Leseprobe Das Herz der stolzen Lady

Kapitel Eins

London, 1802

Iain Vale betrachtete die Marmorstatue eines bedauernswerten Kerls ohne Arme, als die Tür daneben aufflog und ein Wirbelwind in Röcken in die Halle stürmte.

„Das werde ich nicht tun!“, schrie der Wirbelwind und knallte die Tür zu, drehte sich um und rannte direkt in Iain hinein.

„Uff!“ Sie prallte von ihm ab und stolperte rückwärts, wobei sich ihr Fuß im Saum ihres Kleides verhedderte.

Iain sprang vor, streckte seinen langen Arm aus und umschlang ihre schmale Taille, um ihren Sturz aufzuhalten. Er blickte auf die kleine, warme Frau in seinem Arm hinab. Überraschte graue Augen sahen ihn ungehalten an. Ihr Mund, der vor Schreck geöffnet war, klappte zu. Iain zog eilig seinen Arm fort und wich zurück.

„Wer zum Teufel sind Sie denn?“, fragte das Mädchen fordernd und strich sich über die Röcke, als hätten seine behandschuhten Hände sie beschmutzt.

„Ich bin der neue Diener, Miss.“

Ihre grauen Augen wurden stahlhart. „Sind Sie dumm?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Ich bin keine Miss. Ich bin Lady Elinor, die Tochter Ihres Arbeitgebers.“

Iain errötete unter ihrem verächtlichen Blick. Schon oft hatten Leute ihn verbal herabgesetzt, doch noch nie so … effektiv.

„Gern geschehen, Lady Elinor.“

„Was?“, fragte sie schnippisch. „Was haben Sie gesagt?“ Ihre Augen waren so groß, dass sie aussahen, als drohten sie aus ihren Höhlen zu fallen.

„Ich sagte ‚Gern geschehen, Mylady‘.“

Sie stemmte ihre Fäuste in ihre schmale Taille. „Weshalb?“

„Weil ich Euch vor einem sehr hässlichen Sturz bewahrt habe“, gab er zurück. Obwohl er jede Regel im Handbuch des Dieners brach – wenn ein solches denn existierte –, war er nicht in der Lage, seinen Mund zu halten.

Das wenig damenhafte Geräusch, das ihr entfuhr, verriet Iain, dass sie dasselbe dachte. „Sie sind ein unerträglich anmaßender Bursche. Und davon abgesehen der unkundigste Diener, den ich je gesehen habe.“

Im Hinblick auf Letzteres konnte Iain ihr nicht widersprechen.

„Außerdem“, fügte sie hinzu und musterte ihn von oben bis unten, „hätte ich Ihren unbeholfenen Rettungsversuch nicht gebraucht, wenn Sie nicht an der Tür gelauscht hätten.“

An der Tür gelauscht? Dieses unausstehliche kleine …

Iain wollte gerade etwas Törichtes und vermutlich Kündigungswürdiges sagen, als die Tür, die Lady Elinor zuvor so gewaltsam aufgerissen hatte, sich erneut öffnete und Lady Yarmouth im Rahmen stand. Ihre grauen Augen, die denen ihrer Tochter so sehr ähnelten, wanderten von Lady Elinor zu ihrem neuen Diener und wieder zurück.

„Was geht hier vor, Elinor?“

Das Mädchen zog eine Schnute. „Ich habe unseren neuen Diener gerade gefragt, ob er mit mir durchbrennen möchte, Mama.“

Iain klappte die Kinnlade herunter.

Lady Yarmouths Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Sie bedachte die junge Frau mit einem Blick, der sie zu einem zitternden Häufchen zu Füßen ihrer Mutter hätte reduzieren sollen. Ihre Tochter starrte zurück und zitterte kein bisschen.

„Komm sofort wieder rein, Elinor!“ Die ältere Frau drehte sich auf dem Absatz um und zog sich in den Raum zurück, ohne nachzusehen, ob ihre Tochter ihr gehorchte.

Lady Elinor seufzte übertrieben und verdrehte hinter dem Rücken ihrer Mutter ihre Augen, bevor sie humpelnd auf die offene Tür zuging. Sie hielt inne und drehte sich noch einmal zu Iain um.

„Wenn Sie Ihren Mund nicht schließen, werden Sie noch damit Fliegen fangen.“ Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Verdammt noch mal!

