Leseprobe Das letzte Spiel

Prolog

Das Böse ist allgegenwärtig!

Ganz gleich, wohin das Schicksal uns treibt, auf welche fernen Pfade die Vorsehung uns lenkt – das Böse hat stets seine Schlinge schon geworfen. Mit tückischer List umgarnt es uns, webt trügerische Schleier und belauert uns aus allen Winkeln wie eine giftige Schlange, bereit, seine spitzen Zähne in unser Fleisch zu schlagen.

Auswege versperrt es. Eingänge verwehrt es. Und wenn wir endlich glauben, einen Lichtstreif am Horizont zu erblicken, hebt es seine knochigen Hände, um uns zurück in die grimme Nacht zu stoßen.

Allein ein starker Geist vermag seiner Niedertracht zu trotzen. Mit Verstand gelingt es ihm, Gewissheit von Lüge zu scheiden, Licht vom Dunkel zu trennen und endlich den langen Schatten der Täuschung zu überspringen, ohne an seinen gierigen Fängen haften zu bleiben.

Der Verirrte jedoch ist der grausamen Geißel schutzlos ausgeliefert. Ohnmächtig streift er durch die Finsternis wie ein versehrtes Tier, das seine Fährte längst verloren hat. Das Böse bleibt ihm auf den Fersen. Die Wunde witternd, beginnt es die Jagd, verfolgt ihn, ergreift ihn und verschlingt ihn endlich mit Haut und Haaren, auf dass er eins wird mit der trostlosen Schwärze des ewigen Nichts …

Derart düstere Gedanken kreisten im Kopf des alten Mannes, während er in dem Ohrensessel saß und stumm in die nächtliche Leere starrte. Reglos lagen die hageren Hände auf den Lehnen, deren Leder mit den Jahren so dünn und grau geworden war wie seine eigene Haut.

Das dumpfe Mondlicht, das durch die unverhangenen Fenster einfiel, ließ das Gesicht des Alten seltsam bleich erscheinen. Doch die diffuse Dunkelheit beruhigte ihn. Vielleicht, weil sie für eine Weile den Schatten verbarg, der auf seinem Gewissen lag. Ein bleierner Schatten, der sein Denken trübte wie eine unheilkündende Wolke.

Der Alte spürte, dass etwas Entsetzliches vor sich ging. Etwas, das aus den Tiefen der Finsternis heraufgekrochen war, um seine Krallen nun nach allen Seiten zu schlagen. Noch war er nicht sicher, was er mit dieser Eingebung anfangen sollte. Der Verdacht gor in seinem Innern wie eine faule Frucht und war doch nichts weiter als das splittrige Gebilde seines Instinkts. Eines erfahrenen Instinkts, der ihn selten betrogen hatte, der jedoch mit den Jahren blasser, schwächer geworden sein mochte. So wie alles an ihm blasser, schwächer und gebrechlicher geworden war. Und so wähnte er, dass auch sein Argwohn nur die Spiegelung jener Unzulänglich­keiten sein könnte, die ihm die Zeit umgehängt hatte wie eine schwere, rostige Kette.

Seufzend schloss er die Augen. – War er zu alt, um zu urteilen? Hatte sein Verstand verlernt, abzuwägen? – Einen Verdacht grundlos zu erheben, konnte ebenso fatale Folgen haben, wie ihn feige zu verleugnen. Doch konnte man das, was im Raum stand, überhaupt mit den Maßstäben der Gerechtigkeit messen?

Das Gesicht des Alten hatte sich zu einer kalten Maske verformt. Ihm war klar, dass jedes falsche Zögern durch noch mehr Blut vergolten würde. Das Böse kannte keinen Zweifel, kein Zaudern. Und es würde gewiss nicht weichen, nur weil er einen gestaltlosen Verdacht vor sich her trug …

Das leise Winseln aus dem Zwinger ließ ihn aufhorchen. Auch dem Hund schien die Vollmondnacht den Schlaf zu rauben. Doch was dem Tier das Licht war, das war seinem Herrn die Finsternis. Jenes dunkle Nichts, das in seinem Kopf waltete und das im Begriff war, sich seines ganzen Ichs zu bemächtigen, wenn er weiter vor einer Entscheidung davonlief …

Unvermittelt schlug er die Augen auf. Der plötzliche Bruch in der Stille kam ihm wie eine Warnung vor. Der alte Mann wusste jetzt, dass er nicht länger warten, sein Gewissen nicht weiter winden würde. Er mochte in seinem Urteil schwach geworden sein, aber er hatte in seinem Leben zu viele Abgründe gesehen, um an Zufälle zu glauben. Jetzt lag es an ihm, seinen Verstand auf die Probe zu stellen. Und genau dies würde er tun – ganz gleich, welche Konsequenzen es hätte!

Nach diesem Entschluss blieb er noch einige Minuten sitzen, lauschte dem nächtlichen Frieden, der ihm nun beinahe zynisch vorkam. Schließlich erhob er sich, verließ das Wohnzimmer und schritt Augenblicke später durch das kleine Foyer, in dessen Mitte eine ausgetretene Holztreppe ins Obergeschoss führte. Auch hier war es angenehm dunkel. Lediglich einige Strahlen gedämpften Mondscheins verirrten sich herein und warfen ihren Schimmer auf das lackierte Geländer, das sich zu beiden Seiten der Treppe emporschwang.

Bedächtig stieg er die Stufen hinauf – um plötzlich innezuhalten. War da nicht ein Geräusch gewesen? Unten im Arbeitszimmer? Oder auf der Veranda?

Er hielt den Atem an und lauschte. – Nichts.

Kopfschüttelnd setzte er seinen Gang fort. Das Gebäude war alt und ächzte unter den Jahren. Daran hatte er sich gewöhnt, es war ohne Belang.

Oben angelangt, betrat er das Badezimmer, das mit einer schmalen Gaube versehen war. Selbst hier verzichtete er auf künstliche Beleuchtung. Das einfallende Mondlicht genügte und gab ihm das beruhigende Gefühl, sich mit der Nacht zu vereinen.

