Leseprobe Das Salz der Hoffnung

Liliana

Hastings, England

April 1786

Die Sonne näherte sich dem Horizont und der wolkenlose Himmel versprach eine sternklare, wenn auch kühle Nacht.

Liliana verließ die Fregatte ihres Vaters mit gemischten Gefühlen. Sie hätte gern einen weiteren Sommer mit ihm und ihrer Tante Effie verbracht. Ihn besser kennengelernt und ein wenig der verlorenen Jahre nachgeholt. Diesmal würde sie die Fahrt jedoch auf einem anderen Schiff bestreiten.

Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte. Es zog sie zu der kleinen Bark, die unweit vertäut lag. Zu dem jungen Kapitän, der ihr Herz gefangen hielt: Finlay. Allein der Name ließ ihren Körper beben. Niemals hätte sie gedacht, dass Gefühle derart stark sein konnten.

Die Wellen schlugen plätschernd gegen die Rümpfe der vielen Schiffe, die hier im Hafen von Hastings angelegt hatten. Eine leichte Brise wehte ihr entgegen. Sie atmete tief die Frühlingsluft ein, die sich mit dem salzigen Geruch des Meeres vereinte, und wäre am liebsten vor Glück den Pier entlang gesprungen, wie es das Herz in ihrem Brustkorb gerade tat.

»Kann es sein, dass es Sie aus mir unerfindlichen Gründen von unserem Schiff wegzieht, Miss Preston?« Kai, der neben ihr ging und den Koffer trug, schien Lilianas Gedanken zu erraten.

Liliana lachte. Sie war froh, dass der Hamburger sie zur Alecto begleitete und kein ihr unbekannter Matrose. »Es scheint in der Tat ein mysteriöser Wind zu wehen, der mich antreibt, Mr Schmidt. Aber, wer weiß, vielleicht müssen Sie mich unterwegs erneut auflesen.«

Er hob abwehrend die freie Hand. »Hoffen wir es nicht.« Sie näherten sich Finlays Dreimaster und Kai kratzte sich über den blonden Dreitagebart, der seinem recht schmalen Gesicht ein wenig Härte verlieh. »Obwohl ich nicht ganz verstehe, wie man eine Fregatte wie die Nemesis für diese Nussschale verlässt. Und sagen Sie jetzt nicht, es sei die bessere Begleitung!«

Liliana lachte herzhaft auf. »Ich werde mich hüten, so etwas lautstark zu behaupten, dennoch zählt eine einzelne Person oft mehr als viele zusammen.«

Sie betrachtete die Alecto voller Sehnsucht. Auch wenn kleiner und weniger elegant als die Schiffe um sie herum, fand Liliana die Bark mit ihrem blauen und goldenen Anstrich wunderschön.

Liliana seufzte innerlich, als sie, gefolgt von Kai, vor das Schiff trat. So viel war geschehen die vergangenen Stunden. Finlay hatte seine Freiheit gewonnen und sie sein Herz.

Eine kurze Beklemmung ließ Liliana ihren Gang verlangsamen. War es eine überstürzte Entscheidung, mit diesem jungen Mann auf Fahrt zu gehen, den sie erst im letzten Jahr kennengelernt hatte? Insgeheim musste sie jedoch zugeben, dass ihr Herz Finlay mehr Vertrauen schenkte als dem eigenen Vater. Auch ihn kannte sie schließlich kaum.

Er kam ihnen in flotten Schritten den Steg herunter entgegen. Dieser Anblick und sein breites Lächeln ließen alle Zweifel im Wind verwehen. Finlay hatte sich ein frisches Hemd und eine saubere beige Kniehose angezogen und sich sogar rasiert. Letzteres stimmte Liliana beinahe etwas traurig. Auch wenn er in dem blauen Kapitänsrock mit den goldenen Manschetten nun eleganter und erholter wirkte, hatte der blonde Vollbart Finlays Aussehen doch eine gewisse Verwegenheit verliehen. Seine wunden Handgelenke waren verbunden, sicher hatte sich der Schiffsarzt, Benedict Hurley, darum gekümmert.

Er nahm den Koffer entgegen. »Danke, Kai!«

»Aye, Finlay, dann wünsche ich gute Fahrt. Und pass mir auf das Fräulein auf, verstanden? Dass ihr ja kein Haar gekrümmt wird.«

Finlay nickte. »Das verspreche ich. Grüße bitte Jack, Effie und die anderen von mir.«

Kai salutierte ihm zu, verbeugte sich kurz vor Liliana und ging. Sie wunderte sich etwas über die persönliche Anrede, bis ihr einfiel, dass auch der Zimmermann den jetzigen Kapitän der Alecto bereits von der Zeit auf der Black Hound her kannte. Damals war er zwar auch noch Lehrling gewesen und kaum älter als Finlay, aber doch höhergestellt als der Schiffjunge.

Finlay ließ Liliana den Vortritt und folgte ihr dann über den Steg an Deck. Die Matrosen hielten kurz in ihrer Arbeit inne, um ihnen Platz zu machen, und schleppten danach weiter Fässer und Kisten die Rampe hinauf und in den Laderaum. Vermutlich neue Lebensmittel, die der Schiffskoch Victor Panlow eingekauft hatte. Nach der langen Zeit der Gefangennahme waren die Vorräte beinahe gänzlich von den Männern aufgezehrt worden.

»Miss Lily!« Ein schmaler, vierzehnjähriger Junge mit roten Haaren kam zu ihnen und strahlte dabei über das ganze Gesicht. »Fahren Sie nun wieder mit uns?«

»Aber gewiss doch, ich habe euch alle ohnehin sehr vermisst.«

Duncan kratzte sich am Hinterkopf. »Auf dieser Fahrt werden Sie mir wohl nicht bei den Arbeiten helfen?«

Sie lachte. »Mal sehen, wie viel Muße ich haben werde.«

»O nein!« Finlay hob abwehrend, aber sichtlich amüsiert die Hände. »Es tut mir leid, Duncan, aber du wirst deine Aufgaben in Zukunft wohl wieder alleine erledigen müssen. Ich lasse mir nicht nachsagen, meine weiblichen Gäste nicht wie solche zu behandeln.«

Liliana sah Finlay schief an. »So?«

Er schmunzelte. »Du bestandest darauf, erinnere dich.«

Sie zog einen Schmollmund. »Mir wurde es zu eintönig in der Kabine.«

Finlay trat vor sie und umfasste ihre Taille. »Dann werde ich von nun an dafür sorgen, dass diese Fahrt aufregend genug für deinen Geschmack wird.«

Sie verlor sich in seinen dunklen Augen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Zu gern würde sie ihre Lippen auf die seinen legen, doch sie fand nicht den Mut dafür.

Duncan kicherte neben ihnen.

Finlay löste seinen Blick von ihrem und sah streng zu dem Jungen. »Das gilt auch für dich!« Er wies mit der Hand zu seinem Bootsmann. »Husch zu Mr Braden nun, auf meinem Schiff wird nicht faul herumgestanden!«

»Aye, Kapitän«, rief Duncan und rannte davon, noch immer mit einem frechen Grinsen auf den Lippen.

Liliana blickte dem Jungen nach. Ein anderer Gedanke drängte sich in ihren Geist. »Wirst du etwas wegen Parker unternehmen?«

Finlays Gesichtszüge verspannten sich. »Ich beabsichtige nicht, diesen räudigen Hund ungeschoren davonkommen zu lassen. Nach all dem, was er mir und besonders auch Duncan angetan hat. Doch die Fahrt geht vor. Sobald wir zurück in England sind, stelle ich Nachforschungen über ihn an.« Er atmete tief durch. »Vielleicht ist die Pause sogar zu unserem Vorteil und er wiegt sich in Sicherheit.«

Liliana nickte. Sie suchte seinen Blick, doch er schaute weiter auf das Meer hinaus. Er wirkte zurückhaltender als noch wenige Stunden zuvor. Besann er sich auf seine Erziehung oder kamen ihm Zweifel, nachdem die erste Euphorie verflogen war? Sie schüttelte diese lästigen Besorgnisse ab. Dies war für sie beide eine neue Situation und man sollte nichts überstürzen.

Liliana beschloss, sich wie die erwachsene junge Frau zu benehmen, die sie schließlich war. Immerhin wollte sie an Bord helfen und eine Lehre zum Quartiermeister absolvieren. »Beabsichtigst du, in den Niederlanden wieder deine Logbücher in dieser Bank zu deponieren?«

Finlay nickte. »Das und mein Geld, damit nichts auf Grund läuft. Außerdem wollte ich Waren einkaufen und nach Hamburg bringen. Dort ist der Absatz zurzeit am besten, da viele Schiffe in das neue Amerika aufbrechen.« Er lächelte. »Die Alecto ist nun mal ein Handelsschiff.«

Liliana hob grinsend den Zeigfinger. »Solange es keine deiner speziellen Geschäfte sind.«

Finlay warf ihr einen Blick von der Seite zu, der sie an einen frechen Jungen erinnerte. »Jetzt, wo du der neue Quartiermeister werden willst, bekommst du ohnehin einen kompletten Überblick über meine Taten und darfst sogar mitreden.« Er nahm den Koffer auf. »Komm, gehen wir erst einmal unter Deck.«

Liliana nickte und folgte ihm die Treppe hinunter. »Werde ich bei dir wohnen?«, fragte sie leise. Ihr Herz klopfte laut bei dem Gedanken und sie war sich nicht sicher, ob aus Furcht oder Aufregung.

Finlay zögerte. »Ich denke, es ist besser, wenn du deinen eigenen Raum hast auf dem Schiff«, sagte er beinahe entschuldigend. Er drehte sich zu ihr und der weiche Blick seiner Augen ließ ihre Haut kribbeln. »Auch, wenn es beinahe körperlich schmerzt, dich nicht jede Nacht in meinen Armen halten zu dürfen, möchte ich doch kein falsches Bild bei der Mannschaft erwecken. Dafür bedeutest du mir zu viel. Die Männer sollen dich ehrenvoll und mit Respekt behandeln und nicht als eine … Gespielin ihres Kapitäns betrachten.« Er sagte das Wort mit verzerrter Miene, als biss er dabei auf eine Zitronenscheibe.

Liliana spürte die Hitze in ihr Gesicht steigen. Natürlich, sie waren nicht verheiratet! Was würden die anderen denken? »Ich verstehe, danke.« Innerlich ging ihr das Herz auf. Er kam aus einer anderen Gesellschaftsklasse als die Matrosen und war entsprechend erzogen worden, dennoch empfand sie ein solches Verhalten nicht als selbstverständlich. Sie liebte ihn für diese Wertschätzung ihr gegenüber nur noch mehr.

Vor ihrer alten Kabine blieb sie an der Türschwelle stehen und haderte etwas damit, den Raum zu betreten.

»Möchtest du eine andere?«, fragte Finlay bei ihrem Blick.

»Nein, ich mag diese Koje. Es ist nur so eigenartig, sie wirkt vertraut und doch wieder nicht. Als wäre ich eine andere Person.« Sie lächelte ihm zu. »Ich habe mich jedoch recht wohl und vor allem sicher gefühlt hier.« Besonders, da sie diese von innen verriegeln konnte, im Gegensatz zu ihrem Gefängnis auf dem Piratenschiff.

Finlay stellte den Koffer ab. »Seltsam, welche Entwicklung das alles genommen hat, wenn ich so zurückdenke«, sagte er leise in einem derart sanften Ton, dass Liliana seine Worte streichelnd auf der Haut spürte. Die ernste Mimik ging in ein Schmunzeln über. »Ehe man es sich versieht, bist du wieder an Bord. Wie ein Bumerang.«

Liliana runzelte die Stirn. »Was ist das?«

»Ein Wurfgerät der australischen Ureinwohner, das James Cook nach England brachte. Es ist so geformt, dass es, wird seine Beute nicht getroffen, zurück zum Werfer fliegt.«

Sie legte den Kopf schief. »Bedeutet das, du verfehltest dein eigentliches Ziel?«

Finlays Lächeln ging in ein freches Grinsen über. »Nun, strenggenommen war Gold meine ursprüngliche Beute, die ich mit dir zu erheischen suchte. Doch stattdessen kam ein weitaus größerer Schatz zurück.«

Liliana schlang ihre Arme um seinen Hals. »Mein Herz getroffen hast du. Nun werde ich wohl nie mehr davonfliegen, sofern du mich nicht erneut wirfst.«

»Ich werde mich hüten«, flüsterte er. Sein Gesicht näherte sich ihrem.

Liliana wich leicht zurück und strich ihm über das glatte Kinn. »Der Vollbart gefiel mir.« Sie verfluchte sich innerlich für ihre Feigheit. Zu gern hätte sie ihn erneut geküsst. Warum nun diese Furcht?

Finlay nahm ihre Hand, die noch auf seiner Wange lag, und küsste sie auf die Innenfläche. »Auch, wenn ich Gefahr laufe, dich zu enttäuschen, werde ich ein erneutes Wachstum verhindern.«

Liliana spürte bei der Berührung ein wohliges Kribbeln im Bauch. »Weshalb wehrst du dich derart dagegen?«

»Ich mochte es nie, wenn mir ein Bart wuchs. Es bedeutete stets eine fehlende Möglichkeit, sich um die eigene Körperpflege zu kümmern. Sei es aufgrund von Kämpfen, Mangel an Wasser oder durch Gefangenschaft. Mein Geist verbindet stets unangenehme Situationen damit. Ich fühle mich rasiert einfach freier und in gewisser Weise auch zivilisierter.«

»Ich verstehe.« Ihre Finger glitten zärtlich über seine Wangen. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen braunen Augen ab. Die Wangenknochen standen noch immer stark hervor. Eine Folge der Mangelernährung im Gefängnis. »Du siehst müde aus.«

»Das bin ich.« Er atmete tief durch. »Ich werde mich ebenfalls zurückziehen. Es waren anstrengende Tage und wir stechen morgen früh mit der ersten Flut in See.«

»Schlaf gut.«

»Ganz gewiss. Nicht nur, weil ich mich nach der langen Zeit in der Zelle endlich wieder auf ein weiches Lager betten darf, sondern auch, weil ich dazu noch dein Herz bei mir weiß.« Er nahm ihre Hand, strich leicht mit den Fingern über die Knöchel und hauchte einen Kuss darauf.

Die sanfte Berührung seiner Lippen brachte ihr Herz beinahe zum Zerbersten vor Glück.

***

Bereits mit den ersten Sonnenstrahlen am nächsten Morgen stand Liliana auf der Brücke. Sie hielt sich an der Reling fest und beobachtete, wie sich die Küste Englands langsam entfernte. Die weißen Klippen Hastings schimmerten durch die Dämmerung, während der Wind ihr einige kastanienbraune Strähnen aus den hochgesteckten Haaren wirbelte. Erneut roch es nach Freiheit und Abenteuer.

Hinter ihr stand Joshua Brown breitbeinig am Steuerrad. Beim Ab- und Anlegen übernahm der muskulöse Engländer persönlich das Ruder.

Die geblähten Segel leuchteten hellorange in der aufgehenden Sonne und trieben die Alecto schwungvoll über die Wellen wie der Frühlingswind junge Pferde über eine frische Weide. Der Lärm des Hafens verstrich im Wind und eine angenehme Stille kam auf. Abgesehen von Wellenschlägen gegen den Bug und knarzenden Seilen. Liliana fiel erneut auf, wie wunderschön dieses Schiff war.

Finlay trat neben sie, ebenfalls immer eine Hand am Geländer. Die Schräglage des Schiffes und der feuchte Boden forderten den Gleichgewichtssinn mehr heraus als auf der größeren Nemesis.

»Wieder auf Fahrt.« Er atmete tief ein und hielt sein Gesicht in den Wind. »Ich liebe diesen Moment, wenn man aus dem engen Hafen hinaus in die Stille und Weite des Horizonts segelt. Gibt einem immer aufs Neue eine Gänsehaut.«

»Das Gefühl der Freiheit?« Sie spürte das gerade besonders stark. Je weiter sie sich England – insbesondere ihrer Mutter – entfernten, desto mehr verblassten alle Sorgen und Probleme.

»Ja, aber auch der Nervenkitzel der Ungewissheit.« Sein Blick nahm einen schwärmenden Ausdruck an. »Ich liebe das Meer, wenngleich es ein untreuer Gefährte ist. Es kann einen liebkosen und im Sonnenschein dahinschweben lassen und im nächsten Moment greift es nach dir mit finsteren Klauen und versucht, dich in seine Tiefen zu reißen. Die See kennt weder Vorwarnung noch Gnade. Sie ermöglicht dir so viel und nimmt einem andererseits das Leben, ohne mit der Wimper zu zucken.«

Liliana ertappte sich dabei, sehnsüchtiger auf den Mann neben sich zu schauen als auf den weiten Horizont. Ähnelte das Meer so nicht der Liebe? Ist diese nicht ebenso wandelbar, wie es so oft in Gedichten und Liedern besungen wird?

Wie würde diese Reise mit Finlay zusammen wohl ausgehen? Was, wenn sich ihre Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllten und es in einem Streit endete? Wenn die Faszination nachließe und sie erführen, dass sie es nicht lange zusammen aushielten? Würde diese Fahrt eine Tragödie oder ein Traum werden? Vielleicht etwas dazwischen? Liliana schüttelte die Gedanken ab und versuchte, den Moment zu genießen.

Ezekiel Braden trat zu ihnen auf die Brücke. Sie musste noch immer zweimal hinsehen, um ihn zu erkennen. Er wirkte ohne den buschigen Vollbart befremdlich, aber auch um einiges freundlicher. Eine Tatsache, die dem brummigen Bootsmann sicher nicht gefiel.

»Ich habe die erste Schicht zum Frühstücken geschickt«, sagte er. »Wetter und Wind sind uns wohlgesonnen heute.«

»Gut.« Finlay nickte. »Ich denke, das sollten wir auch tun. Kommst du mit, Liliana?«

Sie sah auf. »Mir fällt gerade auf, dass ich noch nie mit dir gespeist habe auf diesem Schiff.«

Finlay lachte. »Ich habe nur eine Messe, kein eigenes Speisezimmer wie dein Vater auf der Nemesis. Wir dinieren zusammen mit dem Führungsstab, die Matrosen nehmen ihr Essen unter Deck ein. Ich hoffe, die fehlende Privatsphäre stört dich nicht.«

»Natürlich nicht.« Sie lächelte. »Die Bedienung aufs Zimmer damals war, wenn auch luxuriös, doch recht eintönig.«

Finlay schüttelte den Kopf. »Es kommt mir noch immer vor, als wärst du da eine andere Person gewesen.«

Und jetzt würde sie sogar eine Lehre zum Quartiermeister ablegen, dachte Liliana nicht ohne Stolz. Würde sie der Aufgabe gewachsen sein? So wirklich viel wusste sie noch nicht über das Schiff und seine Besatzung. Das sollte sich auf dieser Fahrt ändern. Sie sah zu Finlay. »Wie viele Männer dienen unter dir?«

»Zurzeit gibt es sechsundfünfzig Besatzungsmitglieder, mit uns beiden achtundfünfzig.«

»Das ist ja weniger als die Hälfte der Nemesis

»Die Alecto ist auch nur etwa halb so groß und weit weniger bewaffnet. Wir haben lediglich zehn Kanonen und nicht einmal einen extra ausgebildeten Kanonier dafür.«

Liliana erinnerte sich an den Afrikaner Kweku, der ihr alles über die Waffen an Bord eines Segelschiffes beigebracht hatte. »Warum eigentlich nicht?«

»Es lohnt nicht. Ein Kanonier bekommt weit mehr Heuer als einfache Matrosen und was der weiß, können Ezekiel, Joshua und ich genauso. Ich brauche den Platz für Frachten und versuche ohnehin, Kämpfe zu vermeiden. Die Bewaffnung dient nur der Verteidigung.«

»Oder um Freunden Beistand zu leisten.« Ihr Herz ging auf bei der Erinnerung an ihr Treffen damals in Basse Terre nach dem Seegefecht.

