Leseprobe Das letzte Vermächtnis

I

Alexandria, Ägypten

Donnerstag, 16. März, 18.15 Uhr

Yasmin atmete tief durch und klappte ihren Laptop zu. Das letzte Tageslicht drang durch das Glasdach der Bibliotheca Alexandrina und verlieh den Innenräumen einen mystischen Glanz. Außer ihr befand sich niemand mehr in der Haupthalle der Bibliothek, mit zweitausend Plätzen der größte Lesesaal der Welt.

Wie immer genoss die Fünfunddreißigjährige den Abschluss ihres Arbeitstages an diesem magischen Ort. Trotz der modernen Einrichtung fühlte sie sich darin stets als Teil einer uralten Legende. Schon als Kind hatten sie die lebhaften Geschichten ihres Vaters über das antike Alexandria fasziniert: Wie sich Wissenschaftler und Philosophen eifrig über die Rätsel der Welt ausgetauscht und das Wissen der Menschheit gemehrt hatten. Ein Hauch jener Vergangenheit war für sie in diesem aus Holz, Stahl und Glas gefertigten Gebäude immer noch vorhanden.

Yasmin hätte für ihre Dissertation in ihrer Wohnung bleiben oder sonst wohin gehen können, sie benötigte nur Internetzugang und ihre Bücher. Aber dieser Ort des gespeicherten Wissens, direkt an der Küste und nahe den Überresten der ursprünglichen Bibliothek gelegen, inspirierte sie.

Der Saal hatte bereits vor fünfzehn Minuten geschlossen. Doch Hamadi, ein Aufseher, ließ sie immer etwas länger bleiben. Obwohl sie zehn Jahre älter war als er, nutzte der junge Mann seine Rolle als Hüter der Ordnung nur zu gern aus.

Einmal hatte er sie zu einer von ihm geführten Tour im ganzen Komplex überredet. Von ihrem Vater wusste sie bereits, dass in den Nebengebäuden ein Planetarium sowie mehrere Museen untergebracht waren, unter anderem mit archäologischen Sammlungen und seltenen Manuskripten. Neu hingegen war ihr Hamadis Informationen darüber, dass die Bibliotheca Alexandrina eine vollständige Kopie des gesamten Internets seit 1996 besaß und sich aktiv am »Million Book Project« beteiligte. Dabei werden Bücher der vergangenen Jahrhunderte Seite für Seite gescannt und online der Welt zur Verfügung gestellt.

Sie schmunzelte. Hamadi mochte nett und zuvorkommend sein, aber gegen ihren Freund machte er keinen Stich. Und morgen war Freitag, was bedeutete, dass die Bibliothek wie alle anderen öffentlichen Gebäude geschlossen blieb und sie den Tag mit ihrem Schatz verbringen würde. Auch ihre Dissertation zum Doktor in Sprachwissenschaften schickte sie freitags in eine Auszeit. Eine Beziehung wollte schließlich gepflegt werden.

Beim Gedanken an ihn durchlief sie ein wohliger Schauer. Seine Mischung aus Charme, Intelligenz sowie das richtige Maß an Verwegenheit wirkte auf sie unwiderstehlich, sie kam sich vor wie ein verliebter Teenager. Ich muss ihm nur noch das Rauchen abgewöhnen, dachte sie mit einem Seufzer.

Yasmin schulterte ihre Tasche und verließ den Lesesaal. Als sie in Richtung Ausgang ging, kam ihr der Korridor dunkler als gewöhnlich vor. Stimmte etwas mit der Beleuchtung nicht?

»Hamadi?« Ihre einsame Stimme hallte durch die leeren Gänge.

Yasmin verdrängte ihr mulmiges Gefühl und lief weiter. Wahrscheinlich hatte der Aufseher noch etwas zu erledigen.

Entschlossen schritt sie auf die Ausgangstür des Lesesaales zu. Plötzlich löste sich von der Seite ein Schatten, packte sie an den Armen und stieß sie brutal an die Wand. Der Mann trug eine schwarze Wollmaske über dem Gesicht, sein übler Atem schlug ihr entgegen. Mit rauer Stimme sagte er: »Massa’ al-Kheir, ya habibti.« Guten Abend, Schätzchen.

Doch er legte sich mit dem falschen Schätzchen an. Sofort zog sie ihr Knie hoch und rammte es ihm direkt in den Schritt. Der Mann jaulte auf, ließ sie abrupt los und fiel wimmernd zu Boden. Ohne sich umzudrehen, rannte Yasmin durch die Tür in den Korridor, der zum Ausgang des Gebäudes führte. Adrenalin schoss durch ihren Körper.

In diesem Moment entdeckte sie eine andere Gestalt nahe beim Ausgang. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung erkannte sie die Silhouette von Hamadi. Sie schrie seinen Namen.