Nachdenklich betrachtete er sein Spiegelbild, das sich stirnrunzelnd aus dem silbrigen Zwielicht abzeichnete. – Er würde noch einmal Stärke beweisen müssen, befand er. Ein einziges Mal noch. Seiner Verantwortung konnte er nicht entfliehen, so sehr er es sich auch wünschte …

Derart in Gedanken versunken, bemerkte er nicht, wie sich geräuschlos die Badezimmertür öffnete. Die unheimliche Gestalt, die einen Moment später hinter ihm auftauchte, nahm er erst wahr, als es schon zu spät war. Und dann – nur den Bruchteil einer Sekunde lang – blickte er in die Augen des Bösen. Aber es waren nicht die Augen, die ihn am meisten verstörten – tote Pupillen in tiefen Höhlen. Es war das merkwürdige Etwas, das zwischen ihnen prangte. Mein Gott, dachte der Alte. Es sah aus wie ein riesiger Schnabel!

Das war das Letzte, was ihm durch den Kopf schoss.

Dann drang die scharfe Klinge in seinen Hals ein. Und seine Gedanken verschmolzen für immer mit der Finsternis …

1.

Ungeduldig jagte der silberne Porsche Cayenne über die Autobahn, die sich in einem leicht ansteigenden Band aus Kurven immer weiter von der Stadt entfernte. Vor ein paar Stunden war hier noch die blecherne Schlange der Pendler dem Wochenende entgegen gekrochen; nun herrschte stadtauswärts kaum noch Verkehr.

Philipp, den Fuß fest auf dem Gaspedal, blinzelte mürrisch in die untergehende Abendsonne. Er kannte die Strecke auswendig, zählte unbewusst jeden Kilometer, den er noch zu fahren hatte. – Ein einziges kühles Bier im Garten, bevor es dunkel wurde. Mehr erwartete er nicht.

An einem Freitagabend um diese Zeit nach Hause zu kommen, war keine Seltenheit. Genauer gesagt war es zur Regel geworden. Zu einer deprimierenden Routine, von der Philipp nicht wusste, ob er sie bereits akzeptiert hatte oder noch immer im Stillen bekämpfte. Aber so war es nun mal. Kein Mensch zwang ihn zu dem, was er tat. Die Entscheidung lag ganz bei ihm selbst.

Philipp atmete tief ein und seufzte. Manchmal wünschte er sich mehr Entschlusskraft, mehr Mut. Sich dem Schicksal zu ergeben, mochte kurzfristig die bequemere Alternative sein. Auf lange Sicht aber war sie dem konstanten Lebensglück nicht gerade zuträglich. Und mit Mitte dreißig hätte er sich eine gewisse Konstanz durchaus gewünscht, auch wenn er nicht ernsthaft behaupten konnte, unglücklich zu sein. Doch Glück war bekanntlich Ansichtssache.

Hinter einer Biegung tauchten die ersten Dächer von Bad Grünau auf. Ein Haufen pittoresker Gebäude, die sich terrassenartig am Berghang bis zum Waldrand hinaufzogen. Der hochgeschossene Glockenturm, der zu der romanischen Kirche im Zentrum des Städtchens gehörte, ragte wie ein mahnender Finger aus dem unruhigen Häusermeer empor.

Der Anblick bewirkte bei Philipp eine sofort spürbare Entspannung. Die Bilder waren ihm vertraut, sie gaben ihm ein wohltuendes Gefühl der Geborgenheit, dessen Wurzeln weit zurück in seine Kindheit reichten. Soeben hatte er die Schwelle überschritten, die seine Welt von der Welt der anderen trennte.

Philipp nahm die Ausfahrt und erklomm wenig später die abschüssige Hangstraße, die ihn in das beschauliche Wohngebiet unterhalb des Stadtwalds führte. Zahlreiche Designerbauten, die mit adretten Altbauvillen um die Wette eiferten, verliehen der Gegend eine dezent-exklu­sive Note. Im sanften Abendlicht muteten die schmucken Fassaden hinter gepflegten Vorgärten in einem fast unwirklichen Ausmaß idyllisch an.

Philipp hielt vor einem der älteren Gebäude am Ende einer Seitenstraße. Tanjas Mini war nirgends zu sehen, was bedeutete, dass sie ausgeflogen war. Die Freitage gehörten ihrer Clique. Leute in ihrem Alter, die einen Abend wie diesen lieber in irgendeinem Club in der Stadt verbrachten. Philipp hatte nie Verlangen verspürt, sich dieser Gesellschaft anzuschließen. Unter Tanjas Freunden galt er als Langweiler; eine Einschätzung, die gemeinhin auf Gegenseitigkeit beruhte. Sein Leben folgte anderen Rhythmen. Sollte sich Tanja doch austoben – so konnte er wenigstens den Feierabend nach seinem Belieben verbringen.

Das Haus, das er nun betrat, war weder groß noch luxuriös, wies aber durch seine schlichte Gradlinigkeit einen eigenen Charme auf. Außerdem besaß es auf der Rückseite einen Garten mit alten Obstbäumen und einigen schönen Rosensträuchern. Philipp hatte es vor ein paar Jahren von seiner Großmutter geerbt und seitdem keine nennenswerten Veränderungen vorgenommen. Natürlich abgesehen von der Einrichtung, die er modernisiert, hauptsächlich aber an Tanjas Geschmack angepasst hatte. Auf diese Weise war eine behagliche Komposition aus Alt und Neu entstanden. Ein Ort, an dem das Damals eine versöhnliche Symbiose mit dem Heute eingegangen war.

Philipp zog Jeans und ein bequemes Poloshirt an, nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und begab sich hinaus auf die Terrasse, auf der sich gerade die letzten Sonnenstrahlen wie ein Teppich aus glänzendem Samt ausbreiteten. Die Erschöpfung kam, kaum dass er sich gesetzt hatte. Mit einem matten Stöhnen ließ er sich im Stuhl zurückfallen und sog die frische Abendluft ein, die hier, in der Nähe des Waldes, besonders klar und mild war.

