Leseprobe Das Lied der Highlands

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Stolz stand Ellen an der Seite ihrer Schwester Flora, als diese mit Tom getraut wurde. Sie liebte diese hübsche kleine Steinkirche mit dem hohen, mit Holzschindeln gedeckten Dach und den Kirchenbänken aus goldbrauner Eiche. Die Luft war erfüllt von dem Duft nach frischen Blumen und Bienenwachs, die Szene vor dem Altar in einen leicht bläulichen Schein getaucht, erzeugt durch das Sonnenlicht, das durch die Buntglasfenster zu beiden Seiten der Kapelle hindurchsickerte. Schon ihre Eltern und Großeltern hatten hier einst den Bund fürs Leben geschlossen, und Ellen freute sich, dass Flora diese Tradition nun fortsetzte. Wer weiß, vielleicht würde sie, Ellen, ja auch eines Tages hier heiraten.

Nach der Trauung führten Flora und Tom den Hochzeitszug wieder zurück nach Netherby Hall; in ausgelassener Stimmung schritten sie unter den hohen Bäumen dahin, die den Weg von der Kapelle zum Haus säumten, während ihr Gelächter durch den flirrenden Sonnenschein an Ellens Ohr drang. Am Rande des ausgedehnten Rasens, der sich vor ihrem Zuhause erstreckte, blieb Ellen für einen Moment stehen, um das Haus zu betrachten, das ihr Urgroßvater erbaut hatte.

Wie ein Hort der Ruhe und des Friedens ragte Netherby Hall vor ihr auf: ein prachtvolles, viergeschossiges, Würde und Erhabenheit ausstrahlendes Gebäude aus grauem Stein, das seine Flügel zu beiden Seiten der Vordertreppe ausbreitete. Die üppigen Blumen, die aus den Gartenkrügen neben der Tür quollen, waren die einzigen heiteren Farbtupfer in einer Landschaft, in der noch immer die tristen Schattierungen des Winters vorherrschten.

Bald jedoch würde sich wieder neues Leben regen, bald würden die Bäume wieder ausschlagen und vor frischen jungen Schösslingen nur so wimmeln. Neuanfänge, dachte Ellen und drehte sich um, um zu beobachten, wie Flora und Tom – ihre miteinander verschränkten Hände hoch erhoben – die Vordertreppe hinaufstiegen und sich dann der versammelten Hochzeitsgesellschaft zuwandten. Tom dankte allen dafür, dass sie zu seiner und Floras Hochzeit gekommen waren, dann beugte er sich zu seiner Braut hinüber, um ihren Mund mit einem Kuss zu nehmen, bei dessen Anblick nicht wenigen unter den Zuschauern der Atem stockte.

Genau das wünsche ich mir auch. Ellen hob unwillkürlich eine Hand an ihren Hals, erstaunt über das sehnsüchtige Verlangen, das so plötzlich in ihr aufgestiegen war. Sie wollte genau das haben, was Flora und Tom hatten, das, was auch Margaret und Hugh gefunden hatten – eine Leidenschaft, die diejenigen, die liebten, verwandelte. Und mit weniger werde ich mich nicht zufrieden geben.

Auf der Kuppe der Anhöhe brachte James sein Pferd zum Stehen. Duncan zügelte ebenfalls sein Tier und hielt neben James an. Dann saßen die beiden Cousins einige Augenblicke lang schweigend in ihren Sätteln und betrachteten das enge, stille Tal, das sich unter ihnen erstreckte. Von Frühling war hier bisher noch keine Spur zu entdecken; die Felshänge waren noch immer mit Schnee bedeckt. Die erste Nacht nach ihrem Aufbruch aus Torridon hatten sie in der Kate eines Kleinbauern verbracht, wo sie auf dem nackten Fußboden geschlafen hatten; die zweite waren sie in einem überfüllten Gasthof eingekehrt. Beide Tage hatten für sie bereits im Morgengrauen begonnen und erst lange nach Einbruch der Nacht geendet, und auch am heutigen, dritten Tag ihrer Reise würde das nicht anders sein. Es würde ziemlich spät werden, bis sie endlich in Inverness eintrafen, aber dort würden sie eine herzhafte Mahlzeit und ein sauberes Bett erwarten – Annehmlichkeiten, die ihnen nur allzu willkommen wären. Bis sie ihr endgültiges Ziel, Dunfallandy, erreichten, würde es dann wohl noch fünf weitere Tage dauern.

„Ich kann schon das Meer riechen“, sagte Duncan mit einem breiten Grinsen.

„Reines Wunschdenken.“

Duncan schüttelte den Kopf. „Nein, wirklich, Jamie, ich kann das Meer riechen. Es ist ganz in der Nähe. Und ich werde verdammt froh sein, endlich von diesem Gaul runterzukommen. Dagegen ist ein Schiff doch wirklich erheblich komfortabler.“ James sah die Müdigkeit, die sich im Gesicht seines Cousins abzeichnete. „Danke, dass du mit mir gekommen bist.“

Duncan zuckte die Schultern. „Du und Neil und ich geben uns doch nun schon seit langer Zeit gegenseitig Rückendeckung.“ „Und auch dafür bin ich dir dankbar.“

„Ich weiß. Außerdem hatte ich eurem Dad doch auch versprochen, dass ich auf euch beide Acht geben würde.“ Duncan seufzte. „Habt ihr zwei eigentlich schon jemals darüber nachgedacht, wie froh und dankbar ich war, dass ihr mich damals aufgenommen habt? Nicht ein einziges Mal habt ihr mir vorgehalten, dass ich bloß ein Neffe eures Vaters war und kein Sohn.“

„Wir haben das nie so empfunden.“

„Eben. Genau das meine ich ja. Ich versuche, dir begreiflich zu machen, dass ich verstehe, wie sehr du um ihn trauerst. Und auch, wenn ich ihn natürlich ebenfalls sehr geliebt habe, so war er doch trotzdem mein Onkel und nicht mein Vater. Außerdem habe ich auch nicht einfach zuschauen müssen, wie mein Bruder ein Königreich erbt.“

