Leseprobe Das letzte Spiel

1.

Ungeduldig jagte der silberne Porsche Cayenne über die Autobahn, die sich in einem leicht ansteigenden Band aus Kurven immer weiter von der Stadt entfernte. Vor ein paar Stunden war hier noch die blecherne Schlange der Pendler dem Wochenende entgegen gekrochen; nun herrschte stadtauswärts kaum noch Verkehr.

Philipp, den Fuß fest auf dem Gaspedal, blinzelte mürrisch in die untergehende Abendsonne. Er kannte die Strecke auswendig, zählte unbewusst jeden Kilometer, den er noch zu fahren hatte. – Ein einziges kühles Bier im Garten, bevor es dunkel wurde. Das sollte doch machbar sein. Mehr erwartete er nicht.

An einem Freitagabend um diese Zeit nach Hause zu kommen, war keine Seltenheit. Genauer gesagt war es zur Regel geworden. Zu einer deprimierenden Routine, von der Philipp nicht wusste, ob er sie bereits akzeptiert hatte oder noch immer im Stillen bekämpfte. Aber so war es nun mal. Kein Mensch zwang ihn zu dem, was er tat. Die Entscheidung lag ganz bei ihm selbst.

Philipp atmete tief ein und seufzte. Manchmal wünschte er sich mehr Entschlusskraft, mehr Mut. Sich dem Schicksal ohne Widerstand zu ergeben, mochte kurzfristig die bequemere Alternative sein. Auf lange Sicht aber war sie dem konstanten Lebensglück nicht gerade zuträglich. Und mit Mitte dreißig hätte er sich eine gewisse Konstanz durchaus gewünscht, auch wenn er nicht ernsthaft behaupten konnte, unglücklich zu sein. Doch Glück war bekanntlich Ansichtssache.

Hinter einer Biegung tauchten die ersten Dächer von Bad Grünau auf. Ein Haufen pittoresker Gebäude, die sich terrassenartig am Berghang bis zum Waldrand hinaufzogen, von Weitem an feingearbeitete Spielzeugmodelle erinnernd. Der hochgeschossene Glockenturm, der zu der romanischen Kirche im Zentrum des Städtchens gehörte, ragte wie ein mahnender Finger aus dem unruhigen Häusermeer empor.

Der Anblick bewirkte bei Philipp eine sofort spürbare Entspannung. Die Bilder waren ihm vertraut, sie gaben ihm ein wohltuendes Gefühl der Geborgenheit, dessen Wurzeln weit zurück in seine Kindheit reichten. Soeben hatte er die imaginäre Schwelle überschritten, die seine Welt von der Welt der anderen trennte.

Philipp nahm die Ausfahrt – eine Spur zu schnell vielleicht, doch der Wagen war sportlich genug, um solche Sünden nachzusehen –, fuhr vorbei an der Tankstelle, passierte das Schwimmbad und erklomm wenig später die abschüssige Hangstraße, die ihn in das beschauliche Wohngebiet unterhalb des Stadtwalds führte. Zahlreiche Designerbauten, die mit adretten Altbauvillen um die Wette eiferten, verliehen der Gegend eine dezent-exklu­sive Note. Im sanften Abendlicht muteten die schmucken Fassaden hinter gepflegten Vorgärten in einem fast unwirklichen Ausmaß idyllisch an.

Philipp hielt vor einem der älteren Gebäude am Ende einer Seitenstraße. Tanjas Mini war nirgends zu sehen, was darauf hindeutete, dass sie ausgeflogen war. Die Freitage gehörten ihrer Clique. Leute in ihrem Alter, die einen Abend wie diesen lieber in irgendeinem Club in der Stadt verbrachten. Philipp hatte nie Verlangen verspürt, sich dieser Gesellschaft anzuschließen. Unter Tanjas Freunden galt er als Langweiler; eine Einschätzung, die gemeinhin auf Gegenseitigkeit beruhte. Sein Leben folgte anderen Rhythmen. Aber das störte ihn nicht. Sollte sich Tanja doch austoben – so konnte er wenigstens den Feierabend nach seinem Belieben verbringen.

Das Haus, das er nun betrat, war weder groß noch luxuriös, wies aber durch seine schlichte Gradlinigkeit einen eigenen Charme auf. Außerdem besaß es auf der Rückseite einen Garten mit alten Obstbäumen und einigen schönen Rosensträuchern. Philipp hatte es vor ein paar Jahren von seiner Großmutter geerbt und seitdem keine nennenswerten Veränderungen vorgenommen. Natürlich abgesehen von der Einrichtung, die er an moderne Bedürfnisse, hauptsächlich aber an Tanjas Geschmack angepasst hatte. Auf diese Weise war eine behagliche Komposition aus Alt und Neu entstanden. Ein Ort, an dem die Erinnerung ebenso lebendig war wie die Zeichen der Gegenwart, wo das Damals eine versöhnliche Symbiose mit dem Heute eingegangen war.

Philipp zog Jeans und ein bequemes Poloshirt an, nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und begab sich hinaus auf die Terrasse, auf der sich gerade die letzten Sonnenstrahlen wie ein Teppich aus glänzendem Samt ausbreiteten. Die Erschöpfung kam, kaum dass er sich gesetzt hatte. Mit einem matten Stöhnen ließ er sich im Stuhl zurückfallen und sog die frische Abendluft ein, die hier, in der Nähe des Waldes, besonders klar und mild war.

Schon wieder war eine Woche vergangen. Wieder eine Woche, die ihr Netz aus Pflichten und Zwängen über ihn geworfen hatte. Die Zeit floss unbarmherzig an ihm vorüber und schien dabei sein Leben mitzureißen wie einen steuerlosen Kahn. Doch es war nicht die Zeit, die Philipp zu schaffen machte. Vor allem war es die Einsicht, dass er schon lange nicht mehr über sich selbst bestimmen konnte. Er war zu einem Rädchen mutiert, das sich unaufhörlich drehte, um die große Mühle am Laufen zu halten. Jederzeit auswechselbar und dennoch so unentbehrlich, dass er stets das Gefühl haben musste, jede Stunde seiner Abwesenheit würde unkontrollierbare Folgen haben.

Die Beförderung zum Juniorpartner der Sozietät hatte diesen Zustand noch einmal verschärft. Keine Frage, er verdiente gutes Geld; erheblich mehr als andere Anwälte, die sich in kleineren Kanzleien oder als Einzelkämpfer behaupten mussten. Aber dem großen Geld standen ebenso große Opfer gegenüber. Entbehrungen, die weit in sein Privatleben reichten. Und deren Kompromisslosigkeit ihn zusehends zu erdrücken begann.

Philipp schloss die Augen, während das kalte Bier seine Kehle hinunter lief. Ein friedliches Sommerwochenende lag vor ihm, und er beabsichtigte keineswegs, diese Aussicht mit verdrießlichen Gedanken zu trüben.

In diesem Moment klingelte drinnen sein Mobiltelefon. Widerstrebend stand er auf. Das Gerät lag in der Diele, unterhalb der Garderobe. Als er diese passierte, stolperte er fast über die dort demonstrativ abgestellten Joggingschuhe. (Sie sollten ihn an einen jüngst gefassten Vorsatz gemahnen.) Philipp reagierte mit einem Grunzen.

Das Display kündigte seinen Studienfreund Walter an.

Philipp zögerte. Eine plötzliche Unlust hielt ihn davon ab, den Anruf anzunehmen. Er war von dieser Reaktion nicht überrascht, dennoch irritierte sie ihn. Walter Dreyfus war ein langjähriger Weggefährte, mit dem er nicht nur seinen Beruf, sondern auch unzählige private Erinnerungen teilte. Beide kannten sich schon seit der Schulzeit. Da Walter zwei Jahre älter war, war man sich jedoch erst an der Universität wirklich nähergekommen und pflegte seither ein enges und vertrauensvolles Verhältnis. Trotzdem löste die Vorstellung, gleich Walters Stimme zu hören, bei Philipp eine merkwürdige Beklemmung aus. Natürlich ahnte er, was Walter auf dem Herzen hatte. Das alte Thema – langsam sollte es also wieder ernst werden …

Das Klingeln verstummte. Philipp wartete eine Weile, bis er nach dem Telefon griff und die Mailbox abhörte. Walter wollte sich mit ihm auf einen Drink treffen und bat um Rückruf, sobald er Zeit hätte. Philipp zuckte verdrossen mit den Schultern. Dann löschte er die Nachricht und kehrte wieder zurück auf die Terrasse.

Inzwischen war die Sonne fast hinter den Bäumen verschwunden, ein unruhiges Zwielicht hatte sich wie ein gesprenkeltes Gitter über den Garten gelegt. Philipp ging langsam über den Rasen in Richtung des großen Kirschbaums. Die Kirschen hatten bereits eine kräftige Farbe angenommen und hingen wie rote Reben in verschwenderischer Zahl von den Zweigen. Er würde sie demnächst ernten müssen, auch wenn es vermutlich für den größeren Teil keine Verwendung gab. Tanja hatte eine Abneigung gegen jede Art von Hausarbeit, und so würde – wenn sich nicht ein externer Abnehmer fand – am Ende doch wieder nur der Komposthaufen gefüttert werden.

Philipp schüttelte nachsichtig den Kopf. In vielen Aspekten glich Tanja noch immer einem Kind. Ihre ungebrochene Energie (meist konsequent an der falschen Stelle investiert), ihre Traumtänzereien – selbst ihr trotziger Sturkopf: All das übte auch heute noch einen erfrischenden Reiz auf ihn aus. Meistens jedenfalls. Trotzdem gab es Momente, in denen er sich eine Gefährtin mit mehr Einfühlungsvermögen gewünscht hätte. Mit mehr innerer Reife. Tanja war fast zehn Jahre jünger als er, und je älter er wurde, desto größer schien der Unterschied zu werden.