Schon wieder war eine Woche vergangen. Wieder eine Woche, die ihr Netz aus Pflichten und Zwängen über ihn geworfen hatte. Die Zeit floss unbarmherzig an ihm vorüber und schien dabei sein Leben mitzureißen wie einen steuerlosen Kahn. Doch es war nicht die Zeit, die Philipp zu schaffen machte. Vor allem war es die Einsicht, dass er schon lange nicht mehr über sich selbst bestimmen konnte. Er war zu einem Rädchen mutiert, das sich unaufhörlich drehte, um die große Mühle am Laufen zu halten. Jederzeit auswechselbar und dennoch so unentbehrlich, dass er stets das Gefühl haben musste, jede Stunde seiner Abwesenheit würde unkontrollierbare Folgen haben.

Die Beförderung zum Juniorpartner der Sozietät hatte diesen Zustand noch einmal verschärft. Keine Frage, er verdiente gutes Geld; erheblich mehr als andere Anwälte, die sich in kleineren Kanzleien oder als Einzelkämpfer behaupten mussten. Aber dem großen Geld standen ebenso große Opfer gegenüber. Entbehrungen, die weit in sein Privatleben reichten. Und deren Kompromisslosigkeit ihn zusehends zu erdrücken begann.

Philipp schloss die Augen, während das kalte Bier seine Kehle hinunter lief. Ein friedliches Sommerwochenende lag vor ihm, und er beabsichtigte keineswegs, diese Aussicht mit verdrießlichen Gedanken zu trüben.

In diesem Moment klingelte drinnen sein Mobiltelefon. Widerstrebend stand er auf. Das Gerät lag in der Diele, unterhalb der Garderobe. Als er diese passierte, stolperte er beinahe über die dort abgestellten Joggingschuhe. (Sie sollten ihn an einen jüngst gefassten Vorsatz gemahnen.) Philipp reagierte mit einem Grunzen.

Das Display kündigte seinen Studienfreund Walter an.

Philipp zögerte. Eine plötzliche Unlust hielt ihn davon ab, den Anruf anzunehmen. Er war von dieser Reaktion nicht überrascht, dennoch irritierte sie ihn. Walter Dreyfus war ein langjähriger Weggefährte, mit dem er nicht nur seinen Beruf, sondern auch unzählige private Erinnerungen teilte. Beide kannten sich schon seit der Schulzeit. Trotzdem löste die Vorstellung, gleich Walters Stimme zu hören, bei Philipp eine merkwürdige Beklemmung aus. Natürlich ahnte er, was Walter auf dem Herzen hatte. Das alte Thema – langsam sollte es also wieder ernst werden …

Das Klingeln verstummte. Philipp wartete eine Weile, bis er nach dem Telefon griff und die Mailbox abhörte. Walter wollte sich mit ihm auf einen Drink treffen und bat um Rückruf. Philipp zuckte verdrossen mit den Schultern und kehrte wieder zurück auf die Terrasse.

Inzwischen war die Sonne fast hinter den Bäumen verschwunden, ein unruhiges Zwielicht hatte sich wie ein gesprenkeltes Gitter über den Garten gelegt. Philipp ging langsam über den Rasen in Richtung des großen Kirschbaums. Die Kirschen hatten bereits eine kräftige Farbe angenommen und hingen wie rote Reben in verschwenderischer Zahl von den Zweigen. Er würde sie demnächst pflücken müssen, auch wenn es für diese Ernte vermutlich wieder mal keine Verwendung gab. Tanja hatte eine Abneigung gegen jede Art von Hausarbeit, und so würde am Ende doch wieder nur der Kompost gefüttert werden.

Philipp schüttelte nachsichtig den Kopf. In vielen Aspekten glich Tanja noch immer einem Kind. Ihre ungebrochene Energie (meist konsequent an der falschen Stelle investiert), ihre Traumtänzereien – selbst ihr trotziger Sturkopf: All das übte auch heute noch einen erfrischenden Reiz auf ihn aus. Meistens jedenfalls. Trotzdem gab es Momente, in denen er sich eine Gefährtin mit mehr Einfühlungsvermögen gewünscht hätte. Mit mehr innerer Reife. Tanja war fast zehn Jahre jünger als er, und je älter er wurde, desto größer schien der Unterschied zu werden.

Ein plötzlicher Schauder ließ ihn zusammenfahren. Der Abend hatte seine Kälte ohne Vorwarnung ausgeschüttet. Vom Wald herüberziehend, spürte Philipp einen klammen Luftzug über sein Gesicht streicheln. Mit eiligen Schritten kehrte er dem Garten den Rücken und ging ins Haus.

Dort schnappte er sein Handy und wählte Walters Nummer.

 

Sie verabredeten sich für halb elf im El Dorado, einer Bar in der Altstadt von Bad Grünau, die für ihre ausgezeichneten Cocktails bekannt war. Philipp nahm den Wagen, obwohl er die kurze Strecke auch hätte zu Fuß gehen können. Aber so fühlte er sich flexibler. Bereit, jederzeit seinen Standort zu wechseln – oder einfach in sein Nest zurückzukehren, wenn ihm danach war. Er wusste, dass sich Treffen mit Walter in die Länge ziehen konnten, vor allem wenn sein Freund anfing, von alten Zeiten zu plaudern, oder sich im Schmieden gemeinsamer Pläne erging.

Es stellte sich heraus, dass das El Dorado an diesem Abend gut besucht war. Die Bar befand sich im Keller eines liebevoll restaurierten Fachwerkhauses und vermittelte durch ihre niedrige Gewölbedecke den Eindruck einer wohlberechneten Enge.

Philipps Bedenken, keinen Platz zu bekommen, wurden zerstreut, als er Walter in einer Nische erblickte. An der Wand hatte man farbenfrohe Fotografien aufgehängt. Karibische Impressionen – oder zumindest etwas, das bei Philipp entsprechende Vorstellungen hervorrief.

