Kapitel 8
Port Kirrie, Juni 2007
Nachdem Scotty Caitlin bei einem ihrer letzten Spaziergänge wieder davongelaufen war, hatte sie sich geschworen, ihn nicht mehr ohne Leine laufen zu lassen, auch wenn dies für beide keine befriedigende Lösung war. Für Scotty nicht, weil er so gerne am Strand die Möwen jagte und nicht verstand, warum er diese Freiheit nicht mehr genießen durfte und für Caitlin nicht, weil er gegen alle Vernunft ununterbrochen an der Leine zerrte und sie permanent dagegen steuern musste, um nicht umgerissen zu werden. Allerdings hatte sie auch keine Lust darauf, dass der Hund wieder ausbüxte und unter ein Auto geriet oder die Steilklippe hinabstürzte. Wie sollte sie so etwas Onkel Paul und Tante Niamh erklären? Sie würden sich beide damit abfinden müssen, dass die Spaziergänge in Zukunft anders ablaufen würden. Caitlin hatte sich für den Spaziergang heute Shorts angezogen, damit sie Scotty ein Stück ins Wasser folgen konnte und er schien damit halbwegs zufrieden. Während sie mit dem Hund an der Leine in den Fluten stand, nahm sie aus dem Augenwinkel plötzlich etwas wahr. Als sie näher hinschaute, sah sie, dass es ein Pferd war, das den Strand entlang galoppiert kam. Caitlin dachte an den jungen Reiter, der ihr geholfen hatte, Scotty wieder einzufangen. Das Pferd sah ähnlich aus, jedoch bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, dass es reiterlos war. Erschrocken blickte sie in die Richtung, aus der das Pferd kam und sah in weiter Entfernung eine Person. Caitlin wollte das Pferd anhalten, wusste aber, dass es lebensmüde wäre, sich vor ein herangaloppierendes Pferd zu stürzen. Stattdessen hob sie den rechten Arm, machte „Brr“ und rief: „Stopp.“ Etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein, aber offenbar schien es zu helfen, denn das Pferd verlangsamte seinen Schritt und trabte jetzt gemächlich auf sie zu. Caitlin war erstaunt über ihre verborgenen Fähigkeiten als Pferdeflüsterin. Mit der freien Hand ergriff sie die Zügel des Pferdes und redete beruhigend auf das Tier ein. „Na, wo hast du denn deinen Reiter gelassen?“, fragte sie und blickte den Strand entlang. Der mutmaßliche Besitzer war schon etwas nähergekommen, aber noch ein gutes Stück entfernt. Scottys Leine in der einen und die Zügel des Pferdes in der anderen Hand ging Caitlin dem Reiter entgegen. Als er schließlich zu ihnen aufschloss, war er nicht nur aus der Puste, sondern auch sichtlich genervt. Und zu Caitlins Überraschung war es derselbe junge Mann, dem sie kürzlich schon einmal begegnet war.
„Mistvieh“, murmelte er und nahm Caitlin die Zügel aus der Hand. Dann besann er sich doch seiner Manieren und bedankte sich bei ihr. „Sagen Sie, sind wir uns nicht schon mal begegnet?“, fragte er irritiert.
Caitlin musste unwillkürlich lachen. „Ja, ich glaube schon. Mir ist damals etwas abhandengekommen oder besser gesagt, jemand.“ Sie blickte hinab zu Scotty, der sich brav in den Sand gesetzt hatte und vor sich hin hechelte. Erst jetzt schien dem jungen Mann klar geworden zu sein, wen er eigentlich vor sich hatte. „Stimmt, sie sind Scottys Hundesitterin. Ja, da war doch vor Kurzem etwas.“ Er lachte verlegen. „Schon komisch, dass man sich zweimal in kurzer Zeit begegnet und jedes Mal, weil einem das Haustier weggelaufen ist.“
„Ja, das stimmt. Ich freue mich jedenfalls, dass ich mich revanchieren konnte. Ich schätze, wir sind jetzt quitt.“
Der junge Mann sah Caitlin für einen Augenblick aufmerksam an und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Vielen Dank dafür. Ich bin übrigens Aidan. Nur für den Fall, dass wieder mal ein tierischer Notfall zwischen uns eintritt.“ Er reichte ihr die Hand.