»Oder das.« Er lachte und machte eine ausladende Geste. »Komm, lass uns frühstücken.«

 

In der kleinen Messe, in der es bereits nach Tee duftete, erwarteten sie einige bekannte Gesichter: der junge Schiffsarzt Dr. Hurley, der Zimmermann Ewan Kelly mit der auffälligen Zahnlücke zwischen den Schneidzähnen und der irische Segelmacher Ryan O’Connor, dessen leuchtend orange Locken die roten Haare Duncans noch ausstachen. Sogar seine Gesichtsfarbe wies eine ähnliche Schattierung auf. Es wunderte nicht, dass er von allen nur »Red« genannt wurde.

Die Männer zogen ihre Mützen – Red sein Tuch – vom Kopf, als sie eintraten.

»Welche Freude, Sie erneut an Bord zu haben, Miss Preston.« Dr. Hurley deutete eine Verbeugung an. »Und auf wesentlich angenehmere Weise.« Er warf seinem Kapitän einen tadelnden Blick zu.

»Ben sprach sich penetrant gegen meine inoffiziellen Geschäfte aus«, fügte Finlay erklärend zu. »Er vertritt die Ansicht, dass man aus Menschenleben keinen Profit schlagen sollte.«

Liliana lächelte dem Schiffsarzt zu. »Das ehrt Sie, Dr. Hurley, danke dafür.«

»Der Erfolg einer Überzeugung obliegt jedoch Ihnen.« Seine vergleichsweise freundliche und zuvorkommende Art wirkte einnehmend. »Meine Argumente verwarf unser Kapitän stets mit dem Einwand, dass wir die Damen immerhin retteten und unsere Tat durch den Preis in den Augen der Familien an Wert gewönne.«

Liliana lächelte. Sie mochte den jungen Mann mit den braunen Haaren und graublauen Augen sehr. Damals hatte er sich stets etwas von ihr zurückgezogen, nun verstand sie, warum.

»Eine derartige Aufwandsentschädigung zahlten viele der reichen Angehörigen gerne«, warf Finlay rechtfertigend ein. Offenbar wollte er den Vorwurf so nicht stehenlassen. »Für die war es eine lächerliche Summe und sie bekamen im Gegenzug noch eine aufregende Geschichte für den nächsten Hofball präsentiert, mit der sie vor anderen Adligen mit ähnlich langweiligem Leben prahlen konnten.«

»Bis sich eines Tages jemand rächt und der Schuss nach hinten losgeht.« Ben richtete warnend den Zeigfinger auf ihn. »Denke an deine Gefängniszeit erst kürzlich! Ich bin überzeugt, Miss Preston rettete uns gerade rechtzeitig den Hals.«

Finlay hob die Hände, als wäre der Finger des Arztes eine Pistole. »Ja, du hast recht. Ich sehe es heute ein.«

Sie setzten sich und ein Matrose trug Brot, Marmelade sowie Porridge auf und schenkte heißen Schwarztee ein.

Finlay umfasste mit einem leichten Seufzer die Tasse. »Ich vermisse meinen Kaffee.«

»Die Vorräte sind leider restlos aufgebraucht«, brummte Ezekiel. »Aber du hast ja deine Quellen in Hoorn.«

Der Steuermann Joshua Brown, der sich nun ebenfalls zu ihnen gesellte, lachte laut. »Ich weiß nicht, was du an diesem grauenvollen Gebräu findest.« Er nahm neben Finlay Platz und schaufelte sich Porridge in seine Schüssel. »Das Gesöff wollen die ›Sons of Liberty‹ doch als amerikanisches Nationalgetränk ernennen, um gegen uns teetrinkende Briten zu protestieren.«

Finlay winkte ab. »Ein solches Argument zieht bei mir nicht. Im Gegenteil, wäre ich ein patriotischer Engländer, würde diese Tatsache mich erst recht nicht abhalten, Kaffee zu trinken, selbst wenn ich ihn widerlich fände.«

Joshua schüttelte lachend den Kopf. »So kenne ich dich.«

***

Am Nachmittag saß Liliana mit Finlay zusammen in dessen Kartenraum. Er zeigte ihr die Listen über die Einkäufe von Waren und Lebensmitteln. Sie genoss dieses traute Beisammensein ohne den Trubel an Deck.

»Wichtig ist, dass wirklich penibel Buch geführt und exakt berechnet wird«, erklärte er. »Der Platz an Bord ist beschränkt und mit zu viel Ladung sind wir langsamer und liegen tiefer. Allerdings hängt auch unser Überleben auf See von genug Wasser und unverdorbener Nahrung ab. Bei längeren Fahrten könnte der kleinste Fehler fatale Folgen haben.«

Liliana versuchte, sich einen Überblick über alle Waren und Kosten zu machen. Sie staunte, wie wenig ein einfacher Matrose verdiente, andererseits waren die gesamten Ausgaben nicht gerade gering. »Der Bedarf an Lebensmitteln ist erstaunlich hoch.«

»Die Männer arbeiten schwer und wollen entsprechend versorgt werden. Auch muss man stets damit rechnen, dass doch etwas verdirbt, selbst bei guter Lagerung. Gemüse fault schnell und im Pökelfleisch können Maden sein, sogar bei intensiver vorheriger Inspektion.«

Liliana nahm den Rechenschieber zur Hand und sortierte weiter die Zahlen und Daten in ihrem Kopf. Das Erstellen und Führen von Listen traute sie sich durchaus zu und im Rechnen war sie ebenfalls immer recht gut gewesen. Dennoch verspürte sie noch immer eine Unsicherheit in sich. War sie als Frau einer solchen Aufgabe überhaupt gewachsen?

Ihre Anwesenheit auf diesem Segelschiff kam ihr unwirklich vor. Es schien so anders als die Gedanken, die sie sich als Kind über ihre Zukunft gemacht hatte. Früher hatte sie sich oft gefragt, ob sie nachgeben und einen von Eliza ausgewählten Junggesellen heiraten oder unverheiratet bleiben würde wie ihre Tante. Insgeheim hatte sie gehofft, sich eines Tages in einen Mann verlieben zu dürfen und mit ihm zusammen in einem kleinen Haus zu wohnen. Vielleicht gar Effies Landgut zu übernehmen.

Von dem behüteten Aufwachsen bei ihrer Tante auf dem Land urplötzlich in ein Abenteuer auf See mit ihrem Vater gerissen zu werden und sich schließlich in einen Kapitän ohne festen Wohnsitz zu verlieben und diesem auf sein Schiff zu folgen, damit hatte sie im Traum nicht gerechnet.

Trotz allem war sie froh und dankbar, dass ihr Leben nicht eintönig normal verlief.

Finlay rieb sich das Kinn. »Wir sollten in Bristol deinen Vater fragen, ob der etwas über diesen Travis Parker weiß. Ich fürchte, meine Kontakte reichen nicht aus, wenn es um die königliche Marine geht.«

Sie presste die Lippen zusammen. »Sag ihm aber nichts davon, was Duncan angetan wurde, sondern nur über den Betrug. Er reagiert bei derartigen Dingen meist sehr … hitzig.« Sie musste an Pelt denken, den Piratenkapitän, der sie entführt hatte. Nachdem Jack ihn in die Finger bekommen hatte, überlebte er länger, als er es sich gewiss gewünscht hätte. Es hatte sie erschreckt, ihren Vater, der ansonsten ein gütiger Mensch war, derart jähzornig zu sehen. Auch, wenn es um wirklich schlimme Verbrecher ging, für Liliana war Folter mehr Vergeltung als Strafe.

Finlay lächelte schwach. »Ich weiß das nur zu gut, diese Seite von ihm ist mir wohlbekannt. Immerhin diente ich einige Jahre unter ihm.«

»Ist Vater ein sehr strenger Kapitän?« Sie sah ihn vorsichtig von unten herauf an.

Finlays Gesicht blieb ausdruckslos. »Sagen wir es so: Er ist streng, aber durchaus fair. Ich war jedoch in meinen jungen Jahren sehr halsstarrig und konnte es nicht lassen, ihn zu provozieren. Unsere Beziehung ist keine gewöhnliche, wie du bereits erfahren musstest. Das zeigte sich schon damals an Bord der Black Hound

»Wie meinst du das?«

»Ich war nie ein normaler Matrose und er kein normaler Kapitän. Das wurde mir jedoch erst Jahre später bewusst.« Finlay atmete tief durch. »Dies alles mit Worten zu verdeutlichen, ist schwer. Ich würde mir auch niemals anmaßen, Jack Farson mit Kritik zu überhäufen, dafür stehe ich zu sehr in seinem Schatten. Doch dein Vater besitzt eine eigene Sicht der Dinge, die nicht selten von althergebrachten Normen und Regeln abweicht.« Er machte eine kleine Pause, beugte sich leicht vor und legte seine gefalteten Hände auf dem Pult zwischen ihnen ab. Sein Blick hielt sie gefangen. »Du hast gewiss schon bemerkt, dass es rau zugehen kann auf einem Schiff. Disziplin wird großgeschrieben. Ein einfacher Matrose denkt für gewöhnlich nicht darüber nach, welche Beweggründe sein Kapitän hat. Was er befiehlt, ist Gesetz. Ich erlag jedoch dem Glauben des reich geborenen Kaufmannssohns, dass er nicht das Recht habe, mir seine Meinung aufzudrängen. Ich gehorchte, zeigte jedoch deutlich, wenn ich nicht derselben Ansicht war.« Er lachte freudlos. »Jeder andere Kapitän der königlichen Marine hätte bei solch einem Verhalten gewiss versucht, diesen Hochmut mit eiserner Gewalt zu brechen und mich gefügig zu machen. Im Grunde hatte ich echtes Glück mit Jack. Auch weil er mich vom Einfluss Hollands rettete, was ich ebenfalls erst später zu schätzen lernte. Der hätte mich ohne Zweifel in eine falsche Richtung gezogen. Kurzum: Dein Vater erstickt selbstständiges Denken nicht und schürt keinen Hass, fordert aber dennoch Gehorsam.«

»Bestrafte er oft?«

»Nein. Bei ihm genügte ein strenger Blick und alle zogen den Kopf ein.« Finlay zuckte die Schultern. »Seine ganze Haltung und Mimik strahlten schon Autorität aus. Wer sich gehen ließ, bekam Strafstunden. Aber gezüchtigt hat er niemanden damals … zumindest nicht öffentlich. Er zitierte ab und zu problematische Matrosen zu sich, doch was hinter der verschlossenen Tür geschah, erfuhr kein Dritter. Was immer er dort mit den Männern anstellte, es wirkte. Doch die Mannschaft der Black Hound vergötterte den Kerl auch beinahe nach der Sache mit Hollands. Die wären für ihn in die Hölle gesegelt. Ich glaube, wenn ein anderer Matrose sich Jack offen widersetzt hätte, wären ihm vielmehr Prügel der übrigen Mannschaft sicher gewesen.«

»Aber bei dir haben sie es akzeptiert?« Sie dachte an das Gespräch damals auf der Nemesis, dessen Erinnerung noch immer ihr Herz schneller schlagen ließ. Selbst seine direkten Fragen stellte er mit einem derartigen Charme, dass sie ihm nichts hatte übelnehmen können. Auch nun musste sie sich zurückhalten, diesem wundervollen Mann nicht auf die unsittlichste Weise um den Hals zu fallen. Finlays Schmunzeln half nicht sonderlich dabei, diesen Drang zu unterdrücken.

»Ich hatte Glück, dass die Männer mich bereits kannten. Sie verziehen mir einiges an jugendlicher Unvernunft.«

Liliana lehnte sich über den Tisch und ergriff seine linke Hand, die noch immer auf der Kante ruhte. Trotz der ansonsten feinen Gesichtszüge und aristokratischen Haltung waren seine Hände schwielig rau und zeugten von langjähriger Erfahrung mit harter Arbeit. Liliana musste an seine Vergangenheit denken: ein reicher Kaufmannssohn, dessen Vater das gesamte Vermögen versoffen und ihn noch dazu an einen Walfänger verspielt hatte. Wenn die Black Hound diesen nicht geentert hätte und ihn als Jungen übernommen, hätte Finlay die Fahrt sicher nicht lange überlebt.

»Wie hast du das geschafft, dich derartig beliebt zu machen?«

Finlay schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Ich versuchte damals nach dem Kapern, mich an Bord der Black Hound zu schleichen. Es schien mir der einzige Ausweg aus der Hölle und vor dem sicheren Tod. Mir ist gewaltig das Herz in die Hose gerutscht, als mich Ove erwischte. Verdammt, ich war fünfzehn, überarbeitet und halb verhungert, während dieser Norweger sich als muskelbepackter Riese vor mir aufbaute und mich am Schlafittchen packte.« Er erwiderte den Druck und schob seine Finger zwischen die ihren.

Liliana spürte die Wärme durch ihren Körper fließen. »Ove deutete mal an, du hättest ihm damals tapfer in die Augen geschaut und so bei ihm an Achtung gewonnen.«

Finlay atmete tief durch. »Leider hat all dies bei deinem Vater nicht den erhofften Erfolg erzielt.«

Sie runzelte die Stirn. »Zitierte er dich nie zu sich?«

»Nein. Ich versuchte auch, das zu vermeiden. Ich war immer sehr gut im Ausweichen heikler Situationen. Das lernte ich bereits als Kind. Wenn mein Vater betrunken war, versteckte ich mich im Wald, bis er schlief.« Seine Mimik versteinerte.

Liliana stand auf und trat um das Pult zu ihm. »Du denkst noch immer ab und zu an ihn, oder?«

Finlay erhob sich ebenfalls, wich ihrem Blick jedoch aus. »In letzter Zeit öfter. Weißt du, es ist seltsam, so sehr ich auch versuche, meinen Vater zu verachten, muss ich immer überlegen, ob er stolz auf mich wäre, sähe er mich heute. Besonders mit dir zusammen.«

Sie legte ihre Hände auf seine Brust. »Vielleicht solltest du doch mal versuchen, ihn ausfindig zu machen? Und wenn es nur deswegen wäre, um Gewissheit zu haben und nicht mehr zu grübeln.«

Er presste die Lippen zusammen und schwieg.

Liliana strich ihm sanft über das Gesicht. »Ich bin bei dir.«

Finlay lächelte. »Danke!« Er blickte ihr tief in die Augen. »Dass du hier bei mir bist und für deine Worte.« Sein Gesicht näherte sich dem ihren.

Liliana gab dem Drang nach, niemand sah sie hier. Sie schloss die Augen, kurz bevor seine warmen Lippen die ihren berührten. Ein angenehmes Kribbeln erfüllte sie und sie genoss jede Sekunde dieses Kusses.

***

Am Nachmittag des nächsten Tages stand Liliana an ihrem Lieblingsplatz an der Reling und sog die frische Meeresluft in sich auf. Haut und Kleidung bedeckten bereits eine salzige Schicht.

Finlay rief seinen Männern noch Befehle zu und trat dann neben sie.

»Sind das schon die Niederlande?«, fragte sie.

»Ja, es ist keine lange Fahrt. Wenn die starken Gezeitenströme in der Straße von Dover nicht wären, hätten wir die Strecke auch an einem Tag schaffen können.«

»Ich glaubte immer, Kontinentaleuropa läge weiter entfernt.«

Er schmunzelte. »Das tut es lediglich in den Köpfen vieler Engländer.«

Von weitem erkannte sie die breiten Anlegestege, die Hoorn umgaben. Aus der Mitte der Häuser ragte ein großer Glockenturm hervor. Die Gebäude selbst wirkten prunkvoll, viele Dächer waren mit Silber verziert.

»Eine hübsche Stadt«, bemerkte Liliana.

»Noch ist sie das. Leider verfällt vieles, ihre Blütezeit scheint vorüber.«

»Aufgrund der Unabhängigkeit von Amerika?«

»Unter anderem.« Finlay nickte. »Hoorn lebt vom Handel, hier blühte die VOC auf, die Vereinigte Ostindische Kompanie. Doch seit der Verlegung des Haupthafens nach Amsterdam verliert diese Stadt langsam an Wichtigkeit. Doch nicht nur diese, das gesamte Land leidet. Viel des Wohlstands war auf den Kolonien aufgebaut.«

»Ein Reichtum, der aus der Ausbeutung eroberter Landstriche beruht, scheint zu oft ein Luftschloss zu sein.«

Finlay nickte. »Besonders, wenn nur herausgeholt und nicht hineingesteckt wird. Das ist kein Fundament einer Wirtschaft. Da wundert es nicht, wenn sich die Bürger vor Ort zur Wehr setzen und der Kolonialherr plötzlich alles verliert.« Er schnaubte. »Doch nicht nur die ständigen Kriege, auch das verschwenderische Leben der Adligen trägt seinen Teil bei. Statt zu sparen, werden die Bürger einfach noch stärker ausgebeutet und mehr und mehr Waren mit immer höheren Steuern belegt. Das spüren auch wir Händler schmerzhaft.«

Liliana schluckte. Sie hatte vor wenigen Tagen erst gesehen, was geschehen kann, sollte man als Schmuggler bezichtigt werden.

»Lass uns kein Trübsal blasen, sondern den Aufenthalt genießen«, sagte Finlay aufbauend. »Heute Abend legen wir an und morgen geht es an Land.«

 

Hoorn, Niederlande

April 1786

Heute ging es in eine fremde Stadt in einem europäischen Land! Dazu machte es den Eindruck, ein wundervoll sonniger Tag zu werden. Liliana holte eines ihrer besseren Kleider, die sie mitgenommen hatte, aus dem Koffer. Sie breitete die Teile auf ihrem Bett aus und begann, sich anzukleiden, als ihr Blick auf das Mieder fiel. Ein Schrecken durchfuhr sie. Schnell zog sie ihr altes Kleid über, schlich zu Finlays Kammer und klopfte an.

Er öffnete und sah sie mit gehobenen Brauen an. »Ist etwas passiert?«

»Ich …« Sie biss sich verlegen auf den Daumennagel. »Ich habe ein Problem.«

»Welches?«

»Ich würde für Hoorn gerne ein eleganteres Kleid anziehen.« Liliana spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Könntest du mir vielleicht beim Schnüren des Mieders behilflich sein?«

Finlay lächelte breit. »Ich glaubte schon, es sei etwas Ernstes. Gerne leihe ich dir meine Hände, wenn dies erlaubt ist.«

Er folgte ihr in die Kammer und Liliana schloss die Tür.

Finlay betrachtete die ausgebreiteten Stoffe auf dem Bett. »Ein schönes Kleid, die orange-gelbe Farbe passt zum Frühling.«

»Strümpfe, Unterrock und Rolle habe ich bereits an.« Sie zog das alte Überkleid aus. Ihre Wangen brannten erneut, als sie nur in Unterwäsche vor ihm stand. Finlay schien dies jedoch nicht zu bemerken. Er nahm das Mieder und reichte es ihr. Liliana legte es um.

»Du muss die Schnüre …«, begann sie zu erklären, doch er winkte lächelnd ab.

Er nahm die Schnur und trat an ihren Rücken. »Ich weiß, wie so etwas geht.« Mit geschickten Fingern fädelte er das Band in die Ösen.

Liliana runzelte die Stirn, schwieg aber.

»Sag nur, wenn es zu fest ist.«

»Nein, du machst das sehr gut … fragwürdiger Weise«, fügte sie trocken hinzu. Dieser Mann überraschte sie immer wieder aufs Neue.

Finlay reichte ihr Taschen, Petticoat, Überkleid und Schürze in der korrekten Reihenfolge.

Als sie angekleidet war, trat er hinter sie und küsste sie sanft auf die Schultern, sodass Liliana eine prickelnde Gänsehaut bekam. Sie drehte sich dennoch zu ihm und zog skeptisch die Brauen zusammen.

Finlay hob beschwichtigend die Arme ob ihres anklagenden Blickes. »Ich half früher meiner Mutter beim Ankleiden, nachdem wir die Angestellten entlassen mussten und Vater sich nur noch in den Schänken aufhielt«, erklärte er mit leiser Stimme und seine braunen Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. »Ich hoffe, diese Erläuterung verhindert, dass deine Fantasie in eine unredliche Richtung segelt.«

Liliana fiel in der Tat ein Stein vom Herzen und sie atmete erleichtert durch. »Ich verstehe.« Weiter nachfragen wollte sie nicht, wusste sie doch, wie sehr ihn diese Erinnerungen schmerzten. Entschuldigend erwiderte sie seinen Blick. Diese sanften, dunklen Augen unter den blonden Strähnen ließen ihr Herz schneller schlagen.