Ein plötzlicher Schauder ließ ihn zusammenfahren. Der Abend hatte seine Kälte ohne Vorwarnung ausgeschüttet. Vom Wald herüberziehend, spürte Philipp einen klammen Luftzug über sein Gesicht streicheln. Mit eiligen Schritten kehrte er dem Garten den Rücken und ging ins Haus.

Dort schnappte er sein Handy und wählte Walters Nummer.

 

Walter hob schon nach dem ersten Klingelzeichen ab. Sie verabredeten sich für halb elf im El Dorado, einer Bar in der Altstadt von Bad Grünau, die für ihre ausgezeichneten Cocktails bekannt war. Philipp nahm den Wagen, obwohl er die kurze Strecke auch hätte zu Fuß gehen können. Aber so fühlte er sich flexibler. Bereit, jederzeit seinen Standort zu wechseln – oder einfach in sein Nest zurückzukehren, wenn ihm danach war. Er wusste, dass sich Treffen mit Walter in die Länge ziehen konnten, vor allem wenn sein Freund anfing, von alten Zeiten zu plaudern, oder sich im Schmieden gemeinsamer Pläne erging.

Es stellte sich heraus, dass das El Dorado an diesem Abend gut besucht war. Die Bar befand sich im Keller eines liebevoll restaurierten Fachwerkhauses, am oberen der beiden Marktplätze, und vermittelte durch ihre niedrige Gewölbedecke den Eindruck einer wohlberechneten Enge.

Philipps Bedenken, keinen Platz zu bekommen, wurden zerstreut, als er Walter in einer Nische sitzend erblickte. An der Wand hatte man farbenfrohe Fotografien aufgehängt. Karibische Impressionen – oder zumindest etwas, das bei Philipp entsprechende Vorstellungen hervorrief.

Sie begrüßten sich herzlich. Philipp sah seinem Gegenüber an, dass ihn etwas beschäftigte, empfand es aber nicht als dringend, das Thema von sich aus zur Sprache zu bringen.

Philipp bestellte seinen Lieblingscocktail, einen Planter’s Punch mit einem Extraschuss Ananassaft. Walter blieb – wie immer, wenn er sich in einer Trainingsphase befand – bei alkoholfreiem Iso-Bier. Während sie auf die Getränke warteten, berichtete Walter von irgendeinem Volkslauf, an dem er diesen Sonntag teilnehmen würde. Philipp bemühte sich, interessiert zu wirken. Die detailverliebten Schilderungen seines Hobbys, in welche sein Freund gerne verfiel, konnten ihn schnell langweilen. Andererseits empfand er aufrichtige Bewunderung für Walters Begeisterung, wünschte sich hiervon sogar heimlich ein kleines Stück für sich selbst.

»Ich sollte mich auch mal wieder bewegen. Die Schuhe stehen bereit, allein die Motivation lässt auf sich warten.«

Walter kommentierte mit aufmunternden Worten, hinter denen sich, wie Philipp wusste, echte Anteilnahme verbarg. Laufsport war für Walter eine Herzensangelegenheit, allen Bestrebungen in diese Richtung brachte er gleichermaßen Wohlwollen und Respekt entgegen.

Nachdem die Bestellung serviert worden war, stießen sie auf Walters kommenden Wettkampf an. Der Cocktail war gut, so wie Philipp ihn liebte. Das feine Aroma der Ananas verursachte ein Prickeln auf seiner Zunge, blies einen Hauch von Exotik in seine Nase. Unwillkürlich verfing sich sein Blick an einem der Fotos, das an der Wand hinter Walter hing. Ein altes Fischerboot vor dem Panorama eines bunten Hafenstädtchens. Das Bild gefiel ihm. Philipp mochte das Meer, seine Weite, seine Gleichförmigkeit. Und er mochte auch das kleine Boot, das dem großen Ozean mit weiser Gelassenheit zu trotzen schien. Es würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, dachte er, ganz gleich, was ringsumher geschah. Unbekümmert, zeitlos, dem stetigen Rhythmus des Wassers folgend. – Mit einem Mal wurde Philipp bewusst, wie gerne er selbst in dem Boot gesessen hätte …

»Wie war deine Woche?« Walters Stimme riss ihn wie eine Ohrfeige aus seinen Gedanken.

Philipp hob mechanisch die Hände und ließ sie wieder auf die Tischplatte sinken, als wolle er damit die Banalität der Frage wie auch der Antwort betonen. »Ganz in Ordnung. Du weißt ja, wie es ist.«

Walter nickte vielsagend. Er wusste es tatsächlich, war er doch selbst viele Jahre Anwalt in einer großen Wirtschaftskanzlei gewesen. Aufreibende Jahre, in denen sie sich gegenseitig ihr Leid geklagt hatten. Am Ende von langen Arbeitstagen, in irgendwelchen lärmenden Kneipen, um sich gegen den Trubel des nächsten Tages zu betäuben. In dieser Zeit hatte Walter rund zwanzig Kilo zugelegt, und Philipp war in Sorge gewesen, die Gesundheit seines Freundes würde bleibenden Schaden nehmen. Doch Walter war vernünftig gewesen. Anders als Philipp hatte er rechtzeitig die Notbremse gezogen, hatte sich nicht vom Zauber des Geldes fesseln lassen. Nach seiner Kündigung war er ein befristetes Arbeitsverhältnis mit irgendeinem Verband eingegangen. Nichts Aufregendes, aber begleitet von den nötigen Freiräumen, die er für sich und seine Interessen benötigte.

»Und bei dir?«

Ein unsicheres Grinsen huschte über Walters Gesicht. »Der gewohnte Kleinkrieg an der Bürokratenfront. Nicht der Rede wert.« Nach einer kurzen Pause nahm er eine ernstere Haltung ein und setzte hinzu: »Sicher hast du nicht vergessen, dass mein Vertrag in zwei Monaten ausläuft.«

Feststellung, Frage und Anklage. Philipp unterdrückte ein Seufzen. – Dann also doch.

»Nein, natürlich nicht. Du erinnerst mich ja oft genug daran. – Und nun? Wie soll es weitergehen?«

Walter schabte zögerlich am Etikett seiner Bierflasche. »Ich habe mir in den letzten Tagen einige Büroimmobilien angesehen. Eine liegt in der Altstadt, nicht weit von hier. Gut geschnitten, schöne Räume – ideal für zwei Berufsträger.« Er sah Philipp auffordernd an, als erwarte er Anzeichen von Begeisterung, doch Philipp nickte nur stumm.

»Die Konditionen erscheinen mir gut. Momentan sind Büroräume in Bad Grünau schwer zu bekommen. Ich werde mich in der nächsten Woche entscheiden müssen, sonst geht das Angebot flöten.«

»Du willst es also tatsächlich durchziehen?« Philipp fühlte sich durch den plötzlichen Eifer seines Freundes überrumpelt. Er hatte zwar damit gerechnet, aber nun ging ihm die Sache entschieden zu schnell.

»Natürlich will ich! Wir haben das doch unzählige Male diskutiert. Die eigene Kanzlei – das Ziel, auf das wir hinarbeiten wollten, das uns ein Stück Freiheit zurückgeben sollte …«

Philipp zuckte vage mit den Schultern. Der Plan, sich gemeinsam als Rechtsanwälte in Bad Grünau niederzulassen, war fast so alt wie ihre Freundschaft. Mit den Jahren war er manchmal in den Hintergrund getreten, aber nie gänzlich verschwunden. Je höher der Frustpegel gestiegen war, desto ambitionierter hatten sie das Thema erörtert, hatten sich an den Gedanken geklammert wie an einen Rettungsring, der sie irgendwann vor dem Ertrinken bewahren würde.

»Du gehst doch inzwischen auf dem Zahnfleisch. Willst du wirklich so weitermachen?«

Philipp rang sich ein Lächeln ab. »Du kennst meine Bedenken. Ich habe ein Haus zu unterhalten, zwei Autos und ganz nebenbei noch eine verwöhnte Dauerstudentin, die imstande wäre, ein Monatsgehalt in eine Handtasche zu investieren. Unter diesen Voraussetzungen kann ich mir finanzielle Experimente kaum erlauben.«

Den Vortrag, der nun folgte, kannte Philipp auswendig. Walter war immer ein Optimist gewesen – und er war eitel. Auf seine eigenen Fähigkeiten ließ er nichts kommen, und so stand außer Frage, dass auch diese Herausforderung kein Hindernis darstellen durfte. Philipp war anders. Zurückhaltender, sicherheitsbedürftiger. Er war sich der Gefahren bewusst, die ein Sprung in die lokale Selbstständigkeit mit sich brachte. Doch gleichzeitig sah er ein, dass genau dies der Weg war, den er sich wünschte. Seine persönliche Flucht in die Zukunft, heraus aus einer Welt, die ihm verhasst war, die im Begriff war, ihn immer weiter von sich und seiner Umgebung zu entfremden.

Philipp fühlte, wie sich eine tiefe Müdigkeit in ihm ausbreitete. Die plötzliche Leere in seinem Kopf ließ Walters Worte wie ein entferntes Echo klingen. Wie eine hohle Predigt, die überzeugen wollte, wo es keiner Überzeugung bedurfte. Allenfalls Überredung. Oder einfach nur Mut?