„Caitlin. Hast du dir eigentlich wehgetan? Bei dem Sturz meine ich.“
Aidan blickte an seinen beschmutzten Klamotten herunter und winkte dann ab. „Ach, alles halb so schlimm. Das passiert schon mal, vor allem, wenn man so regelmäßig aufs Pferd steigt wie ich.“
Caitlin war im Ort gar kein Reiterhof aufgefallen. „Wo bist du denn jetzt hergekommen? Ich habe hier bisher noch keinen Reiterhof gesehen und ich bin eigentlich sicher, dass ich in den letzten Wochen jeden Winkel kennengelernt habe.“ Aidan lachte. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ist recht überschaubar hier. Einen Reiterhof gibt es tatsächlich nicht, aber im Nachbarort, in Templeton. Da komme ich her, also heute. Ich wohne aber hier im Ort.“ Caitlin fragte sich, wo sich Aidan den ganzen Tag versteckt hielt, denn bisher war sie ihm im Alltag noch nie begegnet. Und das, obwohl sie ihrer Meinung nach viel draußen unterwegs und die hiesige Einwohnerzahl recht überschaubar war.
„Ist es dir hier noch nicht zu langweilig geworden?“ Aidan lachte und Caitlin musste sich eingestehen, dass er sehr gut aussah. Schnell schob sie diesen Gedanken beiseite. „Bisher noch nicht. Vielmehr genieße ich für den Moment die Ruhe und Abgeschiedenheit.“
Aidan zog ungläubig eine Augenbraue hoch. „Ist es denn so schlimm in New York? Es war doch New York, oder?“
Caitlin freute sich, dass sich Aidan an ihren Wohnort erinnert hatte. „Schlimm nicht. Aber hektisch und laut. Manchmal. Außerdem muss ich aus privaten Gründen etwas Abstand von dort bekommen.“ Sie biss sich auf die Lippen. Sie konnte doch nicht anfangen, einem völlig Fremden gegenüber ihre Probleme zu erzählen.
Aidan ging jedoch nicht weiter darauf ein. „Verstehe. Also, falls du mal wieder Lust auf Geselligkeit hast, hier im Ort gibt es einige Pubs mit gutem irischen Bier, Essen und Live-Musik.“
„Das hört sich toll an. Aber alleine in einen Pub zu gehen ist nicht so mein Ding.“
Aidan kratzte sich nervös am Kopf. „Naja, ich meinte ja auch eigentlich, dass ich dich vielleicht begleiten könnte. Als Fremdenführer sozusagen.“
Caitlin musste lächeln. Sollte das etwa eine Art Date sein? Aber das war ja albern, sie kannten sich erst seit gefühlten fünf Minuten. „Danke für das Angebot. Ich lass es dich wissen, wenn mir nach Gesellschaft ist.“
Aidan lächelte ebenfalls. „Ok. Vielleicht sollten wir dann die Telefonnummern austauschen. Nur für alle Fälle.“
„Na klar, warum nicht?“
„Du kannst mich ruhig auch sonst kontaktieren. Falls du Fragen hast oder Hilfe benötigst, meine ich. Oder einen Reiseführer. Hier gibt es einige interessante Orte, die einen Ausflug lohnen.“
„Danke, das ist nett von dir. Aber du brauchst dir wirklich keine Umstände zu machen. Du hast doch bestimmt andere Dinge zu tun.“
„Ach, kein Problem. Ich mach das gerne. Außerdem habe ich was gut bei dir, schließlich hast du Lucky davon abgehalten, bis nach Dublin zu galoppieren.“
Caitlin fand es süß, dass Aidan meinte, ihr etwas schuldig sein zu müssen. Erstens war es eher Glück gewesen, dass Lucky bei ihr zum Stehen gekommen war und zweitens hatte er ihr mit ihrem Hund genauso geholfen. „Und du hast Scotty davon abgehalten, das Gleiche zu tun.“
„Stimmt. Schon komisch, oder?“
„Ja, sehr komisch.“