Finlay umfasste ihre Taille. »Du siehst wunderschön aus in dem Kleid.«

Liliana lächelte beschämt. »Danke.«

»Komm.« Er bot ihr seinen Arm an. »Lass mich dir Hoorn zeigen.«

Sie hakte sich unter. »Bist du oft in dieser Stadt?«

»Ja. Sie ist in der Tat ein wenig wie eine zweite Heimat für mich.«

 

Sie gingen zusammen den Steg hinunter auf den steinernen Pier. Liliana fühlte sich wundervoll, als der Wind ihr eine salzige Brise ins Gesicht wehte. Das elegante Kleid mit dem geschnürten Mieder, das ihre Haltung aufrichtete, sowie der attraktive Mann an ihrer Seite gaben ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Beinahe adlig.

Hinter dem Anlegesteg erhoben sich Reihen schmaler und bunt angemalter Steinhäuser. Eine prächtige Kirche mit breitem Rumpf und hohem Glockenturm stand an der Küste und überragte alles ähnlich eines Leuchtturms. Etliche schwerbeladene Wagen und Ochsenkarren zogen an ihnen vorbei und wurden an den Schiffen be- und entladen. Hoorn war ganz offensichtlich eine Handelsstadt.

Die Sonne schien freundlich vom Himmel, der nur mit wenigen Federwolken bedeckt war. Liliana genoss die wärmenden Strahlen auf ihrer Haut und sah Effie vor ihrem geistigen Auge, wie diese ihren Schirm aufspannte, in der Sorge, zu sehr an Farbe zu gewinnen, und musste lächeln.

»Was möchtest du zuerst sehen?«, fragte Finlay. Auch er schien guter Dinge zu sein.

»Wolltest du nicht dein Geld und die Logbücher auf eine Bank bringen?«

»Damit habe ich bereits Ezekiel beauftragt. Er bringt es zusammen mit Red und Glen nach Amsterdam. Im dortigen Rathaus befindet sich die größte Wechselbank in den Niederlanden mit recht guten Konditionen zurzeit.«

Liliana seufzte. »Ich kenne mich so gar nicht aus in solchen Dingen.« Sie verdrehte die Augen. »Ich weiß nicht einmal, ob Frauen überhaupt Zutritt zu Banken haben.«

Finlay runzelte die Stirn. »Warum sollten sie das nicht? Wie könnten alleinstehende Frauen ansonsten ihren Besitz aufbewahren?«

»Solche sind entweder wohlhabend genug, sich Bedienstete leisten zu können, oder sie haben keinen Besitz.«

Finlay sah sie von der Seite an. »Damit magst du richtig liegen, fürchte ich. Dennoch bin ich mir gewiss, eine Frau würde nicht aus einer Bank geworfen werden … es ist schließlich ein Dienstleistungsunternehmen und nicht das Parlament.«

»Dass Frauen dort nicht eingelassen oder gehört werden, ist ebenfalls äußerst verwerflich«, bemerkte Liliana trocken. Warum durften Frauen nicht bei politischen Dingen mitentscheiden? Das empfand sie als ungerecht.

Finlay zuckte die Schultern. »Ich habe die Gesetze nicht gemacht und kann etliche nicht nachvollziehen.« Er lächelte verschmitzt. »Das Wetter ist viel zu schön für ernste Themen, lass uns die Stadt erkunden.«

Liliana strahlte. »Gerne!«

 

Eine breite Ziegelbrücke mit eisernen Laternen führte sie über das Gewässer und gab den Blick auf eine Reihe schmaler, hoher Häuser frei. Es waren viele Leute an diesem sonnigen Tag unterwegs. Auch einige Kutschen drängten sich durch die Straßen. Eine frische Brise verwehte den fauligen Geruch des Kanals und die Ausdünstungen der Zugtiere.

Sie spazierten einige Zeit über das Kopfsteinpflaster entlang der Kanäle. Hier befanden sich alle paar Schritte Steintöpfe mit blühenden Blumen, die ihren Duft verströmten. Liliana bemerkte einige kleine Boote auf dem Wasser mit Pärchen darin. Junge Männer ruderten, während die Frauen in hellen Kleidern und mit Sonnenschirmen das schöne Wetter genossen.

Sie musste gegen ihren Willen kichern und hielt schnell die Hand vor den Mund, denn das schickte sich nicht für eine Dame. Zu viele Menschen waren hier unterwegs, die sie beobachten könnten.

Finlay sah sie von der Seite an. »Was ist derart amüsant?«

»So romantisch es gewiss wirken sollte …« Sie zeigte auf das Gewässer. »… ich glaube, darauf können wir verzichten. Es erinnert mich an Beiboote beim Verlassen eines sinkenden Schiffs.« Sie musste an die Besatzung der Red Shark denken, die ähnlich ziellos umher gerudert war.

Finlay lachte. »Ich speise dich sicher nicht mit einem Ruderboot ab.«

Seine Schritte wurden ausfallender und Liliana ließ sich von ihm mitziehen. Seine offensichtlich gute Stimmung beflügelte ihr Herz. Dieser Spaziergang fühlte sich beinahe an wie ein gemeinsamer Tanz durch den Frühling. Sie wandten sich vom Wasser ab und tauchten in die weniger belebten Straßen ein. Liliana bewunderte die vielen Pflanzenkübel an den Häusern und die bunt angestrichenen Fassaden.

»Bis zum Park ist es ein Stück. Möchtest du eine Kutsche nehmen?«, fragte Finlay irgendwann.

»Nein, ich würde lieber laufen. Es tut gut, sich die Beine vertreten zu können nach der Zeit auf dem Schiff.« Sie genoss das Gehen neben diesem Mann zu sehr. Der Gedanke, in einer holperigen Kutsche über das Kopfsteinpflaster zu wackeln, war ihr im Moment eher unangenehm.

Finlay nickte. »Das sehe ich ebenso.«

 

Nach etwa einer halben Stunde Weg erreichten sie die von Finlay genannte Grünanlage. Die Luft wurde angenehm frisch, statt der Ausdünstungen von Kutschtieren duftete es hier nach Blumen und Gräsern, was Lilianas Frühlingsgefühle noch verstärkte. Sie schlenderten durch bunt bepflanzte Gärten und grüne Wiesenflächen. So angelehnt an Finlays starken Arm wollte sie ewig weiterwandern. Beschützt, verehrt, geliebt. Nun verstand sie, was die Poeten und Autoren von Romantik immer meinten. Der Duft der Blumen, die wärmende Sonne, das Zwitschern der Vögel …

Die Sonnenstrahlen tanzten durch die Blätter der Bäume, die sich um diese Jahreszeit gerade mit frischem Grün aus den Knospen zwängten, und warfen verspielte Schatten auf ihre Kleider.

Liliana holte tief Luft, sie wollte diesen Tag im Ganzen in sich einsaugen. Am liebsten hätte sie die Arme ausgebreitet dabei. »Es ist so wundervoll hier mit dir.«

Finlay sah sie an und sein Blick nahm wieder diesen leicht frechen Ausdruck an. Doch er schien zu zögern.

Liliana runzelte die Stirn. »Womit haderst du? Sprich es aus! Du schaust wie ein kleiner Junge, der in der Kirche aus dem Klingelbeutel gestohlen hat, und mir nun einen Kuchen davon kaufen möchte.«

Finlay lachte prustend auf. »Deine Analogien sind durchaus besser als meine. Aber ganz so ist es nicht.« Er drehte sich zu ihr. »Hast du schon einmal Kaffee getrunken? Hier gibt es abgesehen von Wien den besten.«

»Nein, bisher noch nicht.«

»Hast du Lust, mit mir in ein Kaffeehaus zu gehen? Wir könnten dort auch etwas essen.«

Liliana stutzte. Das war es also. Sie kannte bisher eher unsittliche Gerüchte über diese Stätten. »Ist das für anständige Frauen nicht verboten?«

»Verboten nicht, ungewöhnlich ja.« Finlay schmunzelte. »Hier kennt dich doch keiner.«

Liliana legte die Stirn in Falten. »Aber dich offenbar?«

»Die Kaffeehäuser haben alle ihre eigene Klientel, es ist einer der geeignetsten Plätze, um an Informationen zu gelangen. Vertraue mir, ich würde dich nie in Gefahr oder gar Verruf bringen. Wenn du nicht mitkommen möchtest, gehe ich zu einem späteren Zeitpunkt.«

»Nein, ich würde gerne mit dir dorthin. Ich bin sowohl neugierig auf das Getränk als auch auf die Räumlichkeiten.«

Finlay lächelte glücklich. »Du wirst es nicht bereuen.«

Sie gingen in Richtung des Hafens zurück und bogen in eine kleine Gasse ein. Finlay führte sie zielstrebig zu einem der schmalen, hohen Steinhäuser mit rot-weißem Anstrich. Ein hölzernes Schild mit der Aufschrift »Koffie Huis« zierte den Eingang. Vor dem Gebäude luden vier Tische mit Stühlen Gäste zum Essen im Schein der Sonne ein, die jedoch an diesem Tag von niemandem in Anspruch genommen wurden.

Als sie das Innere betraten, musste sich Liliana zusammenreißen, nicht mit offenem Mund und den großen Augen einer Kuh durch den Raum zu starren. Die schmalen, geteilten Fenster ließen nicht viel Licht herein, doch die Leuchtkraft der wenigen Lampen an den Holzwänden wurde durch etliche Spiegel verstärkt. Dennoch besaß die Stätte eine etwas düstere, wenngleich nicht ungemütliche Atmosphäre. An jeder der vier Wände hing eine große Uhr, sodass die Chronometer von jedem Tisch und jeder Blickrichtung abgelesen werden konnten. Zudem begegnete Liliana eine Wolke neuer Gerüche. Sie hatte geröstete Kaffeebohnen bereits in Graces Küche gerochen und fand dieses Aroma auf Anhieb betörend, doch hier duftete es weitaus intensiver. Dazu gesellte sich das süßliche Odeur von Tabak.

Die vielen Tische, die dicht beieinanderstanden, wurden von gemütlichen Sesseln umringt. Das Kaffeehaus war zu zwei Dritteln gefüllt, selbst an der Theke befanden sich Männergruppen, oft in Diskussionen oder – an den Tischen – gar ein Schachspiel vertieft. Einzelne Männer lasen in Zeitungen.

Liliana spürte die Röte in ihre Wangen steigen. Sie war eindeutig die einzige Frau in diesem Etablissement und die vielen männlichen, oft bärtigen Gesichter, die sich bei ihrem Eintritt neugierig zu ihnen drehten, beschleunigten ihren Puls. Sie klammerte sich an Finlays Arm, der beruhigend ihre Hand tätschelte.

Ein schlanker, großer Mann mit kurzen, hellbraunen Haaren und Schnauzbart stand hinter der Theke und putzte Gläser und Tassen mit einem Tuch trocken. Als er sie erblickte, schwang er den Lappen über die Schulter und hob grüßend die Hand. »Finlay. Freut mich«, sagte er auf Englisch.

Als wäre das ein Zeichen, dass keine Gefahr drohte, verfolgten die neugierig schauenden Anwesenden daraufhin wieder ihrer vorherigen Beschäftigung und ignorierten sie.

Finlay trat an die Theke. »Guten Abend, Bas, wie geht es dir?«

Der Wirt grinste breit, seine blauen Augen leuchteten. »Schlechten Menschen geht es doch immer gut. Wer ist deine neue Errungenschaft?«

Liliana stutzte und Finlay hob warnend den Zeigefinger. »Achte auf deine Worte, Bas, ich setze sehr große Stücke auf diese Dame. Darf ich vorstellen: Miss Liliana Preston.«

Bas öffnete kurz den Mund, schloss ihn wieder und musterte Finlay schief, als suche er nach einem versteckten Scherz. Dann schüttelte er den Kopf. »Du meinst … etwas Ernstes?«

Finlay nickte. »Absolut.«

Der Wirt lachte und klatschte in die Hände. »Ha, unser Wildfang kommt wohl doch noch unter die Haube!« Er breitete feierlich die Arme aus. »Komm, setzt euch, der Kaffee geht auf mich.«

»Ich danke dir.« Finlay nickte und führte Liliana durch den Raum zwischen besetzten und leeren Tischen hindurch.

»Errungenschaft?«, raunte sie ihm stirnrunzelnd zu.

Finlay lächelte verschämt. »Dies ist für gewöhnlich ein Männertreff, da wird geredet und geprahlt … bitte nimm dir derartige Bemerkungen nicht zu Herzen.«

Sie lachte leise. »Keine Sorge, ich bin gewiss nicht der Illusion erlegen, dass du vor meiner Bekanntschaft ein Musterknabe warst.«

»Wie gesagt, vieles wird unter Männern übertrieben dargestellt. Ich darf mich diesbezüglich vielleicht nicht als völlig unschuldig bezeichnen, war aber sicher auch kein wilder Weiberheld, bitte glaube mir das.«

Er verstummte, als sie die hintere Ecke erreichten. Hier – durch dunkle Strebebalken etwas geschützt – befand sich eine gemütliche Sitzecke mit Sesseln und einem Sofa. An dem Tisch, der acht Gästen Platz bot, saßen bereits drei Männer. Der eine schien noch recht jung und in Lilianas Alter zu sein, er hatte dunkle, lange Haare, die zu einem Zopf gebunden waren, und ungewöhnlich hellbraune Augen, deren Farbe an Bernstein erinnerte. Neben ihm saß ein leicht stämmiger Mann mit pechschwarzen, welligen Haaren, Vollbart und breitem Gesicht, den Liliana wie Finlay auf Ende Zwanzig, höchstens Anfang Dreißig schätzte. Der Dritte gegenüber den beiden war mit etwa Vierzig wohl der älteste. Er wirkte recht klein, schmal und trug einen Zwicker auf der etwas zu großen Nase. Sie alle waren elegant gekleidet in helle Hemden und seidene Stoffwesten. Die Mäntel aus Wolle oder Leder hingen über den Lehnen, jedoch trug keiner von ihnen eine Perücke, nicht einmal die Haare waren gepudert.

Alle drei schienen in eine Diskussion vertieft. Als sich Liliana und Finlay dem Tisch näherten, verstummten sie und sahen beinahe erschreckt auf.

Der jüngste von ihnen lächelte breit mit strahlend weißen Zähnen. Seine Züge wirkten freundlich. »Finn!«

Der Bärtige drehte sich im Stuhl zu ihnen herum und legte dabei den Arm auf die Rückenlehne. »Ich glaub es nicht«, rief er mit tiefer Stimme, ebenfalls auf Englisch. »Was treibt dich mit einem Weibsbild nach Hoorn? Geschäfte?« Er sah musternd zu Liliana.

Finlay hob die Hände. »Bevor ihr alle hier mich noch mehr in Verlegenheit bringt, möchte ich meine hochgeschätzte Begleitung vorstellen.« Er legte beschützend den Arm um sie. »Miss Liliana Preston.«

Die drei Männer schauten ähnlich irritiert wie der Wirt zuvor und Liliana wurde das Starren unangenehm, sie blickte beschämt zur Seite.

»Meine Güte, was sind wir für Banausen«, rief der Bärtige. Er erhob sich von dem Sessel, legte eine Hand auf seine Brust und deutete eine Verbeugung an. »Herzlich Willkommen in unserer Runde, Miss Preston, ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Johan Gous.« Die anderen beiden standen ebenfalls auf. »Dies sind Gustav Homeyer und Levi Süssmann.« Er wies erst auf den Jüngsten, dann zu dem schmalen Mann mit Zwicker.

Beide verbeugten sich höflich.

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Die drei sind gute Kameraden von mir«, erklärte Finlay. »Zusammen mit ein paar anderen. Wir kennen uns schon lange und treffen uns regelmäßig hier.«

»Setzen Sie sich doch bitte.« Mr Gous wies auf die grüne Couch gegenüber von ihm neben Mr Süssmann.

Finlay nickte ihr aufmunternd zu und sie nahmen zusammen darauf Platz. Sie sanken ungewöhnlich tief in das weiche Polster.

»Sag, wo hast du Alan und Ben gelassen?«, fragte Gustav nun. »Nicht, dass ich die neue Begleitung nicht zu schätzen wüsste …« Er schmunzelte.

Finlays Blick wurde trüb. »Alan fiel im letzten Jahr auf See. Im Kampf gegen ein Piratenschiff.«

Betretenes Schweigen folgte. Gustav schluckte und fuhr sich dann mit den Händen über das Gesicht, als wolle er Emotionen unterdrücken. Levi wurde noch blasser, als er ohnehin schon war.

»Verdammt«, brummte Johan leise. »Das tut mir leid. Wie hat Ben das weggesteckt?«

»Nicht gut, aber ihm geht es wieder besser. Er wäre mitgekommen, besucht jedoch einen Kollegen in Den Haag.«

Gustav zwang sich zu einem Lächeln. »Immer noch so strebsam, der Bursche?«

»Du kennst ihn.«

»Piratenschiff.« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Das klingt für mich Landratte noch immer surreal. Ich kann mir dich kaum auf einem Schiff vorstellen – kenne dich schließlich nur auf dem Land –, geschweige denn in einer Seeschlacht gegen Piraten.«

»Es ist nicht mein täglich Brot, auf See Kämpfe auszutragen, Gus. Ich handle für gewöhnlich nur.« Finlay presste die Lippen zusammen. »Aber ab und zu ist es gefährlich dort draußen.«

»Auf!« Johan schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Lasst uns nicht Trübsal blasen, dafür sehen wir uns zu selten. Habt ihr schon bestellt?«

Wie zum Zeichen kam der Wirt und stellte jedem von ihnen eine Tasse mit leicht dampfendem Kaffee vor die Nase.

Liliana betrachtete das schwarze Getränk in der edlen Porzellantasse. Ein heller Schaum umrandete es. Sie sog das Aroma in sich ein. Es roch nach fernen Ländern.

»Ich hoffe, du hast noch ein paar Säcke für mich«, sprach Finlay den Wirt an. »Meine Vorräte an Kaffee sind bis auf die letzte Bohne aufgebraucht.«

Bas nickte. »Für dich immer.«

Finlay sah zu ihr. »Trink ruhig. Es ist ein wenig wie Tee, nur anders.«

Sie hob die Tasse an den Mund. »Es duftet wundervoll.«

»Wenn es Ihnen zu bitter sein sollte, kann man auch Zucker oder Milch einrühren«, erklärte Gustav freundlich.

Liliana fiel auf, dass Levi nichts sagte. Konnte er womöglich kein Englisch?

Sie nahm einen Schluck. Es schmeckte streng und, wie der Mann gesagt hatte, ein wenig bitter. Doch nicht unangenehm.

»Wie lautet dein Urteil?«, fragte Finlay neugierig.

»Gewöhnungsbedürftig, aber nicht so schrecklich wie befürchtet.«

Finlay lachte und trank ebenfalls. Er lächelte genussvoll. »Eine sehr gute Röstung, ich habe den Kaffee vermisst.«

»Immerhin ist es mittlerweile erschwinglich und nicht mehr nur der Oberschicht vorbehalten«, meinte Johan. »Dank seefahrenden Händlern wie dir.« Er tippte sich wie zu Finlay salutierend an die Stirn.

Gustav nickte zustimmend. »Es kann nur von Vorteil sein, dass sich das Getränk etabliert und den Alkohol verdrängt. Alkohol führt zu oft zu Gewalt und Leid.« Er schnaubte. »Besonders in deutschen und preußischen Gebieten. Da wird selbst Kindern schon Biersuppe verpasst.«

»König Friedrich stellte das private Rösten von Kaffee sogar unter Strafe, doch zum Glück wird das oft ignoriert«, erzählte Johan. »Ich sagte es ja. Dem passt es nicht, dass Kaffee nun erschwinglich ist und nicht nur den Reichen vorbehalten. Der will es weiter teuer besteuern.«

»Ich bin der Überzeugung, da steckt mehr hinter den Verboten und dem Versuch, Kaffeehäuser in Verruf zu bringen«, sagte Levi und schob seine Sehhilfe auf der Nase zurück.