Sie begrüßten sich herzlich. Philipp sah seinem Gegenüber an, dass ihn etwas beschäftigte, empfand es aber nicht als dringend, das Thema von sich aus zur Sprache zu bringen.

Philipp bestellte seinen Lieblingscocktail, einen Planter’s Punch mit einem Extraschuss Ananassaft. Walter blieb – wie immer, wenn er sich in einer Trainingsphase befand – bei alkoholfreiem Iso-Bier. Während sie auf die Getränke warteten, berichtete Walter von irgendeinem Volkslauf, an dem er diesen Sonntag teilnehmen würde. Philipp bemühte sich, interessiert zu wirken. Die detailverliebten Schilderungen seines Hobbys, in welche sein Freund gerne verfiel, konnten ihn schnell langweilen. Andererseits empfand er aufrichtige Bewunderung für Walters Begeisterung, wünschte sich hiervon sogar heimlich ein kleines Stück für sich selbst.

»Ich sollte mich auch mal wieder bewegen. Die Schuhe stehen bereit, allein die Motivation lässt auf sich warten.«

Walter kommentierte mit aufmunternden Worten, hinter denen sich, wie Philipp wusste, echte Anteilnahme verbarg.

Wenig später stießen sie auf Walters kommenden Wettkampf an. Der Cocktail war gut, so wie Philipp ihn liebte. Das feine Aroma der Ananas verursachte ein Prickeln auf seiner Zunge, blies einen Hauch von Exotik in seine Nase. Unwillkürlich verfing sich sein Blick an einem der Fotos, das an der Wand hinter Walter hing. Ein altes Fischerboot vor dem Panorama eines bunten Hafenstädtchens. Das Bild gefiel ihm. Philipp mochte das Meer, seine Weite, seine Gleichförmigkeit. Und er mochte auch das kleine Boot, das dem großen Ozean mit weiser Gelassenheit zu trotzen schien. Es würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, dachte er, ganz gleich, was ringsumher geschah. – Mit einem Mal wurde Philipp bewusst, wie gerne er selbst in dem Boot gesessen hätte …

»Wie war deine Woche?« Walters Stimme riss ihn wie eine Ohrfeige aus seinen Gedanken.

»Ganz in Ordnung. Du weißt ja, wie es ist.«

Walter nickte vielsagend. Er wusste es tatsächlich, war er doch selbst viele Jahre Anwalt in einer großen Wirtschaftskanzlei gewesen. Aufreibende Jahre, in denen sie sich gegenseitig ihr Leid geklagt hatten. Am Ende von langen Arbeitstagen, in irgendwelchen lärmenden Kneipen, um sich gegen den Trubel des nächsten Tages zu betäuben. In dieser Zeit hatte Walter rund zwanzig Kilo zugelegt, und Philipp war in Sorge gewesen, die Gesundheit seines Freundes würde bleibenden Schaden nehmen. Doch Walter war vernünftig gewesen. Anders als Philipp hatte er rechtzeitig die Notbremse gezogen. Nach seiner Kündigung war er ein befristetes Arbeitsverhältnis mit irgendeinem Verband eingegangen. Nichts Aufregendes, aber begleitet von den nötigen Freiräumen, die er für sich und seine Interessen benötigte.

»Und bei dir?«

Ein unsicheres Grinsen huschte über Walters Gesicht. »Der gewohnte Kleinkrieg an der Bürokratenfront. Nicht der Rede wert.« Nach einer kurzen Pause setzte er ernst hinzu: »Sicher hast du nicht vergessen, dass mein Vertrag in zwei Monaten ausläuft.«

Feststellung, Frage und Anklage. Philipp unterdrückte ein Seufzen. – Dann also doch.

»Nein, natürlich nicht. Du erinnerst mich ja oft genug daran. – Und nun? Wie soll es weitergehen?«

Walter schabte zögerlich am Etikett seiner Bierflasche. »Ich habe mir in den letzten Tagen einige Büros angesehen. Eins liegt in der Altstadt, nicht weit von hier. Gut geschnitten – ideal für zwei Berufsträger.« Er sah Philipp auffordernd an, als erwarte er Anzeichen von Begeisterung, doch Philipp nickte nur stumm.

»Die Konditionen erscheinen mir gut. Momentan sind Büroräume in Bad Grünau schwer zu bekommen. Ich werde mich in der nächsten Woche entscheiden müssen, sonst geht das Angebot flöten.«

»Du willst es also tatsächlich durchziehen?« Philipp fühlte sich durch den Eifer seines Freundes überrumpelt. Er hatte zwar damit gerechnet, aber nun ging ihm die Sache entschieden zu schnell.

»Natürlich will ich! Wir haben das doch unzählige Male diskutiert. Die eigene Kanzlei – das Projekt, auf das wir hinarbeiten wollten, das uns ein Stück Freiheit zurückgeben sollte …«

Philipp zuckte vage mit den Schultern. Der Plan, sich gemeinsam als Rechtsanwälte in Bad Grünau niederzulassen, war fast so alt wie ihre Freundschaft. Mit den Jahren war er manchmal in den Hintergrund getreten, aber nie gänzlich verschwunden. Je höher der Frustpegel gestiegen war, desto ambitionierter hatten sie das Thema erörtert, hatten sich an den Gedanken geklammert wie an einen Rettungsring, der sie irgendwann vor dem Ertrinken bewahren würde.

»Du gehst doch inzwischen auf dem Zahnfleisch. Willst du wirklich so weitermachen?«

Philipp rang sich ein Lächeln ab. »Du kennst meine Bedenken. Ich habe ein Haus zu unterhalten, zwei Autos und ganz nebenbei noch eine verwöhnte Dauerstudentin, die imstande wäre, ein Monatsgehalt in eine Handtasche zu investieren. Unter diesen Voraussetzungen kann ich mir finanzielle Experimente kaum erlauben.«

Den Vortrag, der nun folgte, kannte Philipp auswendig. Walter war immer ein Optimist gewesen – und er war eitel. Auf seine eigenen Fähigkeiten ließ er nichts kommen, und so stand außer Frage, dass auch diese Herausforderung kein Hindernis darstellen durfte. Philipp war anders. Er war sich der Gefahren bewusst, die ein Sprung in die lokale Selbstständigkeit mit sich brachte. Doch gleichzeitig sah er ein, dass genau dies der Weg war, den er sich wünschte. Seine persönliche Flucht in die Zukunft, heraus aus einer Welt, die ihm verhasst war, die im Begriff war, ihn immer weiter von sich und seiner Umgebung zu entfremden.

