Leseprobe Das Kreuz des Vatikans

Prolog

Die Spannung im Raum schien so dick zu sein, dass man sie mit einer Schere hätte durchtrennen können. Der alte untersetzte Mann blickte von dem Dokument auf. Nachdenklich trommelte er auf der Schreibtischplatte herum. Robert konnte es in dem ergrauten Kopf regelrecht rattern hören. Der Alte schien über die Konsequenzen der Nachricht zu grübeln und mögliche Folgen abzuwägen. Hörbar seufzend setzte er die Brille ab und warf sie achtlos vor sich auf den Schreibtisch. Schwerfällig erhob er sich, nahm den Gehstock von der Wand und ging im Raum auf und ab. Das winzige Zimmer war schwach beleuchtet und wirkte ein wenig trostlos. Nur eine kleine Öllampe spendete spärliches Licht. Robert betrachtete das Schattenbild, das dem Alten an der Wand folgte. Es erweckte den Eindruck eines Hirten.

Wie passend, dachte Robert und erinnerte sich an den Spitznamen des Alten, den die meisten als Shepherd kannten.

„Und das wurde überprüft?“, erkundigte sich der Shepherd und unterbrach damit Roberts Gedanken.

„Ja Vater.“

„Die Konsequenzen wären katastrophal für uns.“ Die belegte Stimme des Alten bebte.

„Deshalb bin ich hier, Vater.“

„Wir müssen etwas unternehmen. Unsere Institution muss um jeden Preis beschützt werden.“

„Wenn Sie das wünschen, Vater.“

„Haben wir wirklich eine Wahl?“, fragte der Shepherd rhetorisch.

Robert schüttelte den Kopf. Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Er hatte bereits erste Schritte eingeleitet. Am liebsten hätte er den Shepherd nicht damit belastet, doch für den Fall der Fälle brauchte er zumindest seine stillschweigende Zustimmung.

„Ich kann die Angelegenheit bereinigen“, bot Robert ihm an.

„Du bekommst jede Unterstützung, die du brauchst.“

Ein nachdenkliches Schweigen machte sich breit und erfüllte die Atmosphäre.

„Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas ans Licht kommt“, meinte Robert.

Der Shepherd blieb abrupt stehen.

„Wie meinst du das?“

Die glasigen Augen starrten Robert an.

„Nag Hammadi zum Beispiel.“

Robert schluckte bei der Erwähnung der antiken Bibliothek von Nag Hammadi. Im Kloster hatte er gelernt, dass Nag Hammadi das Werk des Teufels war. Niemand hätte die antiken Texte jemals lesen dürfen. Im Jahr 1945 waren die Schriften in der Nähe der kleinen Stadt Nag Hammadi in Ägypten von örtlichen Bauern gefunden worden. Die umfangreiche Sammlung stammte aus den ersten christlichen Jahrhunderten. Diese Texte waren von ungläubigen Gnostikern verfasst worden.

„Nag Hammadi war das Werk von Ketzern. Das hier ist etwas vollkommen anderes. Es handelt sich um eine Verschwörung.“ Der Shepherd rang nach Luft und es entstand eine kurze Pause. „Der Fels, auf dem unser Glaube, unsere Kirche und letztendlich unsere Institution ruht, droht zu erodieren, sollte diese Wahrheit ans Licht kommen.“

Ein Hustenanfall unterbrach die Ausführungen des alten Mannes. Robert umrundete den Schreibtisch. Aus einer Schublade nahm er das Asthmaspray und reichte es dem Shepherd. Dieser nickte dankend, schüttelte die kleine Dose, inhalierte einen Sprühstoß und hielt die Luft einige Sekunden an. Keuchend sagte er schließlich: „Wie viele haben diese Schriftrollen gesehen?“

„Noch nicht so viele.“

„Wir müssen dafür sorgen, dass kein Mensch je davon erfährt, wenn du weißt, was ich meine.“

„Ja, Vater.“

„Wo befinden sich die Schriftrollen jetzt?“

„Genau weiß ich es noch nicht. Ein Wissenschaftler hat einige Kopien untersucht.“

„Wissen wir sicher, dass sie echt sind?“

„Sie sind echt, Vater. Der Wissenschaftler hat es mir selbst bestätigt und ich vertraue ihm.“

Der Shepherd schnaubte laut und verfiel dann in Schweigen. Robert starrte zu Boden. Seine Gedanken schweiften zu dem Paläografen ab. Er schloss die Augen. Dieser war ein Freund von ihm, den er sehr mochte. Robert hatte sich von ganzem Herzen gewünscht, dass er die Bedeutung der Schriftrollen nicht erkannt hätte, doch leider hatte er das. Deshalb konnte ihn Robert nicht am Leben lassen. Noch am selben Abend hatte er sich auf die Lauer gelegt. Er spürte noch immer die kalte Wand, an die er sich gelehnt hatte. Er war aufgeregt gewesen, doch als der Wissenschaftler nähergekommen war, hatte sich sein Instinkt eingeschaltet. Geduldig hatte er einem Raubtier gleich darauf gewartet, dass seine Beute in die enge Gasse einbog. Er war vor den Paläontologen, seinen Freund, gesprungen. Als dieser das Messer in Roberts Hand erblickt hatte, hatte er um sein Leben gebettelt. Trotz der Maske schien ihn sein Freund erkannt zu haben. Er hatte den Mund geöffnet, aber die Worte waren ihm im Halse stecken geblieben, als Robert unvermittelt zugestochen und das scharfe Jagdmesser in seiner Leber versenkt hatte. Robert hatte das Messer einmal um die eigene Achse gedreht, bevor er es herausgezogen hatte. Blut war spritzend aus der Wunde gequollen, bevor der Körper des Wissenschaftlers der Schwerkraft nachgegeben hatte und zu Boden gesackt war.

Robert verschränkte die Hände ineinander, um das Zittern zu unterdrücken. Er wunderte sich über seine Gefühle. Es war schließlich seine Pflicht gewesen. Er verspürte keine Reue.

Es war Gottes Wille, rief er sich in Erinnerung.

Er hatte den Teufel aus seinem Herzen schon vor langer Zeit verbannt, doch Asasel war trickreich. Er musste vorsichtig sein.

„Die Wege des Herrn sind unergründlich“, sagte der Shepherd nun, als wollte er ihn in seiner Feststellung bestärken. Es war Gott, der seine Hand führte.

„Wie meinen Sie das, Vater?“, fragte er.

„Das ist unser Schicksal. Wir beide müssen die Institution retten.“

Der Shepherd hustete erneut.

„Robert, es ist keine Last oder Bürde, sondern eine Würde, dem Herrn zu dienen“, krächzte er mit belegter Stimme.

„Es ist mir eine Ehre, Vater.“

„Können wir diesem Wissenschaftler vertrauen?“

„Er wird schweigen“, sagte Robert, „wie ein Grab.“

Der Shepherd nickte.

„Die Schriftrollen müssen verschwinden.“

„Das werden sie, Vater.“

„Und jeder, der sie zu Gesicht bekommen hat.“

„Das ist mir bewusst, Vater.“

Der Shepherd trat an ihn heran und umfasste seine Schultern.

„Ab heute müssen wir beide mit dieser Last leben. Aber es ist der Wille des Herrn“, sprach er kehlig.

Robert verbeugte sich. Der Shepherd streckte ihm die Hand entgegen. Robert kniete nieder, ergriff die Hand seines Meisters und küsste sie.