Liliana war ganz erschrocken, die stille Figur, die dort in der Ecke saß, auf einmal reden zu hören.

Seine Stimme klang ungewöhnlich fest und die Worte durchdacht. »Im Gegensatz zu Alkohol macht Kaffee den Kopf klar, nicht benebelt. Ich behaupte sogar, dass dieser Aufschwung der Wissenschaften und Aufklärung der Tatsache zugrunde liegt, dass die Menschheit von der dauerhaften Benebelung des Bierkonsums abkommt.«

»Aber Tee kann ebenso wirken.« Johan schüttelte den Kopf. »Ich fürchte dennoch, dass Kaffee nie den Rausch des Alkohols ersetzen kann.«

»Kaffeehäuser sind den Herrschern ein Dorn im Auge«, beharrte Levi. »Hier treffen sich Menschen aller sozialer Schichten, was ansonsten aufgrund strikter Trennung kaum möglich ist. In diesen Stätten zählen alle gleich. Die Gespräche und der Austausch mit anderen sowie die Möglichkeit, Zeitungen zu lesen, dienen der Bildung und der Zerstreuung. Das regt den Geist an. Hier trifft man Gelehrte, Künstler, Schriftsteller und Opponenten. Die Bezeichnung ›Penny University‹ kommt nicht von ungefähr.« Er hob wie ein Lehrmeister den Zeigefinger. »Sapere aude. Das sollte unser aller Leitsatz werden: Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Kennen Sie die neuesten Schriften Immanuel Kants, Miss Preston?«

Liliana schüttelte beschämt den Kopf. Sie ertappte sich dabei, den Mann mit offenem Mund anzustarren, und schloss ihn rasch wieder.

Gustav schien ihre Irritation zu bemerken. »Nun langweile die junge Dame doch nicht gleich mit deinen Philosophen, Levi.« Sein breites Lächeln wirkte einladend und freundlich. »Erzählen Sie, Miss Preston, wie lernte eine Dame wie Sie einen Herumtreiber wie unseren Finn kennen?«

Finlay drohte mit einem Finger. »Achte auf deine Worte, Gus.«

Liliana drückte lächelnd dessen Hand. »Bedenke, dass dir die Umstände unserer ersten Begegnung keinen Heiligenschein aufsetzen.« Die ungewöhnliche und doch gemütliche Stimmung zusammen mit dem Kaffeegenuss lösten ihr Mundwerk.

»Die Ursache unseres Kennenlernens war in der Tat nicht die löblichste für mich.« Er blickte fragend zu Liliana.

Sie nickte. »Erzähle es ruhig, es ist kein Geheimnis.«

Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Liliana ist Jacks uneheliche Tochter.«

Johan riss die Augen auf. »Der Jack? Jacob Farson?«

Finlay nickte.

»Oha.«

»Johans Bruder diente damals als Bootsmann auf der Black Hound«, erklärte Finlay an Liliana gewandt. »Über ihn lernten wir uns kennen, als Pieter mich hier in Hoorn in Kneipen schleppte.«

»Einer meiner fünf älteren Brüder.« Der Niederländer lachte. »Wir haben uns leider nie gut verstanden, Pieter drangsalierte mich stets. Das einzig Gute an ihm ist, dass er mir Finlay vorstellte.«

»Was macht dein Bruder heute eigentlich?«, fragte Finlay.

»Er dient wohl noch immer auf Schiffen.« Johan schüttelte den Kopf. »Was schert es mich. Es ist mir gleich, wo dieser Halunke heute herumsegelt, solange er so schnell nicht zurückkommt.«

Gustav rutschte nervös auf seinem Sessel hin und her. »Kein Aufhalten mit Nebensächlichkeiten, wir wollen die gesamte Geschichte hören! Schon Voltaire sagte: Die Liebe ist ein Stoff, den die Natur gewebt und die Phantasie bestickt hat

Finlay blickte schmunzelnd zu Liliana. »Gustav ist dem Wahn des Zitierens erlegen. Ob treffend oder nicht, scheint nebensächlich.«

»An solch einem Wahn ist nichts Unangenehmes.« Liliana wandte sich dem jungen Mann zu. »Ich wurde von Piraten entführt, die meinen Vater erpressen wollten. Finlay rettete mich rechtzeitig aus deren Fängen.«

Gustavs Augen weiteten sich zusammen mit seinem Mund. »Das klingt wie aus einem Drama.«

Johan grinste Finlay breit an. »Gib es zu! Du Gauner wolltest Jack ausnehmen!«

»Das war der ursprüngliche Plan.« Er kratzte sich am Hals. »Aber Liliana machte mir einen gehörigen Strich durch die Rechnung.«

Der Niederländer lächelte wissend. »Sie umgarnte dich?«

Finlay lachte trocken auf. »Damit hätte ich umgehen können. Nein, sie war einfach …« Er sah sie an. »… erstaunlich.«

Liliana spürte diesen Blick bis in ihr Herz dringen. Sie drückte lächelnd seine Hand.

»Ich fürchte, mehr werden wir aus den beiden Turteltauben nicht mehr herausbekommen. Die scheinen in ihrer eigenen Welt versunken«, hörte sie Gustav sagen.

Sie riss ihren Blick von Finlay los und sah in die Runde. Johans Stirn war in Falten gelegt. Gustav grinste breit und Levi blickte sie stumm, aber erwartungsvoll mit erhobenen Brauen an.

»Kurz gesagt, sie verhielt sich in keinster Weise so wie meine anderen Passagiere und brachte mich mit ihrer freundlichen, aber dennoch rigorosen Art dazu, meine bisherige Lebensweise zu überdenken«, endete Finlay schließlich.

»Alle Achtung«, sagte Johan. »Das ist in der Tat erstaunlich. Und Blackhound lässt diese Liaison zu?«

Gustav lachte. »Zumindest lebt unser Finn noch.«

»Bitte bekommen Sie keinen falschen Eindruck von meinen Freunden, Miss Preston, Ihr Vater verdient unsere Achtung«, warf Levi mit seiner ruhigen, durchdachten Art ein. »Er ist ein Mann der Tat, der für seine persönliche Freiheit und der anderer einsteht. Ein Aufklärer wie wir.«

»Danke, Mr Süssmann.«

Seine eher steife Art wirkte auf sie wie ein Schullehrer. War er womöglich gar einer? »Europa ist im Umbruch. In Frankreich steigert sich der Unmut der Bevölkerung täglich. Der Adel kann uns nicht mehr lange kleinhalten. Jeder Mensch ist gleich und sollte dieselben Rechte innehaben.«

Gustav schüttelte den Kopf, doch es war mehr ein Nachdenken als eine Verneinung. »Die Vernunft ist die Magd der Gefühle, das sagte schon David Hume«, meinte er. »Hier stellt sich die Frage, ob eine kriegerische Revolution wirklich eine Lösung ist oder gar alles verschlimmert. Ich bin da unschlüssig. Ein wütender Pöbel, der lernt, dass Gewalt den gewünschten Erfolg bringt, könnte seine neugewonnene und ungewohnte Macht ähnlich missbrauchen wie Adel und Klerus.«

»Gus hat recht.« Johan rieb sich über den Bart. »Gewalt ist wie ein Stein in den Bergen. Einmal ins Rollen gebracht, ist er schwerlich zu stoppen.«

»Darf ich dich irgendwann einmal zitieren?«, unterbrach Gustav grinsend.

Johan warf ihm nur einen vielsagenden Blick zu. »Einen Niederländer, der von Bergen erzählt? Damit klingst du gewiss glaubhaft!«

Gus lachte amüsiert und Johan fuhr mit seiner Rede fort: »Wir sollten weiter mithilfe von Büchern und Überzeugungsarbeit den Druck auf die Regierenden erhöhen, endlich auch der unteren Bevölkerungsschicht eine politische Stimme zu geben. Ich fürchte, mit einem Krieg sterben nur mehr Unschuldige.«

»Aber sie sterben nicht grundlos und im Falle eines Sieges befreit es viele zukünftige Leben aus dem Joch des Absolutismus«, beharrte Levi. »Auch die Staaten von Amerika haben sich gewaltsam aufgebäumt und so den Unterdrücker mit Erfolg abgeworfen. Der Adel wird seine Macht niemals freiwillig aufgeben, noch weniger der Klerus. Beide lachen über unsere Schriften, halten uns klein und lassen das Volk hungern, während sie selbst prassen. Es ist höchste Zeit für eine Wende.«

»Levi, so sehr ich deine Ansichten teile, würde ich dich doch bitten, deine Stimme etwas zu dämpfen.« Johan sah sich hektisch um. »Noch gelten andere Gesetze, auch hier.«

Liliana horchte erstaunt auf. »Ist eine Revolution gegen den König geplant in Frankreich?«

»Es gibt Unruhen, ja«, antwortete Finlay ernst. »Aber ob es tatsächlich zu einem Aufstand kommt, ist noch lange nicht gesagt. Meist werden diese Aufrührer schnell aufgelesen und mundtot gemacht.«

Der letzte Satz beunruhigte sie. War das, was hier gerade geschah, nicht auch schon Aufwiegelung?

»Sie als Engländerin muss das nicht allzu sehr beunruhigen«, sagte Gustav sanft, als er ihre erschreckte Miene sah. »Obgleich er sich noch heute als König von Frankreich bezeichnet und aus dem Hause Hannover stammt, wird Ihr König George gewiss nicht mitmischen. Ihr Land leckt sich noch die Wunden des teuren und verlorenen Unabhängigkeitskriegs.«

»Ja, und was ist die Konsequenz, dass sich England und Frankreich so hoch verschuldeten im Krieg?«, fragte Levi mit leiserer Stimme als zuvor. »Eine Erhöhung der Steuern, damit die Monarchen weiter in Saus und Braus leben können. Diese Zurschaustellung deren Reichtümer, während die Bevölkerung weiter verarmt, ist zutiefst beschämend. Jeder, der hierbei untätig zusieht, macht sich schuldig.«

Gustav nickte. »Was sagte der englische Sprachforscher Samuel Johnson: Nichtstun liegt in der Macht eines jeden

Liliana hob verwundert die Brauen. Diese Männer sahen nicht so aus, als kämen sie aus armen Verhältnissen. Dennoch sorgten sie sich um die untere Bevölkerungsschicht und kämpften gegen Ungerechtigkeit.

Nichtsdestotrotz machte sich Unwohlsein in ihr breit. Gegen die Machthaber zu wettern, konnte jemanden ins Gefängnis bringen … sicher auch in einem fremden Land wie diesem. Sie wollte mehr über die Umstände wissen und sich gleichzeitig heraushalten aus der gefährlichen Politik. Ein gänzlich neues Gefühl überkam sie, Furcht und Aufregung zugleich.

 

Als sie am Abend zusammen das Kaffeehaus verließen, fühlte sich Liliana wie in einem Rausch. Es war tatsächlich ein wenig wie Alkohol, nur dass man einen klaren Kopf behielt, wie dieser Levi sagte. Ihr Herz flatterte wie ein aufgeregter Vogel und sie wollte am liebsten ihre Arme wie Flügel ausbreiten und durch die Straßen rennen. Sie hielt sich an Finlays Oberarm fest und musste sich zusammenreißen, nicht beschwingt zu springen anstatt zu laufen. »Das war ein wundervolles Erlebnis, danke.«

Finlay blieb ernst. »Es beruhigt mich sehr, dass dir der Abend gefallen hat. Es ist ein wenig wie ein zweites Leben von mir, das ich nicht vor dir verheimlichen wollte. Ich bangte jedoch, ob dir meine Freunde zusagen würden. Sie sind etwas … speziell.«

»Ich mag sie sehr. Es ist durchaus ungewohnt, sich mit einer Gesellschaft reiner Männer zu unterhalten, aber es war doch so viel interessanter als die langweiligen Themen der Frauengruppen bei den Festlichkeiten.« Sie seufzte. »Warum wurde ich nur als Frau geboren?«

Finlay lachte laut auf. »Als Mann gefielst du mir weit weniger.« Er schmunzelte. »Auch in Männergruppen geht es häufig um weniger anspruchsvolle Themen wie Jagd, Geschäfte oder Errungenschaften in Kriegen, besonders in England. Es liegt immer an der Gesellschaft selbst, mit der man sich umgibt.«

»Ich fürchte, niederländische Kaffeehäuser wandeln sich noch zu meinen Lieblingsstätten.« Ihre Mutter würde platzen, erführe sie davon. Liliana kicherte in sich hinein, dennoch erfüllte sie auch ein gewisser Stolz. Sie hatte mit einer Gruppe Männer über Politik diskutiert, es gab ihr das Gefühl, weltgewandt zu sein … sowie ein wenig verwegen.

Finlay schwieg eine Weile. Er hielt unter einer Straßenlaterne an, drehte sich zu ihr und umfasste ihre Hände. Der Blick seiner dunklen Augen im schwachen Schein der Lampe ließ ihren Körper beben.

»Ich kann es noch immer nicht glauben, eine solch wundervolle Frau in meinen Armen halten zu dürfen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich fürchte jede Sekunde, ich wache auf und dies war alles nur ein Traum.«

Liliana lächelte. »Mir geht es ebenso. Ich bin so glücklich gerade. Ich wünschte, dieser Tag würde nie vergehen.«

Finlay hob ihre Hände an seinen Mund und küsste sie sanft auf die Finger. Er sah ihr lange in die Augen, ohne etwas zu sagen. Liliana konnte ihren Blick nicht abwenden, auch wenn ihre Knie weich wurden.

»Ich würde gerne für immer an deiner Seite sein«, flüsterte er dann.

Liliana schluckte, ein enges Band um ihre Kehle verhinderte, dass sie ein Wort sagte.

Finlay behielt eine Hand in seiner und beugte das Knie. Lilianas Herz setzte einen Schlag aus, als sie den Mann, den sie liebte, vor sich niederknien sah. Das Band schnürte sich enger.

Er blickte sie mit seinen braunen Augen an. »Liliana Preston, willst du meine Frau werden?«

Sie sackte vor ihm zu Boden auf das Pflaster. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ja«, kam es heiser, fast flüsternd aus der engen Kehle. Sie fiel in seine Arme.

Finlay erhob sich und zog sie hoch auf die Beine. Seine Lippen bebten, als sie die ihren berührten.

»Ich liebe dich!«, sagte er nach dem Kuss. »Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben nur auf dich gewartet zu haben.«

»O Finn!« Ihr gesamter Körper zitterte vor Glück. Sie wollte ihn, nur ihn, und keinen anderen Mann auf der Welt.

Sie hielten sich fest im Arm. Liliana sog seinen Geruch ein und spürte, wie er ihren Geist benebelte. Sie war so unbeschreiblich glücklich.

Irgendwann löste er sich von ihr und sah sie tief an. »Ich kenne eine wunderschöne, kleine Pension hier in der Nähe. Lass uns dort heute Abend ein Zimmer mieten.«

»Du meinst … eines gemeinsam?«

Finlay nickte. »Ich wäre gerne heute Nacht mit dir zusammen, nicht so beobachtet wie auf dem Schiff. Keine Sorge, ich werde dich zu nichts drängen, deine Nähe alleine würde mir genügen.«

Ihr Herz raste. War sie derart nervös oder spürte sie nur die Auswirkungen des Kaffees? »Einverstanden.« Sie atmete tief durch. Etwas mulmig war ihr bei dem Gedanken schon, mit einem Mann ein Bett zu teilen.

Finlay lächelte glücklich und führte sie durch weitere Häuserreihen, bis sie ein schmales, hohes Gebäude mit weißem Anstrich erreichten.

Auch hier wurde er von dem Mann des Hauses freundlich begrüßt. Diesmal unterhielten sie sich auf Niederländisch. Liliana staunte, wie gut Finlay diese Sprache beherrschte. Von den Wortfetzen, die sie verstand, machte es den Anschein, als stellte er sie als seine Frau vor. Einerseits erleichterte sie das, denn in Verruf geraten wollte sie auch in einer fremden Stadt nicht. Andererseits ließ diese Lüge sie noch nervöser werden. Ihre Finger rangen wild miteinander und sie hoffte inständig, der Mann bemerkte dies nicht.

Finlay hingegen wirkte locker und fröhlich. Er nahm den Schlüssel entgegen, bot ihr den Arm und führte sie eine schmale Treppe hinauf.

»Du kannst die Landessprache?«, fragte sie bewundernd.

Finlay nickte. »Nicht fließend, aber ich bin oft genug hier, da bleibt viel hängen. Die meisten meiner Bekannten können jedoch Englisch oder zumindest Französisch.«

Das Zimmer war klein, aber sehr gemütlich eingerichtet mit vielen bunten Kissen auf dem breiten Bett. Liliana spürte Hitze in ihre Wangen treten, als sie die einzelne Lagerstätte betrachtete.

Finlay drehte sich zu ihr. »Wenn du möchtest, schlafe ich mit einer Decke auf dem Boden.«

»Nein … ich …« Puh, dieses Unterfangen stellte sich nun doch als komplizierter dar als erhofft.

Finlay trat auf sie zu und legte seine Arme um ihre Taille. Er sah ihr tief in die Augen. »Ich werde ganz gewiss nichts gegen deinen Willen tun. Genieße es«, hauchte er leise an ihre Wange, sodass sein warmer Atem ihre Haut kribbeln ließ. »Denke nicht, fühle! Gib dich gänzlich dem Moment hin. Es ist nichts Verwerfliches daran. Du musst dich auch nicht sorgen, es wird nichts von Konsequenzen geschehen.«

Die sanfte Stimme dicht an ihrem Ohr ließ ihren Geist wie ein Karussell rotieren. Sie spürte noch immer ihr Herz in ihrem Brustkorb herumspringen wie ein junges Pferd auf der Weide, ebenso erfüllte eine angenehme Wärme ihren Körper. »Küss mich!«, flüsterte sie.

Finlay kam dem Wunsch nach, anfangs sanft, dann immer leidenschaftlicher. Zärtlich zupften seine Zähne an ihrer Unterlippe. Als seine Zunge folgte, schwanden ihr beinahe die Sinne. Ohne nachzudenken, schob sie sein Hemd nach oben und ließ ihre Hände über den bloßen, muskulösen Brustkorb gleiten. Finlay unterdrückte ein Stöhnen, er zog das Hemd über den Kopf, ohne seine Lippen länger als dafür nötig von den ihren zu nehmen. Sie selbst entledigte sich ihres Oberkleides. Seine Hände glitten an ihre Brüste. Sanft, doch auch fordernd, streichelte er sie über dem Stoff. Lilianas Leib fühlte sich an wie von Blitzen getroffen, auch ihr entwich ein leises Ächzen. Finlay küsste ihren Hals und seine Lippen wanderten langsam den Nacken entlang.

»Ich liebe dich, Liliana! Mehr, als ich es je in Worte fassen könnte.« Er bedeckte sie weiter mit Küssen, die ihren Körper elektrisierten. Seine Hände glitten an ihren Rücken und er öffnete die Schnürung des Kleides. Liliana ließ den störenden Stoff über ihre Schultern nach unten gleiten. Ihr war alles gleich, sie wollte sich völlig diesem Rausch hingeben, ohne die Vernunft an sich zu lassen. Ihre Hände glitten an Finlays Hosenbund.

»Vorsicht«, warnte er flüsternd.

»Ich weiß Bescheid.« Sie lächelte beschämt. »Auch Frauen reden, nicht nur ihr Männer.«

***

Am nächsten Morgen wurde sie früh von der Sonne geweckt. Sie öffnete die Augen und blickte auf den unbekleideten Männerkörper neben sich. Liliana lächelte. Wie wunderschön er war. Die muskulöse, kaum behaarte Brust, das fein gezeichnete Gesicht, das im Schlaf noch sanfter wirkte, von blonden Haarsträhnen überdeckt. Ihr klopfendes Herz jubilierte, als sie sich an die letzte Nacht erinnerte. Die Leidenschaft zwischen ihnen, die ungeahnte Erregung, die ihren Körper überwältigt hatte. Das Brennen, Sehnen und schließlich die Explosion. Allein durch seine Liebkosungen. Das Erfahrene stellte jegliche Schwärmerei ihrer Freundinnen darüber in den Schatten. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn sie einen Schritt weiter gingen?