Philipp fühlte, wie sich eine tiefe Müdigkeit in ihm ausbreitete. Die plötzliche Leere in seinem Kopf ließ Walters Worte wie ein entferntes Echo klingen. Wie eine hohle Predigt, die überzeugen wollte, wo es keiner Überzeugung bedurfte. Allenfalls Überredung. Oder einfach nur Mut?

»Lass uns nach dem Wochenende noch einmal darüber sprechen. Heute bin ich nicht mehr in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.«

Walter sah ihm abfällig in die Augen. »Und genau das ist das Problem, mein Lieber! Das Hamsterrad hat dich derart im Griff, dass du nicht einmal die Kraft aufbringst, über Auswege nachzudenken. Traurig ist das –« Er brach ab und beugte sich ein Stück vor, ehe er hinzufügte: »Und auf lange Sicht auch keineswegs ungefährlich.«

Philipp fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Rand seines leeren Glases. »Vielleicht hast du recht. Allzu lange sollte man Entscheidungen nicht aufschieben, dafür ist das Leben zu kurz.« Er stand auf. »Lass uns das Thema vertiefen, sobald ich wieder einen klaren Kopf habe.«

Sie zahlten, Philipp bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen. Als sie wenig später nach draußen traten, fühlte er sich sogleich befreiter.

»Übrigens, bevor ich es vergesse: Wie wäre es mit ein paar Kilo Kirschen?«

Walter musste ungewollt schmunzeln. »Jedes Jahr dasselbe, was? Wann suchst du dir eine Freundin, die kochen und backen kann?«

Stumm schlenderten sie in Richtung des Parkplatzes. Philipp war froh, dass ihm Walter sein Zaudern nicht allzu übel nahm. Das Angebot, ihn zu Hause abzusetzen, schlug er jedoch aus. Walter zog es vor zu laufen, auch wenn dies zwanzig Minuten Fußmarsch bedeutete, aber für einen Sportler war das wahrscheinlich eine Frage der Ehre.

Dann verabschiedeten sie sich.

2.

Am nächsten Morgen war Philipp gegen neun Uhr auf den Beinen. Er fühlte sich ausgeruht, bereit für einen freien Tag ohne Eile und Verabredungen. Tanja war schon aufgestanden und räumte gerade ihr Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine, als er mit einem heiteren Lächeln die Küche betrat.

»Guten Morgen, Prinzessin!«

»Morgen«, murmelte sie zerstreut, während sie eine verbrannte Toastbrotscheibe in den Abfalleimer gleiten ließ. Philipp wartete, ob noch etwas käme, doch Tanjas Gedanken schienen woanders zu weilen.

»Ich will spätestens um vier zurück sein«, erklärte sie unvermittelt. »Dann kann ich mich vorher noch etwas ausruhen. Es dürfte reichen, wenn wir kurz nach acht aufschlagen, was denkst du?«

Tanjas Gedankensprünge waren zuweilen abenteuerlich. Philipp musste sich einen Augenblick besinnen, bevor er begriff. Doch dann erinnerte er sich mit Schrecken: Die Geburtstagsparty ihres Vaters! Tanja hatte zugesagt, Frau Pirol, der Haushälterin des alten Herrn, bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen. Ein unbedachtes Versprechen, das sie jetzt vermutlich bereute. Jedenfalls machte sie keinen besonders fröhlichen Eindruck, fand Philipp.

»Je später wir kommen, desto schneller haben wir es hinter uns«, erwiderte er in einem Tonfall, der nur bedingt ironisch klang.

Tanja bemühte sich, eine missbilligende Miene aufzusetzen. »Ich bin sicher, du wirst es auch dieses Jahr überstehen. Hauptsache, du fängst nicht wieder einen Streit mit Papa an!«

Philipp runzelte die Stirn. Er würde heute Morgen keine Diskussion über dieses Thema führen, entschied er. Dass er mit Tanjas Vater regelmäßig aneinander geriet, war kein Geheimnis. Seiner Ansicht nach lag die Schuld daran keineswegs bei ihm. Aus einem unerfindlichen Grund konnte ihn der Alte nicht ausstehen. Und da Tanja hierfür ebenfalls keine Erklärung hatte, war es nun mal einfacher, Philipp die Verantwortung zuzuschanzen.

»Ich werde mir Mühe geben.«

Tanja gab ein leises Stöhnen von sich, unterließ aber weitere Bemerkungen. Ein flüchtiger Wangenkuss, dann brach sie auf.

Philipp nahm ein Tablett und setzte sich, leise vor sich hin pfeifend, im Pyjama auf die Terrasse. Zwei Scheiben Toast, etwas Joghurt, einige Tassen starken Kaffee, mehr brauchte er nicht. Obwohl nicht einmal halb zehn, lag schon jetzt eine hochsommerliche Schwüle in der Luft. Einige dicke Quellwolken hingen am Himmel, vielleicht würde es später am Tag noch ein Gewitter geben.

Nach dem Frühstück zog er seine älteste Hose an, dazu eines der löchrigen T-Shirts, die er zum Heimwerken aufbewahrte. Er wollte den Vormittag nutzen, um einige längst überfällige Arbeiten zu erledigen.

Gegen Mittag war er fertig. Er ging ins Haus zurück und briet sich Rührei mit Schinken. Großen Appetit hatte er nicht, sicher würde ihn am Abend ein pompöses Gelage erwarten. Seine Geburtstagsempfänge waren von Tanjas Vater zum Statussymbol erhoben worden, mit dem er die Provinzprominenz jedes Jahr aufs Neue zu beeindrucken suchte. Und das Erbärmliche war, dass er damit stets Erfolg hatte und sich angespornt fühlte, den Triumph im Folgejahr zu überbieten. Heute Abend würde Philipp dem Possenspiel ein weiteres Mal beiwohnen – bei dem Gedanken daran schüttelte es ihn. Doch im Augenblick wollte er sich mit diesem Thema nicht weiter belasten.