James schüttelte den Kopf. „Ich habe Neil den Titel niemals missgönnt.“

„Ja, das weiß ich. Und das, Jamie, alter Kumpel, ist ein weiterer Grund dafür, weshalb ich hier bin. Wir drei passen aufeinander auf. Genau deshalb bin ich hier.“

James schluckte hart. „Danke.“

Duncan straffte die Schultern und hob die Zügel. „Ich gehe doch mal davon aus, dass es in Inverness ein paar hübsche Mädchen gibt. Das ist nämlich der wirkliche Grund, weshalb ich mitgekommen bin, wenn du die Wahrheit wissen willst.“

James lachte. „Wir sind noch immer eine ganze Strecke von der See entfernt, Duncan.“

„Irrtum, wir sind nahe dran, lass dir das gesagt sein! Du wirst mir einen Whisky ausgeben, wenn ich recht habe.“

„In Ordnung, abgemacht.“ James ritt vor seinem Cousin den Hügel hinab und blickte dabei angespannt nach Osten. Innerhalb von Minuten sah er das Wasser des Beauly Firth im letzten Licht der Abendsonne glitzern. Verdammt, Duncan hatte also tatsächlich recht! Zum ersten Mal seit Wochen wurde es James wieder ein klein wenig leichter ums Herz.

Gleich am Morgen nach der Hochzeit und noch vor Tagesanbruch reiste John wieder ab, und Rose machte sich am Nachmittag desselben Tages auf den Weg, zusammen mit Flora und Tom. Die drei wollten gemeinsam nach Glengarry reisen, wo Rose dann so lange bei Margaret bleiben würde, bis ihr erstes Enkelkind zur Welt gekommen war. Flora und Tom wollten von dort aus ihre Hochzeitsreise fortsetzen, um Toms weit verstreut lebende Familie zu besuchen. Neun Tage nach dem Abschied von ihren Lieben bekam Ellen Besuch von David Grant; es war nun schon das vierte Mal, dass er in Netherby erschien, doch mit Nachrichten von John hatte er bisher leider noch nicht aufwarten können. Er und Ellen machten höfliche, aber belanglose Konversation, während sie über den Rasen schlenderten. Es war ziemlich kühl an diesem Nachmittag, aber die Sonne war so willkommen, dass Ellen die frische Brise nichts ausmachte. Mit jedem Tag, der verging, wurde die Landschaft ein klein wenig grüner, die Knospen an Bäumen und Sträuchern größer und saftiger, und hier und dort blühte sogar schon die eine oder andere Frühlingsblume. Ellen schaute einen Moment lang zu, wie die Wolkenschatten über das vor ihnen liegende Tal hinwegzogen, dann warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf David. Laut ihrer Zofe, Britta, die ihre Information wiederum von dem jungen Lakaien, Ned, bezogen hatte, litt David an unerwiderter Liebe. Allerdings benahm sich David gar nicht wie ein verliebter Mann; tatsächlich schien er sich ebenso zu langweilen wie sie, Ellen, ganz so, als wartete er auf etwas.

„David“, sagte sie schließlich, „wir kennen uns nun schon seit Jahren. Und nach einer solch langen Zeit sollten wir doch eigentlich ehrlich miteinander sein können. Also, warum bist du hier?“

In seine Wangen stieg eine leichte Röte. „Ich bin gekommen, um dich zu sehen.“

„Warum?“

David öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder.

„David, warum machst du sowohl Catherine als auch mir den Hof?“

„Das ist nun wirklich kein passendes Gesprächsthema.“

„Es ist sogar ein äußerst passendes Thema. Catherine betet dich an, und das weißt du auch. Sie verdient es, dass du aufrichtig mit ihr bist, und das Gleiche gilt auch für mich. Also – warum wirbst du um uns beide?“

„Pitney ist der Ansicht, wir beide – du und ich – würden gut zusammenpassen.“

Ellen starrte ihn entsetzt an. „Wen ich heiraten werde, das entscheide immer noch ich, David, nicht Pitney. Und was ist mit Catherine?“

Davids Augen flackerten, er wandte seinen Blick von Ellen ab und starrte einen Moment lang schweigend über das Tal. „Darüber kann ich nicht mit dir sprechen“, murmelte er, machte auf dem Absatz kehrt und ging mit raschen Schritten davon. Verwirrt und aufgebracht lief Ellen hinter ihm her. „Warum nicht, David? Warum kannst du nicht mit mir darüber sprechen? Wen geht diese Sache denn wohl noch mehr an als mich?“ Aber er blieb nicht stehen. Ellen starrte auf seinen Rücken, während ihre Gedanken wie wild in ihrem Kopf umherwirbelten. Pitney hatte David etwas angeboten – aber was? Plötzlich sah Ellen im Geiste Pitney und Catherine vor sich, wie sie um David feilschten, und ihr wurde mit einem Mal ganz anders. David hatte bereits eine reiche Erbin am Bändel. Warum machte er da zugleich auch noch ihr, Ellen, den Hof – zu seinem eigenen Vorteil? Oder war es so, dass sie sich da bloß etwas zusammenfantasierte, dass sie sich das alles nur einbildete? Nein, es war keineswegs bloß Einbildung. Sie hatte etwas in seinen Augen gesehen, etwas, was sie noch nie zuvor an ihm beobachtet hatte, etwas Berechnendes. Eine Selbstgefälligkeit, die sie ärgerte. Aber was könnte Pitney ihm denn wohl bieten? Pitney besaß nur wenig eigenes Geld. Zwar hatte er die Verfügungsgewalt über alles, was Rose mit in die Ehe gebracht hatte, doch dieses Vermögen bestand aus Ländereien und aus Netherby Hall selbst, nicht aber aus Bargeld. Und warum sollte Pitney David überhaupt bestechen? Damit er sie, Ellen, heiratete? War es Pitney derart dringend mit seinem Bedürfnis, sie an den Mann zu bringen und somit endlich los zu sein? Langsam und tief in Gedanken versunken, kehrte Ellen zum Haus zurück. Sie stöhnte innerlich, als sie in der Eingangshalle prompt auf Pitney stieß, der gerade eine Nachricht las. Als sie zur Tür hereinkam, blickte er zerstreut auf und zerknüllte dabei den Zettel in seiner Hand. „Ellen, ich werde heute Abend mit ein paar Freunden auswärts dinieren. Soll ich nach Mr. Grant schicken und ihn bitten, dir beim Dinner Gesellschaft zu leisten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Pitney.“