Sie erinnerte sich an die unschöneren Erzählungen einiger frisch verheirateter Mädchen aus dem Dorf, die ihr so viel Angst vor diesem Moment bereitet hatten. Sie redeten von Schmerzen beim ersten Mal, machten sich über die Männer lustig oder sprachen gar von Ekel vor dem eigenen Gatten. Nichts von all dem konnte sie nun nachvollziehen oder auch nur glauben. Alles, was sie in ihrem Herzen spürte, waren Leidenschaft und weiteres Verlangen.

Sie beugte sich über Finlays Gesicht und küsste ihn sanft wach.

Er öffnete blinzelnd die Augen und lächelte. »Ich möchte gerne den Rest meines Lebens so geweckt werden«, flüsterte er und zog sie an sich.

Liliana schmunzelte. »Dies versprach ich dir gestern doch bereits.« Sie legte ihren Kopf auf seine bloße Brust und lauschte dem beruhigenden Schlag seines Herzens. Der gestrige Tag ging ihr erneut durch den Kopf. So viel war geschehen! Der Spaziergang durch Hoorn, das Kaffeehaus, Finlays Freunde, sein Heiratsantrag … die folgende Nacht!

»Das war der schönste Tag meines bisherigen Lebens«, flüsterte sie schwärmend.

Finlay strich ihr lächelnd über die Haare. »Lass uns noch einen ganzen Tag hier verbringen. Einfach zu zweit.«

»Gerne. Aber wird deine Mannschaft dich nicht vermissen?«

»So schnell nicht. Ezekiel ist es gewohnt, dass ich in Holland für mehrere Tage versacke.«

Liliana hob die Brauen, sagte aber nichts dazu.

***

Ein weiterer wunderbarer Tag folgte. Sie spazierten durch Hoorn, kosteten diverse niederländische Spezialitäten, lachten und scherzten. Stunden, die nur ihnen beiden gehörten, ohne Arbeit, ohne Regeln oder gesellschaftliche Zwänge. Für Liliana gab es nur Finlay und sie in dieser Welt. Es war wie in einem wundervollen Traum.

 

Erst am darauffolgenden Morgen gingen sie zurück zur Alecto, die friedlich im Hafen vertäut lag. Ihr war, als wäre statt zwei Nächten ein Jahr vergangen. Sie fühlte sich nach diesen Erlebnissen verändert. Erwachsener. Dennoch zog der Anblick des Schiffes sie magisch an. Sie wollte wieder die zügellosen Wellen unter sich spüren, die salzige Luft im Gesicht und den Wind in ihren Haaren.

Ezekiel stand auf der Brücke und begrüßte sie mit erhobener Hand und gewohnt ausdrucksloser Mimik.

Sie stiegen die kleine Treppe hinauf zu ihm.

»Wie sieht es aus?«, fragte Finlay.

»Wir haben einen Großteil der Waren bereits in den Frachtraum geladen«, erklärte er. »Einige Dinge fehlen noch, sollten aber bis zum Ende der Woche ankommen.«

»Gut, gib mir die Liste, ich gehe sie gleich mit Liliana durch. Falls Bas mit ein paar Säcken Kaffee kommt, du weißt Bescheid!«

Ezekiel nickte. »Klar.«

Finlay nahm die Liste entgegen und Liliana folgte ihm in den kleinen Arbeitsraum.

»Was meintest du damit?«, fragte sie.

»Der Kaffee ist privat für den Eigenbedarf, daher wird er nicht versteuert. Allerdings sollte man ihn bei einer eventuellen Inspektion nicht gleich finden an Bord. Einige Länder reagieren da etwas penibel.«

»Du meinst, Kaffee kann als Schmuggelware angesehen werden?« Sie erinnerte sich an die Anklage damals. Ein enges Band zog sich um ihren Brustkorb, als das Bild aus dem Gefängnis vor ihrem geistigen Auge erschien: ihr Liebster verwahrlost und in Ketten gelegt. Nein, das durfte nicht noch einmal geschehen!

Finlay hob abwehrend die Hände. »Wenn ich die Steuern umgehen und ihn weiterverkaufen würde, ja. Aber ich werde mich hüten, solch gute Bohnen aus der Hand zu geben. Wie gesagt, es ist alles rechtens, nur hat die Fracht leider einen unberechtigt schlechten Ruf.« Er hob den Zettel. »Lass uns zusammen die Liste mit der bestellten Ware durchgehen. Ich werde die nächsten Tage noch einiges an Käse, Pfeffer und anderen Gewürzen günstig einkaufen hier, die hoffentlich in Hamburg reißenden Absatz finden.«

»Ich dachte, es sei zurzeit eher schwierig, in den Niederlanden Ware zu kaufen.«

»Ja, die Regression schreitet durch den Verlust einiger Kolonien mit schnellen Schritten umher. Das bedeutet jedoch nicht immer zwangsläufig teurere Ware. Zum einen werden überall die Steuern erhöht oder penetranter eingetrieben, zum anderen wird der Hafen hier in Hoorn für ausländische Händler uninteressanter. Dieser Standort hat sein goldenes Zeitalter hinter sich und verarmt. Daher ziehen viele Kaufleute weg und leeren ihre Lager. Trotz des Mangels kann man so recht gute Geschäfte machen.«

Liliana runzelte die Stirn. »Heißt das, du nutzt die schlechte Lage zu deinem Vorteil aus? Ist das nicht genau das, was deine Kameraden in dem Kaffeehaus anprangerten?«

Finlays Blick verdüsterte sich. »Ich handele sie nicht zu Tiefpreisen hinunter. Sie wollen schnell verkaufen, um die Ware loszuwerden, und ich biete ihnen einen fairen Preis. Dadurch kann ich den Käufern in Hamburg auch bessere Konditionen bieten, die Menschen dort benötigen die Waren. Für größere Wohltätigkeiten reicht es nicht, dann könnte ich bald meine Männer nicht mehr bezahlen. Aber sei unbesorgt, mit diesen Händlern arbeite ich schon lange und vertrauensvoll zusammen. Sie haben sich in den letzten Jahren vor dem Krieg eine goldene Nase verdient und enden ganz gewiss nicht am Hungertuch.«

Liliana atmete tief durch. »Ich fürchte, ich bin keine sehr gute Geschäftsfrau.«

»Überlasse das Verhandeln mir, du musst lediglich die Listen führen.«

***

Eine Kutsche fuhr vor und ein müder, aber sichtlich gut gestimmter Ben Hurley stieg aus. Er bezahlte den Kutscher und lief fröhlich an Bord.

Der Arzt zog den Hut, als er sie sah. »Finlay. Miss Preston.«

»Du siehst erholt aus«, begrüßte Finlay ihn.

»Ich hatte eine wundervolle Zeit, die Reise lohnte sich.« Er zeigte auf seine Tasche. »Mein Kollege schenkte mir sogar einen menschlichen Schädel aus Blumenbachs Sammlung.«

Finlay hob die Brauen. »Das Ding bleibt in deiner Kammer, verstanden?«

Ben grinste breit und tätschelte beinahe zärtlich die Ledertasche. »Keine Sorge, das ist rein wissenschaftlich.«

»Schöne Grüße von Johan, Gustav und Levi, sie fragten nach dir.«

Der Arzt seufzte. »Ich bedaure sehr, diesmal keine Zeit für unsere Freunde gehabt zu haben.«

Finlay klopfte ihm auf die Schulter und drehte sich dann zu Ezekiel. »Bereitmachen zum Ablegen, dann können wir noch mit der Flut in See stechen.« Er sah zu Liliana. »Hamburg ist ein Binnenhafen, allerdings steuerfrei. Er hat im Gegensatz zu London keine Schleusen, sodass wir verstärkt auf die Gezeiten achten müssen, besonders mit vollem Frachtraum. Die Einfahrt ist nur bei einlaufender Flut möglich.«

»Und die Abfahrt bei auslaufender, nehme ich an?«

Finlay nickte. »Bei ablaufendem Wasser, also beginnender Ebbe, ja.«

 

Hamburg, Deutschland

Mai 1786

Die Alecto steuerte die Elbe entlang bis Hamburg. Liliana stand an der Reling und betrachtete die Wiesen und Wälder am Rand des breiten Flusses. Es herrschte reger Schiffsverkehr, sodass der Steuermann persönlich das Ruder übernahm und die Bark in den Binnenhafen lotste.

Finlay brachte mit Ezekiel und Brian die Waren zu den Händlern, während Liliana an Bord blieb, um sich mit den Listen vertraut zu machen. Ein seltsames Gefühl überkam sie, als sie sich an Finlays hölzernen Schreibtisch setzte und Papier und Tintenfeder zur Hand nahm. Der Geruch der Tinte und das leichte Kratzen der Feder auf dem Pergament gaben ihr das Gefühl, eine wichtige Aufgabe auferlegt bekommen zu haben. Diese wollte sie nun auch mit höchster Sorgfalt erfüllen. Sie fertigte Tabellen über die Waren, Einkäufe und Verkäufe, die danach mit Datum, Ein- und Ausgaben ausgefüllt werden konnten.

Sie war derart in ihre neue Arbeit vertieft, dass erst Finlays Rückkehr sie in den kleinen Raum zurückholte.

Liliana sah vom Schreibtisch auf und tunkte erwartungsvoll die Feder in das Tintenfass. »Wie liefen die Verkäufe?«

Finlay lächelte breit. »Besser als erhofft. Die Waren wurden uns regelrecht aus der Hand gerissen. Ich musste aufpassen, nicht aus Versehen die Kleidung an unserem Leib mit zu verkaufen.«

Liliana lachte. »Das wäre ein herrliches Bild gewesen.«

»Ich kaufte einige Ballen an Baumwolle ein und Kisten mit Porzellan aus Meißen, für die ich in England Abnehmer habe.«

»Sind diese Dinge nicht sehr teuer?«

»Ja, besonders das Porzellan. Hier müssen wir extrem achtgeben, dass nichts kaputtgeht.«

»Dann hast du den ganzen Gewinn bereits wieder neu investiert?«

Finlay nickte. »So funktioniert Handel.«

 

Nachdem alles eingetragen und schriftlich festgehalten war, gingen sie zusammen von Bord, um sich Hamburg anzusehen.

Der Hafen selbst ähnelte anderen und es herrschte reges Treiben. Karren drängten sich gemeinsam mit Matrosen und Arbeitern durch die Gassen. Auf dem großen Markt boten Fischer, Farmer und Händler ihre Waren feil.

»Kai ist aus Hamburg«, fiel Liliana ein. Die Sprachfetzen, die sie hier vernahm, erinnerten sie an seinen Akzent.

Finlay nickte. »Ich weiß. Seine Familie besitzt eine gutgehende Bäckerei hier.«

»Wieso geht ein erfolgreicher Bäckerssohn zur See?«

»Einige private Gründe. Er wurde einer Frau versprochen, die er ablehnte.«

Liliana hob die Brauen. »Du weißt ja viel über ihn«, bemerkte sie verwundert. Bisher wirkten die beiden nie besonders eng vertraut.

»Wir verstanden uns recht gut damals auf der Black Hound. Ich bat ihn später, mit mir zu kommen. Er blieb jedoch bei deinem Vater, was mich anfangs etwas enttäuschte. Heute verstehe ich seine Gründe, doch der unausgesprochene Vorwurf blieb wie ein tiefer Burggraben zwischen uns bestehen.«

»Schade.« Sie sah auf. »Wieso widersetzte er sich der Heirat? War die Frau so schrecklich?«

Finlay schmunzelte. »Ich denke, bei Kai hat es andere Gründe, doch das soll er dir besser selbst erzählen.«

Liliana runzelte die Stirn. Deutete er etwa an, der Zimmerer würde sich nicht zum weiblichen Geschlecht hingezogen fühlen? Sie ließ den aufkommenden Gedanken nicht weiter an sich heran. Es war schließlich nichts, in das sie ihre Nase stecken musste. Damit würde sie nur ihrer Mutter ähneln.

***

Am Abend stand sie wieder mit Finlay zusammen an Deck und warf einen letzten Blick auf die Hafenstadt.

»Die Flut geht«, bemerkte Finlay und legte die Hände an den Mund. »Leinen los und Segel setzen!«, rief er seiner Mannschaft zu. »Wir legen ab.«

»Halt!«, brüllte eine Stimme vom Pier.

Liliana drehte sich verwundert um und sah einen heftig winkenden Mann mit dunklen Haaren an der Anlegestelle stehen. Er trug einen grauen Mantel über dem linken Arm und einen kleinen Koffer in der anderen Hand. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn erkannte.

»Gustav?«, rief Finlay erstaunt. »Ewan, lass ihn an Bord!«

»Aye, Kapitän.« Der Angesprochene tat wie ihm befohlen und schob den hölzernen Steg noch einmal aus, doch Gustav zögerte. Er drehte sich immer wieder suchend um.

»Was ist? Wir haben nicht viel Zeit!«, rief Finlay ungeduldig.

Gustav wurde zunehmend nervöser, er wippte von einem Bein auf das andere, betrat das Schiff aber nicht. »Warte!«

Finlay runzelte die Stirn. »Worauf?«

Die Antwort kam bereits keuchend angelaufen, bevor Gustav antworten konnte. Seinen Hut auf dem Kopf haltend, die Ledertasche unter dem Arm, hastete der schmale Levi den Pier entlang.

Finlay stutzte. »Was? Du auch?« Er seufzte. »Freunde, ich freue mich und bin zugleich verwundert, euch zu sehen, aber ich muss wirklich ablegen und das offene Meer erreichen, bevor die Gezeiten wechseln!«

»Wir wollen dich nicht aufhalten«, rief Gustav und wartete, bis der schmächtige Levi ihn erreicht hatte und sich schwer schnaufend auf den Oberschenkeln abstützte. »Wir möchten gerne mitfahren.«

»Was?«

Die beiden kamen nun den Steg herauf. Levi noch immer deutlich außer Atem.

Liliana lief auf sie zu. »Wie schön, Sie beide zu sehen!«

Gustav lächelte breit und deutete eine Verbeugung an. »Es ist mir ebenfalls eine große Freude, Miss Preston.«

Auch Levi zog seinen Hut. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

Finlay hingegen stand mit gesenkten Brauen und verschränkten Armen vor ihnen. »Ich kann also ablegen? Ihr wollt mit nach England?«

Gustav nickte hektisch. »Ja, bitte, ich erkläre dir alles unterwegs.«

Er runzelte die Stirn. »Ich habe allerdings nur noch eine Kabine für Gäste frei, die des ehemaligen Quartiermeisters. Ich wollte sie eigentlich Red überlassen. Er wird zwar nicht erfreut sein, aber es ist ja nur für kurze Zeit.«

Gustav winkte ab. »Mache dir wegen uns bitte keine Umstände, wir schlafen auch unter Matrosen auf Hängematten, das ist uns gleich.«

Liliana überlegte, ob sie ihre Kabine anbieten sollte und mit in Finlays ziehen. Doch dies zu fragen, traute sie sich öffentlich nicht, ohne verheiratet zu sein. Womöglich wäre es ihm auch gar nicht recht.

»Nein, ihr seid meine Freunde und Gäste«, sagte dieser. »Es wird eng, aber so habt ihr eine Möglichkeit des Rückzugs.« Er gab Ezekiel einen Wink und die Männer lösten die Leinen und hissten die Segel. »Lasst und nun runter in die Messe gehen und alles besprechen.«

Bevor sie die Treppe erreichten, stürzte Ben ihnen entgegen und begrüßte die beiden Gäste überschwänglich. »Also habe ich mich nicht verhört! Gustav! Levi! Wie schön, euch zu sehen.«

Finlay wandte sich an ihn. »Ben, kannst du bitte Joshua sagen, er soll uns Kaffee machen? Danach komme bitte auch zur Messe.«

Ben nickte fröhlich und ging.

Wenig später saßen sie alle zusammen mit einem Becher dampfenden Kaffee am Tisch. Liliana fand den Geruch dieses Getränks noch immer sehr betörend. Allein wohl auch aufgrund der schönen Erinnerung, die sie nun damit verband.

»Wir entschuldigen uns vielmals für den Überfall«, begann Levi mit seiner lauten, klaren Stimme. Sie fühlte sich sofort zurück in das Kaffeehaus in Hoorn versetzt, nur dass nun Ben am Tisch saß anstelle von Johan. »Es war uns trotz Eile leider nicht möglich, früher in Hamburg anzukommen. Zum Glück erwischten wir dich noch.«

Finlay nickte. »Um wenige Sekunden. Was ist passiert? Seid ihr auf der Flucht?«

»Ja und nein«, begann Levi und schob seinen Zwicker auf der großen Nase zurück.

»Es ist meine Schuld«, warf Gustav ein. »Lass mich erklären.« Er brach ab, presste eine Hand auf seinen Bauch, die andere an den Mund und unterdrückte ein Aufstoßen. »Verzeih, schwankt ein Schiff immer derart unangenehm?«

»Normalerweise ist der Seegang stärker, wir sind noch auf Binnenfahrt.« Finlay runzelte die Stirn. »Wenn du mir seekrank wirst und das gute Essen ausspuckst, werfe ich dich über Bord und lasse dich nebenher schwimmen.«

Gustav seufzte theatralisch. »Selbst dieses Unterfangen wäre besser als das, was mir blüht, wenn ich zurück nach Hause kehre.«

Liliana spürte einen Druck auf der Brust nach Gustavs Worten. »Was ist geschehen?«

Der junge Mann atmete tief durch, bevor er weitersprach. »Mein Vater ist ein Hauptmann. Er verlangt, dass ich als sein einziger Sohn der Familientradition treu bleibe und der preußischen Armee beitrete. Ich zögerte es heraus, indem ich angab, mich auf der Universität in Frankfurt eingeschrieben zu haben. Leider gibt es diesbezüglich eine Warteliste. Ohne Geld oder einen einflussreichen Fürsprecher war es mir nicht möglich, sie zu umgehen.« Er schloss kurz die Augen. »Ich verschwieg es meinen Eltern. Als ich nach unserem Treffen in Hoorn wieder nach Frankfurt kam, erwartete mich dort ein Schreiben meines Vaters. Er hat den Schwindel durchschaut und mich bei der Armee eingeschrieben. Sollte ich mich nicht bis zum Sommer dort gemeldet haben, gelte ich als Deserteur.« Seine Stimme brach ab und er schluckte hart.

Liliana fuhr ein kalter Schauer den Rücken hinunter, während sie die Worte des jungen Mannes hörte. Sie hatte ihn als so fröhlich, gebildet und pazifistisch kennengelernt. Als Soldat nur schwer vorstellbar, besonders da seine Ansichten gegen die Monarchie und für eine Republik gingen. Er würde bei einer Rebellion womöglich dazu gezwungen, auf Menschen zu schießen, die seine Ideale teilten.

»Das klingt schrecklich.« Sie griff über den Tisch und berührte seine Hand, die sich zu einer Faust geballt hatte. »Kann man da nichts tun?«

»Der familiäre Zwang ist hoch, seine Familie angesehen.« Levi schüttelte den Kopf. »König Friedrich II hat noch in seiner Blütezeit mit viel Propaganda großen Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, um seine Armee zu stärken. So sehr ich einige Ansichten von ihm in Bezug auf Aufklärung und Menschenrechte auch achte, diesbezüglich trat er doch in die Fußstapfen seines cholerischen Vaters.«

»Nicht nur das«, mischte sich der Schiffsarzt Ben mit leiser Stimme ein. »Sein Prinzip ist, dass die Soldaten ihren Heerführer mehr zu fürchten hatten als den Feind selbst. Das zeigt, wie brutal es in dieser Armee zugeht. Sie töten Deserteure nicht, sie holen sie zurück und sorgen dafür, dass man es kein zweites Mal versucht.«

Gustavs Körper erfüllte ein Beben und er vergrub das Gesicht in den Händen. »Es tut mir leid, Finn, ich möchte dich in nichts hineinziehen, aber ich wusste nicht, was ich anderes tun konnte. Gerade in Anbetracht einer drohenden Revolution in Frankreich.«

Finlay berührte tröstend seine Schulter. »Du bist herzlich willkommen auf dem Schiff«, sagte er. »Ich denke nicht, dass du mich damit in Gefahr bringst. Du bist Passagier. Was habe ich als Brite mit der preußischen Armee am Hut? Habt ihr eine Möglichkeit, in England unterzukommen?«

»Ich habe Verwandtschaft in Schottland«, meinte Levi. »Allerdings muss ich noch herausfinden, wo genau sie leben, und sie natürlich fragen. Ich bin jedoch zuversichtlich.«

Ben legte nun ebenfalls die Hand auf Gustavs Schulter. »Wenn alle Stricke reißen, sag Bescheid, mein Freund. Meine Familie ist recht groß. Wir werden gewiss eine Möglichkeit finden.« Er blickte zu Levi. »Hast du auch vor, in England zu bleiben?«

»Nein, nur so lange, wie Gustav mich braucht. Danach kehre ich zu meiner Familie zurück.«

»Weiß Cecilia Bescheid?«

»Ja, ich habe es meiner Frau gesagt und sie steht hinter mir.«

Gustav sah von seinen Händen auf und in die Runde. Die bernsteinfarbenen Augen glänzten. »Danke. Das vergesse ich euch nicht. Es tut wirklich gut, solch echte Freunde zu haben.«

 

Auf der Alecto

Mai 1786

Liliana verbrachte einen Großteil der Überfahrt im Arbeitszimmer und fertigte Listen der Ein- und Verkäufe an. Es gelang ihr noch immer nicht, bei dem Seegang eine gut lesbare Schrift zu behalten, dennoch gefiel ihr diese Aufgabe.