Hastig drehte sich der junge Mann zu ihr um. »Hast du das Licht ausgemacht, Yasmin?«

Wie aus dem Nichts erschien hinter Hamadi eine weitere, unmaskierte Person. Bevor Yasmin reagieren konnte, riss die Gestalt dem Aufseher den Kopf nach hinten und schnitt ihm mit dem Messer die Kehle durch.

Yasmin schrie auf, Blut schoss über Hamadis Uniform. Der Killer ließ den jungen Mann wie ein Stück Müll zur Seite fallen.

Bevor Yasmin reagieren konnte, hielt sie jemand von hinten fest und drückte ihr einen nassen Wattebausch auf die Nase. Unter Tränen sah sie den toten Hamadi in einer Blutlache liegen.

Bevor ihre Sinne in die Dunkelheit entschwanden, bemerkte sie als Letztes ein goldenes Funkeln im Grinsen des Mörders.

II

Tal der Könige, Luxor, Ägypten

Freitag, 17. März, 06.35 Uhr

Der Archäologiestudent Daniel Preisner versenkte schläfrig den Spaten in der Erde und ahnte nicht im Geringsten, dass ihm heute eine unglaubliche Entdeckung bevorstand. Ein Fund, der sich seit Jahrtausenden zu verbergen wusste und dem es immer wieder gelang, ungebetene Gäste fernzuhalten. Und dies auf martialische Art und Weise.

Der letzte kühle Wind blies von der Wüste her und die Morgendämmerung tauchte die umliegenden Hügel in ein schales Licht. Vorerst störten nur ein paar Arbeiter die Ruhe im Tal der Könige, doch bald würden die ersten Touristen auf dem Weg vor ihm zu einer der größten Attraktionen Ägyptens pilgern: dem Grab des Pharao Tutanchamun.

Manchmal konnte er kaum glauben, dass sein jetziger Boss ausgerechnet ihn, den Studenten aus Leipzig, ausgewählt hatte. Praktika waren in Ägypten generell, vor allem aber in Luxor äußerst begehrt. Und aufgrund der Reputation und der Herkunft seines Chefs bewarben sich etliche Studierende auf diese Stelle.

Daniel suchte das große Abenteuer, obwohl ihm viele einredeten, dass er eher Mathematiker werden sollte. Doch kostbare Artefakte, uralte Schriftrollen und verblichene Skelette erwarteten ihn zuhauf in der Nähe der Pharaonengräber, da war er sich sicher.

Gewesen.

Seit fünf Monaten ackerte er sich nun durch den Wüstensand. Außer ein paar Tonscherben und wertlosen Münzen hatten er und das Team nichts gefunden, rein gar nichts. Alle zweifelten daran, dass das, wonach sie suchten, überhaupt existierte. Zehn Stunden schufteten sie jeden Tag in den vier mal vier Meter großen Aushubsenken. Früher nannte man das Sklavenarbeit, dachte sich der Neunzehnjährige. Und die ägyptischen Sklaven hatten zumindest Pyramiden erschaffen, während er nur quadratische Löcher hinterließ, um sie hinterher wieder mit Sand aufzufüllen. Schließlich könnten unaufmerksame Touristen hineinfallen und sich die Beine brechen.

Zu Beginn des Praktikums hatte sein Enthusiasmus keine Grenzen gekannt. Er hatte den morgendlichen Weg mit der altertümlich anmutenden Fähre über den Nil und die anschließende Taxifahrt mit einem stetig plaudernden Fahrer namens Mohammed genossen. Jeder Spatenstich, jede Tonscherbe versprach eine Chance auf einen Jahrhundertfund. Die Ausgrabungsstätte erhielt die provisorische Deklaration »Kings Valley 66«, kurz KV66, und allein die Nähe zu den zahlreichen spektakulären Pharaonengräbern faszinierte ihn.

Der fehlende Erfolg, der alltägliche Trott sowie die ewige Sonne zermürbten jedoch das Team zusehends. Daniel vermisste seine Freunde zu Hause in Deutschland, den Regen und sein Freiberger Pils.

Achmed, ein ägyptischer Ausgrabungshelfer gleichen Alters, war sein einziger Lichtblick. Seit ein paar Wochen buddelten sie zu zweit in der Schlangengrube, wie ihr Boss die Senken nannte, und lernten sich so immer besser kennen. Obwohl sie sich eher rudimentär auf Englisch verständigten, fühlte Daniel schon nach kurzer Zeit eine besondere Nähe zu Achmed. Sie brachten sich gegenseitig einige Wörter aus ihrer Muttersprache bei und verkürzten sich den Arbeitstag mit Blödeleien. Mit Achmed verband ihn eine Freundschaft, vielleicht sogar mehr, und das verlieh ihm täglich neuen Antrieb. Aber er wusste auch, dass diese Verbundenheit abrupt ein Ende finden würde, sobald Achmed die Wahrheit über seine Herkunft erfuhr. So einfach ist das.