„Ich bin aber überzeugt davon, dass es ihm ein großes Vergnügen wäre, mit dir zu Abend zu essen.“

Ellen legte eine Hand auf ihren Magen. „Mir ist gar nicht gut. Ich könnte wirklich keinen Bissen hinunterbekommen.“

Pitney nickte. „Nun gut. Dann werde ich in der Küche Bescheid sagen, dass sie mit den Dinnervorbereitungen aufhören sollen.“ Ellen zwang sich, die Treppe betont langsam hinaufzugehen. Ihre Stimmung hatte sich schlagartig wieder gehoben. Himmlisch!, dachte sie; endlich mal ein Abend ohne Pitney. Und dass sie im Austausch dafür kein Abendessen bekommen würde, war nun wahrhaftig kein zu großes Opfer.

Eine Stunde später war alles still im Haus. Und Ellen kam fast um vor Hunger. Geschieht dir ganz recht, sagte sie sich, während sie unruhig in ihrem Zimmer hin und her wanderte. Sie hatte Britta weggeschickt, und da das Mädchen nun zweifelsohne bei Ned war, wollte sie es auch nicht eigens wieder herkommen lassen. Ihr würde also nichts anderes übrig bleiben, als selbst in die Küche hinunterzugehen und zu sehen, was sie dort an Essbarem finden konnte. Ellen öffnete ihre Zimmertür und schlich die Treppe zum zweiten Stock hinunter. Die Tür zu Pitneys Arbeitszimmer war geschlossen, und Ellen war schon fast daran vorbeigegangen, als sie auf einmal Stimmen aus dem Raum dringen hörte. Auf Zehenspitzen ging sie ein paar Schritte weiter den Gang hinunter und fragte sich, ob Pitney seine Dinnerpläne für den heutigen Abend wohl doch wieder fallen lassen hatte, dann blieb sie abrupt stehen, als sie plötzlich den Namen ihrer Mutter vernahm. Zwei Männer unterhielten sich auf der anderen Seite der Tür. Hastig blickte Ellen sich um, um sich zu vergewissern, dass sie allein im Korridor war, dann beugte sie sich näher zu der Tür hinüber, um deutlicher hören zu können, was im Inneren des Zimmers besprochen wurde.

„Malden sagt, wegen der Hochzeit habe er noch keine Gelegenheit gefunden, mit Rose darüber zu sprechen. Aber er wird mit ihr reden, sobald sie wieder zurückkommt.“

„Dann war diese Reise also pure Zeitverschwendung.“

„Nicht ganz. Wusstest du, dass Dundee hier war, um die Hochzeit mitzufeiern? Malden sagt, er glaubt, Dundee will Truppen für King James aufstellen.“

„Um das zu erfahren, hätten wir nicht extra den ganzen weiten Weg hierher kommen müssen. Das erzählt man sich doch nun praktisch schon in jedem Kaffeehaus“, erwiderte die zweite Stimme. „Die Parlamentsversammlung hat ihn zum Rebellen erklärt, weil er sich geweigert hat, nach Edinburgh zurückzukehren. Viele der Mitglieder würden es gerne sehen, wenn er bestraft würde. William hat bereits Männer auf ihn angesetzt, um ihn aufzuspüren.“

„Er ist denunziert worden? Vielleicht wird der Bastard dann ja endlich umgelegt.“

„Wie wär‘s, wenn ich das kurzerhand übernehmen würde?“

Ellen keuchte unwillkürlich erschrocken auf, und hastig schlug sie die Hand vor den Mund. Um Gottes willen, reiß dich zusammen und sei still, befahl sie sich. Ängstlich blickte sie hinter sich, um sich zu vergewissern, dass sie noch immer allein im Korridor war.

„Du würdest ihn töten?“

„Ja“, erklärte die erste Stimme energisch. „King William würde ganz zweifellos froh darüber sein, ebenso wie viele derjenigen, die im Freiparlament sitzen. Außer Dundee hat James Stuart doch sonst niemanden, der sich derart für ihn stark macht und mit aller Macht versucht, ihn wieder auf den Thron zu setzen. Aber Dundee ist ja nun auch als Rebell gebrandmarkt. Seine Ermordung wäre also eine Geste der Loyalität gegenüber William.“

„Aber wie würdest du das anstellen wollen? Und wann?“

„In drei Tagen ist ein Treffen der Clans in Dunfallandy geplant. Es soll zwar eigentlich ein Geheimnis sein, aber viele wissen davon. Dundee wird auch daran teilnehmen.“ „Natürlich“, sagte die zweite Stimme nachdenklich, „wird King James wollen, dass er die Clans dazu überredet, für seine Sache zu kämpfen.“

„Sämtliche Highland-Clans kommen zu dem Treffen. Es wird eine große Versammlung sein.“

„Von Highlandern.“

„Genau“, erwiderte der erste Mann. „Und unter Männern dieses Schlages kann alles Mögliche passieren. Highlander sind bekanntlich verdammt hitzköpfig. Dundee könnte womöglich das Falsche sagen; jemand könnte Anstoß daran nehmen und beleidigt reagieren.“

„Hast du eigene Leute vor Ort?“

„Bisher nur einen Mann. Er stammt aus dem Westen. Hält sich für einen Patrioten.“

„Du könntest des Mordes angeklagt werden“, gab die zweite Stimme zu bedenken.