»Lass uns nach dem Wochenende noch einmal darüber sprechen«, unterbrach er seinen Freund. »Heute bin ich nicht mehr in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.«

Walter sah ihm abfällig in die Augen. »Und genau das ist das Problem, mein Lieber! Das Hamsterrad hat dich derart im Griff, dass du nicht einmal die Kraft aufbringst, über Auswege nachzudenken. Traurig ist das –« Er brach ab und beugte sich ein Stück vor, ehe er hinzufügte: »Und auf lange Sicht auch keineswegs ungefährlich.«

Philipp fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Rand seines leeren Glases. »Vielleicht hast du recht. Allzu lange sollte man Entscheidungen nicht aufschieben, dafür ist das Leben zu kurz.« Er stand auf. »Lass uns das Thema vertiefen, sobald ich wieder einen klaren Kopf habe.«

Sie zahlten, Philipp bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen. Als sie wenig später nach draußen traten, fühlte er sich sogleich befreiter. Die kühle Nachtluft war ein willkommener Kontrast zu der drückenden Atmosphäre in der Bar.

»Übrigens, bevor ich es vergesse: Wie wäre es mit ein paar Kilo Kirschen?«

Walter musste ungewollt schmunzeln. »Jedes Jahr dasselbe, was? Wann suchst du dir endlich eine Frau, die wenigstens Kirschkuchen backen kann?«

Stumm schlenderten sie in Richtung des Parkplatzes. Philipp war froh, dass ihm Walter sein Zaudern nicht allzu übel nahm. Das Angebot, ihn zu Hause abzusetzen, schlug er jedoch aus. Walter zog es vor zu laufen, auch wenn dies zwanzig Minuten Fußmarsch bedeutete, aber für einen Sportler war das wahrscheinlich eine Frage der Ehre.

Dann verabschiedeten sie sich.

 

Gegen halb eins war Philipp zu Hause. Die Wohnung war dunkel, aber Tanjas Auto stand nun an der Straße. Offenbar war sie schon zu Bett gegangen. Ihre frühe Rückkehr bedeutete, dass sie ausnahmsweise auf das große Abendprogramm verzichtet hatte.

Auf der Ablage starrte ihn sein Smartphone an (ihm war gar nicht aufgefallen, dass er es vergessen hatte). Vier E-Mails aus dem Büro und drei weitere von Mandanten – nichts, was nicht bis Montag warten konnte, entschied er. Außerdem zwei verpasste Anrufe von Tanja … Philipp fühlte eine leichte Unruhe in sich wachsen. Sicher hatte es ihr nicht geschmeckt, dass er ausgegangen war, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Hatte sie etwa vorgehabt, den restlichen Abend in Zweisamkeit zu verbringen? Ein sanfter Zug trat in sein Gesicht. Auf die Idee, ihm ihre Wünsche rechtzeitig mitzuteilen, würde Tanja natürlich nie kommen!

Wenig später lag er im Bett. Die regelmäßigen Atemzüge an seiner Seite und der zarte Bulgari-Duft woben ein feines Netz der Geborgenheit, das sich langsam wie eine wärmende Decke über ihn legte. Philipp spürte ein Lächeln in seine Mundwinkel gleiten. Mit einem Mal hatte er das Bedürfnis, Tanja auf die Wange zu küssen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab.

Also ließ er es bleiben und schlief bald danach ein.

2.

Am nächsten Morgen war Philipp gegen neun Uhr auf den Beinen. Er fühlte sich ausgeruht, bereit für einen freien Tag ohne Eile und Verabredungen. Tanja war schon aufgestanden und räumte gerade ihr Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine, als er mit einem heiteren Lächeln die Küche betrat.

»Guten Morgen, Prinzessin!«

»Morgen«, murmelte sie zerstreut, während sie eine verbrannte Toastbrotscheibe in den Abfalleimer gleiten ließ. Philipp wartete auf einen Kommentar wegen des gestrigen Abends, doch Tanjas Gedanken schienen woanders zu weilen.

»Ich will spätestens um vier zurück sein«, erklärte sie unvermittelt. »Dann kann ich mich vorher noch etwas ausruhen. Es dürfte reichen, wenn wir kurz nach acht aufschlagen, was denkst du?«

Tanjas Gedankensprünge waren zuweilen abenteuerlich. Philipp musste sich einen Augenblick besinnen, bevor er begriff, was sie meinte. Doch dann erinnerte er sich mit Schrecken: Die Geburtstagsparty ihres Vaters! Tanja hatte zugesagt, Frau Pirol, der Haushälterin des alten Herrn, bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen. Ein unbedachtes Versprechen, das sie jetzt vermutlich bereute. Jedenfalls machte sie keinen besonders fröhlichen Eindruck, fand Philipp.

»Je später wir kommen, desto schneller haben wir es hinter uns«, erwiderte er in einem Tonfall, der nur bedingt ironisch klang.

Tanja bemühte sich, eine missbilligende Miene aufzusetzen. »Ich bin sicher, du wirst es auch dieses Jahr überstehen. Hauptsache, du fängst nicht wieder einen Streit mit Papa an!«

Philipp runzelte die Stirn. Er würde heute Morgen keine Diskussion über dieses Thema führen, entschied er. Dass er mit Tanjas Vater regelmäßig aneinander geriet, war kein Geheimnis. Seiner Ansicht nach lag die Schuld daran keineswegs bei ihm. Aus einem unerfindlichen Grund konnte ihn der Alte nicht ausstehen. Und da Tanja hierfür ebenfalls keine Erklärung hatte, war es nun einmal einfacher, Philipp die Verantwortung zuzuschanzen.

»Ich werde mir Mühe geben.«

Tanja gab ein leises Stöhnen von sich, unterließ aber weitere Bemerkungen. Ein flüchtiger Wangenkuss, dann brach sie auf.

Philipp nahm ein Tablett und setzte sich, leise vor sich hin pfeifend, im Pyjama auf die Terrasse. Zwei Scheiben Toast, etwas Joghurt, einige Tassen starken Kaffee, mehr brauchte er nicht. Obwohl nicht einmal halb zehn, lag schon jetzt eine hochsommerliche Schwüle in der Luft. Einige dicke Quellwolken hingen am Himmel, vielleicht würde es später am Tag noch ein Gewitter geben.

Nach dem Frühstück zog er seine älteste Hose an, dazu eines der löchrigen T-Shirts, die er zum Heimwerken aufbewahrte. Er wollte den Vormittag nutzen, um einige längst überfällige Arbeiten zu erledigen. Als Erstes machte er sich daran, den Zaun zum Nachbargarten zu reparieren. Einige Drahtmaschen hatten sich gelöst, konnten aber mit der Zange leicht befestigt werden. Dann wechselte er die Glühbirne im Geräteschuppen und justierte anschließend in einem langwierigen Verfahren den Bewegungsmelder neben dem Hauseingang neu.

Gegen Mittag war er fertig. Er ging ins Haus zurück und briet sich Rührei mit Schinken. Großen Appetit hatte er nicht, sicher würde ihn am Abend ein Gelage lukullischen Ausmaßes erwarten. Seine aufwendigen Geburtstagsempfänge waren von Tanjas Vater zum Statussymbol erhoben worden, mit dem er die Provinzprominenz jedes Jahr aufs Neue zu beeindrucken suchte. Und das Erbärmliche war, dass er damit stets Erfolg hatte und sich angespornt fühlte, den Triumph im Folgejahr zu überbieten. Heute Abend würde Philipp dem Possenspiel ein weiteres Mal beiwohnen – bei dem Gedanken daran schüttelte es ihn. Doch im Augenblick wollte er sich mit diesem Thema nicht weiter belasten.

Langsam fuhr er sich durch sein glattes, schwarzes Haar. Was sollte er mit dem beginnenden Nachmittag anfangen? Einen Moment lang erwog er, seine Joggingschuhe zu schnappen, verwarf den Gedanken aber sogleich. Nach dem Essen wäre das idiotisch. Außerdem hatte er insgeheim andere Pläne, die er sich bloß noch nicht eingestehen wollte.

 

Kurz vor zwei fiel die Entscheidung. Nachdem er geduscht, sich rasiert und das Niveau seiner Garderobe angehoben hatte (Philipp trug jetzt ein sandfarbenes Freizeithemd mit offenem Kragen und eine leichte Leinenhose), stieg er ins Auto und fuhr los.

Er nahm die Bundesstraße, die an Bad Grünau vorbei durchs Tal nach Westen lief. Nach einigen Kilometern bog er auf eine kleinere Landstraße ab, die ihn durch eine Handvoll verschlafener Dörfer führte, bis er schließlich hinter einem Wäldchen einen Punkt erreichte, an dem zwei gegenläufige Schotterpfade von der Fahrbahn abzweigten. Ein Wegweiser war nicht in Sicht. Er hatte eine vage Vorstellung, wo sein Ziel liegen mochte, war sich aber über die genaue Position keineswegs sicher. Intuitiv nahm er den linken Weg, der sich bald wie eine Schneise durch hohe Weizenfelder wand. Obwohl die Fenster geschlossen waren, drang der Duft des reifen Getreides bis ins Innere des Wagens vor; von unten prasselten Steinchen gegen den Fahrzeugboden.

Zwei Minuten später wusste Philipp, dass er richtig lag. In einiger Entfernung schimmerte das blau angestrichene Dach der großen Halle durch die Baumwipfel, daneben das hufeisenförmige Hauptgebäude, hinter dem sich die Ställe befinden mussten.

Der Erlenhof.