Sie verabschiedeten sich und jeder ging beziehungsweise ritt seiner Wege. In Caitlins Kopf machte sich ein großes Durcheinander breit. Sie dachte über die beiden Begegnungen mit Aidan nach. Und über die Tatsache, dass der junge Ire äußerst attraktiv war. Für einen kurzen Moment erinnerte sie sich an den Matchmaker in Lisdoonvarna zurück. Aber Blödsinn, da gab es natürlich überhaupt keinen Zusammenhang. Außerdem war sie offiziell immer noch mit Eric verlobt, auch wenn sie in der letzten Zeit so gut wie keinen Gedanken an ihn verschwendet hatte. Caitlin versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Zum Beispiel auf die Kiste mit den Sachen ihrer Urgroßmutter. Damit wollte sie sich in der nächsten Zeit intensiver beschäftigen und so würde ihr auch sicher nicht langweilig werden. Als sie nach Hause kam, kochte sie sich erst mal eine große Tasse Tee. Dann setzte sie sich in den gemütlichen Lehnsessel im Wintergarten und machte es sich mit dem Tagebuch ihrer Urgroßmutter gemütlich. Trotz guter Vorsätze war sie bisher nicht über den ersten Eintrag vom Februar 1916 hinausgelangt. Die anderen Seiten hatte sie nur lose durchgeblättert und dabei festgestellt, dass es bei den Einträgen teils erhebliche Zeitsprünge gab. Der letzte Eintrag des Buches datierte vom 11. November 1918, dem Tag des Waffenstillstandes. Caitlin war sich unschlüssig, ob sie chronologisch beginnen sollte, entschied sich dann aber dafür, einfach irgendein Datum herauszupicken und dann zu sehen, was sie herausfinden würde. Sie schloss die Augen und blätterte blind die Seiten durch. Dann blieb sie bei einer aufgeschlagenen Seite hängen und begann den Eintrag vom 19. Juli 1916 zu lesen:
Liebes Tagebuch,
heute war ein unsagbar heißer Tag. In unserer Dachgeschosswohnung war es kaum auszuhalten, sodass wir bis spät abends draußen blieben. Mutter sagte, man könne auf dem Herd Spiegeleier braten, ohne ihn anzumachen. Aber gemacht hat sie es dann doch nicht, da wir keine Eier mehr hatten. Dafür trocknete die Wäsche nun viel schneller, und wir konnten zwei Waschladungen aufhängen, die bis abends trocken waren. Ich bin mit Helen, Lizzie und Baby Willie durch die Straßen spaziert, die immer noch Spuren des Osteraufstandes zeigen. Ein paar Jungs pfiffen mir hinterher und machten anzügliche Bemerkungen, aber ich habe sie einfach ignoriert. Abends, als die Kleinen im Bett waren, habe ich mit Mutter am offenen Fenster gesessen und mich unterhalten. Sie hat dann angefangen zu weinen, weil sie Vater so schrecklich vermisst. Seit Wochen haben wir nichts mehr von ihm gehört und die Leute erzählen, dass im Moment eine furchtbare Schlacht in Frankreich geschlagen wird, wo schon viele Soldaten ums Leben gekommen sind. Mutter hat Angst, dass Vater auch einer von ihnen sein könnte, aber ich habe sie beruhigt, dass das gar nicht sein kann. Schließlich ist Vater so tapfer wie Fionn Mac Cumhaill. Ich hoffe wir hören bald von ihm, damit Mutter sich keine Sorgen mehr zu machen braucht.
Caitlin legte das Tagebuch beiseite. Es kam ihr merkwürdig vor, sich ihre Urgroßmutter als Teenager vorzustellen, der diese Zeilen schrieb. Damals, während des Ersten Weltkrieges in den Armenvierteln von Dublin. Auf einmal hatte sie das dringende Bedürfnis, dort hinzufahren und sich die Gegend anzuschauen, in der ihre Urgroßmutter ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Leider befand sich Dublin am anderen Ende von Irland, aber Caitlin musste es einfach schaffen, dorthin zu fahren, solange sie noch hier war. Natürlich würde es heutzutage nicht mehr so aussehen wie damals. Dennoch hatte sie das starke Gefühl, dass sie diesen Ort besuchen musste, um ihrer Urgroßmutter näher zu sein. Sie nahm das Tagebuch wieder auf und blätterte zum nächsten Eintrag zwei Tage später.
