Zofe«, bestätigte er. »Aber nur für kurze Zeit. Und das führt uns zur Frage zurück, warum Ihr hier seid.«

»Letzte Nacht hat eine Gruppe unbekannter Männer das Magdalenenhaus in der Nähe von Covent Garden überfallen. Sie haben mehr als ein halbes Dutzend Frauen getötet und das Haus in Brand gesteckt.«

Das Magdalenenhaus war etwas, worüber man in gemischter Gesellschaft nicht sprach. Sebastian warf ihr einen raschen Seitenblick zu, bevor er sich betont wieder seinen Pferden zuwandte. »Ich wusste, dass diese Zufluchtsstätte gebrannt hat«, sagte er. »Aber ich erinnere mich nicht, etwas von einem Überfall auf das Haus gehört zu haben.«

»Für die Bow Street ist es viel einfacher, das Feuer wie einen Unfall zu behandeln.« Ihre Lippe kräuselte sich. »Schließlich waren die Opfer nur Frauen von schlechtem Ruf.«

»Woher wisst Ihr, dass das Feuer kein Unfall war?«

»Weil ich dort war, im Haus. Eine der Frauen entkam mit mir durch ein Fenster, und wir rannten die Gasse entlang.«

Einen Augenblick herrschte Stille, und Sebastian verdaute das Gehörte. Sie sagte: »Ihr habt nicht gefragt, warum ich dort war.«

»Nun gut, Miss Jarvis: Warum wart Ihr dort?«

»Ich habe Nachforschungen für einen Gesetzesentwurf angestellt, der bei der nächsten Sitzung im Parlament vorgelegt werden soll. Er soll das Leben mittelloser Frauen verbessern. Jahrhundertelang haben die Reden scheinheiliger Moralisten und Pfarrer, die sie von ihren Kanzeln herunter donnern ließen, die Gesellschaft davon überzeugt, dass Frauen deshalb zu Prostituierten werden, weil sie an einem angeborenen Mangel an Moral leiden. Ich hingegen glaube, dass die widerwärtige Wahrheit Folgende ist: Die meisten Frauen nehmen zu diesem Gewerbe nur als letzte, verzweifelte Maßnahme Zuflucht. Wenn sie keine der anderen Möglichkeiten ausschöpfen können, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die unsere Gesellschaft für sie bereithält, erkennen sie rasch, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als zu stehlen, ihren Körper zu verkaufen oder zu verhungern.«

Sebastian warf ihrem beherrschten Antlitz einen Blick zu. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass ein solches Thema die Tochter von Lord Jarvis umtrieb. Aber letztlich wusste Sebastian nur wenig über diese Frau. »Was geschah mit der jungen Dame, die Euren Worten nach mit Euch geflüchtet ist?«

»Sie wurde erschossen, noch ehe wir die Straße erreichten. Zum Glück hatte ich meine Zofe in der Kutsche zurückgelassen, weil sie mit ihrer strengen und tadelnden Ausstrahlung die Frauen vom Reden abhält. Andernfalls wäre sie zweifellos ebenfalls getötet worden.«

Sebastian blickte über den Park und dachte darüber nach. Es war eine unpassende Uhrzeit für eine Ausfahrt. Abgesehen von einem Mann in einem schäbigen Gig, der einem halbwüchsigen Jungen das Fahren beibrachte, lag der Kiesweg menschenleer in der spärlichen Morgensonne.

Nach einer Weile sagte Sebastian: »Ihr werdet mir vergeben müssen, Miss Jarvis, wenn ich das nur schwer glauben kann. Seht Ihr, mir scheint, dass im Falle, jemand hätte es gewagt auf Lord Jarvis’ Tochter zu schießen, jeder Wachtmeister und jeder Richter von ganz England just in diesem Augenblick auf den Beinen wäre, um die Hinterhöfe, Gassen und schäbigsten Häuser zu durchsuchen, damit die Verantwortlichen vor Gericht gestellt würden.«

Sie bewegte ihren Sonnenschirm hin und her, und ihre Wangen röteten sich vor Verärgerung. »Mein Vater war von der Möglichkeit beunruhigt, dass meine Gegenwart im Magdalenenhaus in der Öffentlichkeit bekannt werden könnte …«

»Beunruhigt?«, sagte Sebastian und zog eine Braue hoch.

»Beunruhigt«, wiederholte sie mit Nachdruck.

»In Anbetracht von Lord Jarvis’ Haltung zu Sozialreformen nehme ich an, dass ›konsterniert‹ wohl die passendere Formulierung wäre.«

»Mein Vater weiß, dass meine Ansichten zu Politik sich von seinen unterscheiden.«

Sebastian lächelte nur.

»Er forderte, dass Sir William Hadley persönlich die Untersuchung leiten solle«, sagte sie.