Automatisch verringerte er das Tempo und rollte verhalten auf das Anwesen zu. Als Kind, entsann er sich, war er hier einige Male mit seinen Großeltern gewesen, hatte die Pferde bestaunt, den Reitunterricht beobachtet. – Plötzlich sah er sich wieder am Rand des sandigen Platzes stehen: Lachende Kinder traben auf Ponys an ihm vorüber, fröhliche Rufe stolzer Mütter und Väter schallen über das Gelände; neben ihm zwei graue Herrschaften mit ernsten Gesichtern, ihn fest an der Hand haltend, als hätten sie Angst, er würde gleich losrennen und sich zwischen die Tiere in den Staub werfen …

Damals hatte er zum ersten Mal gespürt, dass etwas nicht so war wie bei den anderen – dass ihm etwas fehlte, dessen Bedeutung ihm zu dieser Zeit nur unterschwellig bewusst war. Und dieses Gefühl war immer wieder gekommen, jedes Mal wenn sie auf dem Erlenhof gewesen waren und er die Kinder auf den Ponys beobachtet hatte. – Bis er irgendwann behauptet hatte, dass ihn Pferde nicht mehr interessierten, und seine Großeltern daraufhin nicht mehr hergefahren waren …

Die Bilder hatten ihn ganz unvermittelt getroffen – wie ein bleicher, böser Geist. Philipp zuckte unwillkürlich mit dem Kopf, als wollte er die Erinnerung so schnell wie möglich abschütteln. Was gestern war, zählte nicht. Heute waren es andere Gründe, die ihn herführten.

Er parkte den Cayenne in gebührendem Abstand am Wegesrand. Dann schlenderte er zu Fuß den Feldweg entlang, der wie eine Schleife um den Hof kreiste, sich bald näherte, bald von ihm entfernte, passend zu der seltsamen Unschlüssigkeit, die Philipp plötzlich wieder überkommen hatte. Hinter der zweiten Kurve kreuzte eine Gruppe reitender Mädchen. Sie grüßten artig von ihren Pferden hinab, Philipp erwiderte mit einem Lächeln. Nachdem sie ihn passiert hatten, vernahm er verhaltenes Kichern. Typische Laute Pubertierender, linkisch, unsicher – doch jetzt schienen sie Philipp selber zu verunsichern. Auf einmal schämte er sich, dass er hier herumschlich wie ein streunender Hund, der nicht wusste, wo er hingehörte. Hastig machte er kehrt und marschierte schnurstracks zu den Gebäuden.

Dort musste er verblüfft feststellen, dass sich in all den Jahren kaum etwas verändert hatte. Das Gut war ein echtes Kleinod. Der große, gepflasterte Innenhof wurde von einem dreiseitigen Backsteinkomplex eingefasst, unter dessen Fensterbänken überquellende Kästen mit roten Geranien hingen. Zur Linken schloss sich der Übungsparcours an, weiter hinten stand eine halboffene Reithalle.

Das Areal wirkte wie ausgestorben. Allein in der hinteren Ecke des Hofs hievte ein junger Bursche Strohballen von einem Anhänger herab. Philipp beobachtete ihn eine Zeit lang verstohlen, dann ging er langsam um den Seitenflügel herum, bis er zu den Stallungen gelangte. Hier war es etwas belebter, Kinder schleppten Sättel umher, ein paar Frauen waren mit Pferden zugange; über allem hing der süßlich-herbe Geruch von Stallmist.

Keine Menschenseele nahm Notiz von ihm.

Es verging eine Weile, bis er Viola entdeckte. Sie stand vor einer der Boxen und war gerade dabei, einen ansehnlichen Schimmel zu bürsten (Philipp erinnerte sich, dass sie ein eigenes Pferd besaß, sie hatte es ihm gegenüber einmal erwähnt). Wie immer, wenn er sich in Violas Nähe begab, verspürte er eine leichte Nervosität in sich keimen. Kein unangenehmes Gefühl, eher anregend, aber in gewisser Weise auch unberechenbar.

Er atmete tief ein und ging gemessenen Schrittes in ihre Richtung, bis sie ihn mit einem Ausruf freudiger Überraschung bemerkte. »Du hast tatsächlich hergefunden!« Ein strahlendes Lächeln grub sich in ihre Wangen, die vor Anstrengung leicht gerötet waren.

»Aber klar!«, gab Philipp mit gespielter Lässigkeit zurück. »Komme ich ungelegen?«

Viola warf grinsend den Kopf in den Nacken. »Du hast Glück, ich kehre soeben zurück. Wegen der Hitze war der Ausritt ziemlich beschwerlich, Tristan ist ins Schwitzen geraten.« Während der letzten Worte hatte sie dem Schimmel sanft auf den weiß-gescheckten Hals geklopft, bis er ein nasales Geräusch des Wohlbehagens von sich gab. Philipp bewunderte die Sicherheit, die Anmut, die Viola im Umgang mit dem mächtigen Tier offenbarte. Diese Frau wusste, was sie tat, und ihr Umfeld schien dies zu spüren, ohne dass sie irgendetwas dazu beitragen musste.

»Ich bin mit Tristan jeden Augenblick fertig. Wenn du dich noch etwas geduldest, könnten wir einen kleinen Spaziergang machen.«

Philipp nickte. Zufrieden schlenderte er zurück zum Hauptgebäude, setzte sich auf eine der Holzbänke vor der Hauswand und streckte die Beine aus. Der Stalljunge war mittlerweile verschwunden. Vor ihm tat sich ein einträchtiges Bild auf. Ein Stillleben in weichem Pastell, dessen warme Farben seine kindlichen Erinnerungen fast gänzlich überdeckten.

Den Kopf gegen die Mauer gelehnt, schloss Philipp die Augen. – Warum war er hergekommen? Was hatte ihn gelockt? Genügten ihm die Abende in der Stadt nicht mehr? – Bisher hatten sie sich stets nach der Arbeit, in irgendwelchen Restaurants oder Bars getroffen. Zuletzt vergangenen Dienstag in einem dieser hippen Innenstadt-Clubs, die Philipp alleine nie betreten hätte. Es war ein denkwürdiger Abend geworden. Einer dieser seltenen Momente, in denen er sicheren Halt verspürte und sich zugleich fallen lassen konnte, ohne dass es ihm etwas ausmachte. Die ganze Nacht hindurch hatten sie getanzt und Gin Tonic getrunken. Bis Viola irgendwann ohne Ankündigung verschwunden war und Philipp ein Taxi nach Hause hatte nehmen müssen.

War er deshalb hier? Wollte er Viola unbewusst aus der Dunkelheit holen, sie dem Schatten der Nacht entziehen? Der Flüchtigkeit eines späten Feierabends, der den Blick auf die Realität vernebelte? – Oder war es gar der brüchige Reiz, Viola ausgerechnet hier zu treffen? Um sich zu holen, was ihm dieser Ort schuldig geblieben war?

Ein Meer aus Fragen schäumte in seinem Kopf. Antworten wusste er nicht. Und noch weniger wusste er, wie das Ganze ausgehen sollte. Er würde das Spiel nicht immer so weitertreiben können. Bisher hatte sich Tanja mit dem Hinweis auf berufliche Termine zufriedengegeben. Aber Philipp durfte nicht auf unbegrenztes Vertrauen setzen. Und auch Viola würde irgendwann merken, dass es noch jemand anders in seinem Leben gab. Wahrscheinlich ahnte sie es bereits. Sonderbarerweise hatten sie noch nie darüber gesprochen.

»Hey, nicht einschlafen!«

Philipp schlug die Augen auf und sah in das fröhliche Gesicht von Viola, die ein paar Meter vor ihm stand. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt Jeans und eine schlichte weiße Sportbluse, dazu ein fliederfarbenes Halstuch, lässig umgebunden, als harmonischen Kontrast zu ihren haselnussbraunen, leicht gewellten Haaren. Lächelnd schwang er sich von der Bank, ging auf sie zu und küsste sie auf die Wange. Auch bei Tageslicht wirkte ihr Gesicht annähernd makellos.

»Schön, dass du dich erinnert hast«, sagte sie fast flüsternd, während sie sanft über seinen Arm strich.

Natürlich hatte er sich erinnert, schließlich hatte sie ihm ja wiederholt vom Erlenhof berichtet, hatte ihn sogar eingeladen, sie dort zu besuchen.

Fröhlich plaudernd verließen sie den Hof, bogen auf einen Spazierpfad ab, der in die entgegengesetzte Richtung des Wegs führte, auf dem Philipp gekommen war. Sofort stellte sich wieder dieses Gefühl vertrauter Geborgenheit ein, das ihn bei jeder ihrer Begegnungen nach kurzer Zeit wie ein wärmender Strom durchdrang. Viola strahlte etwas aus, das er nur schwer fassen konnte. Alles, was sie tat und sagte, passte auf vollkommene Weise zusammen, zeugte von einer tiefen Einsicht und war doch von einer schlichten Unkompliziertheit, die Philipp jedes Mal aufs Neue fesselte.

Munter marschierten sie vorbei an Feldern und frisch gemähten Wiesen, auf denen gelegentlich graue Fischreiher wie steinerne Denkmäler standen. Der Weg führte an einem kleinen Bach entlang, der auf beiden Seiten von Birken und vereinzelten Weiden gesäumt wurde. Viola erzählte von ihrem Job in der Unternehmensberatung, von den Projekten, an denen sie arbeitete und von den Menschen, mit denen sie zusammenkam. Sie tat dies mit einer Begeisterung, zu der Philipp selbst nie fähig gewesen wäre, und nicht ohne einen stillen Anflug von Bitterkeit musste er sich eingestehen, dass Viola offensichtlich Spaß hatte an dem, was sie machte.

»Wusstest du, dass Philipp ›der Pferdefreund‹ bedeutet?« Ihre Frage kam unvermittelt, als sie gerade das Gatter einer verwaisten Pferdekoppel passierten.