Finlays beengter, schlicht eingerichteter Schreibraum wurde ihr bald vertrauter als die eigene Kajüte. Ganz besonders bewunderte sie das kleine Schiffsmodell, das als einziges Schmuckstück diente. Sie staunte, wie filigran Segel und Schnüre der Takelage bearbeitet waren. Am Rumpf befand sich sogar eine wunderschön geschnitzte Löwenfigur.

Sie drehte sich zu Finlay, der gerade den Kurs berechnete. »Warum schmückt dein Schiff eigentlich keine Galionsfigur?«

Er blickte auf und runzelte die Stirn. »Ich wusste nicht, dass dies eine Pflicht wäre.«

Liliana hob die Brauen. »Ist es das nicht?«

»Es ist meines Erachtens mehr ein Aberglaube als eine Verzierung. Die Figur ist oft an den Schiffsnamen oder das Wappentier des jeweiligen Heimatlandes angelegt und soll Glück bringen sowie vor Gefahren schützen.« Er zuckte mit den Schultern. »Bisher lief mir noch kein passendes Motiv über den Weg und die Alecto gefällt mir so, wie sie ist.«

»Weshalb gabst du dem Schiff eigentlich diesen Namen?« Dass er aus der griechischen Mythologie stammte, wusste sie, nur nicht genau, woher.

»Er kommt aus dem Altgriechischen und heißt so viel wie die niemals Nachgebende. Sie ist eine der Erynnien. Diese Göttinnen tauchen immer nur im Hintergrund der Mythologie auf und agieren sozusagen als die personifizierten Gewissensbisse.«

Liliana verzog den Mund. »Eine Anlehnung an die Nemesis ist hier unverkennbar.«

Finlay lachte trocken auf. »Der ewige Wettstreit zwischen uns, ich weiß. Sowohl in Bildung als auch Hartnäckigkeit.« Er drehte den Zirkel in seiner Hand. »Der Name passt dennoch so gut, dass ich ihn auch heute nicht mehr ändern würde.«

»Aus Trotz?« Liliana bereute die Frage, sobald sie ihre Lippen verlassen hatte. Sie wusste um das schwierige Verhältnis zwischen den beiden Kapitänen und wollte keine alten Wunden öffnen. »Entschuldige, ich wollte nicht …«

»Wie du selbst merkst, passt es besser als gedacht«, unterbrach Finlay sie. Sein Blick nahm wieder den eines frechen Jungen an.

Liliana lächelte erleichtert, er nahm es offensichtlich mit Humor. Dennoch wurde ihr ein wenig flau im Magen, wenn sie an das bevorstehende Treffen mit ihrem Vater dachte. So sehr sie sich auch freute, ihn und ihre Tante Effie wiederzusehen, so sehr bangte sie um seine Reaktion auf die Verlobung. In Jacks Augen war ihr Liebster noch immer ein Feigling und Versager. Liliana liebte ihren Vater, aber empfand es als ungerecht, dass er Finlay kaum eine Chance zu geben schien, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

***

Als sie an diesem Tag nach dem Frühstück an Deck gingen, empfing sie ein rauer Wind, der Liliana in den Ohren pfiff. Sie zog sich ihr Tuch über die Haube und band es eng um den Hals. Lange würde sie heute nicht hier oben verweilen, sicher regnete es bald. Trotz der tiefhängenden grauen Wolkendecke sahen sie bereits die weißen Klippen Südenglands am Horizont aufragen.

»Wir legen noch heute in Hastings an«, erklärte Finlay.

»Sollten wir uns nicht mit Vater in Bristol treffen?«

Er nickte. »Ja, aber wir müssen Ladung löschen und ich wollte Duncan Urlaub geben.«

»Lebt seine Familie hier?«

»Ja. Wir werden in Bristol einige Wochen bleiben und die Matrosen bekommen dort für eine Weile frei. Nur wenige werden an Bord verweilen und das Schiff bewachen. Duncan hat sich eine Auszeit verdient, aber so muss er nicht die lange Reise von Bristol nach Hastings unternehmen.«

Das leuchtete Liliana ein.

»Wir haben noch genug Zeit, um nach Bristol zu kommen«, fuhr Finlay fort. »Dein Vater ist erst Anfang Juni wieder dort.«

Das rege Treiben an Deck trieb sie näher an die Reling. Liliana wollte keinem der Matrosen im Weg stehen. Finlay hingegen behielt alles im Auge und gab den Seeleuten hin und wieder Anweisungen, wobei er mit lauter Stimme gegen den starken Wind angehen musste.

Selbst Duncan half mittlerweile dabei, die Rahen auszurichten und die Segel zu setzen. Liliana staunte, wie geschickt sich der Junge verhielt, trotz der gefährlichen Böen. Duncan war ihr wie ein kleiner Bruder ans Herz gewachsen und sie verspürte stets den Drang, ihn vor jeder Gefahr schützen zu wollen. Sie drehte sich erneut zu Finlay. »Bringst du Duncan persönlich nach Hause?«

»Das hatte ich tatsächlich vor. Ich denke, ich bin es ihm schuldig. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Parker in diesem Hafen entflohen ist und wir nicht wissen, wo er sich aufhält, würde ich den Jungen ungern alleine losschicken. Solange diese Ratte auf freiem Fuß ist, fürchte ich um Duncans Wohl.«

»Ich würde gerne mitkommen, wenn es erlaubt ist.« Sie war mehr als neugierig darauf, Duncans Eltern zu treffen. Er hatte immer so viel von ihnen erzählt.

Finlay lächelte. »Duncan wird gewiss erfreut darüber sein.«

 

Hastings, England

Mai 1786

Am nächsten Morgen sprach Finlay seine beiden Gäste nach dem Frühstück an. »Wollt ihr hier aussteigen oder mit nach Bristol?«

Gustav runzelte die Stirn. »Was liegt näher an Schottland?«

Finlay lachte. »Das wäre Bristol.«

»Dann fahren wir mit dorthin, wenn es keine Umstände macht.«

»Natürlich nicht, ansonsten hätte ich nicht gefragt. Ich war mir nur nicht sicher, ob du lieber über Land reist, bevor du weiter die Fische mit deinem Verzehrten fütterst.«

Gustav rieb sich verlegen über den Nacken. »Danke. Leider gleicht die Belastbarkeit meines Geldbeutels derer meines Magens.«

Finlay klopfte ihm auf die Schulter. »Das ist überhaupt kein Problem. Ich selbst freue mich, wenn ihr beide noch eine Weile an Bord bleibt.«

»Ich fürchte, deine Mannschaft denkt da etwas anders.« Gustav warf ihm einen Hundeblick zu. »Dieser Mr Braden ist mir unheimlich. Ich meine stets, in seinen schönsten Träumen sieht er mich über die Planke spazieren und hinunter zu blutrünstigen Haien mit gebleckten Mäulern stürzen, deren messerscharfe Zähne mich in Stücke reißen, bis ein roter Teppich aus meinem Lebenssaft sich über das weite Meer ergießt.«

Liliana musste schmunzeln, ihr erging es anfangs nicht unähnlich mit dem mürrischen Ezekiel. Heute mochte sie ihn gern.

Finlay stieß Gustav lachend gegen den Oberarm. »Zügel deine bildhafte Fantasie ein wenig, mein Freund, und alles ist gut. Die Männer sind nur keine echten Landratten mehr gewohnt. Steht keinem im Weg rum und sie werden euch weiterhin tolerieren.«

Gustav runzelte die Stirn. »Das klingt vertrauensselig, danke«, sagte er mit wenig Enthusiasmus in der Stimme.

***

Nachdem sich Liliana zusammen mit Finlay um den Verkauf einiger Waren gekümmert hatte, gingen sie mit Duncan von Bord, um sich eine Kutsche zu mieten.

»Danke, dass Sie mich begleiten«, sagte der Schiffsjunge, doch seine Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt. »Ich freue mich sehr, wenn meine Eltern Sie endlich einmal kennenlernen, Kapitän. Ich hoffe, das alles macht Ihnen keine Umstände.«

»Unsinn. Ich bin sehr gespannt auf deine Eltern.«

Duncan zog die Schultern hoch. »Es sind … einfache Menschen. Wir wohnen … eher bescheiden.« Ihm stand die Unsicherheit ins Gesicht geschrieben.

Finlay schmunzelte. »Ich möchte deine Eltern kennenlernen, nicht das Haus und seine Einrichtung bewundern.«

Der Junge nannte dem Kutscher die Adresse und der offene Einspänner fuhr mit ihnen die Küste entlang. Die großen Steinhäuser wurden weniger und gaben den Blick auf kleinere Holzhäuser frei, auf deren Dächer sich zahlreiche Möwen breitmachten. Es waren kaum Kutschen oder Wagen auf der Straße und nur einige Fußgänger mit Bündeln, Körben oder Seesäcken, deren flotter, zielstrebiger Schritt zeigte, dass sie ihrer Arbeit nachgingen und nicht dem Vergnügen. Hin und wieder rannte eine Katze oder ein Hund vor ihnen auf die Straße. Es roch verstärkt nach Algen und Meerestieren.

Fischernetze hingen zum Trocknen in den Vorgärten und bärtige Männer in Leinenkleidung und Wollmützen flickten oder strichen umgedrehte Boote. Es war schnell ersichtlich, womit die Menschen, die hier lebten, ihren Lebensunterhalt verdienten. Trotz der ärmlichen Verhältnisse waren die Hütten oft liebevoll gestrichen und mit Blumentöpfen geschmückt.

Duncan blickte die ganze Fahrt über zur Seite auf die vorbeiziehenden Häuser, scheinbar tief in Gedanken versunken.

»Wie geht es dir?«, fragte Finlay leise und eindringlich.

Liliana wusste, worauf er anspielte.

Duncan drehte ihm den Kopf zu, seine Mimik blieb ernst. Er wirkte erwachsener als noch vor wenigen Wochen. »Besser.« Seine Stimme klang rau und er räusperte sich. »Ich habe viel nachgedacht und würde mich in Zukunft mehr zur Wehr setzen oder früher Hilfe holen.«

Finlay legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du weißt, du kannst immer zu mir kommen, ganz gleich, was geschehen sollte.«

Duncan presste die Lippen zusammen und nickte.

»Wir werden den Kerl suchen und finden. Wenn irgendetwas ist, zögere nicht und schicke einen Kurier zur Alecto nach Bristol, verstanden? Ich werde für die Kosten aufkommen.«

»Aye, Kapitän.« Er lächelte schwach. »Danke.«

Die Kutsche näherte sich einem der kleinen Häuschen. Liliana sah eine Frau mittleren Alters davor sitzen und ein Fischernetz flicken. Sie hob den Kopf, als die Kutsche vor dem Haus hielt, und ihre Augen weiteten sich. Langsam legte sie das Netz zur Seite und stand auf.

Duncan sprang strahlend aus der Kutsche. »Mom!«, rief er und rannte in ihre ausgebreiteten Arme.

Die Frau drückte ihn fest an sich, ihre Augen glänzten feucht.

»Duncan!« Ihre Haare waren nicht rot wie die ihres Sohnes, sondern besaßen ein honigfarbenes Blond. Auch hatte sie im Gegensatz zu ihm einige Locken, die von der Haube kaum gebändigt wurden. Ihre sommersprossenübersäten Gesichter ähnelten sich jedoch sehr. Die sanft wirkende Frau drückte Duncan länger, als dieser zu wollen schien. Liliana vermutete, dass es dem Jungen etwas unangenehm war, vor seinem Kapitän von der Mutter derart umarmt zu werden.

Finlay ergriff Duncans Seesack, den er auf dem Sitz der Kutsche hatte liegen lassen, und stieg aus. Erst als die Frau erkannte, dass noch zwei weitere Personen kamen, löste sie sich von ihrem Sohn. Sichtlich nervös rieb sie sich die Hände an der Schürze ab und trat ihnen entgegen.

Finlay half Liliana vom Trittbrett und drehte sich lächelnd zu der Frau um.

»Das sind mein Kapitän und Miss Lily«, erklärte Duncan stolz. Er nahm Finlay mit einem entschuldigenden Blick sein Bündel ab.

»Es freut mich sehr, dass Sie uns mit einem Besuch beehren, Kapitän«, sagte die Frau freundlich, aber spürbar aufgeregt und versuchte sich an einem Knicks. »Duncan hat so viel Gutes über Sie berichtet. Wir sind Ihnen wirklich zu großem Dank verpflichtet. Bitte, kommen Sie beide doch herein.« Sie deutete auf das kleine Haus.

»Mein Name ist Finlay Clark und dies ist meine Verlobte Miss Liliana Preston.«

Lilianas Herz machte einen Sprung. Es war das erste Mal, dass er sie als seine Verlobte vorstellte. Auch Duncans Augen weiteten sich. Es hatte sich wohl noch nicht bis zu ihm herumgesprochen unter der Mannschaft. Er sah sie fragend an und Liliana nickte ihm zu. Daraufhin fing er an zu grinsen, bis es beinahe seine Ohren erreichte.

Finlay zog den Hut. »Ich gehe davon aus, dass Sie Duncans Mutter sind, Madam?« Er schmunzelte über das erschreckte Gesicht der Frau.

»Du meine Güte.« Sie hielt sich die Hände vor den Mund. »Ich habe mich in der Aufregung gar nicht vorgestellt. Mariot Moore, ja, ich bin Duncans Mutter. Verzeihen Sie mir, wir sind solch hohen Besuch nicht gewohnt.«

Finlay lachte. »Ich bin lediglich ein einfacher Bürger dieses schönen Landes, Mrs Moore, kein Adliger. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«

Sie lächelte. »Kommen Sie bitte herein. Wollen Sie mit uns zu Mittag essen? Mein Mann sollte jeden Moment vom Markt kommen.«

Duncan ging strahlend und beinahe stolz neben ihnen zum Haus, als führte er seiner Mutter ein prächtiges Pferd vor. »Vater und Colin fahren um diese Zeit immer sehr früh aufs Meer hinaus zum Fischen und verkaufen den Fang dann auf dem Markt«, erzählte er. »Was sie nicht loswerden, kommt in die Pfanne. Mutter macht den besten Fisch in ganz England.« Er grinste breit.

»Dann lass uns hoffen, dass noch etwas übriggeblieben ist.« Finlay sah zu Duncans Mutter. »Ihr Sohn ist ein sehr strebsamer und auch kluger Junge, Mrs Moore, ich muss stets aufpassen, dass ihn mir keiner abwirbt. Sie können stolz auf ihn sein.«

»Das sind wir.« Sie lächelte. »Ich gebe zu, ich befürchtete Schlimmes anfangs. Aber wenn er bei uns ist, schwärmt er jeden Tag von dem Schiff und Ihnen und erzählte mir, wie Sie ihm sogar das Lesen beibringen ließen. Er versucht nun bei jeder Gelegenheit, es seinem Bruder Colin zu lehren und auch mich zu unterrichten, doch ich fürchte, ich bin für so etwas schon zu alt.«

Liliana stutzte, die Frau wirkte kaum älter als Finlay.

In diesem Moment betrat ein bärtiger Mann mit hellbraunen, glatten Haaren in Begleitung eines Jungen von etwa zehn Jahren das Haus. Beide trugen einfache Leinenhosen, Hemden und Wollmützen. Der Geruch von Fisch breitete sich im Raum aus, der jedoch mehr aus der Wollkleidung kam als von dem frischen Fang.

Sie hielten verwundert inne und betrachteten die Fremden in ihrem Heim mit großen Augen.

»Vater!«, rief Duncan erfreut und wurde auch von dem Mann kurz in die Arme genommen.

»Du bist zurück! Ist etwas passiert?« Er warf einen skeptischen Blick in ihre Richtung.

»Nein, sie leisteten mir nur Gesellschaft auf der Fahrt hierher.«

»Schatz!« Mrs Moore trat ihm ebenfalls entgegen. »Das sind Kapitän Clark und seine Begleitung Miss Preston.« Sie blickte zu Liliana und Finlay. »Dies sind mein Gatte Noah und mein jüngster Sohn Colin.«

Der Mann öffnete erstaunt den Mund, schloss ihn wieder und zog seine Mütze. »Herzlich willkommen in meiner bescheidenden Hütte, Kapitän.«

Finlay nickte. »Die Freude ist ganz meinerseits, Kapitän.«

Mr Moore zuckte bei dem letzten Wort leicht zusammen. »Ich besitze einen Fischerkahn, Sir, kein prächtiges Schiff.«

»Aber Sie fahren ihr Boot ohne die Hilfe anderer. Somit sind Sie sogar ein talentierterer Seemann, als ich es bin, Mr Moore.«

Der Mann lachte etwas verschämt ob des ungewöhnlichen Kompliments.

»Setzen Sie sich doch bitte.« Mrs Moore rückte zwei weitere Hocker an den sehr kleinen Tisch. »Es wird etwas eng, aber wir passen alle hin. Ich mache solange das Essen. Ich sehe, es sind noch genug Dorsche übrig.« Sie nahm ihrem Mann die Tasche ab und ging zum Herd.

Duncan brachte ihnen Becher und einen Krug Bier und schenkte ein. Liliana betrachtete Colin, der noch immer neben dem Tisch stand und mit offenem Mund und großen Augen Finlay und seine Kleidung anstarrte. Trotz ähnlicher Gesichtszüge sah er anders aus als sein größerer Bruder. Seine Statur war weniger schmal als Duncans. Er wirkte gedrungener und stämmiger, was sich jedoch noch verwachsen könnte. Seine Haare waren hellbraun und lockig, die Augen dunkel wie die des Vaters. Duncan hingegen besaß die grünen seiner Mutter.

»Vielen Dank, Sir, dass Sie sich meines Sohnes angenommen haben«, sagte Mr Moore. »Wie es scheint, bekommt er eine sehr gute Ausbildung auf Ihrem Schiff. Und wird gut behandelt. Hier lag meine größte Sorge. Ich liebe meine Kinder und möchte, dass ihnen kein Leid geschieht.«

Finlay nickte, doch Liliana bemerkte seine angespannten Kiefer. Es ging ihm noch immer sehr nahe, dass er Duncan nicht vor Parker hatte beschützen können.

»Bitte hör auf, dich um mich zu sorgen, Vater«, warf Duncan ein, als wollte er seinen Arbeitgeber nicht in Bedrängnis bringen. »Mein Kapitän macht alles in seiner Macht Stehende, dass es der Mannschaft gut geht.«

Der Vater kratzte sich am Hinterkopf und lachte. »Ich weiß, das erzählst du uns ununterbrochen. Ich will auch nicht erscheinen, als wäre ich enttäuscht, mit meinen Sorgen damals Unrecht gehabt zu haben. Im Gegenteil. Heute bin ich sehr froh, dass du doch die richtige Wahl getroffen hast.«

 

Einige Zeit später servierte Mrs Duncan den in Butter geschwenkten Fisch mit Kartoffeln und Möhren. Es duftete wundervoll.