Kapitel 1

Die Sonne stand tief am Himmel. Dünne Wolken spiegelten ihre Strahlen wider und leuchteten feuerrot, als Konstantin Nikolaidis das Ägyptische Museum in Kairo verließ. Er blinzelte gegen das plötzliche grelle Licht an und blieb eine Weile stehen, damit sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnen konnten. Eine kühle Brise streichelte sein Gesicht. Erinnerungen an seinen letzten Besuch hier in Kairo stiegen in ihm auf. Vor drei Jahren hatte sein Leben hier eine unerwartete Wendung genommen. Nach einem Raubüberfall auf das Ägyptische Museum war er damals in eine Straßenschlacht zwischen den Räubern und der Polizei geraten. Er hatte mitansehen müssen, wie sein Taxifahrer von einem der Diebe erschossen worden war. Nur durch einen Zufall oder eine Fügung des Schicksals hatte er an jenem Tag überlebt. Einer der Räuber war ein ehemaliger Jugendfreund von ihm gewesen, der sein Leben verschont hatte.

Und so wie das Schicksal manchmal spielte, hatte sein Team an jenem Tag vor der Küste Alexandrias einen versunkenen Tempel entdeckt. Sie hatten zahlreiche Schätze bergen können. Darunter hatten sich Goldmünzen mit geheimnisvollen Prägungen und Inschriften gefunden.

Überraschenderweise hatte er heute Morgen eine Nachricht von seinem Freund Professor Christopher Adam bekommen. Dieser hatte ihn um ein dringendes Treffen vor dem Museum gebeten.

Als Konstantin versucht hatte, seinen Freund zu erreichen, war dieser nicht an sein Telefon gegangen. Der renommierte Religionswissenschaftler hatte Konstantin vor drei Jahren bei der Analyse der mysteriösen Münzprägungen geholfen. In der Zwischenzeit waren sie gute Freunde geworden. Daher war Konstantin umso überraschter gewesen, dass ihn der Professor nicht über seine Reise nach Ägypten informiert hatte. Außerdem hatte er von gesundheitlichen Problemen berichtet, als ihn Konstantin vor sechs Monaten das letzte Mal in seiner Heimatstadt New York getroffen hatte.

Es musste sich um eine äußerst wichtige Angelegenheit handeln, dass Adam mit seinen knapp achtzig Jahren diese beschwerliche Reise auf sich genommen hatte.

Konstantin zermarterte sich das Gehirn, doch ihm fiel keine Erklärung für das Verhalten des Professors ein. Ungeduldig ging Konstantin vor der imposanten neoklassizistischen Fassade des Museums auf und ab. Er warf einen Blick auf seine Uhr. 16:00 Uhr. Der Professor hatte bereits vor einer halben Stunde hier sein wollen und Adam hasste Unpünktlichkeit. Konstantin konnte sich nicht daran erinnern, dass der Professor jemals zu einer Verabredung zu spät gekommen war. Eher traf er zu früh ein. Er kramte sein Smartphone aus der Hosentasche und rief ihn an. Es läutete sekundenlang, dann wurde der Anruf angenommen. Konstantin atmete auf.

„Professor“, sagte er erleichtert.

Keine Antwort.

„Professor?“

Schweres Atmen.

„Professor, geht es Ihnen gut?“

Sorge machte sich in Konstantin breit.

Wieder erfolgte keine Antwort. Dann wurde das Telefonat unterbrochen. Konstantin wählte erneut. Dieses Mal sprang direkt die Mailbox an. Konstantin ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen und studierte dabei die Gesichter der vorbeiströmenden Passanten, doch von dem Professor fehlte jede Spur. Unbehagen erfüllte ihn. Irgendetwas war schiefgelaufen. Ein Summen unterbrach seine Gedanken. Das Handy zeigte eine eingegangene Nachricht. Er klickte sie an.

Bitte kommen Sie zu The Greek Campus Downtown

Die Nachricht war geschäftlich. Sie passte nicht zum Professor, der häufig einen lockeren Spruch auf der Zunge hatte. Konstantin verließ den Platz vor dem Museum und eilte die Tahrir-Straße entlang. Demonstranten mit ägyptischen Fahnen marschierten an ihm vorbei. Lauthals riefen sie Parolen gegen die neu gewählte Landesregierung. Konstantin lachte innerlich. Die Ägypter mussten erkennen, dass demokratische Wahlen nicht immer die richtigen an die Macht brachten und dass Wahlversprechen meist unerfüllt blieben. Das hatte er kürzlich in Griechenland selbst erleben müssen. Wahlversprechen waren meist nur heiße Luft.

Ein Checkpoint war vor dem Tahir-Platz aufgestellt worden. Ein gelangweilt wirkender Soldat kontrollierte desinteressiert seinen Ausweis und ließ ihn dann vorbei. In der Mitte des Platzes fanden kleine Kundgebungen statt. Konstantin war froh, dass die aktuelle Lage ruhiger war als in den letzten Wochen. Nach zahlreichen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Militär war der Ansturm der Protestierenden abgeebbt, aber eine kleine Gruppe von Studenten schien mehr denn je entschlossen zu sein, ihren Kampf gegen die Regierung fortzusetzen. Der Tahrir-Platz sah jedoch nicht mehr wie ein Schlachtfeld aus. Es gab ein Zelt, in dem Freiwillige Tee und arabischen Kaffee an die Demonstranten ausgaben. Die Atmosphäre versetzte Konstantin unwillkürlich in seine Studentenzeit zurück. Damals hatten er und seine Kameraden gegen den Bosnien-Krieg demonstriert. Am Ende hatte er damals resigniert erkennen müssen, dass sich die Stimme der Vernunft nie durchsetzte.

Vielleicht neigte sich die Zeit der Tyrannen ihrem Ende zu und diese Studenten würden am Ende gewinnen.

Doch er konnte nicht wirklich daran glauben. Er wünschte es den jungen Menschen. Konstantin betrachtete sich als Grieche mit einer ägyptischen Seele. Sein Großvater stammte aus der griechischen Minderheit Alexandrias. Von ihm hatte er die Liebe zu Ägypten und dessen Altertümern geerbt. Als Kind hatte Konstantin die Sommerferien in Alexandria verbracht. Sein Großvater hatte ihn von einem Tempel zum nächsten mitgenommen und sie hatten gemeinsam Stelen, Figuren und Wandmalereien studiert. Als Unterwasserarchäologe hatte er jahrelang vor der Küste Alexandrias nach versunkenen Schätzen getaucht. Konstantin liebte dieses Land und seine Menschen und hoffte daher inständig, dass es endlich zur Ruhe kam.

Gedankenverloren erreichte er The Greek Campus in der Innenstadt. Konstantin war noch nie hier gewesen. The Greek Campus war ein Teil der amerikanischen Universität in Kairo und war in den letzten Jahren zu einer Art Silicon Valley Ägyptens geworden. Hier trafen sich neue Unternehmer, Enthusiasten und Start-up-Gründer mit Investoren und etablierten multinationalen Unternehmen. Konstantin ging einen breiten Weg entlang, der von Tischen und Stühlen gesäumt war. Beinahe alle Tische waren besetzt. Stimmengewirr und Gelächter verschmolzen zu einem Summen in Konstantins Ohren. Konstantin scannte die Gesichter der Menschen im Park nach dem Professor. Allerdings ohne Erfolg.

Sein Handy summte erneut.

Bitte kommen Sie zum Steigenberger Hotel El Tahrir-Cairo Zimmer 420.

Konstantin zog die Augenbrauen zusammen.  

Was war hier los?