»Ich habe einmal darüber gelesen«, bekannte er. »Leider habe ich dem Namen bisher keine Ehre erwiesen. Als Kind wollte ich eine Zeit lang Ponyreiten –« Er brach ab und zuckte ratlos mit den Schultern. »Aber es hatte sich irgendwie nie ergeben.«

Viola nickte stumm. Philipp kam es vor, als ob sie die leichte Beklemmung bemerkt hätte, doch sie stellte keine Fragen. Und plötzlich wusste er, dass sie ihn verstand. Ohne Erklärung, ohne Begründung. Es war eine Erkenntnis, die ihn berührte – und die doch zugleich eine Verunsicherung in ihm auslöste, wie er sie selten empfunden hatte.

Inzwischen war der Reiterhof außer Sichtweite. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt, in der Ferne konnte man erste Donnerschläge vernehmen.

»Lass uns umkehren, bevor der Regen kommt.« Er ergriff ihre Hand und beschleunigte das Tempo. Es irritierte ihn, dass er den Wetterumschwung nicht bemerkt hatte. Wieder einmal war er derart in Violas Bann geraten, dass er jeden Blick für seine Umwelt verloren hatte. Und auch wenn es in diesem Fall eher harmlose Folgen haben würde, wusste Philipp, dass dies schon bei nächster Gelegenheit anders sein konnte.

Die ersten Tropfen fielen. Philipp nahm wahr, wie sich Violas Hand fester um die seine klammerte. Sie hätten jetzt einfach losrennen können, aber sie taten es nicht. Stattdessen schritten sie gleichmäßig nebeneinander her und ließen die weichen Tropfen auf sich niedergehen als wären es Blütenblätter, die der Himmel über ihnen ausstreute. Ein merkwürdiger Moment, dem auf eigene Weise etwas Sinnliches anhaftete.

Nach etwa hundert Metern erreichten sie den kleinen Unterstand, an dem sie wenige Minuten zuvor vorbeigekommen waren. Ein klappriges Rondell aus morschen Brettern, das in früherer Zeit als Raststätte für Wanderer gedient haben musste. – Jedenfalls besser als nichts, meinte Philipp.

Eine Weile standen sie stumm in dem engen Verschlag und beobachteten das Unwetter, das sich draußen entlud. Ein paarmal ließ Philipp – wie zufällig – verstohlene Blicke auf Viola gleiten. Die durchnässte Bluse klebte auf ihrer Haut und bildete ihre Proportionen in vollkommenen Formen ab. Er fühlte eine Erregung in sich aufsteigen, die ihn beschämte. War er im Begriff, den einen Schritt zu viel zu machen? Den Schritt, der kaputtmachen würde, was er mühsam zusammenzuhalten versuchte …

In diesem Moment zog ihn Viola an sich. Ihr Kuss war wie eine Explosion, die jäh alle Gedanken in Philipps Kopf wegfegte. Die Leidenschaft, die sie ihm entgegenwarf, war so heftig, dass er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Berauscht von der Plötzlichkeit des Augenblicks schoben sie sich weiter hinein in die schmale Hütte. Philipp spürte die rauen Bretter an seinem Rücken reiben. Ihm war, als würde er im tosenden Wasser eines stürmenden Ozeans versinken. Doch statt sich zu wehren, ließ er sich treiben, ließ sich immer tiefer in den Sog fallen, der ihn umgab. Bis er schließlich ganz und gar in den heißen Fluten ertrank.

Als sie eine halbe Stunde später auf den Erlenhof zurückkehrten, hatte es aufgehört zu regnen. Es war bereits halb fünf, Philipp musste sich beeilen, um nicht Tanjas Unmut zu riskieren. Mit Viola verabredete er sich für die kommende Woche, ohne einen bestimmten Tag festzulegen. Dann fuhr er so schnell er konnte nach Hause.

***

Marti saß auf der wackeligen Holzbank und beobachtete vergnügt, wie sein Freund Lukas langsam die quadratische Fläche umkreiste, unschlüssig, wie er auf Martis neuerlichen Vorstoß reagieren sollte. Das Schachfeld bestand aus hellen und dunklen Steinplatten, die man vor vielen Jahren in den weichen Waldboden eingelassen hatte. Witterung und Moosbefall ließen die ursprüngliche Färbung kaum noch erkennen. Um die etwa hüfthohen Spielfiguren aus rauem Kunststoff, die verstreut auf dem Feld standen, war es nicht viel besser bestellt, aber immerhin waren sie vollzählig gewesen.

Eigentlich hatten sie ihre Radtour nur für eine kurze Rast auf dem alten Waldfestplatz unterbrechen wollen. Doch als Marti beim Pinkeln das Spiel entdeckt hatte, etwas abseits auf einer Lichtung gelegen, hatte er Lukas spontan zu einer Partie überredet.

Mit konzentrierter Miene versetzte dieser soeben einen der weißen Bauern. Marti musste grinsen. Eine bessere Vorlage hätte ihm sein Freund nicht geben können. Er nahm einen Schluck aus seiner Bierdose und stand auf. Nur einen Augenblick später hatte die schwarze Dame den Läufer geschlagen. Lukas war doch wirklich blind wie ein Maulwurf!

»Mist, nicht gesehen!« Unzufrieden trat Lukas mit dem Fuß gegen die verlorene Figur, die jetzt achtlos neben dem Spielfeld kullerte. In diesem Moment ließ ein leises Rascheln im Unterholz die Jungen aufhorchen. Marti, in Richtung des Geräuschs starrend, war sich plötzlich sicher, eine Bewegung bemerkt zu haben. Einen flüchtigen Schatten, der für den Bruchteil einer Sekunde hinter den Baumstämmen aufgetaucht zu sein schien.

»Hast du das auch gesehen?«

»Was?«

»Den Schatten dort hinten.«

Lukas ließ seinen Blick über die Bäume streifen, die sich wie düstere Säulen in der Tiefe des Waldes verloren. Dann zuckte er mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ein Tier vielleicht?«

Marti war nicht überzeugt. Während sich sein Freund wieder dem Schachfeld zuwandte, versuchte er vergeblich, in dem dichten Gehölz irgendetwas Ungewöhnliches zu erspähen. Mittlerweile hatte sich eine graue Wolkendecke vor die Sonne geschoben, die dem Wald alle Farben raubte und ihn wie einen konturlosen Verschnitt aus dunkelgrünen Schemen erscheinen ließ.

»Hüh, alter Gaul!« Lukas hatte seinen Springer ins Spiel gebracht. Doch Marti war nicht mehr bei der Sache. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass dort hinten etwas war, was nicht hergehörte. Irgendetwas – irgendjemand, der aus der Dunkelheit getreten war, um ihnen klarzumachen, dass sie hier nichts verloren hätten …

Geistesabwesend schob er die schwarze Dame auf ihre Ausgangsposition. Lukas wollte diesen Rückzug mit Hohn beschenken, doch seine Worte wurden von einem jähen Donner übertönt, der sie zusammenzucken ließ. Wie ein heftiger Kanonenschlag, der aus den Weiten des Waldes von allen Seiten zu ihnen hallte.

»Ein Gewitter!«

»Lass uns abhauen!«

Hastig schnappten sie ihre Rucksäcke und liefen das kurze Stück zur Festwiese, wo ihre Fahrräder standen. Bei Gewitter im Wald zu sein, war ebenso töricht wie gefährlich! – Unwillkürlich warf Marti einen letzten Blick zurück zum Spiel. Eine seltsame Stimmung hatte sich über die Lichtung gelegt. Die Firnis von etwas Bedrohlichem, etwas Ungreifbarem. Die Figuren erschienen Marti mit einem Mal wie finstere Gestalten. Kalt und feindselig. Dämonen, die ihn hinter gesichtslosen Masken anstarrten. Seine Irritation war einem tiefen Unbehagen gewichen.

Lukas bemerkte den angsterfüllten Ausdruck in seinem Gesicht. »Du spinnst! Da war nichts!«

Dann schwangen sie sich auf ihre Räder und sprinteten davon. Bevor der Regen einsetzte, hatten sie schon beinahe den Waldrand erreicht.

Und da war doch etwas, dachte Marti.

3.

Als Philipp kurz nach zwanzig Uhr in den Platanenweg einbog (eine der nobelsten Adressen von Bad Grünau), war dieser bereits auf beiden Seiten mit Fahrzeugen zugestellt. Mit Glück fand er eine Parklücke, allerdings so abgelegen, dass er mit Tanja fast die gesamte Straße zurücklaufen musste.

»Dein Vater scheint die halbe Stadt eingeladen zu haben!«

Tanja gab einen argwöhnischen Seufzer von sich. Ihre Schuhe waren für Fußmärsche auf grobem Asphalt kaum geeignet.

Kurz darauf standen sie vor Nummer acht, einem auffallenden Gebäude, das zurückgesetzt hinter einer breiten Rasenfläche lag. Auf den ersten Blick wirkte das fünfeckige Haus wie eine Mischung aus Ritterburg und Bürobau. Die leicht gewundene Fassade aus braunem Granit wurde von einer Vielzahl gläserner und metallener Elemente durchbrochen, die, jeder Symmetrie zum Trotz, wie arabesker Besatz aus der Wand sprangen, als wollten sie das Auge des Betrachters mit ihrer Überflüssigkeit beeindrucken. An der Rückseite zog sich ein runder, gedrungener Turm empor, der im unteren Bereich mit dem Hauptgebäude verschmolz, dann aber fast zehn Meter in die Höhe ragte und von einem Kranz bronzefarbener Zinnen bekrönt wurde. Tanja behauptete, dass ihr Vater diesen Teil als Aktendepot nutzte, aber so wirklich wusste niemand, was der Alte dort oben trieb.