»Wie lange kannst du bei uns bleiben?«, fragte sie ihren ältesten Sohn mit einem beinahe sehnsüchtigen Blick.

Duncan sah fragend zu Finlay.

»Die nächste Fahrt steht erst im August an«, antwortete der. »Dann bräuchte ich ihn wieder.«

Duncan verzog den Mund. »So spät?«

Mrs Moore nahm lächelnd seine Hand. »Ich freue mich, wenn du mal etwas länger als nur wenige Tage bei uns bleiben kannst. Oder möchtest du das nicht mehr?«

»Doch, natürlich.« Duncan rang sich nun doch ein Lächeln ab. »Ich freue mich darauf. Aber ich werde die Alecto sehr vermissen. Dann habe ich Zeit genug, Colin das Lesen beizubringen.«

Sein Bruder stocherte mit der Gabel in seinem Fisch und verrollte mit einem unterdrückten Stöhnen die Augen.

Duncan zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du wirst es lernen, du fauler Hund! Du wirst mir nochmal dankbar sein dafür!« Sein Gesichtsausdruck war derart erwachsen, dass Liliana mit einem vorgeschobenen Räuspern ein Lachen unterdrücken musste.

»Höre auf deinen großen Bruder, Colin«, stimmte sein Vater zu. »Er hat recht. Ich wünschte, ich hätte damals solch einen Bruder gehabt. Ich wollte immer Lesen und Schreiben lernen, aber meine Eltern befanden es als unnütz. Also strenge dich an!«

Colin zog den Kopf ein. »Ja, Vater.« Als Mr Moore wieder auf seinen Teller schaute, streckte Colin seinem Bruder heimlich die Zunge heraus. Der rümpfte nur die Nase.

Liliana schmunzelte. »Bitte streitet euch nicht«, sagte sie. »Brüder müssen zusammenhalten.«

Sie selbst hätte sehr gern Geschwister gehabt, jemanden, der ihre Situation verstand und im selben Boot saß. Ob Bruder oder Schwester wäre ihr gleich gewesen. Die Reaktion des Jüngeren verstand sie jedoch gut. Im Schatten seines Bruders zu stehen, der schon Geld verdiente, mit dem er die Familie unterstützte, und auch noch Bildung erhielt, war sicher nicht einfach. Auch wenn Colin immerhin in die Fußstapfen des Vaters treten durfte, was sonst dem Älteren vorbehalten war. Aber Duncan meinte es schließlich nur gut mit seiner Bevormundung.

 

Liliana aß alles bis auf den letzten Happen auf. Nur die Gräten blieben auf dem Teller liegen. »Vielen Dank für das Essen, Mrs Moore, es war absolut fantastisch.«

Sie winkte ab. »Es war nichts Besonderes.«

»O doch, Ihr Sohn hat nicht übertrieben«, sagte Finlay und legte die Gabel beiseite. »Das war der beste Fisch, den ich je gegessen habe.«

Mrs Moore errötete und sammelte hastig die Teller ein. »Das freut mich.«

Mr Moore räusperte sich. »Danke für Ihren Besuch bei uns, Kapitän, es beruhigt mich nun noch mehr, da ich weiß, dass mein Sohn in guten Händen ist.«

»Gerne. Es war angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr Moore … Mrs Moore.« Er drehte sich zu der Gemahlin und deute eine Verbeugung an. »Wir werden nun zurück zum Schiff fahren. Ich hole Duncan dann im August wieder bei Ihnen ab.«

Mrs Moore seufzte laut.

Duncan blickte seine Mutter vorwurfsvoll an. »Mach dir nicht immer solche Sorgen, Mom. Ich bleibe doch jetzt lange Zeit bei euch und bin wahrhaft kein Kind mehr.«

Sie strich ihm lächelnd über die Wangen, nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. »Nein, das bist du nicht. Aber für mich wirst du es immer sein.«

Duncan wand sich aus der Umarmung und blickte etwas verschämt zu den Gästen. »Mutter! Bitte!«, flüsterte er.

Finlay schmunzelte. »Ein echter Seemann wehrt sich nicht, wenn eine Frau ihn umarmt«, scherzte er. »Auch nicht bei der eigenen Mutter.«

Liliana verabschiedete sich ebenfalls höflich und sie gingen zurück zur Kutsche, die vor dem Haus gewartet hatte.

»Duncans Familie ist wirklich sehr nett«, sagte Liliana, als sie auf den gepolsterten Sitzen saßen.

Finlay nickte. »Ich mochte sie ebenfalls.« Seine Mimik wurde ernst. »Es bestätigt mich umso mehr in meinem Drang, Travis Parker für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen.«

***

Kaum waren sie zurück auf dem Schiff, trat Ezekiel zu ihnen an Deck. »Ich habe etwas über Parker herausgefunden.« Er kratzte sich nervös am Nacken.

Finlay hob die Brauen. »Tatsächlich? Wie das?«

Der Bootsmann grinste. »Ein wenig unverbindliches Herumfragen in den Hafenkneipen bringt oft einiges zutage.«

»Sehr gut gemacht! Sprich, was weißt du?« Seine Stimme klang energisch und ungeduldig, aber Liliana bildete sich ein, ein Beben darin vernommen zu haben. Diese Geschichte ging ihm gewiss näher, als er zugeben würde.

»Travis Parker ist ein Leutnant der königlichen Marine. Er fuhr wohl zuletzt auf der HMS Renown und hat Spielschulden. Mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen.« Ezekiel brummte. »Besonders beliebt ist der Kerl nicht bei denen, die mal unter ihm dienten. Es fielen einige Flüche bei der Erwähnung seines Namens.«

»Danke, damit kann Jack gewiss etwas anfangen.« Finlay presste die Lippen zusammen.

»Der Kerl ist gerissen. Hat immer versucht, die Männer auf seine Seite zu ziehen während der Ausgangssperre. Zum Glück haben wir eine alte, gefestigte Mannschaft, die zusammenhält. Auf einem Schiff mit vielen neuen Matrosen hätte er vielleicht Erfolg gehabt.« Ezekiel ballte die Hand zur Faust und zeigte die Zähne. »Das ist ein schmieriger Lump, ich hab es gleich gesagt.«

Finlays Haltung entspannte sich und er klopfte seinem Bootsmann lachend auf die Schulter. »Ja, du hattest recht. Ich verspreche, nie wieder an dir zu zweifeln!«

»Besser nicht.« Ezekiel schmunzelte, was nun ohne den Vollbart besser zu erkennen war als früher. Auch wenn die Stoppeln bereits wieder sprossen und ihm seinen ehemals verwegenen Ausdruck zurückgaben. »Dann hättest du Miss Preston hier nie kennengelernt und auch uns wäre etwas entgangen.«

Sie stemmte scherzhaft die Arme in ihre Taille. »So war das also damals. Aber ich erinnere mich auch gut daran, dass Sie durch den Verzicht der Prämie zum Frieden mit meinem Vater beitrugen. Also sei Ihnen verziehen, Mr Braden.«

Ezekiel deutete eine Verbeugung an. »Vielen Dank, Miss Preston.«

»Geben Sie den beiden Gästen aus Europa bitte auch eine Gelegenheit, sich zu bewähren«, fügte Liliana hoffnungsvoll hinzu.

Der Bootsmann brummte nur dazu.

»Bereit machen zum Ablegen!«, sagte Finlay zu ihm.

»Aye, Kapitän.«

Es wurde hektisch an Deck. Finlay stand an der Brücke mit beiden Händen am Geländer und überwachte die Arbeiten.

Liliana trat neben ihn. »Wie lange brauchen wir nach Bristol?« Nun stieg doch die Aufregung in ihr, endlich Effie und ihren Vater wiederzusehen. Ob die Nemesis auch früher als erwartet anlegen würde?

»Je nach Wind drei bis vier Tage. Wir müssen um die Spitze Cornwalls und im Kanal auf die Gezeiten achten. Sie sind dort nicht so stark wie in Hamburg, aber unterschätzen sollte man es nicht.«

»Finn?«

»Ja?«

»Bringst du mir das Kämpfen bei?«

Er runzelte verwundert die Stirn.

Liliana seufzte. »Die Sache mit Mr Parker rief mir erneut ins Gedächtnis, wie viele unredliche Menschen es auf dieser Welt gibt. Ich würde gerne lernen, mich zu verteidigen. Zumindest mit Schwert oder Pistole.«

Er senkte die Brauen. »Pistole?«

Sie hob abwehrend die Hände. »Ich verspüre gewiss nicht das Verlangen, mich freudig in handfeste Auseinandersetzungen zu stürzen oder gar zu duellieren wie in ihrer Eitelkeit verletzte Männer. Nichtsdestotrotz ist es mir zuwider, immer derart ausgeliefert zu sein.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Und die Erzählungen deiner Freunde über einen kommenden Revolutionskrieg in Europa jagten mir Angst ein.«

Finlay musterte sie eine Weile ernst. Er nickte. »Ich kann gerne versuchten, dich im Schwertkampf unterrichten, was allerdings keine leichte Kunst ist. Das Schießenlernen ist im Vergleich dazu einfacher.« Seine Mundwinkel zogen sich schelmisch nach oben. »Solange du auf meiner Seite bleibst.«

 

Bristol, England

Mai 1786

Kaum, dass sie im Hafen von Bristol angelegt und die Männer das Schiff vertäut hatten, lief Liliana zu Finlay. »Lass uns gleich schauen, ob die Nemesis vielleicht doch schon im Hafen liegt!«

Finlay überkreuzte die Arme und hob eine Braue.

Liliana runzelte die Stirn, doch dann fiel es ihr ein. Sie musste der Pflicht des Quartiermeisters nachgehen. »Lass uns gleich schauen, nachdem wir uns um den Verkauf der restlichen Waren gekümmert und eine Liste der zu tätigenden Einkäufe erstellt haben.«

»Das klingt schon besser.« Finlay lachte. »Etwas fehlt noch, um eine Meuterei zu verhindern.«

Sie hob den Zeigefinger. »Heuer auszahlen. Die Männer bekommen Landurlaub und brauchen ihren Lohn.«

»Richtig. Sowie die Steuern abgeben. Ich kenne das Gefängnis in Hastings bereits von innen, das genügt.«

Sie seufzte. »Ich muss in der Tat an meiner Geduld arbeiten.«

Finlay lachte. »Noch bist du ganz am Anfang der Lehre. Ich übernehme die Heuerzahlung, du kannst in der Zeit schauen, was wir noch an Lebensmitteln haben und welche Waren wir benötigen. Denke daran, dass wir nur noch zehn Matrosen an Bord haben werden die nächsten Wochen, die weniger schwer arbeiten und gewiss ab und zu in Kneipen speisen werden.«

Liliana nickte. »Aye, Kapitän.«

 

Gustav und Levi traten vor sie. Liliana musste schmunzeln. Die beiden schienen aneinandergewachsen zu sein, selten sah man den einen ohne den anderen auf dem Schiff. Trotz aller Gegensätze: älter und schmal neben jung und groß, penibel und steif neben chaotisch und zappelig. Wahrscheinlich stellte diese Verbundenheit einen unbewussten Schutz dar, hier in der Fremde und umgeben von rauen Seemännern.

»Könnten unsere Sachen noch bei dir an Bord bleiben?«, fragte Levi an Finlay gerichtet. »Wir wollten erst versuchen, meine Verwandten ausfindig zu machen, und nicht ins Unbekannte reisen.«

»Könnten wir auch die Kabine weiter nutzen?« Gustav kratzte sich beschämt im Nacken. »Weißt du, ich habe nicht wirklich viel Geld dabei und muss haushalten … Ich mache das wieder gut … irgendwann.«

Finlay lachte. »Natürlich, fühlt euch wie zu Hause. Da ein Großteil der Mannschaft Urlaub bekommt, ist es immer gut, wenn Personen an Bord sind, um eventuelle Plünderer zu vergraulen.«

Gustav lächelte breit. »Danke. Wir geloben, jeden Abend die besten Wachhunde zu sein. Ich werde jedem Einbrecher mit aller Kraft ins Hosenbein beißen, während Levi danebensteht und bellt.«

Finlay lachte und auch Liliana musste beinahe losprusten bei der bildlichen Vorstellung. Sie konnte gerade noch die Hand vor den Mund halten.

Levi hingegen hatte nur ein Augenrollen für seinen jüngeren Kameraden übrig. Er stieß Gustav an. »Komm, du Schwätzer, lass uns los, bevor die Behörden schließen.«

 

Nach dem Mittagessen saß Liliana zusammen mit Finlay am Schreibtisch des Arbeitszimmers. Sie kontrollierten gemeinsam die Listen auf Fehler.

Finlay lächelte zufrieden. »Alles korrekt und ebenso ein gutes Ergebnis. Der Handel lief sehr zu unseren Gunsten. Nun können wir uns den angenehmeren Dingen widmen. Zumindest, bis es erneut auf Fahrt geht.«

»Wie lange bleiben wir in England?«

»Meine Geschäfte liefen sehr gut in den letzten Monaten. Ich wollte die nächsten Tage einige Wartungen am Schiff durchführen lassen. Wir haben es somit nicht eilig.«

Liliana jauchzte. »Dann könnten wir zusammen zum Landsitz reisen und ich zeige dir endlich meine Heimat?«

»Gerne. Das würde mich sehr freuen.« Finlay lächelte geheimnisvoll. »Aber zuerst möchte ich dir etwas zeigen.« Er holte eine kleine Holzkiste aus der Schublade des Schreibtischs hervor und öffnete sie. Darin befand sich in öligen Tüchern eingewickelt eine Pistole mit doppeltem Lauf, hölzernem Griff und schnörkeligen Verzierungen im Metall.

Liliana betrachtete die Waffe fasziniert, aber nicht ohne Respekt. »Sie sieht beinahe zu schön zum Benutzen aus.«

»Es ist eine Steinschlosspistole hier aus England von W. Bailes mit drehbarem Doppellauf. Man kann so zwei Schuss absetzen, ohne neu laden zu müssen.« Er zeigte auf den Hahn. »Hier ist ein Feuerstein eingespannt. Wenn man den Abzug betätigt, reibt dieser gegen die Batterie und entzündet das Zündkraut. Durch die Explosion wird die Kugel im Lauf herauskatapultiert.«

Liliana nickte. »Ähnlich einer Kanone, nur kleiner.«

Finlay lachte. »Und man benötigt keine Lunte.«

»Ist es schwer, damit zu schießen?«

»Das Schießen selbst weniger, aber das Treffen ist nicht einfach. Die Zündung hat einen nicht unerheblichen Rückstoß, man benötigt eine sichere Hand und darf nicht allzu schreckhaft sein. Aber viel ist Übung und Gewohnheit.« Er strich mit den Fingern beinahe liebevoll über das verzierte Metall. »Wichtig ist auch die Pflege. Die Pistole muss trocken lagern und immer von den Rückständen des Pulvers gereinigt werden, sonst verstopft der Lauf und es kann dir vor der Nase explodieren.«

Liliana nickte. »Ich würde es gerne mal versuchen.«

»Dafür habe ich sie geholt. Wir üben erst das Pflegen, dann das Schießen. Aber pass auf, es ist eine tödliche Waffe!« Sein Blick wurde ernst. »Unterschätze dies nie! Nutze sie nur zur Verteidigung und auch nur dann, wenn du sicher bist, dass kein Unschuldiger deinen Weg kreuzt. Ein echter Kampf wird in der Regel mit Fäusten oder Schwertern ausgeführt, das ist zielgerichteter.«

Liliana nickte. Im Faustkampf gegen Männer wäre sie unterlegen und ein Schwert zu führen, würde lange Zeiten der Übung benötigen. Der Gedanke, eine solche Pistole erfolgreich zu handhaben, war daher äußerst verlockend. »Wie lädt man sie?«

»Die Munition wird durch die Lauföffnung eingeführt. Sie besteht aus Schießpulver, dem Projektil und einem Papierknäuel, das als Deckel dient, um die beiden anderen Bestandteile im Lauf zusammenzudrücken. Ich zeige dir alles.«

Finlay holte ein Öltuch hervor und unterwies sie in der Reinigung des Schachtes. Liliana wiederholte alles, was er ihr zeigte, und prägte sich jeden Schritt ein. Dann holte er Pulverbox und Kugeln hervor und lud die Pistole.

»Es gibt verschiedene Arten von Schießpulver«, erklärte er. »Dieses hier ist aus Frankreich. Die Franzosen verwenden eine bessere Rezeptur, die Kugeln weiter fliegen lässt. Das ist bei Pistolen nicht ganz so ausgeprägt, aber bei Gewehren und Kanonen ein prägnanter Unterschied. Viele sind der Ansicht, dass die Amerikaner auch deswegen einen Vorteil im Krieg hatten, weil die Franzosen ihnen das bessere Pulver verkauften.« Er nahm die geladene Pistole in die Hand. »Komm mit nach oben, da können wir üben.«

»Ist das nicht sehr laut?«

»Im Lärm des Hafens geht das unter. Außerdem verlassen wir mein Schiff, sprich: meinen Grund und Boden, nicht.«

Sie gingen an Deck und Finlay stellte in einigen Schritten Entfernung zwei Flaschen auf ein Fass. Er trat hinter Liliana und legte ihr die geladene Pistole in die Hand. Sie spürte den glatten, hölzernen Griff der schweren Waffe, der sich in ihre Handfläche schmiegte.

»So hält man sie. Hand um den Griff, Zeigefinder an den Abzug.« Finlays kräftige Hände umfassten die ihren und wiesen ihren Fingern den richtigen Platz.

Liliana bekam eine Gänsehaut bei seiner sanften Berührung und musste sich anstrengen, bei der Sache zu bleiben.

Er richtete ihre Hand mit der Waffe gegen die Flaschen und legte sein Kinn von hinten an ihre Schulter. »Bewege nicht nur den einzelnen Zeigefinger zurück, sondern mache eine Faust, dann hast du mehr Kontrolle. Ziele mit dem Lauf auf die Flaschen. Er hat eine kleine Erhöhung vorne und hinten ist eine Einkerbung, das nennt man Visierung. So erkennt man, ob der Lauf gerade gehalten wird.«

Der warme Atem an ihrer Wange und sein betörender Körpergeruch ließen ihre Knie weich werden. Wie sollte sie sich bei dieser körperlichen Nähe auf das Schießen konzentrieren?

»Rechne stets mit ein, dass der Lauf etwas nach oben zieht beim Schuss.«

Liliana riss sich zusammen und versuchte, die Erregung zu verdrängen, die durch Finlays Berührungen in ihr aufstieg. Zumindest war jegliche Angst vor der Pistole vergessen.

»Wir machen den ersten Schuss zusammen. Ich halte deine Hand. Versuche, die Augen offen zu lassen. Bereit?«

Liliana starrte auf die Flaschen und nickte.

»Dann drück ab.«

Sie zog mit ihrem Zeigefinger den metallenen Abzug zurück, indem sie vorgab, eine Faust zu machen, wie Finlay vorgeschlagen hatte. Kurz darauf blitzte es vor ihrer Nase auf und ein Knall ertönte. Liliana zuckte zusammen und schloss die Augen. In ihre Nase drang der beißende Geruch von Schwefel.

Sie öffnete die Augen wieder. Eine der Flaschen war explodiert.

»Guter Schuss, der Lauf hat sich kaum bewegt«, lobte Finlay und ließ ihre Hand los.

Liliana bedauerte es etwas, dass er sich von ihr löste und einen Schritt zurücktrat.