„Ich selbst würde ja keinen Mord begehen.“

„Aber du würdest den Mord arrangieren.“

„Und du würdest dafür zahlen. Immerhin stellt Dundee jetzt eine Gefahr für die Krone dar.“

„Wie viel würde die Sache kosten?“, fragte die zweite Stimme. „Mehr, als du mir im letzten Jahr gegeben hast. Dreimal so viel, um genau zu sein.“ Für einen langen Moment herrschte Schweigen hinter der Tür, dann ertönte ein schroffes Lachen. „Ja! Ja, tu es! In Dunfallandy. Weiß Malden Bescheid?“ Mit angehaltenem Atem beugte Ellen sich noch ein Stückchen weiter zur Tür vor; doch dann knarrte urplötzlich die Treppe über ihr, und sie wirbelte erschrocken herum. Mit einem Satz sprang sie in die Mitte des Korridors, während Pitney auf den Treppenabsatz über ihr trat. Als er sie erblickte, hielt ihr Stiefvater mitten in der Bewegung inne; sein Fuß schwebte für einen Moment über der Treppenstufe, bevor er sich rasch im Korridor umblickte und dann seinen Weg nach unten fortsetzte. „Ellen“, sagte er überrascht. „Was machst du hier?“

„Ich dachte, du wärst mit Freunden zum Essen ausgegangen.“ Ihre Stimme klang unnatürlich hoch und schrill. Es fiel ihr schwer, sich wieder zu beruhigen.

„Wir sind noch nicht fort. Ich dachte, du wärst krank.“

„Es geht mir schon wieder viel besser.“

Pitney verschränkte die Arme vor der Brust. „Das sehe ich. Was hast du gehört?“

„Nichts. Nur ein paar Stimmen, als ich die Treppe herunterkam. Und da habe ich einen Schreck bekommen, weil ich dachte, du wärst ausgegangen.“

„Ellen“, sagte Pitney in einschmeichelndem Ton, „wenn du etwas gehört hast, was dich aufgeregt hat, erzähl es mir bitte.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nur irgendwelche Stimmen gehört, aber ich habe nicht verstanden, was gesprochen wurde. Ich… ich bin auf jeden Fall heilfroh, festzustellen, dass wir nicht gerade ausgeraubt werden.“

„Ja“, sagte er, „das bin ich auch.“ Ellen zwang sich, gemächlichen Schrittes die Treppe hinunterzugehen, für den Fall, dass Pitney sie beobachtete, doch trotz ihrer äußeren Gelassenheit hämmerte ihr Herz wie wild gegen ihre Rippen. Wer waren die Männer, die sie gerade eben belauscht hatte? Keine der beiden Stimmen war ihr bekannt vorgekommen; aber die erste, die kalte, würde sie überall wiedererkennen. Großer Gott im Himmel, sie wollen John ermorden! Sie würde ihn warnen müssen. Ihr Atem ging stoßweise, als sie unten in der Halle ankam und nach dem Lakai rief. Es schien, als müsste sie eine Ewigkeit warten, doch das verschaffte ihr die Gelegenheit, sich einen Plan zurechtzulegen und Entscheidungen zu treffen. Sie würde nach Dunfallandy reisen, um John zu warnen. Aber dabei würde sie Hilfe benötigen. Eine Frau konnte nicht allein reisen. Sie würde also einen Mann brauchen, der sie begleitete.

Als der Lakai – bedauerlicherweise war es nicht Ned – endlich mit ihrem Umhang erschien, beäugte er Ellen mit unverhohlener Neugier. „Braucht Ihr die Kutsche, Miss? Soll ich im Stall Bescheid sagen?“

„Ja“, erklärte sie atemlos, überlegte es sich jedoch sofort wieder anders. Der Lakai könnte Pitney verraten, wo sie hinwollte. „Nein. Nein, ich brauche die Kutsche doch nicht.“ Sie lächelte verkrampft. „Ich brauche einen Spaziergang.“ „Aber es regnet, Miss Ellen. Und es ist schon fast dunkel.“ „Stimmt“, sagte Ellen. „Dann werde ich eben im Regen spazieren gehen.“ Sie griff nach dem Umhang. „Es ist so ein schöner Abend. Ein schöner regnerischer Abend. Genau der richtige Abend für einen Spaziergang.“