Wie immer, wenn Philipp herkam, stieß ihn der Anblick ab. Ein Gebräu aus Protz und Geschmacklosigkeit, fand er. Und dennoch absolut konsequent: Das, was er sah, war der steingewordene Charakter seines Erbauers. Das perfekte Abbild eines Mannes, der keinerlei Kompromisse zuließ, der sich rücksichtslos über alles erhob, was ihn umgab.

Frau Pirol öffnete die Tür und entließ sie in die weitläufige Halle, in der sich schätzungsweise drei Dutzend Gäste tummelten. Geblümte Jazzklänge mischten sich unter das Geplapper und erzeugten die für Veranstaltungen dieser Art so typische gezwungen-heitere Atmosphäre. Philipp überkam eine heftige Unlust, sich auch nur einen Schritt weiter in diese Kulisse hineinzubewegen.

Im selben Moment kam eine unförmige Frau in einem wild orange-blau gemusterten Umhang auf Tanja zugestürmt. »Wenn das nicht die Tochter des Hauses ist! Es muss Jahre her sein …« Sie warf einen unsicheren Blick auf Philipp, dem das zerfurchte Gesicht fremd war. »Und Ihren Mann haben Sie auch mitgebracht – wie nett!«

Philipp rang sich ein Lächeln ab. Natürlich waren sie nicht verheiratet, doch verspürte er augenblicklich nicht das geringste Bedürfnis, in diesem Detail für Aufklärung zu sorgen. Demonstrativ ging er weiter in den Salon, um sich etwas zu trinken zu holen. Obwohl auch dieser Raum hinsichtlich seiner Ausmaße alle Konventionen sprengte, herrschte dichtes Gedränge.

Langsam taxierte Philipp seine Umgebung. Der Großteil des Publikums bestand aus älteren Herrschaften jenseits der siebzig, die Tanjas Vater noch aus einer Zeit kennen mussten, in der dieser zu den erfolgreichsten Bauunternehmern der Region gezählt hatte. Soweit jüngere Leute geladen waren, schienen sich diese überwiegend draußen auf der Terrasse aufzuhalten, einer ausgedehnten, teilweise überdachten Fläche aus rötlichen Marmorfliesen, die nahtlos in den parkähnlichen Garten mündete.

Vorsichtig schob sich Philipp durch das Gewühl. Ein paarmal nickte er weitläufig bekannten Gesichtern zu, erwiderte flüchtige Grüße. Schließlich trat er durch die gläserne Panoramatür ins Freie. Wegen des Gewitters heute Nachmittag hatte man das Buffet in den geschützten Teil verlegt. Philipp nahm sich ein Glas Riesling und schlenderte gemächlich an den Rand der Terrasse. Hier roch es süßlich, nach Kiefern und Fichten. Die Spuren, die der Regen hinterlassen hatte, waren nur noch schwach erkennbar. Nun ergoss die Abendsonne ihr warmes Licht wie das zuversichtliche Versprechen einer Versöhnung mit dem ausklingenden Tag.

Das leichte Baumwolljackett war die richtige Entscheidung gewesen, befand Philipp. Die Tatsache, dass er heute Nachmittag vollkommen durchnässt nach Hause gekommen war, hatte erfreulicherweise keinen Anlass für Nachfragen gegeben. Ein unerwarteter Schauer während eines einsamen Spaziergangs – so etwas konnte passieren.

In diesem Moment tauchte Tanja auf. »Wo treibst du dich rum? Ich habe nach dir gesucht!« Entschlossen packte sie ihn am Arm. »Dort hinten steht Papa, wir sollten wenigstens Hallo sagen.«

Mit einem unterdrückten Seufzer folgte ihr Philipp zu einer Gruppe grauer Herren, die sich um den Gastgeber geschart hatten wie beflissene Bienen um ihre Königin. Siegfried Harth war Anfang siebzig, groß, hager, mit kahlem Kopf und einer auffälligen Adlernase, die seinem braungebrannten Gesicht einen ausgesprochen autoritären Zug verlieh. Als er die beiden erblickte, verzog er keine Miene.

Philipp presste eine Begrüßung heraus, die ohne Erwiderung blieb. Stattdessen wandte sich Tanjas Vater an das servile Häuflein, das ihn umgab: »Meine Tochter werden Sie alle kennen. Inzwischen ist aus dem Mädchen eine Frau im besten Alter geworden, und ich darf gestehen, dass mich ihre Anwesenheit wie immer mit Stolz erfüllt.« (Wohlwollende Blicke streiften über Tanja.) »Dabei kann ich froh sein«, fuhr Harth mit zynischer Stimme fort, »dass sie sich mit einem alten Schurken wie mir überhaupt noch abgibt! Seitdem ihr der feine Herr Anwalt den Hof macht, lebe ich mit der dauernden Angst, ihren moralischen Ansprüchen nicht mehr genügen zu können –«

»Hör schon auf, Papa!«

Tanja bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall, doch Siegfried Harth ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Energisch hob er den Zeigefinger wie zu einer allgemeinen Warnung: »Nehmt euch in Acht vor den Rechtsverdrehern! Ich habe in meinem Leben oft genug mit dieser Zunft zu tun gehabt. Noch bevor der erste Spatenstich getan ist, kommen sie wie Schmeißfliegen herbei und versuchen dich auszubremsen. Glücklicherweise wusste ich immer, mich zur Wehr zu setzen, auch wenn es mich viel Geld und Nerven gekostet hat!«

Die versammelten Bienen ließen gefällige Gluckser entweichen, Philipp spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss.

»Wenn ich diesen Leuten nachgegeben hätte, wäre unsere Region um viele Bauwerke ärmer! Schulen, Sporthallen, Krankenhäuser – Einrichtungen, von denen die Menschen heute profitieren, und die dennoch beinahe von starrköpfigen Paragrafenreitern verhindert worden wären!«

Harth schnaubte verächtlich, bevor er mit Bedeutung nachschob: »Es gehört zu den großen Enttäuschungen meines Lebens, dass sich mein einziges Kind ausgerechnet zu diesem Stand hingezogen fühlt. Aber genug davon! Welche Tochter hört schon auf ihren alten Vater!«

Damit war die Begegnung mit dem Hausherrn beendet. Ein Gefühl von Wut und Enttäuschung brandete in Philipp wie eine Welle, die auf scharfe Klippen schlägt. Wenn es etwas gab, was ihn zutiefst verletzen konnte, war es Bloßstellung, Erniedrigung. Etwas, das Siegfried Harth meisterlich beherrschte wie kein zweiter. Warum konnte sich der alte Widerling nicht ein einziges Mal zusammenreißen?

Er leerte sein Weinglas und marschierte zielstrebig in Richtung Buffet, dessen Dimensionen unersättlich anmuteten. Tanja war schon wieder von irgendjemandem in Beschlag genommen worden, doch das kümmerte ihn im Augenblick nicht. Wenn er schon all das hier erdulden musste, wollte er wenigstens etwas Anständiges zwischen die Zähne bekommen!

Ausgerüstet mit einem respektablen Steak und einem Glas Rotwein begab sich Philipp zu einem der Holztische, die auf dem Rasen aufgestellt waren. Er hatte sich kaum gesetzt, als ein breiter Schatten hinter ihm auftauchte.

»Philipp Wendelstein! Hätte mir denken können, dass du heute hier bist!«

Die grobe Stimme gehörte einer ebenso groben Erscheinung. – Thomas Moser, wenn sich Philipp richtig entsann.

»Manche Dinge lassen sich nicht vermeiden«, knurrte er.

»Stört dich hoffentlich nicht, wenn ich mich kurz dazusetze?«

Philipp nickte gleichmütig. Die Bekanntschaft mit Moser war vage und wurzelte in einer Zeit, in der Philipp ein knappes Jahr lang im örtlichen Fußballverein gewesen war, bevor er entschieden hatte, dass dieser Sport nicht recht zu ihm passte. Danach hatte man sich aus den Augen verloren. Soviel er wusste, war Moser in das Abbruch- und Entsorgungsunternehmen seines Vaters eingestiegen, und Philipp hatte die Vermutung, dass er dort nicht allein kaufmännische Funktionen ausübte. Seine heutige Anwesenheit beruhte wahrscheinlich auf irgendeiner geschäftlichen Zusammenarbeit mit dem Bauunternehmen Harth.

Scheppernd parkte Moser seinen Humpen auf dem Tisch und pflanzte sich neben Philipp. »So, so, du bist jetzt mit der kleinen Harth zusammen, was? Wer hätte das gedacht! Früher musste man dir die Bräute vor die Füße setzen, bis du sie mal angesehen hast. Du lieber Gott, das waren Zeiten! Kannst du dich noch an unser Trainingslager in Tirol erinnern?«

Er begann eine umständliche Geschichte – eine von der Sorte, die man als Betroffener vergessen und als Beobachter verschweigen sollte. Philipp hörte nur mit halbem Ohr hin. Er dachte an den alten Mann, als dessen Gast er gekommen war und als dessen Feind er sich behandeln ließ. Philipp erwartete nicht, von jedermann gemocht zu werden, aber jemanden zu respektieren, bedeutete auch noch nicht, ihn zu mögen. Wie wenig Würde musste ein Mann besitzen, der seine Rücksichtslosigkeit derart offenkundig zur Schau trug; wie wenig Selbstachtung, dass er sich von seinen innersten Befindlichkeiten solchermaßen treiben ließ? Philipp erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass der Mangel an Respekt nichts anderes wäre als die Schwäche des eigenen Ichs. Ein Gedanke, den er treffend fand, der ihn aber zugleich auf seltsame Weise betroffen stimmte. – Vielleicht, weil er selbst noch nie Respekt für Siegfried Harth empfunden hatte?