»Dann könnt Ihr ganz beruhigt sein. Als leitender Untersuchungsrichter der Bow Street hat Sir William sich als rücksichtslos, frei von Skrupeln und sehr effektiv erwiesen.«

»Ich fürchte, ich habe mich nicht verständlich ausgedrückt. Sir William wurde angewiesen, sicherzustellen, dass es keine offiziellen Ermittlungen geben wird, da solche Ermittlungen unvermeidlich dazu führen würden, dass mein Name mit dem Zwischenfall in Verbindung gebracht würde. Stattdessen hat mein Vater die Absicht, sich selbst um die Verantwortlichen zu kümmern. Er will, dass alles ruhig abläuft. Sehr ruhig.«

»Lord Jarvis ist ausgesprochen effektiv darin, sich ohne Aufsehen um Menschen zu ›kümmern‹«, sagte Sebastian. »Ich glaube, Ihr braucht Euch keine weiteren Sorgen um die Angelegenheit zu machen.«

»Das einzige Interesse meines Vaters besteht darin, diejenigen zu töten, die mein Leben in Gefahr gebracht haben.«

»Und ist das nicht genug?«

Sie wandte sich ihm zu, und ihre Augen blickten genauso intelligent – und undurchschaubar – wie die ihres Vaters. »Eine der Frauen, die ich letzten Abend befragte, hieß Rose. Rose Jones. Sie kann nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre gewesen sein, hochgewachsen und feingliedrig, mit braunem Haar und grünen Augen. Ich würde schwören, dass sie von guter Herkunft war. Sehr guter Herkunft.«

»Das ist gut möglich. Unglücklicherweise werden in vornehmen Familien geborene Frauen oft durch die Umstände in die Prostitution gedrängt, Miss Jarvis.« Sebastian beendete die zweite Runde durch den Park schweigend, dann kehrte er zur Strand zurück. »Pfarrerstöchter, Töchter von verarmten Rechtsanwälten und Ärzten, Witwen und Waisen von Offizieren, die im Krieg gefallen sind … sie alle gibt es in Covent Garden in viel größerer Zahl, als Ihr es Euch anscheinend auszumalen vermögt.«

»Das mag sein. Aber als wir gestern Abend zum ersten Mal hörten, dass diese Männer in das Magdalenenhaus einbrachen, sagte Rose zu mir: ›Oh Gott, sie haben mich gefunden. Sie sind gekommen, um mich zu töten.‹ Etwas später hörte ich, wie die Männer sagten: ›Sie ist nicht hier‹ und ›Sie muss oben sein.‹ Ich glaube, Rose Jones ist der Grund, weshalb diese Frauen getötet wurden. Ich möchte wissen, wer sie war und warum diese Männer hinter ihr her waren.«

»Warum?«

»Warum?« Die Frage schien sie zu überraschen.

»Ja. Warum möchtet Ihr es wissen? Ordinäre Eifersucht?«

»Nein.«

»Was dann?«

Sie schwieg einen Augenblick. Die feuchte Luft ließ ihr glattes braunes Haar kraus werden, während sie über den nebligen Park hinweg blickte. Ihre Nasenflügel weiteten sich, als sie einen tiefen Atemzug einsog, dann sagte sie: »Ich habe diese Frau in den Armen gehalten, als sie starb. Es hätte ganz leicht ich selbst sein können. Ich nehme an, ich habe das Gefühl, dass ich ihr etwas schuldig bin.«

Ihre Darbietung schien aus dem Herzen zu kommen, und wäre sie ihm von jemand anderem als Jarvis’ Tochter geboten worden, hätte Sebastian ihr vermutlich Glauben geschenkt. Er sagte: »Und warum genau habt Ihr mich aufgesucht?«

Sie wandte ihm das Gesicht zu, und der Anflug von Menschlichkeit, den er einen Augenblick lang in ihr gesehen zu haben glaubte, war verschwunden. »Es ist außerordentlich befremdlich, aber ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass niemand aus meinem Bekanntenkreis viel Erfahrung mit Mordfällen hat. Also habe ich natürlicherweise an Euch gedacht.«

Sebastian stieß ein scharfes Lachen aus.