21.Juli 1916
Liebes Tagebuch,
heute ist eigentlich nichts Besonderes passiert. Es ist immer noch sehr heiß, und wir mussten wieder den ganzen Tag draußen verbringen, obwohl es dort auch nicht viel kälter war. Joe Gleeson und Paddy O’Halloran kamen vorbei und haben Flugblätter verteilt, in denen sie uns dazu aufriefen, ihre Gruppe zu unterstützen, die sich für die Freiheit Irlands einsetzt und die Männer des Oster-Aufstandes rächen will. Ich habe ihnen gesagt, dass ihnen sowieso niemand zuhören wird, da sie doch nur kleine Jungs sind, worüber sie sich sehr aufgeregt haben. Paddy O’Halloran meinte, es wäre schade um mich, dass ich so wenig Verstand in meinem hübschen Köpfchen hätte.
Caitlin musste bei diesen Zeilen schmunzeln. Sie wusste, dass dieser Paddy O’ Halloran ihr Urgroßvater war. Schnell blätterte sie zur letzten beschriebenen Seite vor und landete beim 11. November 1918:
Liebes Tagebuch,
aus, aus, aus! Der Krieg ist wirklich aus! Ich kann es immer noch nicht glauben, aber es ist wirklich so. Das bedeutet, dass Vater endlich wieder zu uns zurückkommt. Wie lange haben wir auf diesen Tag gewartet? Baby Willie, der gar kein Baby mehr ist, hat Vater außer auf Fotos noch nie gesehen. Der wird vielleicht Augen machen! Und Vater ebenso, wenn er sieht, was für ein strammer Junge sein kleines Baby geworden ist. Ach, wie ich mich freue, jetzt wird alles wieder gut.
Paddy O’Halloran und ich treffen uns in letzter Zeit häufiger. Er ist wirklich nett und bringt mich immer zum Lachen. Außerdem sieht er auch recht gut aus, aber ich mache es ihm nicht zu leicht, er darf sich ruhig ein wenig anstrengen. Manchmal mache ich mir Sorgen um ihn, weil er für Irlands Unabhängigkeit kämpft, was ich mutig finde, aber die Briten werden sich das nicht gefallen lassen. Ich hoffe, er passt immer gut auf sich auf.
Caitlin klappte das Tagebuch zu und hielt einen Moment inne. Gerade, wo es anfing interessant zu werden, brach das Tagebuch ab. Was hatte das zu bedeuten? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Sie begab sich auf den Dachboden, um noch einmal genauer nachzusehen, was sich in der alten Truhe befand, entdeckte aber keine weiteren Tagebücher. Caitlin war enttäuscht. Stattdessen nahm sie einen Stapel Briefe und das alte verblichene Hochzeitsfoto ihrer Urgroßeltern mit nach unten. Das Glas des Bilderrahmens hatte einige Risse und Caitlin beschloss, einen neuen Rahmen zu beschaffen. Das hatte das Bild verdient. Vorsichtig entfernte sie den kaputten Rahmen und betrachtete das Hochzeitsbild. Wie jung ihre Urgroßeltern aussahen. Sie drehte das Bild um und las „Dublin, 10.Juni 1920“. Vorsichtig stellte sie das Bild auf den Kaminsims und legte den Stapel Briefe daneben. Sie betrachtete das Bild noch eine Weile und bekam dabei ein merkwürdiges Gefühl. Für einen kurzen Moment kam es ihr so vor, als würden ihre Vorfahren aus dem Bild zu ihr sprechen, aber das konnte natürlich nicht sein. Vermutlich hatte sie sich in letzter Zeit zu intensiv mit dem Thema beschäftigt und sah nun Gespenster. Möglicherweise war sie doch zu oft alleine, nur mit Scotty und den Geistern der Vergangenheit. Das war auf Dauer keine allzu gute Gesellschaft. Sie überlegte, ob sie Aidan kontaktieren und sein Angebot annehmen sollte, aber vielleicht hatte er auch einfach nur höflich sein wollen und es gar nicht ernst gemeint. Schließlich hatte er ein eigenes Leben und Freunde. Und eine Freundin. Da wäre es doch komisch, wenn sie ihm jetzt hinterherlief, immerhin waren sie sich bisher nur zweimal begegnet. Caitlin dachte eine Weile darüber nach. Dann hatte sie eine Idee.