Er drückte auf das Telefonzeichen. Es klingelte zwei Mal, dann ging wieder die Mailbox an. Konstantin öffnete Google Maps. Das Hotel war etwa zehn Minuten von ihm entfernt. Er schaute sich um. Eine sanfte Brise streichelte die Bäume und ließ die Blätter leise rascheln. Beklemmung krallte sich in seiner Brust fest. Er hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Nervös schaute er sich um, doch keiner der Parkbesucher schien von ihm Notiz zu nehmen. Sie waren zumeist in Unterhaltungen vertieft. Erneut meldete sich sein Handy.

Bitte beeilen Sie sich, Konstantin.

So lautete die nächste Nachricht des Professors.

Irgendetwas stimmte nicht. Der Professor musste in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Aber warum diese Geheimniskrämerei? Und warum geht er nicht an sein Handy?

Konstantin machte kehrt und lief zurück zum Tahrir-Platz. Hier hatte sich die Lage zwischen den Polizisten und Demonstrierenden zugespitzt. Mit Schlagstöcken bewaffnete Beamte waren auf die Protestierenden losgegangen. Konstantin machte einen Umweg um den Platz herum und eilte beinahe rennend zum Hotel. Tränengas erfüllte die Luft. Konstantins Kehle brannte. Nach wenigen Minuten erreichte er das Hotel. Vor der Rezeption wartete eine lange Schlange. Konstantin entdeckte die Aufzüge und nahm den ersten in den vierten Stock. Er eilte aus dem Aufzug und stieß dabei mit einem Mann zusammen. Konstantin entschuldigte sich im Vorbeigehen. Der Mann brummte etwas Unverständliches. Kurz darauf erreichte er Zimmernummer 420 und klopfte an. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Sie war nur angelehnt gewesen. Er klopfte noch einmal an, bevor ihm auffiel, dass die Tür gewaltsam aufgebrochen worden war. Konstantin stieß sie vorsichtig auf.

„Professor?“, rief er. Seine Stimme zitterte.

Keine Antwort.

„Professor Adam?“ Dieses Mal rief er lauter.

Keine Reaktion.

Zögerlich schritt er in den Raum hinein. Das Zimmer war dunkel. Er suchte den Lichtschalter und betätigte ihn. Es wurde hell. Was Konstantin sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Sein Herz raste. Professor Adam lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Fußboden. Um seinen Kopf herum hatte sich eine Blutlache gebildet. Konstantin war wie betäubt.

***

Hustend beobachtete Robert das Hotel. Tränengas hatte die Luft erfüllt. Er kniff die brennenden Augen zusammen, die bereits tränten. Die Straßen hatten sich beinahe geleert. Nur noch wenige Menschen eilten davon, Kleidungsstücke schützend vor Mund und Nase haltend. Auf seinem Handy tippte er eine Nachricht und las sie noch einmal.

Ich weiß, wer uns zu den Schriftrollen führen kann.

Er drückte auf Senden. Mehr musste der Shepherd nicht wissen. Je weniger sein Meister involviert wurde, desto besser war es für ihn. Trotz des Brennens in seinen Augen spürte er den Nervenkitzel. Er freute sich auf das bevorstehende Abenteuer. Im nächsten Moment tadelte er sich für diese unangemessene Empfindung. Er trug die Last der Bürde, Gott zu dienen. Freude war hier unangebracht. Zum Glück hatte sich das Tränengas im sanft aufgekommenen Wind nach und nach verflüchtigt. Ein Gedanke drängte sich in sein Bewusstsein.

Sollte er die Schriftrollen einfach vernichten, sobald er sie hatte?

Diese Schriften waren in der Lage, die Grundpfeiler der Kirche und der Institution zu stürzen. Robert hatte sein Leben in den Dienst der Institution gestellt. Sie zu beschützen war seine heilige Pflicht, doch diese Schriftrollen warfen ein anderes Licht auf die Kirche … ein dunkles Licht. Eine innere Stimme erklang in seinem Kopf.

Vernichte die Rollen nicht. Dein Glaube ist die reinste Lüge.

Robert zuckte zusammen und schüttelte den Kopf, um die Blasphemie loszuwerden. Es war wieder einmal die Stimme Asasels. Seit dem Mord an dem Paläografen Benjamin Watt spukte der Teufel in seinem Hirn herum und versuchte aufs Neue, von seinem Verstand Besitz zu ergreifen.

„Verschwinde“, zischte er.

Gelächter dröhnte in seinem Schädel. Robert ignorierte es und dachte an die heiligen Worte Jesu im Johannes Evangelium:

Ich bin in die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.

Nach und nach beruhigte er sich. Vom Tahrir-Platz ertönten jetzt Schüsse. Wieder rannten Demonstranten über die Straße. Polizisten mit Schutzmasken wedelten mit Schlagstöcken. Robert musste an den Religionsunterricht im Kloster denken. Asasel war in der Lage verschiedene Gestalten anzunehmen und konnte daher jeder sein. Wenn man nicht mit dem Herzen sieht, wird man ihn nicht erkennen. Er lebte in den Menschen und nahm ihren Verstand in Besitz. Er ließ die Gläubigen auf Abwege geraten, polarisierte und schürte Konflikte. Er war das Böse in den Menschen.

Und was du da tust, ist nicht böse?, fragte die Stimme in seinem Kopf.

„Nein“, rief er vehement.

Er diente dem Guten! Die Institution war Gottes Wille. Der Shepherd war sein Hirte. Er hatte ihm beigebracht, die Institution über alles zu stellen, sogar über sein eigenes Leben. Sie war der Anfang und das Ende. Er träumte davon, eines Tages den Shepherd zu beerben. Dann würde er der Hirte sein. Sein Herz tanzte vor Freude.

Rauchsäulen stiegen über den Tahrir-Platz auf. Erneut war Tränengas in seine Richtung gezogen und schmerzte in seinen Augen. Sirenen näherten sich. Er konnte hier nichts mehr tun. Es war an der Zeit zu verschwinden. Zum letzten Mal blickte er zum Hoteleingang zurück. Diese Dummköpfe brachten seinen Plan durcheinander. Die Sirenen waren jetzt ganz nah. Aber wo blieb die Polizei?

In diesem Moment entdeckte er den Mann. Konstantin Nikolaidis verließ eilig das Hotelgebäude.

„Verdammt!“, entfuhr es ihm.

Dieser Teil des Plans war schiefgegangen.

***

Konstantin schaute aus dem Heckfenster des Taxis. Niemand schien ihn zu verfolgen. Er atmete langsam ein und aus und versuchte dabei, sein rasendes Herz zu beruhigen. Er rieb sich gerade die kalt feuchten Hände, als er seinen blutbefleckten Hemdsärmel entdeckte. Erschrocken schaute er zum Taxifahrer hinüber. Dieser war jedoch auf das Verkehrschaos auf den Straßen von Kairo konzentriert und schien von ihm gar keine Notiz zu nehmen. Sein Ärmel musste mit dem Blut des Professors in Kontakt gekommen sein, als er an dessen Hals vergeblich nach einem Puls gesucht hatte. Hastig krempelte er sie hoch. Vor seinem geistigen Auge sah er den leblosen Professor auf dem Boden liegen. Er kämpfte gegen die Trauer und die aufsteigenden Tränen in seinen Augen an. In seiner Hand hatte der Professor einen Umschlag gehalten. Darin befand sich sein Reisepass. Das überraschte Konstantin … die letzte Handlung seines Freundes war es gewesen, seinen Reisepass aus der Tasche hervorzuholen.