Während Ellen mit Evan sprach, hörte es auf zu regnen. Sie hatte angestrengt überlegt, an wen sie sich um Hilfe wenden könnte, und als Toms Cousin war Evan der Einzige, der ihr eingefallen war, der Einzige, von dem sie sich vorstellen konnte, dass er ihr ohne lange Diskussionen helfen würde. Er stellte auch in der Tat nicht viele Fragen, sondern hörte einfach nur zu, als sie ihm erklärte, dass sie Tom dringend eine Nachricht zukommen lassen müsste und dass sie Angst hätte, Pitney würde sie nicht gehen lassen. Das zumindest entsprach der Wahrheit. Daraufhin bot Evan sich an, Tom die Nachricht zu überbringen, während Ellen zu Hause blieb, doch sie beharrte darauf, dass sie selbst gehen müsse, und erklärte dann kurz, wie sie ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen gedachte. Evan brauchte keine lange Bedenkzeit, sondern erklärte sich sofort mit ihrem Plan einverstanden. Ellen schrieb also einen Brief, den sie vorläufig bei Evan ließ, und schob ihre Bedenken wegen der Lügen, die sie ihm aufgetischt hatte, energisch beiseite. Er glaubte nämlich, sie reisten nach Glengarry. Und Britta würde ebenfalls in diesem Glauben sein, denn ihrer Zofe würde Ellen das Gleiche erzählen. In einer Stunde würde Evan den bewussten Brief dann nach Netherby bringen. Die Nachricht, an Ellen adressiert, sollte den Anschein erwecken, als stammte sie von ihrer Mutter; darin hieß es, dass Margaret eine schwere Zeit durchmache und dass Ellen doch bitte umgehend nach Glengarry kommen möge. Es war eine fadenscheinige List, denn Rose war erst seit zehn Tagen fort, hätte somit kaum bereits die Zeit gehabt, um nach Glengarry zu gelangen und von dort aus wieder eine Nachricht nach Hause zu schicken, aber diese Erklärung würde genügen müssen. Denn es war der einzige Trick, der Ellen einfiel, um etwaige Verfolger in die Irre zu führen. Sie würde so bald wie möglich aufbrechen, bevor Pitney von seinem Dinner zurückkehrte, und bevor die unheimlichen Fremden, die sie belauscht hatte, beschlossen, sie zum Schweigen zu bringen.  
Die Sache klappte reibungslos. Ellen war bereits fertig, noch ehe Evan wie verabredet in Netherby Hall erschien, und es gelang ihr, sich überzeugend überrascht zu geben, als ihr die Nachricht überbracht wurde. Die Hausbediensteten baten sie zwar, mit ihrer Abreise noch bis zum folgenden Morgen zu warten, aber Ellen weigerte sich. Britta und Ned sahen sie mit großen, erstaunten Augen an, als sie erklärte, dass Britta mit ihr reisen würde. Während die junge Zofe packte, verfasste Ellen einen Brief an ihre Großtante Bea, in dem sie ihr die Wahrheit erzählte. Dann ließ sie Ned zu sich kommen und wies ihn an, den Brief unverzüglich zu überbringen, ihn aber nur Bea persönlich auszuhändigen und niemandem sonst. Und er sollte keinem Menschen gegenüber ein Wort darüber verlauten lassen. Der Junge nickte und machte sich augenblicklich auf den Weg. Nervös und voller ängstlicher Ungeduld wartete Ellen in der Eingangshalle, während ihr Gepäck heruntergebracht und die Pferde aus dem Stall geholt wurden, und betete dabei, dass Pitney und seine Gäste nicht ausgerechnet jetzt zurückkommen würden. Der Lakai, der ihr zuvor ihren Umhang gebracht hatte, beobachtete die Reisevorbereitungen mit schmalen, argwöhnisch blickenden Augen, sagte jedoch nichts. Ellen vermied es geflissentlich, ihn anzusehen, als sie ihre Hände in die Taschen ihres Umhangs schob und in der einen nach der Pistole tastete, die sie aus der Truhe ihres Vaters genommen hatte, in der anderen nach den zusätzlichen Ladungen Schießpulver. Und wieder sandte sie ein stummes Gebet zum Himmel und flehte darum, dass ihre Abreise rasch vonstattengehen möge. Schließlich half man Ellen und Britta auf ihre Pferde, ihre Reisetaschen wurden auf ein drittes Pferd geschnallt, und Evan ergriff schließlich die Zügel des Packpferdes und die seines eigenen Tieres. Und dann – endlich – ging es los; der kleine Trupp trabte davon, wobei Evan wortlos die Führung übernahm und die lange Auffahrt hinunter voranritt. An der Stelle, wo der Weg eine Biegung machte, drehte Ellen sich im Sattel um, um noch einmal einen letzten Blick auf Netherby zu werfen. Was wird wohl alles passieren, bis ich zurückkehre?, dachte sie. Werde ich überhaupt jemals wieder zurückkehren? Lieber Gott, bitte steh mir auf dieser Reise bei!, betete sie inständig. Das Einzige, was jetzt noch mit Gewissheit feststand, war, dass ihr Leben niemals wieder so sein würde wie bisher. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als plötzlich ein Pferd die in das trübe Licht der Abenddämmerung gehüllte Auffahrt entlanggaloppiert kam. Als der Reiter, der genau auf sie zuhielt, näher kam, konnte Ellen jedoch erkennen, dass es Ned war, und sie stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus. Britta, die hinter ihr ritt, schnappte überrascht nach Luft, als der junge Lakai, hochrot im Gesicht, von seinem Pferd sprang und sich Ellen zu Füßen warf.

„Miss Graham, ich muss mit Euch kommen! Ich liebe Britta, und ich kann nicht zulassen, dass sie diese Reise ins Hochland unternimmt, ohne mich als Beschützer dabei zu haben.“ Bittend streckte er Ellen beide Hände entgegen und wartete auf ihre Antwort, während Britta ihn überglücklich anstrahlte.

Ellen schenkte dem Jungen ein Lächeln. „Wir nehmen dich mit dem größten Vergnügen mit, Ned“, erwiderte sie, dann wandte sie ihr Pferd und ihre Gedanken dem Westen zu.

In den frühen Morgenstunden hielten sie bei einem kleinen Gasthof an, um zu essen und sich auszuruhen, und standen dann am späten Vormittag wieder auf, um ihre Reise fortzusetzen. Nachdem sie den Gasthof hinter sich gelassen hatten und ungefähr eine Meile geritten waren, klärte Ellen ihre Begleiter über den wahren Zweck und das wahre Ziel ihrer Reise auf. Britta und Ned hörten ihr mit erschrockenen Mienen zu und tauschten dabei mehrmals einen Blick.