Langsam fuhr er sich durch sein glattes, schwarzes Haar. Was sollte er mit dem beginnenden Nachmittag anfangen? Einen Moment lang erwog er, seine Joggingschuhe zu schnappen, verwarf den Gedanken aber sogleich. Nach dem Essen wäre das idiotisch. Außerdem hatte er insgeheim andere Pläne, die er sich bloß noch nicht eingestehen wollte.

 

Kurz vor zwei fiel die Entscheidung. Nachdem er geduscht, sich rasiert und das Niveau seiner Garderobe angehoben hatte, stieg er ins Auto und fuhr los.

Er nahm die Bundesstraße, die an Bad Grünau vorbei durchs Tal nach Westen lief. Nach einigen Kilometern bog er auf eine kleinere Landstraße ab, die ihn durch eine Handvoll verschlafener Dörfer führte, bis er schließlich hinter einem Wäldchen einen Punkt erreichte, an dem zwei gegenläufige Schotterpfade von der Fahrbahn abzweigten. Ein Wegweiser war nicht in Sicht. Er hatte eine vage Vorstellung, wo sein Ziel liegen mochte, war sich aber über die genaue Position keineswegs sicher. Intuitiv nahm er den linken Weg, der sich bald wie eine Schneise durch hohe Weizenfelder wand.

Zwei Minuten später wusste Philipp, dass er richtig lag. In einiger Entfernung schimmerte das blaue Dach der großen Halle durch die Baumwipfel, daneben das hufeisenförmige Hauptgebäude, hinter dem sich die Ställe befinden mussten.

Der Erlenhof.

Automatisch verringerte er das Tempo und rollte verhalten auf das Anwesen zu. Als Kind, entsann er sich, war er hier einige Male mit seinen Großeltern gewesen, hatte die Pferde bestaunt, den Reitunterricht beobachtet. – Plötzlich sah er sich wieder am Rand des sandigen Platzes stehen: Lachende Kinder traben auf Ponys an ihm vorüber, fröhliche Rufe stolzer Mütter und Väter schallen über das Gelände; neben ihm zwei graue Herrschaften mit ernsten Gesichtern, ihn fest an der Hand haltend, als hätten sie Angst, er würde gleich losrennen und sich zwischen die Tiere in den Staub werfen …

Damals hatte er zum ersten Mal gespürt, dass etwas nicht so war wie bei den anderen – dass ihm etwas fehlte, dessen Bedeutung ihm zu dieser Zeit nur unterschwellig bewusst war. Und dieses Gefühl war immer wieder gekommen, jedes Mal wenn sie auf dem Erlenhof gewesen waren und er die Kinder auf den Ponys beobachtet hatte …

Die Bilder hatten ihn ganz unvermittelt getroffen. Philipp zuckte unwillkürlich mit dem Kopf, als wollte er die Erinnerung so schnell wie möglich abschütteln. Was gestern war, zählte nicht. Heute waren es andere Beweggründe, die ihn herführten.

Er parkte den Cayenne in gebührendem Abstand am Wegesrand und marschierte dann schnurstracks zu den Gebäuden.

Dort musste er verblüfft feststellen, dass sich in all den Jahren kaum etwas verändert hatte. Das Gut war ein echtes Kleinod. Der große, gepflasterte Innenhof wurde von einem dreiseitigen Backsteinkomplex eingefasst, unter dessen Fensterbänken überquellende Kästen mit roten Geranien hingen. Zur Linken schloss sich der Übungsparcours an, weiter hinten stand eine halboffene Reithalle.

Das Areal wirkte wie ausgestorben. Allein in der hinteren Ecke des Hofs hievte ein junger Bursche Strohballen von einem Anhänger herab. Philipp beobachtete ihn eine Zeit lang verstohlen, dann ging er langsam um den Seitenflügel herum, bis er zu den Stallungen gelangte. Hier war es etwas belebter, Kinder schleppten Sättel umher, ein paar Frauen waren mit Pferden zugange; über allem hing der süßlich-herbe Geruch von Stallmist.

Keine Menschenseele nahm Notiz von ihm.

Es verging eine Weile, bis er Viola entdeckte. Sie stand vor einer der Boxen und war gerade dabei, einen ansehnlichen Schimmel zu bürsten (Philipp erinnerte sich, dass sie ein eigenes Pferd besaß, sie hatte es ihm gegenüber einmal erwähnt). Wie immer, wenn er sich in Violas Nähe begab, verspürte er eine leichte Nervosität in sich keimen. Kein unangenehmes Gefühl, eher anregend, aber in gewisser Weise auch unberechenbar.

Er atmete tief ein und ging gemessenen Schrittes in ihre Richtung, bis sie ihn mit einem Ausruf freudiger Überraschung bemerkte. »Du hast tatsächlich hergefunden!« Ein strahlendes Lächeln grub sich in ihre Wangen, die vor Anstrengung leicht gerötet waren.

»Aber klar! Komme ich ungelegen?«

Viola warf grinsend den Kopf in den Nacken. »Du hast Glück, ich kehre gerade zurück. Wegen der Hitze war der Ausritt ziemlich beschwerlich, Tristan ist ganz schön ins Schwitzen geraten.« Während der letzten Worte hatte sie dem Schimmel sanft auf den weiß-gescheckten Hals geklopft, bis er ein nasales Geräusch des Wohlbehagens von sich gab. Philipp bewunderte die Sicherheit, die Anmut, die Viola im Umgang mit dem mächtigen Tier offenbarte. Diese Frau wusste, was sie tat, und ihr Umfeld schien dies zu spüren, ohne dass sie irgendetwas dazu beitragen musste.