Erneut schaute Konstantin zum Taxifahrer, der das Auto in einer Schlangenlinie durch den dichter werdenden Verkehr manövrierte. Konstantin holte den Pass des Professors heraus und blätterte darin. Zunächst fand er nichts Auffälliges, doch beim zweiten Durchblättern fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Auf dem letzten Blatt des Dokumentes waren Symbole eingezeichnet. Eine geheime Nachricht, die Adam für ihn hinterlassen hatte? Hatte der Professor gewusst, dass sein Leben in Gefahr war? Ein beunruhigender Gedanke machte sich in ihm breit. Der Professor hatte vor dem geplanten Treffen seine Anrufe nicht entgegengenommen. Hatte man ihm eine Falle gestellt? Sollte ihn die Polizei in flagranti in dem Hotelzimmer erwischen?

Je länger er darüber nachdachte, umso mehr ergab das Ganze einen Sinn. Irgendjemand hatte ihm den Mord an den Professor in die Schuhe schieben wollen. Er dachte an das lauterwerdende Heulen der Sirenen, als er das Hotel verlassen hatte. Zunächst hatte er sich nichts dabei gedacht. Auf dem Tahir-Platz hatte es ein großes Polizeiaufgebot gegeben und Sirenen schienen daher nichts Außergewöhnliches zu sein. Jetzt dachte er allerdings anderes darüber. Wäre er fünf Minuten länger in diesem Hotelzimmer geblieben, säße er jetzt höchstwahrscheinlich in Fesseln auf dem Rücksitz eines Polizeiautos anstatt in einem Taxi.

„Wir sind da“, verkündete der Taxifahrer nun. „Das macht fünfunddreißig Pfund.“

Geistesabwesend schaute Konstantin zum Taxifahrer auf, der sich zu ihm umgedreht hatte.

„Sie sehen blass aus. Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte er besorgt.

Konstantin stammelte eine Entschuldigung und kramte in seinen Taschen nach seinem Geldbeutel. Er gab dem Taxifahrer einen fünfzig Pfund Schein.

„Behalten Sie den Rest“, sagte er und sprang aus dem Auto, die Fürbitten des Taxifahrers in seinem Rücken. Seine Knie fühlten sich noch weich an, als er auf den Hauptbahnhof zu lief. Am Eingang blieb er kurz stehen und schaute sich um. Niemand schien ihn zu verfolgen.

Normalerweise vermied Konstantin Zugfahrten, denn die Züge waren alt und in der Regel überfüllt. Angenehmes Reisen war etwas anderes, doch eine Fahrt mit dem Auto durch das Kairoer Verkehrschaos schreckte ihn noch mehr ab. Dazu kamen noch die durch die Unruhen verstopften Straßen der Stadt. Jetzt musste er allerdings rasch wieder nach Alexandria zurückfahren, denn dort kannte er sich aus und konnte untertauchen und über seine nächsten Schritte nachdenken. Bald würde die Polizei die Überwachungsaufnahmen des Hotels ausgewertet haben und eine Fahndungsausschreibung herausgeben.

Die Eisenbahnstrecke Kairo-Alexandria galt als eine der ältesten Afrikas. Eisenbahn der Pharaonen nannte man die bereits 1854 in Betrieb genommene Strecke. Konstantin ging durch die Eingangshalle, die mit einer auf dem Kopf stehenden Pyramide als Kronleuchter geschmückt war. Auch hier gab es Überwachungskameras. Konstantin senkte hastig den Kopf und lief zu einem der Schalter hinüber. Er kaufte eine Fahrkarte und eilte zum Gleis. Ein mulmiges Gefühl überkam ihm. Erneut schaute er sich nach Verfolgern um. Die Bahnhofshalle wimmelte nur so vor Reisenden. Keiner schien ihn zu bemerken.

Auf dem Gleis entdeckte er jedoch mehrere Polizisten, die den Bahnsteig bewachten. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Zu seiner Erleichterung tummelten sich die Fahrgäste allerdings auf dem Bahnsteig und Konstantin tauchte in der Menge unter.

Endlich fuhr der Zug ein. Nachdem sich die Aussteigenden mühsam ihren Weg aus dem Zug durch die Menge gekämpft hatten, drängte sich die Lawine der Wartenden durch die engen Türen und trieb ihn mit sich hinein. Wer Glück hatte, ergatterte einen Sitzplatz. Konstantin bahnte sich einen Weg in den hinteren Teil der Eisenbahn. Endlich fand er in einem der Waggons einen Stehplatz und lehnte sich gegen eine Stange. Trotz des strengen Geruches von Schweiß und Zigarettenrauch atmete Konstantin erleichtert auf. Hier war er unsichtbar; einer von vielen. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Gemächlich zuckelnd verließ er den Bahnhof. Ein lautes Pfeifen hallte durch den Waggon. Konstantin blickte aus dem Fenster. Die grüne Landschaft des fruchtbaren Nil-Deltas zog langsam an ihm vorbei. In der Ferne entdeckte er die Pyramiden von Gizeh, die sich in den letzten Sonnenstrahlen des Tages rot verfärbten und allmählich kleiner wurden, bis sie schließlich am Horizont verschwanden. Bei diesem atemberaubenden Ausblick beruhigte sich sein Puls langsam. Er vergaß seine Umgebung und blendete das summende Stimmengewirr um ihn herum aus. Er musste seine Gedanken sortieren und seine nächsten Schritte gut überdenken. Irgendjemand hatte Professor Adam ermordet und wollte ihn als Sündenbock ans Messer liefern. Aber wer? Er hatte keinen Schimmer. Er dachte nach. Sein Leben war in den letzten Jahren komplett aus den Fugen geraten. Seit der Entdeckung des großen Tempels der Göttin Isis vor den Toren der versunkenen Stadt Herakleion waren ihm keine weiteren archäologischen Sensationsfunde mehr gelungen. Damals hatte er sich zwar Feinde gemacht, doch das lag inzwischen länger als drei Jahre zurück. Sein einstiger Erfolg war längst in Vergessenheit geraten. Damals hatte er es sogar auf das Cover des Time Magazine geschafft. Lange Zeit war er ein gefragter Gast in Talkshows und bei Wissenschaftssendungen gewesen. Inzwischen war sein Ruhm jedoch verblasst. Sponsoren hatten ihm den Geldhahn abgedreht und er hatte sogar seine Grabungslizenz verloren. Um den finanziellen Absturz abzuwenden, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sein Schiff die Venus zu verkaufen. Glücklicherweise hatte sein vermögender Freund und ehemaliger Geschäftspartner Yasser Imam die Venus gekauft. Wenn er in Alexandria weilte, fuhren die beiden gemeinsam aufs Meer und tauchten dort nach Schätzen. Mittlerweile waren jedoch auch diese Anlässe immer seltener geworden. Sein Misserfolg ging an seinem Privatleben nicht spurlos vorbei. Er war in eine tiefe Depression verfallen, war schneller reizbar und ungenießbar geworden. Am Ende hatte ihn Ilana, die Liebe seines Lebens, verlassen. Besser gesagt, er hatte sie vergrault.

Konstantin wischte die bedrückenden Erinnerungen beiseite und dachte zurück an die Ereignisse des Tages. Professor Adam musste auf irgendetwas gestoßen sein, was ihn das Leben gekostet hatte. Er, Konstantin war nur das Bauernopfer, der zur Stelle gewesen war und dem man den Mord in die Schuhe schieben wollte. Seine Freundschaft zu Adam war allgemein bekannt. Sie waren des Öfteren gemeinsam in der Öffentlichkeit aufgetreten. Also hatte der Mörder gewusst, dass er ins Hotel kommen würde, wenn ihn der Professor darum bat.