Evan dachte einen Augenblick lang nach, dann zuckte er mehr oder minder gelassen die Schultern. „Na, wenigstens ist es nicht Tom, der in Gefahr schwebt.“

Ned schwor bei seiner Ehre und bei der Seele seiner verstorbenen Mutter, dass er Ellen unter Einsatz seines Lebens beschützen und ihr helfen würde, ihren Cousin zu warnen. Britta ließ ihren Blick von Ned zu Ellen schweifen und gelobte dann ebenfalls, ihrer Herrin beizustehen. Ellen dankte den beiden, wobei sie sich den Anschein zu geben versuchte, als fühle sie sich beruhigt. Und dann griff sie wieder nach ihren Zügeln und trieb ihr Pferd erneut vorwärts. Unterwegs spähte sie alle paar Minuten ängstlich über ihre Schulter zurück, obwohl sie sich immer wieder sagte, dass sie albern sei, dass ihnen eigentlich noch niemand gefolgt sein konnte. Vielleicht würde sie ja auch überhaupt niemand verfolgen. Es war sogar möglich, dass Pitney am Abend zuvor noch nichts von ihrer plötzlichen Abreise erfahren hatte, dass er erst an diesem Morgen festgestellt hatte, dass seine Stieftochter nach Glengarry gereist war. Und dass er auf ihre List hereingefallen war. Aber Ellen zweifelte doch stark daran. Als sie zusammen im Korridor gestanden hatten, hatte er genau gewusst, dass sie zufällig etwas mitgehört hatte, was sie zutiefst erschüttert hatte. Sie verachtete ihren Stiefvater, aber konnte Pitney wirklich so falsch und doppelzüngig gewesen sein, dass er John herzlich zu Floras Hochzeit willkommen hieß, ihm freundschaftlich auf den Rücken klopfte und dann – nur wenige Tage später – seine Ermordung plante? Ellen schüttelte den Kopf; denn ob er schon im Voraus von der Verschwörung gewusst hatte, spielte ja ohnehin keine Rolle. Die beiden Fremden, die sie belauscht hatte, hatten auf jeden Fall Bescheid gewusst. Ellen hatte eine wenig bereiste Strecke nach Dunfallandy gewählt, die jene Landstraßen, die man normalerweise Richtung Westen nehmen würde, mied; doch jeder, der über ihr Reiseziel im Bilde war, könnte sie mühelos finden, indem er ihr ganz einfach an einer der Kreuzungen auflauerte, die sie notgedrungen würden passieren müssen. Ob sie wohl noch rechtzeitig ankommen würde? John, dachte sie voller Sorge, spürst du die drohende Gefahr? Evan hatte sich als ein Reisegefährte erwiesen, der durch nichts aus der Ruhe zu bringen war, allerdings auch als wenig unterhaltsame Gesellschaft; Britta und Ned wiederum waren besorgt und aufmerksam und eifrig darum bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Und manchmal auch unfreiwillig komisch. Ellen hatte Britta ja schon vor der Reise ins Herz geschlossen und stellte nun fest, dass sie auch Ned mochte. Er war dem Mädchen aufrichtig zugetan, und sie ihm ebenso. Ellen beobachtete die Kameradschaft zwischen den beiden mit stiller Belustigung und nicht geringem Neid.

Nur noch dieser eine Tag. Und wenn alles nach Plan lief, sollten sie gegen Einbruch der Nacht endlich Dunfallandy erreichen. Ellen runzelte besorgt die Stirn und spähte zum wohl hundertsten Male über ihre Schulter zurück, noch immer voller Angst davor, dass sie verfolgt wurden. Aber da war niemand. Es musste an ihren überreizten Nerven liegen. Sie warf einen Blick auf Evan, der an der Spitze ihrer kleinen Reisegesellschaft ritt, dann auf Britta, die niedergeschlagen auf ihrem Pferd saß, ihr Kopf leicht auf- und abwippend, ganz so, als ob sie döste. Ned starrte schweigend auf die sie umgebende Landschaft. Bisher war ihre Reise ohne jeden Zwischenfall verlaufen. Und wenn wir wirklich verfolgt würden, dann wären die Verfolger doch wohl sicherlich längst in Erscheinung getreten, überlegte Ellen. Also, warum war ihr dann an diesem Morgen so beklommen und unbehaglich zu Mute? Warum blickte sie alle zehn Minuten über ihre Schulter zurück? Streng befahl sie sich, damit aufzuhören, und sich lieber an der malerischen Landschaft zu erfreuen, an den wogenden, sanft ansteigenden Hügeln, die sich im Norden im dichten Nebel verloren, Hügel, die mit jeder Meile, die sie weiter gen Westen ritten, immer höher wurden. Es ist schließlich Frühling, erinnerte sie sich, trotz des kalten Windes und des Schnees, der während der Nacht gefallen war. Der Schnee war mittlerweile wieder getaut, die Landstraßen waren schlammig und aufgeweicht, aber dennoch passierbar. Ellen hüllte sich noch ein wenig fester in ihren Umhang und hob energisch das Kinn. In einigen wenigen Stunden würde sie John endlich ihre Warnung übermitteln können, und dann würde alles wieder gut sein. Um sich abzulenken, beobachtete sie einen Bauern, der sein Feld bestellte, dann hielt sie am Straßenrand nach blühenden Blumen Ausschau, betrachtete die frischen grünen Blattknospen an den Bäumen, an denen sie vorbeiritten. Und dann drehte sie sich abermals um und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Nichts. Sie benahm sich wirklich albern. Eine Stunde später wandte Ellen sich erneut im Sattel um. Sie ritten durch einen dichten kleinen Kiefernwald, der bis direkt an die Straße heranreichte, mit dickem, wild wucherndem Gestrüpp zwischen den eng zusammenstehenden Baumstämmen. Hier im Schatten war es empfindlich kalt, und Ellen freute sich schon auf den strahlenden Sonnenschein, der sie nach einigen weiteren Metern Wegstrecke erneut empfangen würde. Dann hörte sie plötzlich gedämpften Hufschlag. Ängstlich spähte sie über ihre Schulter zurück; aber die Landstraße war leer. Sie beruhigte sich wieder und sagte sich, dass sie sich die Geräusche wohl nur eingebildet hatte; doch gerade als sie an etwas völlig anderes dachte, glaubte sie, das dumpfe Hufgetrappel abermals zu hören. Die Strecke vor ihnen war felsig und flach. Auf der einen Seite der Straße stieg das Land steil an, die Hänge übersät mit Felsbrocken und Gruppen kleiner Bäume. Auf der anderen Seite verlief ein Graben, dahinter erstreckte sich ein unbebautes, von einer steinernen Grenzmauer umschlossenes Feld, und jenseits davon ein weiteres. Sowohl der Horizont als auch die Felder waren menschenleer. Einen Moment später hörte Ellen das Geräusch zum dritten Mal; das leise Hufgetrappel ertönte von irgendwo hinter ihnen, schien nun aus dem Kiefernwäldchen zu kommen. Evan, der nur wenige Schritte vor ihr ritt, summte seelenruhig vor sich hin. Wieder wandte Ellen sich voller Unruhe im Sattel um und schaute an Ned und Britta vorbei, die den Schwanz der kleinen Truppe bildeten und sich leise miteinander unterhielten, ihre Stimmen ruhig und gelassen. Die Landstraße hinter ihnen war leer, weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ned schenkte Ellen ein beruhigendes Lächeln. Trotzdem… Ellen beeilte sich, Evan einzuholen, um sich mit ihm zu beratschlagen.