Philipp spürte, wie sich Unruhe in ihm zu winden begann wie ein Fisch am Haken. Hier herumzusitzen erschien ihm mit einem Mal unerträglich. Mit ein paar dürren Floskeln beendete er Mosers Erzählung und war Sekunden später wieder in die Menge eingetaucht, die ihm nun wie ein flüchtiger Schutzschild gegen seine Unrast vorkam. Gab es denn auf dieser verdammten Party keinen einzigen normalen Menschen?

Mit finsterer Miene bahnte sich Philipp den Weg zu dem kleinen Zeltpavillon auf der anderen Seite der Terrasse. Dort traf er einen jungen Barkeeper an, der mit hingebungsvollem Blick und sicheren Bewegungen Cocktails zubereitete, als gäbe es keine erhabenere Aufgabe auf diesem Planeten. Philipp sah ihm ein paar Minuten bewundernd zu. Dann ließ er sich einen ausgezeichneten Mojito mixen und kehrte zurück ins Haus, wo er bald schon auf Tanja stieß, die plaudernd bei einem Pärchen ihres Alters stand.

»Trink nicht wieder so viel«, raunte sie ihm ins Ohr, bevor sie ihn, ganz Dame von Welt, den anderen vorstellte. Philipp blickte in die unsicher grinsenden Gesichter und fragte sich, ob die beiden ebenso langweilig sein würden wie sie aussahen.

»Mit Claudia bin ich zur Schule gegangen«, erklärte Tanja. »Stell dir vor, sie hat Anfang des Jahres geheiratet! Jakob, ihr Mann, engagiert sich in der Bad Grünauer Stadtpolitik. Nebenbei studiert er übrigens Physik und möchte später in die Forschung gehen!«

Philipp drückte zwei schlaffe Hände und ließ aufmunternde Bemerkungen in Richtung des jungen Ehemannes fallen. Er kannte diese Spezies, die nebenbei studierte und meinte, die ganze Menschheit würde auf sie warten. Leider fiel Tanja in gewisser Hinsicht ebenfalls in diese Kategorie, mit dem Unterschied, dass ihre Prioritäten ausschließlich privaten Vergnügungen galten. Ihr BWL-Studium schien seit Jahren auf der Stelle zu treten, mittlerweile hatte er aufgehört, sich danach zu erkundigen.

Er unterhielt sich eine Zeit lang mit Claudias Mann über politische Themen, während die Damen die Qualität der lokalen Fitnessstudios erörterten. Jakob berichtete von seiner Arbeit im Stadtparlament und den provinziellen Scharmützeln dort, deren einzig interessanter Aspekt darin bestand, dass sie sich erstaunlich häufig mit Gesichtern anwesender Personen illustrieren ließen. Für Philipp nicht überraschend, stellte sich heraus, dass ein Großteil der heutigen Gäste mehr oder weniger starke Bezüge zur Lokalpolitik hatte – ein Phänomen, dessen Wurzeln zweifellos in Siegfried Harths Vergangenheit lagen. Philipp wusste, dass der alte Herr wesentliche Teile seines Vermögens mit öffentlichen Aufträgen verdient hatte, bei deren Vergabe gute Kontakte in die Rathäuser von Nutzen waren. Dass er sich in dieser Beziehung mehr als einmal die Hände schmutzig gemacht hatte, war ein offenes Geheimnis. Und wahrscheinlich war dies auch der Grund für seine krankhafte Abneigung gegen Juristen aller Couleur.

Als sie sich schließlich von Tanjas Bekannten verabschiedeten, hatte das Maß an Überdruss bei Philipp einen empfindlichen Punkt erreicht. Die spießbürgerliche Welt, als deren natürlichen Teil man ihn hier betrachtete, und mit der ihn doch nichts weiter verband als seine schiere Anwesenheit, langweilte ihn zu Tode. Es ärgerte ihn, dass er seine Freizeit auf diese Weise verschwenden musste. Die Leute, die Themen, sie ödeten ihn an, und er hatte es gründlich satt, sich auch noch am Wochenende in eine Rolle zu zwängen, für die es keine größere Fehlbesetzung gab als ihn selbst.

Tanja hatte eine Freundin erspäht und war wieder entschwunden, als Philipp entschied, ein weiteres Mal die Zeltbar aufzusuchen. Inzwischen war die kleine Band im Salon zu flotteren Rhythmen übergegangen, die Stimmung unter den Gästen begann sich zu heben.

Eine Weile wanderte er ziellos umher, bis er feststellte, dass der Alkohol bereits merkliche Spuren hinterließ. Philipp schlug noch einmal den Weg zum Buffet ein, eine kleine Stärkung würde ihm guttun. Als er sich gerade einen Teller Thunfischsalat genommen hatte, bemerkte er Siegfried Harth, der ein paar Schritte entfernt im Getümmel stand, scheinbar in ein Gespräch vertieft. Doch als Philipp genauer hinsah, wurde ihm klar, dass ihn der alte Mann aus der Menge heraus beobachtete, ihm direkt in die Augen starrte. Ein verschlagener, hasserfüllter Blick war es, der aus seinem Gesicht trieb wie ein giftiger Dorn und ihm alle Verachtung entgegenschleuderte, zu der verletzter Vaterstolz fähig war.

Hastig wandte sich Philipp ab. Sein Magen zog sich zusammen, Übelkeit stieg scharf in ihm auf. Er hatte das Gefühl, ohnmächtig werden zu müssen, wenn er noch eine Sekunde länger hier verweilte. Mit eiligen Schritten kehrte er ins Haus zurück. Die Toilette im Eingangsbereich war belegt. Philipp lief kurzerhand den Flur entlang, der von der Lobby aus in einen der Seitenflügel abzweigte. In diesem Teil des Gebäudes war er zuvor noch nie gewesen, aber er vermutete, dass sich hier ein weiteres Bad befinden könnte.

Als Philipp fündig wurde, musste er sich sofort übergeben. Das Verlangen, sich seines Widerwillens zu entledigen, ließ seinen ganzen Körper erbeben. Er füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser und tauchte sein Gesicht ein, um die Hitze loszuwerden, die in seinem Kopf flimmerte wie sengende Glut.

Danach fühlte er sich besser.

Langsam schritt er den Korridor zurück, dessen dicker Teppichboden den Partylärm beinahe zu verschlucken schien. Auf einmal stutzte er. Das antike Ölgemälde, das schwer gerahmt an der Wand zwischen zwei Türen hing, war ihm vorhin gar nicht aufgefallen. Fast automatisch blieb er stehen und betrachtete das Bild, das ihn auf sonderbare Weise in seinen Bann zog. Philipp verstand nur wenig von Malerei. Wie es schien, handelte es sich um die Kopie irgendeines niederländischen Meisterwerks. Einer dieser uralten Schinken, die getränkt waren von Düsternis und Trostlosigkeit und die Philipp schon als Kind deprimiert hatten, wenn er mit seinen Großeltern stundenlang durch staubige Museen laufen musste.

Dieses Exemplar war ein besonders schauriges Beispiel. Es zeigte einen Edelmann undefinierbaren Alters, der, an einem Tisch kauernd, mit starrer Miene über einem Schachspiel brütete. Ihm gegenüber hatte der Tod Platz genommen – ein fahles Gerippe, das den Zeigefinger der linken Hand mahnend erhoben hatte, während die rechte im Begriff war, eine Figur auf dem Brett zu bewegen. Im Hintergrund waren die trüben Umrisse eines Regals erkennbar, auf dem sich verbrannte Kerzen, verwelkende Blumen und andere unerfreuliche Gegenstände befanden. Symbole der Vergänglichkeit, des flüchtigen Lebens. Zu Philipps Überraschung saß dort – in einem goldenen Käfig – auch ein Papagei, dessen bunte Federn einen beinahe vulgären Kontrast zu seiner Umgebung boten. Der Vogel wirkte wie ein Fremdkörper in der Gedrücktheit, die dem Gemälde innewohnte, und Philipp fragte sich, ob er von dessen Schöpfer vielleicht hinzugefügt worden war, weil dieser sich selbst vor dem morbiden Rest gefürchtet hatte.

»Ein bemerkenswertes Bild, finden Sie nicht?«

Philipp zuckte zusammen und blickte in das faltige Gesicht, das plötzlich neben ihm erschienen war. Er musste sich einen Moment sortieren, bis ihm die Erinnerung kam. – Wie viele Jahre mochte es her sein, seit er Dr. Arnold zuletzt begegnet war? Nach dessen Eintritt in den Ruhestand war Philipp als Privatpatient noch hin und wieder bei ihm gewesen, aber auch dies lag eine Ewigkeit zurück. Mittlerweile ging er zu einem jüngeren Arzt in der Nähe seines Büros, und der alte Mann hatte sich ebenso still und unbemerkt aus seinem Gedächtnis geschlichen, wie er jetzt wieder aufgetaucht war.

»Ich finde es unheimlich«, gestand Philipp. »Nichts, was ich mir zu Hause an die Wand hängen würde.«

Der Alte wippte gedankenversunken mit dem Kopf. »Unheimlich ist es fürwahr. Und dennoch steckt in dem Gemälde mehr Optimismus als man ahnt. Ein trügerischer Optimismus allerdings, hinter dem sich das ganze Ausmaß menschlicher Hybris verbirgt.«

»Ich kann keine Anzeichen von Optimismus erkennen.«

Dr. Arnold deutete ein schwaches Lächeln an. Seine Stimme war leise, fast brüchig, und dennoch lag in ihr die Überzeugtheit eines Mannes, der es gewohnt war, seine Meinung nicht dem Urteil anderer zu überlassen.