Eine andere Möglichkeit kam ihm plötzlich in den Sinn. Vielleicht war der Mörder davon ausgegangen, dass der Professor Konstantin in seine Entdeckung eingeweiht hatte. In dem er ihm den Mord anhängte, konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.  

So muss es gewesen sein. Professor Adam war ein brillanter Wissenschaftler gewesen, der in den achtziger Jahren zu den führenden Forschern auf dem Gebiet der Religionsgeschichte gehört hatte. Mit einer sehr gewagten These hatte er damals die Fachwelt erschüttert und einige Kollegen gegen sich aufgebracht. Er hatte die Behauptung aufgestellt, dass der englische Herrscher Offa von Mercien aus dem achten Jahrhundert zum Islam konvertiert war. Damals hatte ihn diese Behauptung beinahe seine wissenschaftliche Karriere gekostet.

Der Zug hielt jetzt in Tanta an. Zahlreiche Menschen stiegen aus. Konstantin vermutete viele Pilger unter ihnen. Die berühmte Moschee der Stadt war nämlich eine beliebte Wallfahrtsstätte. Konstantin ließ sich auf einen der frei gewordenen Sitze fallen. Erleichtert streckte er seine schwer gewordenen Beine aus. Zumindest hatte er jetzt eine Theorie und damit einen Ansatz für weitere Nachforschungen. Wenige Sitze vor ihm entdeckte er einen bärtigen Mann mit buschigen Augenbrauen. Dieser trug die traditionale ägyptische Kopfbedeckung und schien Konstantin verstohlen zu betrachten. Als Konstantin seine Blicke erwiderte, wandte der Fremde den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. Vermutlich war er nur ein Reisender, der einfach nicht wusste, wohin mit seinen Blicken. Konstantin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken schweiften erneut in die Vergangenheit ab.

Als sein Team vor drei Jahren vor der Küste von Alexandria auf rätselhafte persische Münzen aus dem siebten Jahrhundert gestoßen war, hatte ihm die Paläografin Ilana Shaik bei der Enträtselung der geprägten Inschriften geholfen.

Was rein beruflich begonnen hatte, entwickelte sich mit der Zeit zu einer romantischen Liebesgeschichte. Dann war der Bürgerkrieg in Syrien ausgebrochen. Ilana hatte sich damals in Aleppo befunden und an der Übersetzung altertümlicher Schriftrollen gearbeitet. Sie hatte aus der umkämpften Stadt fliehen müssen und war schließlich in die Gefangenschaft radikaler Rebellen geraten. Konstantin hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu retten. Er war selbst in den Irak gereist und hatte Profischmuggler engagiert, die Ilana in Syrien befreien und in den Nachbarstaat bringen sollten. Letzten Endes war es ihm gelungen, seine Liebe aus den Fängen der Radikalen zu retten. Sie waren ein Paar geworden und es war die schönste Zeit seines Lebens gewesen, bis er sie erneut verloren hatte. Dieses Mal war es seine Schuld gewesen.

Der Zug ratterte und Konstantin öffnete die Augen. Er musste eingeschlafen sein. Er reckte sich. In diesem Augenblick betrat ein stämmiger großgewachsener Mann mit einem roten Schal um den Hals den Waggon. Einen Augenblick lang blieb sein Blick auf Konstantin haften. Wiedererkennen blitzte in den grünen Augen, die seine ausländische Herkunft verrieten, auf. Über seine Stirn verlief eine Narbe, die bis zu seiner linken Schläfe reichte. Konstantin schätzte den Mann auf Mitte Fünfzig. Er war sich ziemlich sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben.

Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gefasst, wusste er es auch bereits. Das war der Mann, mit dem er vor Adams Hotelzimmer zusammengestoßen war.

***

Robert beobachtete, wie Konstantin hastig das Hotel verließ. Sein Plan, dass ihn die Polizei auf frischer Tat ertappte, war jedoch nicht aufgegangen. Immerhin gab er den einzigen Verdächtigen ab. Wenn er schlau ist, würde Konstantin untertauchen und versuchen, seine Unschuld zu beweisen. Robert überlegte kurz, dann folgte er Konstantin. Einige Straßenblocks entfernt blieb dieser stehen. Erst jetzt erkannte Robert, dass er etwas in den Händen hielt. Ein Heft oder ein Notizbuch? Konstantin blätterte kurz darin und steckte es dann ein.

Hatte Konstantin etwas bei dem Professor gefunden?

Er selbst hatte den alten Mann nicht durchsucht.

Verdammt!

Konstantin hielt ein Taxi an und stieg ein. Robert schaute auf seine Uhr. Es war 16:30 Uhr. Eigentlich hatte er keine Zeit zu verlieren, denn er wollte heute noch nach New York zurückfliegen, aber New York würde warten müssen. Ein weiteres Taxi näherte sich. Robert sprang, mit den Händen winkend auf die Straße. Das Auto bremste scharf und kam vor ihm zum Stehen. Er stieg hinten ein.

„Folgen Sie dem Wagen da vorne“, befahl er und zeigte auf das andere Taxi.

Der Fahrer brummte etwas und beäugte ihn misstrauisch. Robert zog einen Hundert-Dollar-Schein aus der Tasche und legte ihn neben den Fahrer. Das Gesicht des Mannes formte ein Lächeln und vergilbte Zähne blitzten in der Abendsonne auf. Das Taxi schoss vorwärts.

„Halten Sie aber etwas Abstand“, ermahnte ihn Robert.

„Geht klar Chef“, erwiderte der Taxifahrer und drosselte die Geschwindigkeit.

Robert lehnte sich zurück, behielt die Straße vor ihnen jedoch weiterhin im Auge. Der Shepherd wird darüber nicht erfreut sein. Doch Robert war bewusst, dass bei einer komplexen Operation wie dieser nicht selten Komplikationen auftreten konnten. Außerdem blieb ihm noch genug Zeit, alles wieder geradezubiegen. Er würde seinen Meister nicht noch einmal enttäuschen. Das letzte Mal war er zwölf Jahre alt gewesen. Er war beim Stehlen in einem Einkaufszentrum erwischt worden und hatte den Rest des Tages auf einer Polizeiwache verbracht. Der Shepherd hatte ihn dort abgeholt und in einen kleinen fensterlosen Raum mit kahlen Wänden eingesperrt. Er hatte dort einen ganzen Monat verbracht. Ihm war genug Zeit geblieben, um über seine Sünden nachzudenken. Später hatte ihm der Shepherd den Unterschied zwischen Gut und Böse erklärt. Sie sprachen über Moral und Ethik. Der Shepherd war der Auffassung, dass ein Mensch gut war, wenn er moralisch handelte. Er war immer noch gut, wenn er jenseits der Moral etwas tat, seine Ziele aber gut und edel waren.

„Nicht der Weg ist das Ziel. Das Ziel ist das Ziel“, hatte der Shepherd einmal erklärt. „Gelegentlich muss man Böses tun, um Gutes zu erzielen.“   

Robert wusste, dass der Shepherd recht hatte. Der Herr war der Einzige, der bestimmte, was moralisch war.

Erneut waren sie dicht an Konstantins Taxi herangefahren.

„Immer zwei Autos dazwischen lassen“, wies er den Taxifahrer an.

 „Ich weiß, wie eine Verfolgung läuft“, erwiderte der Mann hinter dem Steuer und lächelte ihn im Rückspiegel stolz an.

Okay, James Bond, bestimmt tun Sie das jeden Tag, dachte Robert, ohne es laut zu sagen.

„Sie wollen zum Hauptbahnhof“, kündigte der Taxifahrer wenig später an.

Wohin denn sonst?