„Ich höre etwas“, sagte sie. „Pferde.“

Evan blickte über seine Schulter zurück. „Ich sehe niemanden“, erklärte er. Er brachte sein Pferd zum Stehen und horchte angestrengt. Ned und Britta hielten ebenfalls an und beobachteten Evan mit verwirrten Mienen. Ellen konnte die Bienen zwischen den blühenden Rankengewächsen summen hören, die den Graben säumten, und den Wind, der in den Kiefern rauschte. Zu sehen war niemand.

„Vielleicht hast du dir das Ganze nur eingebildet“, entschied Evan nach einer Weile. Ellen wollte ihm gerade schon beipflichten, als sie abermals Hufschlag hörte. Diesmal schien auch Evan das Geräusch wahrgenommen zu haben; mit einem Nicken erwiderte er ihren Blick, dann zog er sein Pferd herum und lehnte sich nach vorne, um noch besser hören zu können. Was sich als überflüssig erwies. Denn nun war das Hufgetrappel wirklich unüberhörbar, als die Reiter plötzlich aus dem Schatten der Bäume herausstürmten. Voller Entsetzen starrte Ellen auf die Szene. Sie hatte sich also keineswegs getäuscht. Es waren vier Männer, die sich dort in gestrecktem Galopp und mit gezogenen Waffen vom Waldrand her näherten und geradewegs auf Ellen und ihre Begleiter zuhielten. Ellen schrie angstvoll auf und befahl Britta und Ned, die Flucht zu ergreifen Mit einer raschen Bewegung zog Evan sein Schwert.

„Lauft!“, brüllte er und versetzte Ellens Pferd einen klatschenden Schlag aufs Hinterteil, um ihm Beine zu machen. „Um Gottes willen, lauft!“

Die Pferde brauchten keinen Ansporn. Sie sprangen mit einem Satz vorwärts und galoppierten die Landstraße entlang. Britta, ihr Gesicht zu einer Maske panischer Angst erstarrt, duckte sich tief über den Hals ihres Tieres und krallte sich mit beiden Händen an seiner Mähne fest. Ned war nur einen Schritt hinter ihr, blickte dabei jedoch immer wieder über seine Schulter zurück, um die Angreifer im Auge zu behalten. Evan, der die Nachhut bildete, trieb sie unaufhörlich an und rief ihnen zu, durchzuhalten. Von Sekunde zu Sekunde kamen die Verfolger näher, hatten Evan nun schon beinahe eingeholt. Ellen fühlte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte, als das Triumphgeheul der Männer an ihr Ohr drang. Entschlossen zog sie die Pistole ihres Vaters aus ihrem Gürtel und riss ihr Pferd herum, um sich den Angreifern zu stellen. Sie hob die Waffe, zielte auf den Mann, der Evan am nächsten war, und feuerte. Und verfehlte prompt ihr Ziel. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, als der Mann Evan einen mörderischen Schlag gegen die Schläfe versetzte, und schrie dann gleich noch einmal, als ein zweiter Mann ihn jählings mit seinem Schwert durchbohrte. Evan sackte im Sattel zusammen, sank langsam, ganz langsam zur Seite und stürzte dann zu Boden. Einer der Angreifer sprang von seinem Pferd und stieß sein Schwert abermals in Evans reglos daliegenden Körper, während die anderen zuschauten. Und dann drehten sie sich herum, um Ellen anzustarren. Sie sprach ein stummes Gebet, während sie hastig ihr Pferd herumriss, und keuchte dann erschrocken auf, als sie sah, wie dicht die Verfolger ihr bereits auf den Fersen waren. Für einen beklemmenden Augenblick schien die Welt plötzlich still zu stehen, als sie den Blick des Mannes erwiderte, der die Führung übernommen hatte, eines blonden Mannes mit einem brutalen Gesichtsausdruck. Er starrte sie wild an, dann winkte er einen seiner Kumpane an sich vorbei und zeigte dabei auf Ellen. Der Mann riss sein Schwert hoch, drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken und jagte ihr in gestrecktem Galopp hinterher. Brittas angstvolle Schreie vermischten sich mit dem Gebrüll des Mannes, der ihrer Herrin auf den Fersen war. Ellen konnte seinen keuchenden Atem hören, konnte den Schweiß seines Pferdes riechen, als er neben ihr aufholte. Sein in Leder gehüllter Arm streckte sich nach ihr aus, und die Hand, die ein langes Messer hielt, griff nach ihr. Er beugte sich noch etwas weiter zur Seite, packte ihren Umhang, riss ihn ihr mit einem Ruck vom Körper. Und dann griff er abermals nach ihr. Verzweifelt wandte sich Ellen ab. Sie wollte nicht mit ansehen, wie sich jene scharfe Messerklinge in ihre Haut bohrte, wollte nicht in die Augen des Mannes blicken, der sie jeden Moment töten würde. Sie schloss die Augen. Ein wutentbrannter Schrei veranlasste sie, die Augen jäh wieder aufzureißen, und zwar gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich plötzlich eine blau-grün gewandete Gestalt wie der Blitz zwischen sie und den Arm warf, der sie gerade wieder hatte packen wollen. Ein großes kastanienbraunes Pferd drängte sich gegen Ellens Stute und trieb sie auf diese Weise von ihrem Angreifer fort. Sie blickte zu dem dunkelhaarigen Mann in Highland-Tracht auf, der im Sattel des Braunen saß und eine lange Schwertklinge aus silbrig glänzendem Stahl hoch über seinem Kopf schwang. Wieder stieß er einen zornigen Schrei aus, und sein Arm sauste herab. Fasziniert und entsetzt zugleich beobachtete Ellen, wie ihr Retter mit seiner Klinge auf den Angreifer eindrosch, ihn von seinem Pferd herunterholte und dann zu Boden glitt, um ihn mit einem raschen, gut gezielten Schwertstoß in die Brust ins Jenseits zu befördern. Der Highlander zog seine Waffe aus dem Körper des Toten heraus und starrte Ellen für einen Moment wortlos an, sein Atem ging keuchend, sein schwarzes Haar hing wirr und zerzaust um sein Gesicht. Dann sprang er wieder in den Sattel und ließ sein Pferd auf der Hinterhand herumwirbeln. Er war nicht allein, wie Ellen jetzt plötzlich bemerkte. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen schaute sie zu, wie ein rothaariger Highlander auf die anderen Verfolger einschlug. Einer von ihnen brach unter dem Hagel von Schwerthieben augenblicklich tot zusammen, die anderen wichen zurück, darunter auch der blonde Mann, offenbar der Anführer. Ellen schnappte erschrocken nach Luft, als sich plötzlich starke Finger um ihren Arm schlossen. Sie fuhr herum, um in die Augen ihres Retters zu blicken. Blaue Augen, dichte, dunkle Brauen, über der Nasenwurzel zusammengezogen.