In ihren Augen glomm Irritation auf. »Ich amüsiere Euch, Mylord?«

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Hero Jarvis bereitete ihm eine Höllenangst. Sebastian schüttelte den Kopf. Doch er sagte lediglich: »Ich bin in der Vergangenheit vielleicht in mehrere Mordermittlungen involviert worden, Miss Jarvis, aber Mörder zu fassen gehört nicht zu meinen bevorzugten Zeitvertreiben.«

»Wie würdet Ihr es dann bezeichnen? Als Eure Berufung?«

Kat Boleyn hatte es einst als seine Leidenschaft, seine Besessenheit bezeichnet, als die selbst auferlegte Strafe für seine Sünden, die sie nur halb verstand. Aber das schien heute schon ein Leben lang her zu sein, und er verschloss seinen Verstand diesem Gedanken gegenüber. Er sagte: »Ich war seit einer ganzen Weile nicht mehr in diese Art der Untersuchungen verwickelt.«

»Ich habe bereits davon gehört, wie Ihr Euch in den letzten Monaten Eure Zeit vertrieben habt«, sagte sie trocken. »Seid versichert, dass ich Euch nicht darum bitte, persönlich zu ermitteln. Ich bitte lediglich um einen Rat, wie ich eine solche Ermittlung beginnen sollte.«

»Ihr habt die Absicht, diese Morde selbst zu untersuchen?«

»Deutet Ihr an, ich sei dazu nicht fähig?«

»Ich deute an, dass Frauen Eures Standes für gewöhnlich Polizisten, die Bow Street Runners etwa, mit ihren Untersuchungen betrauen.«

»Das ist in diesem Fall nicht möglich.«

»Wegen Sir William?«

»Nicht ganz.« Röte überzog ihre Wangen, und er fragte sich, was sie ihm vorenthielt. »Ich habe meinem Vater versprochen, keinen Kontakt zu den Untersuchungsrichtern aufzunehmen.«

Er studierte ihre sorgsam beherrschten Gesichtszüge. »Aber Lord Jarvis hat keine Einwände dagegen, dass Ihr Eure eigenen Ermittlungen durchführt?«

Sie drehte den Kopf zur Seite und betrachtete die Ladenreihe, an der sie vorbei fuhren. Sebastian lachte leise. »Ihr habt es ihm nicht gesagt, richtig? Er wird es herausfinden.« Lord Jarvis unterhielt ein ausgedehntes Netzwerk an Spionen und Agenten, das ihm den wohlverdienten Ruf der Allwissenheit beschert hatte.

Sie sagte: »Ich habe nicht vor, meine Handlungen zu leugnen.«

Ein Anflug von Bewunderung durchlief Sebastian. Es gab nicht viele Menschen, die den Mut besaßen, den Weg des mächtigen Vetters des Königs zu durchkreuzen. Er sagte: »Ihr seid Euch auch darüber bewusst, dass ich die Information, die Ihr mir gegeben habt, nutzen könnte, um Euch zu schaden.«

»Ihr meint, um meinem Vater durch mich zu schaden.« Sie erwiderte seinen Blick, ohne zu zwinkern. »Dieser Gedanke ist mir tatsächlich gekommen. Es ist ein Risiko, dass ich bereit bin einzugehen.«

»Die Identität dieser Frau herauszufinden ist für Euch von derartiger Wichtigkeit?«

»Ich glaube, nichts ist jemals von solcher Wichtigkeit für mich gewesen«, sagte sie schlicht.

Spannungsgeladene Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Es gab ein Dutzend guter Gründe, dieser Frau aus dem Weg zu gehen und nur sehr wenige Anreize, ihr zu helfen. Und doch war die Verführung, Jarvis zu verärgern, mächtig. Doch dieser Umstand alleine hätte noch nicht gereicht, ihn in Versuchung zu führen, wäre da nicht auch ein vages Interesse, das unerwartet rasch stärker wurde. Ihm fiel nichts ein, das ihn in den letzten acht Monaten interessiert – gar gefesselt – hatte.

Er lenkte den Zweispänner neben ihre Kutsche und sagte: »Wenn ich es täte, Miss Jarvis, würde ich damit anfangen, mit den Behörden zu sprechen. Herausfinden, was sie bisher ermitteln konnten.«

Zum ersten Mal, seit sie sich an diesem Morgen zu ihm gesellt hatte, konnte er eine leichte Erschütterung in ihrer Contenance erahnen. »Aber das kann ich als Einziges nicht tun.«

»Nein. Aber ich kann es tun.«

»Ihr? Aber … aus welchem Grund solltet Ihr Euch in diese Sache verwickeln lassen?«

»Ihr wisst, warum.«

Sie hielt seinem Blick stand. Und in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass sie den Grund tatsächlich kannte. Sie wusste, dass er jede Gelegenheit ergreifen würde, ihrem Vater Unbill zu verursachen. Ja, mehr als das: Sie war sogar von dieser Prämisse ausgegangen.

»Danke sehr, Mylord«, sagte sie und erlaubte sich ein angedeutetes Lächeln, als sie sich umwandte, um abzusteigen. »Werdet Ihr es mich wissen lassen, wenn Ihr etwas herausfindet?«

»Gewiss«, sagte Sebastian und machte sich auf die Suche nach seinem Laufburschen.