Robert hob einen weiteren Hundert-Dollar-Schein in die Höhe.

„Der gehört Ihnen, wenn Sie vor denen da sind.“

In den nächsten Minuten bereute Robert sein Angebot fast, denn das Taxi bog unter protestierendem Hupen unvermittelt in eine Seitenstraße ein. Der Fahrer raste durch schmale Gassen und hupte warnend. Passanten rannten erschrocken aus dem Weg. Wenige Minuten später parkte das Auto vor dem Ramses-Bahnhof.

Konstantin kaufte sich ein Ticket nach Alexandria. Robert tat es ihm gleich und folgte ihm zum Bahnsteig. Hier verlor er allerdings seine Spur, denn auf dem Bahnsteig drängten sich die Reisenden. Robert stieg ein. Er würde Konstantin im Zug schon finden. Der Zug fuhr an und Robert kämpfte sich von einem Waggon zum nächsten. Ab und zu blieb er stehen und studierte die Gesichter der Reisenden. Dann arbeitete er sich weiter durch den vollen Zug und erntete dabei lautstarke Proteste und Kopfschütteln. Am Ende gab er seine Suche auf. Er würde bis Alexandria warten müssen. Dort würde er schnell aussteigen und Konstantin vor der Eingangshalle auflauern. In Tanta stiegen eine Menge Reisende aus. Robert fand einen Platz und setzte sich. Erschöpft lehnte er den Kopf zurück und schaute durch das Fenster. Draußen dämmerte bereits der Abend und sein Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Er betrachtete die quer verlaufende Narbe auf seinem Gesicht. Es war ein Stigma. Stolz fuhr er mit den Fingern darüber. Bei einem Anschlag auf den Shepherd hatte er sich vor ihn geworfen und damit dessen Leben gerettet. Eine Kugel hatte dabei sein Gesicht gestreift. Nur die Hand des Herrn hatte seinen Tod verhindert. Er war für etwas Höheres bestimmt. Für das hier? Es ist Gottes Wille, dass er die Schriftrollen findet und den Glauben und die Institution vor dem Untergang bewahrt. Für diese Aufgabe hatte der Allmächtige sein Leben damals verschont.

In der Ferne funkelten die Lichter einer nahenden Großstadt. Robert stand auf. Er musste als einer der Ersten den Zug verlassen. Er betrat den Neben-Waggon auf dem Weg zur nächsten Tür. In diesem Moment entdeckte er Nikolaidis. In dessen Augen blitzte sofort die Erkenntnis auf.

„Verflucht.“

***

Stirnnarbe schaute ihn an. Einige Herzschläge zu lange. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Waggon hastig. Konstantin sprang auf und lief ihm unter protestierenden Rufen hinterher. Der Zug wechselte jetzt die Schienen und wankte dabei stark. Konstantin hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten und gleichzeitig geradeaus zu gehen.

„Pass doch auf“, schrie eine Frau.

„Sorry“, erwiderte Konstantin.

Der nächste Waggon war nicht so voll wie die vorherigen. Konstantin öffnete die Zwischentür und betrat das Abteil, als ihn ein Tritt in den Rücken traf. Ihm entfuhr ein erstickter Schrei. Er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Konstantin unterdrückte den Schmerz und sprang sofort auf, doch Stirnnarbe war schneller und rammte ihm ein Knie in die Weichteile. Konstantin sackte in sich zusammen. Er hörte Proteste der Mitreisenden, die sich in den hinteren Teil der Kabine retteten. Der Zug bog jetzt in eine scharfe Kurve und Stirnnarbe verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht. Konstantin nutzte die Gelegenheit, sammelte seine ganze verbliebene Kraft und trat dem Mann gegen das Schienbein. Stirnnarbe heulte auf. Zwei Männer eilten auf die Kämpfenden zu. Einer trug eine Polizeiuniform.

„Was ist hier los?“, fragte der Polizist.

Konstantin wies auf Stirnnarbe und rief: „Halten Sie ihn fest. Das ist ein Mörder.“

Der Polizist griff zu seiner Waffe, doch bevor er sie ziehen konnte, betätigte Stirnnarbe die Notbremse. Das Kreischen von Metall hallte ohrenbetäubend in dem Abteil wider. Der Zug entschleunigte rasch und schien sich auf einmal um die eigene Achse zu drehen, bevor er mit einem Knall zum Stillstand kam. Konstantin versuchte, sich an einer Sitzlehne festzuhalten, wurde jedoch mitgerissen und gegen die Kabinenwand geschleudert. Alle Luft entwich aus seinen Lungen. Er rang nach Atem und blieb kurz hocken, um sich wieder zu sammeln. Menschen lagen um ihn herum auf dem Boden, schrien entsetzt oder schmerzgeplagt. Andere liefen panisch davon, trampelten auf herumliegende Körper und eilten zu den Ausgängen. Im nächsten Moment fiel ihm Stirnnarbe ein. Er schaute sich hastig um und entdeckte ihn. Unwirsch kämpfte sich Stirnnarbe in seine Richtung. Konstantin richtete sich rasch auf, doch Stirnnarbe war mit einem Satz bei ihm und versetzte ihn einen Tritt in die Brust. Konstantin fiel rückwärts zu Boden. Erneut rang er nach Luft.

„Geben Sie mir die Dokumente“, forderte er Konstantin lauthals auf. In der Hand hielt er einen Gegenstand. Konstantin riss erschrocken die Augen auf, als er den Notfallhammer erkannte.

„Halt!“, rief der Polizist.

Sein Gesicht war blutverschmiert, er wankte und wirkte unsicher auf den Beinen. Mit beiden Händen hielt er seine Waffe.

„Mach keine Dummheiten“, zischte Narbengesicht in perfektem Arabisch und wedelte mit dem Hammer. Der Polizist hob die Waffe und gab einen Schuss ab. Ein Fenster zerbarst. Konstantin wusste nicht, ob der zittrige Polizist absichtlich vorbeigeschossen hatte.

„Es ist noch nicht vorbei“, sagte Stirnnarbe, lief zum Fenster und kletterte hinaus. Konstantin erhob sich und schaute zu dem Polizisten. Dieser taumelte. Er schien schwerer verletzt zu sein, als er gedacht hatte. Kurz überlegte er, ihm zu Hilfe zu eilen, doch er musste schnell weg, bevor weitere Sicherheitskräfte eintrafen. Irgendjemand wollte ihm einen Mord anhängen und er musste erst mal seine Lage richtig einschätzen. Außerdem würde es hier gleich vor Rettungskräften wimmeln.

Konstantin lief zum nächsten Ausgang und wurde dabei von nachrückenden Menschen nach draußen gedrängt. Einen kurzen Augenblick blieb er stehen und schaute an sich hinab. Er schien unverletzt zu sein. Um ihn herum herrschte pures Chaos. Ein Teil des Zuges war entgleist. Der Waggon, in dem er saß, war in einen Strommast gekracht, der in eine gefährlich schiefe Lage geraten war. Zwei Waggons waren umgekippt und lagen seitlich neben den Bahnschienen. Passagiere lagen blutverschmiert daneben. Andere liefen an den Schienen entlang auf den Hauptbahnhof von Alexandria zu, der wenige Hundert Meter entfernt lag.

Aus Richtung des Bahnhofs kamen ihm Polizisten und Rettungssanitäter entgegen. Eine Frau in einer Notarztjacke blieb stehen.

„Was ist passiert?“, fragte sie ihn.

„Der Zug aus Kairo ist entgleist.“

„Sie bluten“, sagte sie.

Konstantin fuhr mit seiner Hand über sein Gesicht.