„Alles in Ordnung mit Euch?“, rief er. Er musterte Ellen noch einmal prüfend, dann wandte er sich ab, um den fliehenden Verfolgern nachzusetzen. Es gelang ihm, einen der Männer zu erwischen und ihn rasch zu töten, doch der blonde Anführer konnte entkommen und verschwand zwischen den Bäumen. Ellen trieb ihr Pferd zu der Stelle hinüber, wo Evan lag. Er war tot. Im Grunde hatte sie das bereits in dem Moment gewusst, als er zu Boden stürzte, und trotzdem starrte sie ihn jetzt einen bangen Augenblick lang beschwörend an und wartete darauf, dass seine starren, blicklosen Augen plötzlich blinzelten, dass die Hand, die so erschreckend bewegungslos neben ihm lag, sich wieder bewegte. Dass er ihr dieses langsame, träge Lächeln schenkte, das so typisch für ihn war, und ihr sagte, es sei alles nur ein Scherz. Barmherziger Gott, Evan war tot! Was hatte sie bloß getan? Reglos saß Ellen im Sattel und kämpfte gegen ihre Hysterie an, während hinter ihr Britta und Ned herangeritten kamen und die beiden Highlander wieder zu ihnen stießen. Sie sagten etwas auf Gälisch zueinander, dann glitten beide Männer aus dem Sattel. Der Rothaarige beugte sich über Evan.

„Er ist tot“, sagte er. Er öffnete Evans Jacke und machte sich daran, sie zu durchwühlen.

Blitzschnell richtete Ellen ihre Pistole auf ihn. „Verschwinde, du Aasgeier!“, stieß sie zwischen grimmig zusammengebissenen Zähnen hervor. „Du wirst ihn jetzt nicht auch noch ausrauben!“

Der Mann sah sie überrascht an, dann richtete er sich langsam wieder auf und trat einen Schritt zurück, um sich neben seinen Gefährten zu stellen. Sie waren beide groß und kräftig und schwer bewaffnet; sie trugen Patronengurte, die sich auf der Brust überkreuzten und die einzelne Ladungen Schießpulver enthielten, sowie kunstvolle verzierte Gürtel, in denen ihre Schwerter steckten. Zusätzlich hatte jeder von ihnen noch eine Pistole im Gürtel stecken und trug einen langen Dolch an der Hüfte. Kein Wunder, dass Highlander als Halbwilde angesehen wurden. Diese beiden hier machten jedenfalls den Eindruck, als seien sie zu allem fähig. Der Dunkelhaarige schob nun sein Schwert in seine Scheide zurück, während er einen Schritt auf Ellen zumachte. Rasch hob sie ihre Pistole und zielte auf seine Stirn.

„Bleibt, wo Ihr seid!“

Er schüttelte den Kopf. „Um Himmels willen, Mädchen, wir haben dir doch gerade eben erst das Leben gerettet. Leg die verdammte Pistole weg!“

Der rothaarige Krieger bewegte sich nach rechts. Ellen beobachtete ihn argwöhnisch, wollte ihm gerade befehlen, dort zu bleiben, wo sie ihn sehen konnte, doch in dem Moment schlug ihr der dunkelhaarige Mann auch schon die Pistole aus der Hand, und eine starke Hand packte ihr Handgelenk. Ellen schrie laut auf und holte mit ihren Fäusten nach ihm aus, während sie ihn gleichzeitig mit heftigen Fußtritten attackierte. Doch er ignorierte ihre Schläge und Tritte einfach, zog sie mühelos von ihrem Pferd herunter und an seinen Körper. Sie fühlte, wie ihre Füße den Boden berührten, und wirbelte herum. Mit einem unsanften Ruck riss er sie wieder an sich. Verzweifelt versuchte sie, sich aus seinem schraubstockartigen Griff zu befreien und mit einem Sprung zur Seite auszuweichen, doch dabei wickelten sich ihre Röcke um ihre Beine, und sie stürzte mit einem Schrei zu Boden. Der Highlander landete schwer auf ihr.