»Den Tod herauszufordern, kann nur einem Menschen mit besonderem Selbstbewusstsein einfallen. Jemandem, der den Ausgang nicht scheut. Der sich für stark genug hält, das Spiel zu gewinnen.«

Philipp überlegte einen Moment lang. »Was ist so außergewöhnlich daran, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen?«

Dr. Arnold hatte sich wieder dem Gemälde zugewandt und betrachtete es mit ernster Miene. »Als dieses Bild gemalt wurde, dachte man, das Schicksal wäre eine Fügung des allmächtigen Himmels. Ein unabänderliches Los, das dem Menschen in die Wiege gelegt wird. Sich hiergegen aufzulehnen, erforderte überragenden Mut und Entschlossenheit. Etwas, was nur die allerwenigsten gewagt hätten. Diejenigen nämlich, die bereit waren, die größte denkbare Sünde auf sich zu nehmen: Die Verneinung der göttlichen Ordnung – das Aufbegehren gegen den Schöpfer selbst.«

Er strich sich nachdenklich übers Kinn, bevor er fortfuhr. »Ich weiß, heute betrachtet man die Welt in anderem Licht. Die Menschen meinen, sie hätten ihr Leben im Griff, könnten stets bestimmen, wohin ihr Weg führt. Aber ich zweifle, ob sie damit richtig liegen. Gewiss, es mag Dinge geben, die wir unter Kontrolle haben. Situationen, die wir in die eine oder andere Richtung lenken können. Aber sind das nicht bloß Momentaufnahmen? Schnappschüsse des Lebens, die oft so unbedeutend sind, dass sie ebenso schnell in Vergessenheit geraten wie sie entstehen? Was das große Ganze betrifft, so hält die Natur ihr eigenes Programm bereit. Einen Fahrplan, der unausweichlich auf das eine Ziel zuläuft, das uns verheißen ist.«

Der alte Mann schien jetzt mehr zu sich selbst als zu Philipp zu sprechen. »Das Schicksal ist unser Verhängnis! Wie er es auch versucht – keiner entkommt ihm, auch wenn er sich noch so sehr um einen Ausweg bemüht!« Seine Hände deuteten eine Geste der Resignation an. »Trotzdem haben es die Menschen zu allen Zeiten versucht. Und ebenso alt wie ihr Bestreben ist die Erkenntnis, dass sie damit scheitern müssen!«

Philipp sah den schmalen Greis nachdenklich von der Seite an. Was mochte sich hinter diesem Gewölk aus Fatalismus verbergen? Stand hier einer, der mit seinem eigenen Schicksal haderte und nun Trost darin suchte, dieses durch eine Philosophie der Ausweglosigkeit zu relativieren? Sich einzureden, dass es keine Alternativen gegeben hätte? – Soweit Philipp wusste, war Dr. Arnold kinderlos und seit vielen Jahren verwitwet. Ein Krebsleiden oder etwas Ähnliches, an dem seine Frau unter unschönen Umständen zugrunde gegangen war. Danach war er alleine geblieben; ein Eigenbrötler, fern der Welt, dessen einzige Vertrauten seine Stammpatienten waren, zu denen auch Philipps Großeltern und – für kurze Zeit – seine Eltern gezählt hatten. Unwillkürlich runzelte Philipp die Stirn. Inzwischen musste Dr. Arnold steinalt sein – und dabei hatte er alle in Philipps Familie, bis auf diesen selbst, überlebt.

»Eine interessante Interpretation«, bemerkte er vorsichtig. »Aber eines verstehe ich trotzdem nicht: Was, um alles in der Welt, hat der bunte Vogel dort verloren?«

Dr. Arnold hüllte sich einen Moment lang in Schweigen, den Blick von Neuem auf das Gemälde gerichtet. Dann wandte er sich um und sah Philipp aus klaren Augen an, die dem Alter auf sonderbare Weise entronnen zu sein schienen.

»Wer glaubt, er könne Gevatter Tod überlisten, erliegt der eigenen Eitelkeit, die Mut in Anmaßung verwandelt. Der Papagei ist hierfür ein Symbol: Ein Tier in gefärbtem Kleid, das nachplappert, was es aufschnappt, ohne zu verstehen, was es bedeutet. Ähnlich dem Menschen, der flüchtigen Moden nachläuft und dabei die alles entscheidende Einsicht aus den Augen verliert.«

Philipp lachte lautlos auf. Der Papagei als Spiegel der menschlichen Eitelkeit – kein schlechter Vergleich, wenn er an manch einen der aufgeblasenen Vögel heute Abend dachte …

»Die alles entscheidende Einsicht?«, fragte er mechanisch. Die Entschlossenheit, mit der Dr. Arnold seine Feststellungen versah, hatte etwas grundsätzlich Faszinierendes, verursachte in ihm aber gleichzeitig ein wachsendes Gefühl des Unbehagens.

Der alte Mann sah ihn lange an, bevor er es erklärte: »Sein eigenes Schicksal zu verstehen, es anzunehmen und zu versuchen, sich mit ihm zu arrangieren. Nur das zählt. Das wahre Leben ist kein Schachbrett, auf dem wir Figuren beliebig hin und her schieben können. Wenn überhaupt, dann gleicht es einem Würfelspiel. Einem solchen allerdings, bei dem die Würfel schon vor langer Zeit gefallen sind. Viel früher als wir glauben. Und ohne dass wir je Einfluss auf das Ergebnis hätten nehmen können.«

Philipp zuckte mit den Schultern. Schachspiel, Würfelspiel … was machte das schon? Klang beides nicht reichlich albern? Die Vorstellung vom Leben als Spielzeug fremder Mächte war ihm nicht geheuer. Tatsächlich verspürte er sogar einen heftigen Widerwillen gegen die Ansichten von Dr. Arnold, die ihm mit einem Mal wie selbstgefällige Dogmen vorkamen. Bekenntnisse eines alten Mannes, der das Tor zur Realität zugestoßen hatte, um den Herausforderungen der Wirklichkeit zu entgehen. In der Welt, in der Philipp sich behaupten musste, kam man damit keinen Millimeter weiter. Und plötzlich erschien es ihm grotesk, hier zu stehen und tiefschürfende Betrachtungen über den Sinn des Lebens anzustellen, während nebenan die Oberflächlichkeit einer ganzen Kleinstadt versammelt war.

Mit einer Geste des Aufbruchs meinte er: »Wie wäre es jetzt mit einem Gläschen im Salon?«

Dr. Arnold schien für einen Moment nachzudenken, ob er den einmal gesponnenen Faden erneut aufnehmen sollte. Doch er beließ es dabei.

Gemächlich schlenderten sie nach vorne. Als sie beinahe das Foyer erreicht hatten, blickte sich Philipp, wie aus einem Reflex heraus, noch einmal um. Und im selben Moment wusste er, warum. Im hinteren Teil des Flures, schien es, hatte sich etwas geregt. Dort, wo der Gang einen Knick machte, so dass man seinen weiteren Verlauf nicht einsehen konnte. Er bat Dr. Arnold, schon vorauszugehen, dann schlich er so leise wie möglich zurück. Sein Herz schlug hart, doch als er sich vorsichtig um die Ecke schob, war dort keine Menschenseele zu sehen. Behutsam öffnete er die Tür zum Badezimmer – auch hier fand sich kein Hinweis auf etwas Ungewöhnliches.

Sonderbar, dachte Philipp. War es nur Einbildung? Trotzdem hätte er schwören können, dass irgendetwas nicht stimmte.

Nachdenklich machte er kehrt, abermals das unheimliche Gemälde passierend, dem er einen letzten, trotzigen Blick schenkte. In diesem Moment kehrte das Flimmern zurück. Alles um ihn herum begann sich zu bewegen, als würde er durch einen wabernden Tunnel aus Gummi laufen. Der Boden unter seinen Füßen schien sich in schwindelerregendem Tempo aufzulösen und ihn in ein tiefes Loch aus Nichts zu werfen.

Dann wurde es nachtschwarz …

 

Als er die Augen aufschlug, sah er in Tanjas Gesicht, auf dem sich Besorgnis und Verärgerung um die Vorherrschaft stritten. Auch Dr. Arnold und zwei, drei weitere Personen standen um das Bett herum, auf dem Philipp der Länge nach lag.

»Er kommt zu sich!«

»Wahrscheinlich eine Kreislaufschwäche, weiter nichts –«

Man hatte ihn in eines der Gästezimmer gelegt. Tanjas Stimme drang zu ihm wie ein herannahender Zug: »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht so viel trinken sollst! Kannst du aufstehen? Ich habe den Wagen vorgefahren.«

Philipp nickte langsam. Sein Schädel trommelte wie ein Presslufthammer, aber sonst hatte er keine Beschwerden. »Mit mir ist alles in Ordnung«, nuschelte er im Aufstehen; und zu den Anwesenden: »Bitte verzeihen Sie den kleinen Aussetzer.«

Verständnisvolles Murmeln schwappte zu ihm herüber. Dann zog ihn Tanja mit Bestimmtheit hinter sich her. Noch bevor er weiter protestieren konnte, standen sie draußen auf der Straße, wo jetzt der Cayenne parkte.

Tanja schob ihn unwirsch auf den Beifahrersitz und sich selbst hinter das Steuer. Philipp wusste, dass sie innerlich kochte. Ihre Geduld hing an einem derart dünnen Faden, dass ihn der leiseste Windhauch hätte zertrennen können.

Stumm fuhren sie los.