»Ich bin mit Tristan jeden Augenblick fertig. Wenn du dich noch etwas geduldest, könnten wir einen kleinen Spaziergang machen.«

Philipp nickte. Zufrieden schlenderte er zurück zum Hauptgebäude, setzte sich auf eine der Holzbänke vor der Hauswand und streckte die Beine aus. Vor ihm tat sich ein einträchtiges Bild auf. Ein Stillleben in weichem Pastell, dessen warme Farben seine kindlichen Erinnerungen fast gänzlich überdeckten.

Den Kopf gegen die Mauer gelehnt, schloss Philipp die Augen. – Warum war er hergekommen? Was hatte ihn gelockt? Genügten ihm die Abende in der Stadt nicht mehr? – Bisher hatten sie sich stets nach der Arbeit, in irgendwelchen Restaurants oder Bars getroffen. Zuletzt vergangenen Dienstag in einem dieser hippen Innenstadt-Clubs, die Philipp alleine nie betreten hätte.

War er deshalb hier? Wollte er Viola unbewusst aus der Dunkelheit holen, sie dem Schatten der Nacht entziehen? Der Flüchtigkeit eines späten Feierabends, der den Blick auf die Realität vernebelte? – Oder war es gar der brüchige Reiz, Viola ausgerechnet hier zu treffen? Um sich zu holen, was ihm dieser Ort schuldig geblieben war?

Ein Meer aus Fragen schäumte in seinem Kopf. Antworten wusste er nicht. Und noch weniger wusste er, wie das Ganze ausgehen sollte. Er würde das Spiel nicht immer so weitertreiben können. Bisher hatte sich Tanja mit dem Hinweis auf berufliche Termine zufriedengegeben. Aber Philipp durfte nicht auf unbegrenztes Vertrauen setzen. Und auch Viola würde irgendwann merken, dass es noch jemand anders in seinem Leben gab. Wahrscheinlich ahnte sie es bereits. Sonderbarerweise hatten sie noch nie darüber gesprochen.

»Hey, nicht einschlafen!«

Philipp schlug die Augen auf und sah in das fröhliche Gesicht von Viola. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt Jeans und eine schlichte weiße Sportbluse, dazu ein fliederfarbenes Halstuch, lässig umgebunden, als harmonischen Kontrast zu ihren haselnussbraunen, leicht gewellten Haaren. Lächelnd schwang er sich von der Bank, ging auf sie zu und küsste sie auf die Wange. Auch bei Tageslicht wirkte ihr Gesicht annähernd makellos.

»Schön, dass du dich erinnert hast«, sagte sie fast flüsternd, während sie sanft über seinen Arm strich.

Natürlich hatte er sich erinnert, schließlich hatte sie ihm ja wiederholt vom Erlenhof berichtet, hatte ihn sogar eingeladen, sie dort zu besuchen.

Fröhlich plaudernd verließen sie den Hof, bogen auf einen Spazierpfad ab, der in die entgegengesetzte Richtung des Wegs führte, auf dem Philipp gekommen war. Sofort stellte sich wieder dieses Gefühl vertrauter Geborgenheit ein, das ihn bei jeder ihrer Begegnungen nach kurzer Zeit wie ein wärmender Strom durchdrang. Viola strahlte etwas aus, das er nur schwer fassen konnte. Alles, was sie tat und sagte, passte auf vollkommene Weise zusammen, zeugte von einer tiefen Einsicht und war doch von einer schlichten Unkompliziertheit, die Philipp jedes Mal aufs Neue fesselte.

Munter marschierten sie vorbei an Feldern und frisch gemähten Wiesen, auf denen gelegentlich graue Fischreiher wie steinerne Denkmäler standen. Viola erzählte von ihrem Job in der Unternehmensberatung, von den Projekten, an denen sie arbeitete und von den Menschen, mit denen sie zusammenkam. Sie tat dies mit einer Begeisterung, zu der Philipp selbst nie fähig gewesen wäre, und nicht ohne einen stillen Anflug von Bitterkeit musste er sich eingestehen, dass Viola offensichtlich Spaß hatte an dem, was sie machte.

»Wusstest du, dass Philipp ›der Pferdefreund‹ bedeutet?« Ihre Frage kam unvermittelt, als sie gerade das Gatter einer verwaisten Pferdekoppel passierten.

»Ich habe einmal darüber gelesen«, bekannte er. »Leider habe ich dem Namen bisher keine Ehre erwiesen. Als Kind wollte ich eine Zeit lang Ponyreiten –« Er brach ab und zuckte ratlos mit den Schultern. »Aber es hatte sich irgendwie nie ergeben.«

Viola nickte stumm. Philipp kam es vor, als ob sie die leichte Beklemmung bemerkt hätte, doch sie stellte keine Fragen. Und plötzlich wusste er, dass sie ihn verstand. Ohne Erklärung, ohne Begründung. Es war eine Erkenntnis, die ihn berührte – und die doch zugleich eine Verunsicherung in ihm auslöste, wie er sie selten empfunden hatte.

Inzwischen war der Reiterhof außer Sichtweite. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt, in der Ferne konnte man erste Donnerschläge vernehmen.

»Lass uns umkehren, bevor der Regen kommt.« Er ergriff ihre Hand und beschleunigte das Tempo. Es irritierte ihn, dass er den Wetterumschwung nicht bemerkt hatte. Wieder einmal war er derart in Violas Bann geraten, dass er jeden Blick für seine Umwelt verloren hatte.

Die ersten Tropfen fielen. Philipp nahm wahr, wie sich Violas Hand fester um die seine klammerte. Sie hätten jetzt einfach losrennen können, aber sie taten es nicht. Stattdessen schritten sie gleichmäßig nebeneinander her und ließen die weichen Tropfen auf sich niedergehen als wären es Blütenblätter, die der Himmel über ihnen ausstreute. Ein merkwürdiger Moment, dem auf eigene Weise etwas Sinnliches anhaftete.