Daniel wandte sich wieder der Arbeit zu. Ihr Aushubquadrat lag direkt am Fuße eines Hügels am Eingang des östlichen Tales. Der fast senkrechte, nackte Felsen schloss die Grube zu einer Seite ab. Der Boden gab seinen steinharten Inhalt nur widerspenstig frei. Ein engmaschiges schwarzes Netz, das auf Pfosten wie ein Dach über der Vertiefung hing, diente ihnen als Sonnenschutz. Neben ihm und Achmed arbeiteten diesen Freitag nur der Boss und dessen Assistent, Jemal. Alle anderen Grabungshelfer, allesamt Muslime, genossen ihren freien Tag. Insgeheim hoffte Daniel, dass er selbst der Grund war, weshalb Achmed ebenfalls freitags arbeitete und dafür den Samstag freinahm. Doch dies nachzufragen, getraute er sich nicht.

Die beiden jungen Männer gruben noch keine Stunde, als Daniel an der Felswand etwas freilegte. Zuerst glaubte er, es handle sich nur um einen Fleck, und hieb drei weitere Male mit dem Pickel rund um die gleiche Stelle.

»Achmed!«, rief er erregt, als ihm klar wurde, dass es sich nicht um eine Verunreinigung handelte. Der Gerufene eilte zu ihm, folgte seinem Blick und sah es ebenfalls.

Als könnte er seinen Augen nicht trauen, strich Daniel mit den Fingern über die Stelle und bemerkte eine Vertiefung. Mit dem Fingernagel befreite er den Sand aus der Kerbe, und nun erkannten sie ein Zeichen, einer keimenden Pflanze ähnlich.

»Eine Hieroglyphe, gehauen in die Felswand«, flüsterte Daniel andächtig. Vorsichtig schabten sie die Stelle rundherum frei und förderten noch mehr Hieroglyphen ans Tageslicht, bis schließlich ein vertrautes Symbol zum Vorschein kam. Die meisten Menschen kannten es, aber nur die wenigsten wussten, was es bedeutete und woher es stammte. »Anch, das altägyptische Zeichen für das Leben. Oder des Todes, je nach Kontext.« Daniels Herz fing an zu pochen, als fehlte ihm auf einem Lottozettel nur noch eine Zahl bis zum Hauptgewinn.

Einige Könige im alten Ägypten trugen dieses Zeichen in ihrem Namen. So auch der berühmteste unter ihnen, der dafür verantwortlich war, dass sich Daniel überhaupt für Ägyptologie zu interessieren begann: Tutanchamun.

Achmed riss ihn aus seinen Gedanken: »Sollten wir nicht den Boss rufen?« Daniel stand entschlossen auf und holte eine Schaufel und das Pinsel-Set. »Wir schauen zuerst, ob da noch mehr ist. Dann können wir es immer noch melden.«

Achmed schaute sich etwas skeptisch um, kniete dann aber wie Daniel hin und gemeinsam legten sie behutsam Zeichen um Zeichen frei. Schließlich blickten sie auf eine vollständige Schrifttafel.

»Das ist wunderschön«, flüsterte Daniel ehrfürchtig.

»Kannst du übersetzen?«, fragte Achmed.

Daniel verneinte. Ihm war die Bedeutung einzelner Symbole vertraut, aber er konnte sie nicht in einen Zusammenhang bringen.

Sie fuhren erschrocken herum, als eine bedrohliche Stimme direkt hinter ihnen erscholl und donnerte: »Der Tod wird auf schnellen Schwingen zu demjenigen kommen, der die Ruhe des Pharaos stört.«

Mit einem breiten Grinsen fügte Jill Carter hinzu: »Gratuliere, Jungs. Ihr wurdet soeben erstklassig verflucht!«

III

08.17 Uhr

Heute ist ein guter Tag, um verflucht zu werden, dachte Jill.

Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stieg in die Grube hinunter. Daniel und Achmed wichen wie ertappte Diebe zur Seite.

Jill kniete vor der Hieroglyphentafel nieder. Sanft strich sie mit einem Pinsel über die Zeichen, als handelte es sich um ein bisher unbekanntes Fresko von Leonardo da Vinci. Einige Hieroglyphen wiesen noch Farbreste auf. Jill deutete dies als ein Merkmal dafür, dass die Gravur vor langer Zeit verschüttet worden war. Hier liegen wir richtig. Goldrichtig.