»Ich habe die Augen verschlossen«, gestand sie betrübt. »Dabei strengte ich mich so an, dies nicht zu tun. Ich traf nur, weil du meine Hand gehalten hast.«

»Du warst wirklich gut, glaube mir das. Jeder erschrickt anfangs. Ich stellte mich weitaus dümmer an beim ersten Schuss.«

»Du warst gewiss jünger!«

Finlay schmunzelte. »Etwas. Ja. Ich war zehn, als mein Vater es mir zeigte.«

Liliana seufzte. Sie war unsäglich enttäuscht von sich. »Es war viel leiser als ein Kanonenfeuer und da schloss ich meine Augen nicht.«

»Kanonen sind lauter, aber dumpfer und nicht so dicht am Gesicht.« Er wies auf die Pistole. »Drehe den Lauf, sobald er abgekühlt ist, und versuche es erneut. Diesmal ohne mich.«

Sie tat wie ihr geheißen und visierte die zweite Flasche an. Finlay stand schweigend einen Schritt daneben. Sie blickte fragend zu ihm. »Wann soll ich abdrücken?«

Er lachte. »Wenn du bereit bist natürlich. Entscheide selbst!«

Liliana schluckte. Sie verengte die Augen und sah nur noch Lauf und Ziel vor sich. Als sich ihr Finger krümmte, dachte sie einzig daran, dass die Flasche explodieren sollte. Sie war derart in diesen Wunsch vertieft, dass sie den Knall gar nicht realisierte. Diesmal sah sie, wie die Funken aus der Batterie stoben und im selben Moment die Flasche in Tausend Scherben zersprang.

Ihr Herz machte einen Freudensprung. Sie drehte sich stolz und glücklich zu Finlay um und grinste breit. Er sah sie mit offenem Mund und undefinierbarer Miene an. Lilianas Lächeln erstarb. Hatte sie etwas falsch gemacht?

»Was ist los?«, fragte sie verunsichert.

Finlay schüttelte langsam den Kopf. »Verzeih mir meinen überraschten Blick.« Er lächelte. »Ich muss zu meiner Schande gestehen, ich habe trotz allem nicht damit gerechnet, dass du so gut schießt.«

Liliana stutzte. Sie öffnete den Mund, um nachzufragen, schloss ihn aber wieder. Ihre Verblüffung war zu groß.

Finlay nahm sie lächelnd in die Arme. »Ich spreche die Wahrheit. Das war ein sehr guter Schuss.«

»Sicher nur ein glücklicher Zufall …«

Finlay hielt ihr sanft einen Fingen auf den Mund. »Wiegel es nicht ab. Es bringt keinen um, einmal ein Kompliment anzunehmen.« Er löste den Finger und ersetzte ihn mit seinen Lippen.

Nach dem Kuss nahm sein Gesicht wieder den schelmischen Ausdruck eines frechen Jungen an. Er nahm ihr die Pistole ab, legte sie auf eines der hölzernen Fässer, die an Deck lagerten, und ergriff ihre Hand. »Komm mit!«

Liliana runzelte skeptisch die Stirn. Was hatte er nun wieder vor? »Wohin gehen wir?«

»In die Stadt.«

Sie sah auf die Waffe. »Sollten wir sie nicht erst reinigen nach den Schüssen?«

»Ja. Später.« Er zog an ihrer Hand und lief los.

Liliana musste beinahe rennen, um Schritt zu halten. Sie fühlte sich wie ein junges Mädchen, das mit ihrem heimlichen Verehrer vor den Blicken der Eltern flieht. »Was soll das?« Sie musste kichern. »Du ziehst an meiner Hand, als wäre ich ein Papierdrachen, den du steigen lassen möchtest.«

Finlay lachte herzhaft, verriet aber noch immer nichts. Sie liefen Hand in Hand die Straßen entlang bis zu einem kleinen Geschäft. Er zog sie so schnell hinein, dass sie das Holzschild davor nicht lesen konnte.

Im Inneren wirkte es wie ein Kramladen oder Pfandhändler. Der kleine Raum war vollgestopft mit allerhand Gütern aus aller Welt. Von chinesischen Vasen über Teppichen bis hin zu Musikinstrumenten. Es roch nach Harz und Lavendel gegen Motten.

Ein Mann mit fein gestutztem grauem Bart und dunklen Haaren kam ihnen entgegen. »Guten Morgen, Mr Clark, welch Freude, Sie zu sehen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Mr Taylor. Darf ich Ihnen meine Verlobte Miss Preston vorstellen? Liliana, das ist der Besitzer des Ladens, Kenneth Taylor.«

Der Mann verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, Miss Preston.«

»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mr Taylor.«

»Womit kann ich dienen? Etwas für die Dame? Erst gestern bekam ich Seide aus Indien geliefert und Parfüm aus Persien.«

»Wir wären vielmehr an einer Pistole interessiert.«

Der Mann verlor sein Lächeln, fasste sich aber kurz darauf wieder. »Ich vergaß, dass Sie noch niemals ein gewöhnlicher Kunde waren, Mr Clark.« Er hob die Brauen. »Für die Dame?«

Finlay nickte. »Für die Dame«, bestätigte er.

Mr Taylor schien einen Moment nachzudenken, dann hellte sich seine Miene auf. »Da habe ich genau das Richtige.« Er wirkte wie in seinem Element und holte zwei Holzkisten unter dem Tresen hervor. »Ich denke, eine Reisepistole wäre ideal für zierliche Frauenhände. Die haben einen kürzeren Lauf, sodass sie leicht in der Tasche zu transportieren sind und so auch versteckt getragen werden können. Die Schussweite ist reduziert, aber ich nehme an, es dient ohnehin nur der Verteidigung?«

Finlay nickte. »Damit liegen Sie richtig.«

»Ich habe zwei besonders hübsche Kandidaten für eine ebensolche Dame. Beides gebrauchte aus Frankreich, aber noch in einem tadellosen Zustand und voll funktionsfähig.« Mit dem Lächeln eines stolzen Vaters öffnete er die größere der beiden Boxen und holte eine Pistole hervor. »Hier ist eine mit glattem, achteckigem, nach Baluster in rund übergehendem Lauf mit kanonierter Mündung.« Er drehte die Pistole vor ihren Augen und strich mit dem Finger über die jeweiligen Teile mit einer Eleganz, die Liliana bisher nur von Schneidern kannte, die Kleider absteckten.

Sie staunte, wie kurz sie war im Gegensatz zu Finlays. Auch war sie schlichter und weniger verziert.

»Steinschloss und Nussholzschaft mit polierter, eiserner Garnitur. Lauf und Schloss brüniert und stellenweise narbig, Schaft mit leichten Gebrauchsspuren. Länge sieben Zoll. Meine Dame!« Er reichte ihr die kleine Pistole, sodass sie sie betrachten konnte. Sie wog noch immer recht schwer, lag aber angenehm in der Hand.

Mr Taylor öffnete die zweite Schatulle und holte eine weitere Waffe hervor. Liliana sah auf. Diese gefiel ihr auf Anhieb. Ihr Holzgriff schimmerte dunkel, beinahe schwarz, und der untere Teil des Schafts ging vorn nach oben abgerundet in den Lauf über. Es wirkte geschwungen elegant, zugleich auch beinahe niedlich und erinnerte sie gegen ihren Willen an einen stupsnasigen Hundewelpen.

»Diese hier ist kürzer, aber in einem gepflegteren Zustand und wahrlich eine kleine Schönheit«, erklärte Mr Taylor, sichtlich angetan von Lilianas interessiertem Blick. »Achtkantiger über Sechzehnkant und Baluster auf rund übergehendem Lauf mit Kanonenmündung. Flache, gekantete Schlossplatte. Verziert ausgearbeitete Stahlbeschläge. Dunkler Nussbaumschaft leicht floral beschnitzt. Länge fünfeinhalb Zoll. Gereinigte Stahloberfläche mit leichter Fleckenbildung, keine Narben.« Er lächelte breit und hielt ihr die Waffe hin.

Liliana legte die erste auf den Tisch und nahm die zweite. Sie war um einiges leichter und lag noch besser in der Hand.

»Diese gefällt mir besonders gut.« Sie sah fragend zu Finlay, der nachdenklich das Kinn rieb.

»Die sind wirklich beide funktionsfähig?«, fragte er mit skeptisch gerunzelter Stirn. »Ich sähe es ungern, sollte eine davon in der Hand meiner Begleitung explodieren.«

Mr Taylor schnappte empört nach Luft. »Mr Clark, was denken Sie von mir? Sie können beide Waffen selbstverständlich vor dem Kauf testen.«

Finlay nickte. »Das würden wir gerne.«

»Natürlich.« Mr Taylor holte eine weitere Box hervor, in der sich Kugeln, Pulver und Papier befanden. Er stopfte die Läufe beider Pistolen, wobei er sehr sorgfältig und gewissenhaft vorging. Danach nahm er die Waffen an sich und breitete seine Hand in Richtung der gegenüberliegenden Tür aus. »Folgen Sie mir bitte in den Hinterhof.«

Vor einer Holzwand mit einer aufgemalten runden Zielscheibe, die bereits etliche Löcher aufwies, blieb er stehen und überreichte Finlay eine der Pistolen. Der trat jedoch zur Seite und wies auf Liliana. »Meine Begleitung muss damit umgehen können, nicht ich.«

Mr Tayler zuckte leicht mit der Augenbraue, behielt aber seine höfliche Miene und hielt die erste Waffe nun Liliana hin. Ihr fiel auf, dass er dies vorsichtiger tat. Das Verlangen, beleidigt die Nase darüber zu rümpfen, bekämpfte sie. Liliana nahm die erste, größere Pistole an sich und wog sie kurz in der Hand. Mr Taylor öffnete den Mund, wohl um eine Anweisung zu geben, doch sie zielte bereits auf die Scheibe. Erneut zwang sie sich zur Konzentration, statt lange nachzudenken oder zu zögern. Nach nur kurzem Anvisieren drückte sie ab. Die Kugel traf knapp neben die Mitte der Scheibe.

»Ein sehr guter Treffer«, lobte der Verkäufer. Sein Gesicht zeigte aufrichtiges Erstaunen. »Betreiben Sie diesen Sport schon lange?«

»Das war mein zweiter Schuss«, gab sie zu.

Mr Taylor hob anerkennend die Brauen. »Dann, meine Dame, haben Sie ein Talent, das ich selten sah. Meine Hochachtung.«

»Danke für das Lob, Mr Taylor.« Ihre Wangen glühten. Noch niemals war ihr von jemandem gesagt worden, dass sie für etwas talentiert wäre. Ihre Leistungen waren von den Lehrern früher stets nur als annehmbar bezeichnet worden. Sie seufzte innerlich. War es denn löblich oder gar eher verwerflich, bei der Handhabung einer tödlichen Waffe ein Geschick zu beweisen?

»Darf ich die zweite ausprobieren, Mr Taylor?«

»Selbstverständlich.« Er reichte ihr die andere Waffe.

Sie lag wie schon zuvor besser in ihrer Hand und war auch leichter mit dem kürzeren Lauf. Liliana konzentrierte sich erneut. Der Rückstoß wirkte weniger stark und diesmal traf sie die Mitte exakt.

Mr Taylor klemmte die erste Pistole unter die Achsel und klatschte anerkennend in die Hände. »Sie sollten sich diesbezüglich an Turnieren beteiligen.«

Lilianas Wangen brannten noch immer, innerlich jubilierte sie, dass sich die Pistole sogar noch besser handhaben ließ, die ihr auch optisch gefiel.

»Entschuldigen Sie uns kurz, Mr Taylor.« Finlay nahm sie am Arm und führte sie ein Stück zur Seite. Er legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter. »Was meinst du?«, fragte er leise.

»Ich würde wirklich sehr gerne die kleinere, dunkle erwerben. Sie gefällt mir sowohl in Aussehen als auch beim Schießen.« Liliana zog etwas beschämt den Kopf ein. »Natürlich nur, wenn sie nicht zu teuer ist. Ich habe keine Ahnung, wie viel man für so etwas zahlen muss.«

Finlay schmunzelte. »Mach dir darüber keine Gedanken.« Er hob den Kopf und sprach wieder lauter: »Warte bitte hier auf uns, ich werde mich mit Mr Taylor unter vier Augen unterhalten. Ich bin mir sicher, wir werden preislich zueinander finden.« Er blickte zu dem Ladenbesitzer und dieser schüttelte amüsiert den Kopf.

»Ich sehe mich bereits über den Tisch gezogen von Ihnen, Mr Clark. Sie ruinieren mich jedes Mal aufs Neue.«

Finlay lachte auf. »Ich fürchte vielmehr, so erfreut, wie Sie mich immer wieder empfangen, zahle ich noch viel zu viel.«

Mr Taylor räusperte sich. »Dieser Umstand zeugt lediglich von meiner guten Erziehung. Folgen Sie mir.«

Die beiden Männer zogen sich in den Laden zurück und Liliana betrachtete erneut die Pistole in ihrer Hand. Sie strich mit den Fingern über das polierte, glänzende Nussbaumholz und das noch warme Metall des Laufs. Sie wünschte sich, die beiden würden sich auf einen Preis einigen. Diese Pistole wieder zurückzugeben und einem anderen Kunden zu überlassen, fiele ihr undenkbar schwer.

Nicht lange danach kam Mr Taylor zurück in den Hof, gefolgt von Finlay.

»Bitte geben Sie mir die Pistole, Miss Preston«, sagte der Ladenbesitzer.

Liliana seufzte innerlich und reichte sie dem Mann, der damit wieder im Laden verschwand. Sie sah Finlay beinahe ängstlich an.

Dieser lächelte beruhigend. »Er reinigt sie und verpackt sie für dich.«

Sie riss die Augen auf. »Du meinst …?«

»Ja.« Er nickte. »Sie gehört dir.«

Liliana jauchzte vor Freude und fiel ihm um den Hals. »Danke! Vielen Dank.«

Finlay lachte. »Dein Herz hängt derart an einer Pistole? Sollte ich mir Gedanken machen?«

»Bitte verzeihe mir mein albernes Verhalten.« Liliana löste sich von ihm und atmete tief durch. »Ich weiß selbst nicht, was über mich kam. Es ist nur … ich glaube, dies ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas geschenkt bekomme, das ich mir zuvor wirklich wünschte.« Sie lächelte verlegen.

Finlay küsste sanft ihre Hand. »Dann bin ich froh, dass ich derjenige sein durfte, dir dieses erste wahre Geschenk zu machen.«

Sie sah ihm tief in die Augen. »Danke.«

»Gern geschehen.« Er grinste frech. »Ich hoffe nur, ich mache keinen Fehler damit, meine Verlobte derart scharf zu bewaffnen.«

 

Bristol, England

Juni 1786

Beim Anblick des schwarz und weiß gestrichenen Rumpfs der Nemesis ging Liliana das Herz auf. Wie elegant die Fregatte dort vertäut im Hafen in der Sonne lag mit ihren gerefften Segeln. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Vater, Effie und den Rest der Mannschaft wiederzusehen.

Als sie zusammen mit Finlay das Schiff erreichte, liefen ihre Tante und die Köchin Grace gerade von der anderen Richtung zum Steg. Sie rief winkend ihre Namen und stürmte ihnen entgegen.

»Liliana!« Effie nahm sie fest in die Arme. »Meine Kleine! Es war so ungewohnt, derart lange von dir getrennt zu sein und nichts zu hören.«

Liliana löste sich von ihr und lächelte sie an. »Ich bin kein kleines Kind mehr, Effie.« Sie drehte sich zu der Afrikanerin, deren breites Lächeln unter der dunkelbraunen Haut die schreckliche Narbe auf dem Gesicht überstrahlte. »Grace! Wie schön, dich zu sehen.«

Die alte Frau drückte sie an sich. »Wie geht es dir, Kind? Alles gut?«

»Ja, sehr gut sogar. Die Fahrt war ein Traum.« Sie lächelte stolz. »Er machte mir einen Antrag«, flüsterte sie unter vorgehaltener Hand.

Effies Miene hellte sich auf. »Wie wundervoll, ich freue mich!«

Nun erreichte auch Finlay sie und zog den Hut. »Meine Damen.«

Effie nahm seine Hand und tätschelte sie. »Ich freue mich, Liliana so fröhlich zu sehen. Danke, Finlay.«

»Wie geht es euch?«, fragte Liliana.

»Wir waren gerade auf dem Markt einkaufen«, berichtete Grace. »Ich schicke gleich ein paar Matrosen, die Dinge abzuholen.«

»Was macht Auma?«

Die alte Frau winkte ab. »Frech wie immer. Komm, lasst uns an Bord gehen.«

»Wer ist Auma?«, fragte Finlay, als sie den Steg hinaufgingen.

»Ihre Katze. Sie lebt an Bord der Nemesis.«

Finlay hob überrascht die Brauen. »Jack lässt ein Tier auf seinem Schiff leben, welches nicht der Nahrungsaufnahme dient?«

»Gegen die Hartnäckigkeit der guten Grace kommt selbst er nicht an.« Sie lachte. »Außerdem macht sich Auma sehr nützlich an Bord, indem sie Ratten und Mäuse verscheucht.«

Aus dem Rumpf des Schiffes wurde die Köchin von Kewku zu sich gewunken und Liliana folgte mit Finlay Effie die Treppe hinauf auf das Deck.

Sie erkannte ihren Vater sofort an seinem schwarzen Kapitänsrock mit der goldenen Randbestickung. Er stand mit Ove und Brian an der Reling, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, der in ihre Richtung zeigte. Der kurze Zopf seiner schwarzen Haare schaute unter dem Dreispitz hervor. Als sie näherkamen, unterbrachen die Männer ihr Gespräch. Jack drehte sich um. Seine anfangs strenge Miene hellte sich beim Erkennen auf und die blauen Augen weiteten sich. Er breitete seine Arme aus und Liliana fiel hinein und drückte ihren Vater kurz, aber heftig an sich. Es war schön, ihn wiederzusehen.

Finlay begrüßte er mit einem Kopfnicken, bevor er sich wieder Liliana zuwandte. »Sprich, zu welchem Schluss bist du gekommen auf der Reise?«, fragte er. »Soll ich ihn heute schon kielholen schicken oder weiter abwarten?« Er wies mit dem Kinn auf ihre Begleitung.

»Wie es aussieht, wird es eine längere Wartezeit für dich.« Sie schmunzelte frech. »Finlay hielt um meine Hand an.«

Der Blick von Jacks meerblauen Augen verfinsterte sich wie bei einem Sturm. Sein Kopf ruckte zu Finlay. »Das hast du nicht!« Er schaute zurück zu Liliana. »Du hast hoffentlich abgelehnt?«

»Jack!«, tadelte Effie. »Freu dich gefälligst für die beiden, du Griesgram! Immerhin fragte er dich vorher offiziell, wie es sich gehört. Und du gabst deinen Segen, erinnere dich!«

Er verzog den Mund und brummte nur ein fast unverständliches »Ich wurde genötigt«.

Effie hob die Brauen. »Von uns zwei Frauen?«

»Jawohl, das sind oft die schlimmsten Folterer.«

»Im Grunde wollten wir uns bei dir über Travis Parker erkundigen«, wechselte Finlay das Thema. »Mein ehemaliger Quartiermeister, der mich mit seinem Betrug ins Gefängnis gebracht hat. Er ist geflohen, bevor wir ihn verhören konnten.«

Jack schnaubte verächtlich. »Der Kerl entwischte dir also?«

Finlay ging nicht auf den spöttischen Tonfall ein, doch Liliana erkannte, wie sich seine Haltung verspannte. »Ich würde ihn ungern unbescholten davonkommen lassen und muss zudem seinem Treiben Einhalt gebieten, bevor andere darunter leiden. Bisher haben wir herausgefunden, dass er als Leutnant zur See auf der HMS Renown diente und wohl einiges an Spielschulden hat, die er wohl mit der ausgesetzten Prämie für jeden gefangenen Piraten begleichen wollte.«

»Wie treffend.«

»Was meinst du?«

Jack verzog den Mund. »Die Renown ist seit zwei Jahren in Rente, hat aber einen für meinen Geschmack etwas zweifelhaften Ruf bekommen, als sie bei Newport die vom Sturm stark beschädigte französische Languedoc von hinten attackierte.«

Liliana staunte nicht schlecht, ihr Vater schien einfach alles zu wissen.

Finlay schob den Dreispitz zurück und kratzte sich am Kopf. »Nun, das sagt natürlich nichts über die einzelnen Offiziere aus, in solch einem Krieg ist wohl keine Seite heilig. Es würde aber in der Tat zu dem Charakter unseres Gesuchten passen.«

Liliana sah ihren Vater an. »Kannst du herausfinden, wo der Kerl heute steckt?«

Jack nickte. »Gewiss. Mir stehen diesbezüglich einige gute Quellen zur Verfügung. Ich melde mich bei dir.«