„Die andere Seite“, sagte die Notärztin.

Konstantin wischte sich über die linke Wange und betrachtete seine blutige Hand.

„Lassen Sie mich mal sehen.“

Konstantin hob abwehrend die Hände.

„Halb so schlimm. Mir geht es gut. Dahinten gibt es Menschen, die Ihre Hilfe nötiger brauchen“, sagte er und machte sich auf dem Kiesweg entlang der Schienen auf den Weg. Unterwegs hielt er Ausschau nach Stirnnarbe, doch dieser war anscheinend wie vom Erdboden verschluckt. Vor dem Hauptbahnhof herrschte ein heilloses Durcheinander. Polizei- und Rettungsfahrzeuge rasten herbei. Konstantin ging auf der Grinfel Street nach Osten bis zum Stadion und bog dann nach Norden in Richtung Universität ab. Die Dämmerung war schleichend in Dunkelheit übergegangen und die Straßenbeleuchtung sprang an. Außer Atem lief er weiter die Straße entlang. Die sonst so pulsierende Metropole kam ihm ungewöhnlich leer vor. Die Stadt war seit Tagen in Alarmbereitschaft. Auch hier waren die Menschen wegen der neuen Regierung auf die Straßen gegangen. Der beißende Geruch von Tränengas und angekokelten Autoreifen hing schwer in der Luft. Seine Augen brannten und ein Gefühl der Übelkeit keimte in ihm auf. Immer wieder waren in der Ferne Schüsse zu hören. Als er weiter nach Norden vordrang, entdeckte er kurz vor der Hafenpromenade eine Gruppe Jugendlicher. Sie hatten einen Kreis gebildet und riefen Parolen gegen den neuen Präsidenten. Hundertschaften der Polizei beobachteten sichtbar angespannt das Geschehen aus einer gewissen Distanz. 

Konstantin bog in eine der Nebenstraßen ein. Im Osten stiegen Rauchsäulen in den Himmel über der Bibliothek von Alexandria.

Oh Gott, es wäre nicht das erste Mal, dass sich Flammen durch die Bücher der berühmtesten Bibliothek der Welt fraßen und das ganze antike Wissen zerstörten. Voller Entsetzen lief er wie gebannt auf die Bibliothek zu. Die Qual der Bücher, wie er es nannte, begann schon im Jahre 47 vor Christus, als Gaius Julius Cäsar den Hafen von Alexandria und mit ihm die Bibliothek in Brand gesteckt hatte. Diese Qual ging im Jahr 415 nach Christus weiter, als die Mathematikerin und Philosophin Hypatia von fanatischen Christen, die das Heidentum endgültig vernichtet sehen wollten, zu Tode gefoltert wurde. Ihre Bücher wurden in Alexandria verbrannt. Das Ganze hatte sich im 7. Jahrhundert nach der arabischen Eroberung wiederholt. Entsprechend groß war Konstantins Erleichterung, als er feststellte, dass der Rauch nicht aus der Bibliothek selbst kam, sondern aus brennenden Mülltonnen in der Nähe des Gebäudes. Er blieb am Straßenrand stehen und beobachtete seufzend die Szenerie. Nach einer Weile wandte er sich ab und ging in Richtung Westen. In dem Versuch, die gesperrten Hauptstraßen zu vermeiden, bahnte er sich einen Weg durch enge Gassen und Nebenstraßen. Trotz Kopfschmerzen und Angespanntheit lächelte er und dachte an einen Artikel, den er vor zwei Jahren auf seinem Blog veröffentlicht hatte. Darin hatte er die These aufgestellt, dass die wiederholte Verbrennung der alexandrinischen Bibliothek nur einen literarischen Akt darstellte, der jedes Mal eine neue Ära eingeläutet hatte.

Offenbar stehen wir gerade vor einer neuen Ära, dachte er. Dieses Mal hoffentlich ohne eine Bücherverbrennung.

Nachdem er sich überzeugt hatte, dass ihm niemand folgte, nahm er sein Handy heraus und schrieb eine Nachricht.

Komm bitte so schnell wie möglich zur alten Festung.

Er dachte nach. Dann fügte er hinzu:

Ich brauche 10000 Dollar.

Wenige Minuten, nachdem er die Nachricht gesendet hatte, piepte sein Smartphone.

Kein Problem. Aber ich bin erst morgen früh wieder in Alexandria.

Er las die Nachricht und verfluchte sein Pech.

***

An diesem Morgen war es außergewöhnlich warm. Konstantin hatte die Nacht zuvor in einem billigen Motel am Rande der Stadt verbracht. Der Schlaf war ihm jedoch verwehrt geblieben. Kinder lungerten auf dem Platz vor der Qāitbāy-Zitadelle herum. Sie erinnerten ihn an seine eigene Kindheit. Wann immer Konstantin in Alexandria war, war er mit seinen Freunden Yasser und seinem Bruder Rami an diesen Ort gekommen. Die Verteidigungsanlage war zu ihrem Lieblingsplatz geworden. Sie strahlte eine Faszination aus, der sie sich einfach nicht entziehen konnten. Nachdem sich die drei Freunde den Film Jäger des verlorenen Schatzes mit Harrison Ford angesehen hatten, waren sie regelmäßig hierhergekommen und hatten davon geträumt, ebenfalls einen verborgenen Schatz zu finden.

Jahre später sollte sein Traum wahr werden. Mit seinem Team hatte Konstantin drei Jahre zuvor einen versunkenen Tempel vor der Küste Alexandrias entdeckt. Zusammen mit seiner Ex-Freundin Ilana Shaik war es ihm gelungen, die Symbole auf den Wänden und den Säulen des Heiligtums zu analysieren und sie auf eine uralte Religion der Muttergöttin zurückzuführen. Die Kerngedanken dieses alten Glaubens fanden sich immer noch in den großen monotheistischen Religionen unserer Zeit wieder. Konstantin war stolz auf seine Entdeckung.

Aus der Hosentasche holte er eine Zigarette hervor, zog sie unter der Nase entlang und kostete den Tabakduft voll aus, bevor er sie ansteckte. Er hatte erneut mit dem Rauchen angefangen, nachdem Ilana ihn verlassen hatte. Das Nikotin beruhigte ihn und er beobachtete die spielenden Kinder durch den Nebel des Qualms hindurch. Die Zeit verging. Konstantin rauchte eine zweite und eine dritte Zigarette.

Wo blieb Yasser?

Er versuchte, sich zu entspannen, und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Festung vor seinen Augen. Was wusste er darüber? Die Zitadelle aus drei Stockwerken in der typisch islamischen Architektur war im 15. Jahrhundert auf der nördlich gelegenen Pharos-Halbinsel erbaut worden. Ein Teil der Festungsmauern bestand aus den Steinen des legendären Leuchtturms von Alexandria, dem jüngsten der sieben antiken Weltwunder. Der Leuchtturm war im 3. Jahrhundert vor Christus von Ptolemaios I., dem General Alexander des Großen, in Auftrag gegeben und im 14. Jahrhundert durch ein starkes Erdbeben zerstört worden. Diese Tatsache hatte die Fantasie von Konstantin und seinen beiden Kinderfreunden beflügelt. Sie hatten fest daran geglaubt, dass unter der Anlage ein alter Schatz vergraben lag.

„Ohne diesen naiven Glauben wäre ich niemals Archäologe geworden“, murmelte er vor sich hin. Plötzlich fiel ihm auf, dass zwei Kinder ihn beobachteten.

Sie müssen denken, ich bin verrückt und führe Selbstgespräche.  

Verlegen lächelte er die beiden an, die sich daraufhin hastig abwendeten.

Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach plötzlich die morgige Stille und riss Konstantin unsanft aus seinen Gedanken. Erschrocken blickte er um sich. Die Kinder schauten zum Himmel hinauf. Eine Rauchsäule stieg im östlichen Horizont von Alexandria auf.

Dieses Land kommt anscheinend niemals zur Ruhe.

Endlich erschien Yasser und hinkte auf ihn zu. Die Beinverletzung hatte sich sein Freund vor knapp drei Jahren zugezogen, als er Konstantin das Leben gerettet hatte.

Yasser war immer schlicht, aber elegant gekleidet. Eine goldene Armbanduhr schmückte sein Handgelenk und deutete auf Wohlstand hin.

„Du wirst als Terrorist gesucht. Was zum Teufel hast du angestellt?“, fragte Yasser und kam ohne Begrüßung direkt auf den Punkt.

„Als Terrorist?“, fragte Konstantin verwundert.

„Die Nationale Sicherheit hat mich kontaktiert“, sagte Yasser.

„Wieso denn das?“

Konstantins Herz machte einen Satz bei der Erwähnung der nationalen Sicherheitsbehörde Ägyptens. Diese war für ihr hartes Durchgreifen berühmt berüchtigt.

„Ja Mann! Wo bist du nur hineingeraten? Ich frage mich …“

„Bist du dir sicher, dass dir keiner gefolgt ist?“, unterbrach ihn Konstantin.

„Keine Sorge. Ich war vorsichtig.“ Yasser seufzte. „Weißt du, was sie mit dir machen, wenn sie dich erwischen? Grieche hin oder her.“

Konstantin blickte sich nervös um.

„Niemand ist mir gefolgt“, beruhigte ihn Yasser. „Ich werde mich da nicht mit reinziehen lassen. Du kennst ja die Vorgeschichte meiner Familie“, fügte er hinzu.

Konstantin nickte. Rami Imam, Yassers Bruder, hatte unter seinem Alias Abu Youssef Al Masri als Rebellenführer in Syrien und dem Irak gekämpft. Bis zu seiner Ermordung vor drei Jahren war er von Geheimdiensten weltweit als Topterrorist gesucht worden. Obwohl sich Yassers Familie von Rami distanziert hatte, waren sie lange von den Sicherheitsbehörden schikaniert worden.

„Was wollten die Beamten der Nationalen Sicherheit von dir wissen?“

„Sie haben mir erzählt, dass du wegen Mordes gesucht wirst und einen Anschlag auf einen Zug verübt hast. Der Zug sei vor dem Bahnhof von Alexandria entgleist.“

„Das war ich nicht“, protestierte Konstantin.

Er gab seinem Freund daraufhin eine Zusammenfassung der Ereignisse.

„Lass uns zur Polizei gehen und alles aufklären“, schlug Yasser vor.

„Sie werden mir garantiert glauben“, stieß Konstantin zynisch hervor.

Yasser schaute zu Boden.

„Hast du das Geld?“, fragte Konstantin.

„Ja“, erwiderte Yasser und überreichte ihm einen braunen Umschlag.

Konstantin öffnete den Umschlag, warf einen Blick hinein, bevor er ihn zusammenfaltete und in seine Jackentasche steckte.

„Was hast du vor?“, fragte er.

„Zuerst muss ich das Land verlassen und dann meine Unschuld beweisen.“

„Wie willst du aus Ägypten rauskommen? Dein Name und deine Fotos liegen bestimmt an jedem Flughafen und jedem Grenzübergang aus.“

„Ich kenne da jemanden, der mir helfen könnte.“

***

Durch sein Kameraobjektiv beobachtete Robert, wie Konstantin und Yasser Imam in ein Auto stiegen. Auf dem Rücken trug er einen Rucksack und sah aus, wie einer der vielen Touristen, die hierherkamen, um die Zitadelle zu besichtigen. Kurz überlegte er, ob er die beiden überwältigen und Konstantin das Heft des Professors abnehmen sollte, doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Erstens wusste er nicht, ob Konstantin das Heft überhaupt bei sich trug und Zweitens hatte sich die ganze Sache besser entwickelt, als er es sich erträumt hatte. Konstantin wurde als Terrorist gesucht, und jetzt hatte er sich mit dem Bruder des berüchtigten Terroristen Abu Youssef Al Masri getroffen, der ihm einen Umschlag, vermutlich mit Geld, übergeben hatte. Das sah nicht gut aus für die beiden. Er hatte all das aufgenommen. Robert lächelte zufrieden, blickte zum Himmel hinauf und dankte Gott für dieses Geschenk. Gott hatte einen Plan für ihn, dessen war er sich sicher. Schließlich konnte er nicht jeden töten, der die Schriftrollen gesehen hatte. Mit diesen Beweisen würde er Konstantin und seinen Freund Yasser aus dem Weg räumen können. Bestenfalls würden sie ihr restliches Leben in einer schäbigen Zelle verbringen. Er konnte nicht wissen, ob Yasser etwas von der Schriftrolle wusste. Es konnte jedoch nicht schaden, ihn ebenfalls loszuwerden. Alles geschah nach dem Plan des Allmächtigen. Robert hatte nur eine Mission und diese bestand darin, den Glauben und seine Institution zu beschützen. Konstantin hatte nichts Besseres verdient. Robert war schockiert gewesen, als er erfahren hatte, was der Archäologe schon alles an blasphemischen Behauptungen aufgestellt hatte. Gott wäre nichts weiter als eine Weiterentwicklung der heidnischen Göttin Ištar. Dafür hatte Konstantin tatsächlich noch Lob geerntet. Sogar einige Theologen und verdorbene Priester zollten ihm Anerkennung. Sie alle gehörten auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Welt brauchte eine neue Inquisition, um das Werk Gottes zu beschützen. Er, Robert, war ein Gotteskrieger und sein Racheengel. Für diese Aufgabe hatte Gott sein Leben bei dem Anschlag auf den Shepherd verschont.

Bei dem Gedanken daran schmerzte seine Stirnnarbe. Robert hob den Blick und bat Gott um Verzeihung, da er an dessen Plan vor dem Hotel und als ihm Konstantin im Zug entkommen war, gezweifelt hatte. Der Allmächtige hatte einen besseren Plan für diesen gottlosen Konstantin. Erst jetzt verstand Robert die Absicht des Herrn. Sie war mehr als perfekt.

Das Auto fuhr davon und Robert ging zu den spielenden Kindern hinüber.

„Wo finde ich die nächste Post?“

Die Kinder gaben ihm eine Wegbeschreibung. Entspannt schlenderte er die Straßen entlang, das Kreischen der Möwen und das Donnern der sich brechenden Meereswellen im Rücken. Die Straßen füllten sich gerade mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Im Postamt setzte er sich an einen Tisch, nahm ein Heft und begann zu schreiben. Als er fertig war, riss er die Seite ab und steckte sie zusammen mit der Speicherkarte der Kamera in einen Umschlag. Dann googelte er die Anschrift von al-Ahram, der berühmten ägyptischen Zeitung, schrieb sie auf den Umschlag und verschickte den Brief.

Robert war erschöpft. Er hatte letzte Nacht nicht geschlafen. Er hatte richtig vermutet, dass Konstantin auf Yassers Hilfe zurückgreifen würde. Schließlich war dieser sein bester Freund und langjähriger Kollege. Also hatte er die Nacht vor Yassers Haus verbracht. Dieser war erst kurz nach dem Morgengrauen aufgetaucht, hatte sich schnell umgezogen und war dann über Umwege zur Zitadelle gefahren.