Jill knackte hörbar einige ihrer Fingergelenke. Sie tat dies oft, wenn sie nervös war und sich gleichzeitig konzentrieren musste. Eine für Umstehende manchmal irritierende Angewohnheit.

Sie brauchte einen Erfolg, dringend. Seit drei Jahren wartete sie auf eine Entdeckung wie diese. Drei lange, mühselige Jahre. Ein Jahr hatte die Neununddreißigjährige für die Bewilligungen und das Organisieren der Sponsoren benötigt. Als Engländerin und zudem noch als Frau hätte sie ohne ihren berühmten Onkel nie die Erlaubnis erhalten, hier in Ägypten Ausgrabungen zu machen, schon gar nicht im Tal der Könige. Jill musste etliche Beamte und schließlich sogar den Minister für Kultur und Altertümer überzeugen, dass ihre Grabung eine Win-win-Situation für alle Beteiligten darstellte. Luxor wurde immer noch mit schrecklichen Terroranschlägen verbunden und konnte gute Publicity gebrauchen.

Nach einer ersten, äußerst enttäuschenden Grabungssaison erhielt sie nur wegen ihres Namens und etwas Bakschisch an den richtigen Stellen die Erlaubnis für weitere Arbeiten. Inzwischen war Mitte März bereits vorbei, bald würde es für Grabungsarbeiten zu heiß. Von Mai bis September glich Oberägypten einem Glutofen. Außerdem drohte ab April der Chamsin, ein sengender Wüstenwind, der oft mehrere Tage als Sandsturm wütete.

Und nun lag vor ihr ein jahrtausendealter, verheißungsvoller Fluch. Ein guter Indikator für wertvolle Gräber und Stätten, nur leider wussten dies ebenfalls alle Grabräuber der Welt.

Sie seufzte. Jetzt nur nicht den Mut verlieren.

»Gut gemacht, Jungs.« Jill schnappte sich eine Schaufel. »Lasst uns schauen, wie ernst der Fluch gemeint ist. Los geht’s!«

Daniel und Achmed ließen sich nicht zweimal bitten. Vorsichtig hackten sie den Boden unterhalb der Hieroglyphen frei, bis sich ein Farbunterschied zwischen der Felswand und dem helleren, harten Wüstensand abzeichnete. Die Trennlinie verlief rechteckig, und je tiefer sie gruben, desto offensichtlicher zeichnete sich ein Eingang ab. Das Ziel schien nahe.

Gegen zehn Uhr morgens hörten sie auf, in die Tiefe zu graben. Begierig zu erfahren, was der Fluch zu beschützen versuchte, prügelten sie regelrecht auf den vermeintlichen Eingang ein. Dabei gruben jeweils zwei Personen, während eine pausierte.

Nachdem sie einen Meter tief in den Felsen vorgedrungen waren, kam Achmed an die Reihe. Voller Wucht schlug er mit dem Pickel in die Wand. Als diese plötzlich nachgab, fiel er der Länge nach hin und stieß einen Schrei aus. Nach einem kurzen Moment krabbelte er hastig zurück.

»Alles klar?«, fragte Daniel.

Doch Achmed stotterte nur: »Da … da ist jemand!«

Jill hob skeptisch eine Augenbraue. Sie zog eine Mini-Stablampe aus der Brusttasche ihres Hemdes hervor und leuchtete damit in die Öffnung hinein. Ein etwa zehn Meter langer und zwei Meter breiter Korridor erstreckte sich vor ihr. Der Schein ihrer Lampe glitt an den Wänden entlang und ließ altägyptische Zeichnungen und Reliefs von beeindruckender Schönheit sichtbar werden.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was immer sie hier entdeckt hatten, würde in die Geschichte eingehen. Heutzutage mauserte sich ein solcher Fund schnell zur Sensation.

Doch auf dem Boden entdeckte sie zwei Skelette. Sie stieß einen leisen Fluch aus. Zu früh gefreut.

Als sie sich wieder zu den anderen wandte, konnte Daniel seine Aufregung nicht verbergen. »Und? Dr. Carter, was ist da drin?«

»Ihr habt einen unterirdischen Korridor mit ausgiebigen Wandmalereien entdeckt. Es könnte sein, wonach wir suchen«, erwiderte Jill nachdenklich. »Die schlechte Nachricht ist: Am Boden liegen die Überreste von zwei Leichen. Ich schätze, die hatten bereits vor Jahrtausenden ein Date mit Osiris.«

Achmed schien die Anspielung auf den ägyptischen Totengott zu überhören und schaute verdutzt in die Runde. »Wieso schlechte Nachricht?«

»Vermutlich waren es Grabräuber«, antwortete Daniel enttäuscht.

Und Jill fügte hinzu: »Wir kommen wieder einmal zu spät.«