Nach etwa hundert Metern erreichten sie den kleinen Unterstand, an dem sie wenige Minuten zuvor vorbeigekommen waren. Ein klappriges Rondell aus morschen Brettern, das in früherer Zeit als Raststätte für Wanderer gedient haben musste. – Jedenfalls besser als nichts, meinte Philipp.

Eine Weile standen sie stumm in dem engen Verschlag und beobachteten das Unwetter, das sich draußen entlud. Ein paarmal ließ Philipp – wie zufällig – verstohlene Blicke auf Viola gleiten. Er fühlte eine Erregung in sich aufsteigen, die ihn beschämte. War er im Begriff, den einen Schritt zu viel zu machen? Den Schritt, der kaputtmachen würde, was er mühsam zusammenzuhalten versuchte …

In diesem Moment zog ihn Viola an sich. Ihr Kuss war wie eine Explosion, die jäh alle Gedanken in Philipps Kopf wegfegte. Die Leidenschaft, die sie ihm entgegenwarf, war so heftig, dass er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Berauscht von der Plötzlichkeit des Augenblicks schoben sie sich weiter hinein in die schmale Hütte. Philipp spürte die rauen Bretter an seinem Rücken reiben. Ihm war, als würde er im Wasser eines stürmenden Ozeans versinken. Doch statt sich zu wehren, ließ er sich treiben, ließ sich immer tiefer in den Sog fallen, der ihn umgab. Bis er schließlich ganz und gar in den heißen Fluten ertrank.

Als sie eine halbe Stunde später auf den Erlenhof zurückkehrten, hatte es aufgehört zu regnen. Es war bereits halb fünf, Philipp musste sich beeilen, um nicht Tanjas Unmut zu riskieren. Mit Viola verabredete er sich für die kommende Woche, ohne einen bestimmten Tag festzulegen. Dann fuhr er so schnell er konnte nach Hause.

***

Marti saß auf der wackeligen Holzbank und beobachtete vergnügt, wie sein Freund Lukas langsam die quadratische Fläche umkreiste, unschlüssig, wie er auf Martis neuerlichen Vorstoß reagieren sollte. Das Schachfeld bestand aus hellen und dunklen Steinplatten, die man vor Jahren in den weichen Waldboden eingelassen hatte. Witterung und Moosbefall ließen die ursprüngliche Färbung kaum noch erkennen. Um die etwa hüfthohen Spielfiguren aus rauem Kunststoff, die verstreut auf dem Feld standen, war es nicht viel besser bestellt, aber immerhin waren sie vollzählig gewesen.

Eigentlich hatten sie ihre Radtour nur für eine kurze Rast auf dem alten Waldfestplatz unterbrechen wollen. Doch als Marti beim Pinkeln das Spiel entdeckt hatte, etwas abseits auf einer Lichtung gelegen, hatte er Lukas spontan zu einer Partie überredet.

Mit konzentrierter Miene versetzte dieser soeben einen der weißen Bauern. Marti musste grinsen. Eine bessere Vorlage hätte ihm sein Freund nicht geben können. Er nahm einen Schluck aus seiner Bierdose und stand auf. Nur einen Augenblick später hatte die schwarze Dame den Läufer geschlagen. Lukas war doch wirklich blind wie ein Maulwurf!

»Mist, nicht gesehen!« Unzufrieden trat Lukas mit dem Fuß gegen die verlorene Figur, die jetzt achtlos neben dem Spielfeld kullerte. In diesem Moment ließ ein leises Rascheln im Unterholz die Jungen aufhorchen. Marti, in Richtung des Geräuschs starrend, war sich plötzlich sicher, eine Bewegung bemerkt zu haben. Einen flüchtigen Schatten, der für den Bruchteil einer Sekunde hinter den Baumstämmen aufgetaucht zu sein schien.

»Hast du das auch gesehen?«

»Was?«

»Den Schatten dort hinten.«

Lukas ließ seinen Blick über die Bäume streifen, die sich wie düstere Säulen in der Tiefe des Waldes verloren. Dann zuckte er mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ein Tier vielleicht?«

Marti war nicht überzeugt. Während sich sein Freund wieder dem Schachfeld zuwandte, versuchte er vergeblich, in dem dichten Gehölz irgendetwas Ungewöhnliches zu erspähen. Mittlerweile hatte sich eine graue Wolkendecke vor die Sonne geschoben, die dem Wald alle Farben raubte und ihn wie einen konturlosen Verschnitt aus dunkelgrünen Schemen erscheinen ließ.

»Hüh, alter Gaul!« Lukas hatte seinen Springer ins Spiel gebracht. Doch Marti war nicht mehr bei der Sache. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass dort hinten etwas war, was nicht hergehörte.

Geistesabwesend schob er die schwarze Dame auf ihre Ausgangsposition. Lukas wollte diesen Rückzug mit Hohn beschenken, doch seine Worte wurden von einem jähen Donner übertönt, der sie zusammenzucken ließ. Wie ein heftiger Kanonenschlag, der aus den Weiten des Waldes von allen Seiten zu ihnen hallte.

»Ein Gewitter!«

»Lass uns abhauen!«

Hastig schnappten sie ihre Rucksäcke und liefen das kurze Stück zur Festwiese, wo ihre Fahrräder standen. Bei Gewitter im Wald zu sein, war ebenso töricht wie gefährlich! – Unwillkürlich warf Marti einen letzten Blick zurück zum Spiel. Eine seltsame Stimmung hatte sich über die Lichtung gelegt. Ein Firnis von etwas Bedrohlichem, etwas Ungreifbarem. Die Figuren erschienen Marti mit einem Mal wie finstere Gestalten. Kalt und feindselig. Dämonen, die ihn hinter gesichtslosen Masken anstarrten. Seine Irritation war einem tiefen Unbehagen gewichen.

Lukas bemerkte den angsterfüllten Ausdruck in seinem Gesicht. »Du spinnst! Da war nichts!«

Dann schwangen sie sich auf ihre Räder und sprinteten davon. Bevor der Regen einsetzte, hatten sie schon beinahe den Waldrand erreicht.

Und da war doch etwas, dachte Marti.