***

Iain gähnte. Es war beinahe drei Uhr morgens und die Festlichkeiten schienen kein Ende zu nehmen. Im Gegensatz zu seiner vorherigen Begegnung mit Lady Elinor war der Abend ruhig gewesen. Enttäuschend ruhig, nicht nur für seinen ersten Ball, sondern auch für seinen ersten Tag als Diener. Das einzig Unterhaltsame war gewesen, einem auffällig gekleideten Lebemann dabei zuzusehen, wie er seinen Magen auf seine Tanzschuhe entleerte, während er noch bemüht war – es jedoch nicht schaffte –, rechtzeitig die Herrentoilette zu erreichen.

Iain rückte die Spitzenmanschetten seines schicken neuen Hemdes zurecht und betrachtete den Fremden, der ihm aus dem reich verzierten Spiegel entgegensah. Die schwarze Livree ließ ihn größer erscheinen als seine eins achtzig und der gut geschnittene Frack spannte sich über seinen Schultern, sodass er eher schlank und gefährlich als mager und jung aussah. Sein widerspenstiges rotes Haar war zu bloßen Stoppeln gekürzt worden und wurde nun von einer weißen gepuderten Perücke verdeckt, die ihm Würde verlieh. Seine Sommersprossen waren natürlich noch immer da. Es gab nichts, was er tun konnte, um sie zu verdecken. Ganz im Gegensatz zu seinem Alter.

„Du siehst nicht wie fünfzehn aus, Iain“, hatte sein Onkel Lonnie gesagt, als er Iain früher am Tag in seinen neuen Kleidern gesehen hatte. Grinsend hatte er Iains Schulter gedrückt. „Los, erzähl mir deine Geschichte noch ein letztes Mal, Junge!“

Die Geschichte hatte sich sein Onkel ausgedacht, als Iain vor drei Monaten erstmals in Viscount Yarmouths Haushalt vorgesprochen hatte: Iain war neunzehn und hatte sechs Jahre in Mr Ewan Kennedys Haus verbracht – zwei als Reinigungskraft, zwei als Stiefelknecht und zwei als Diener, obgleich er für letztere Position ungewöhnlich jung war. Onkel Lonnie hatte Lord Yarmouth auch erzählt, dass Iain nach London gekommen war, um Arbeit zu suchen, nachdem Mr Kennedy gestorben war, und es im winzigen Dorf Dannen in Schottland keine angemessene Stellung für ihn gegeben hatte.

Dieser letzte Teil der Geschichte war der einzige, der der Wahrheit entsprach. Dannen war eher eine Ansammlung von Hütten als ein richtiges Dorf. Einen Mr Kennedy hatte es nie gegeben und auch keine Stellung als Reinigungskraft oder Diener. Den „Brief von Mr Kennedy“ hatte Iain unter der Anleitung seines Onkels selbst geschrieben.

„Bewundern Sie Ihr hübsches Gesicht?“

Iain schrie auf und sprang gute zwanzig Zentimeter in die Luft. Weibliches Lachen hallte in dem mit Mahagoni getäfelten Flur wider. Er drehte sich um und erblickte Lady Elinor hinter sich. Ihre kleine, beinahe jungenhafte Gestalt stand wenig damenhaft an die Wand gelehnt da. Ihr weißes Kleid hing schlaff und müde an ihr herab, als wäre es bereit, zu Bett zu gehen. Ihr unscheinbares braunes Haar hatte sich aus seinen Bändern gelöst und feine Strähnen rahmten ihr schmales, blasses Gesicht ein. Nur ihre großen grauen Augen waren von Leben erfüllt.

Iain richtete sich zu seiner vollen Größe auf und starrte über ihre Schulter hinweg ins Leere. „Wie kann ich zu Diensten sein, Mylady?“

„Oh, hören Sie auf! Sie sind wütend auf mich, nicht wahr?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Es tut mir leid, dass ich vorhin so biestig war. Ich war im Unrecht. Frieden?“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und humpelte ein Stück auf ihn zu. Iain starrte sie an. Nicht wegen ihres Humpelns – er wusste bereits, dass sie lahm war –, sondern wegen der Geste. Sicher war es einem Diener nicht gestattet, die Hand einer Lady zu schütteln, oder?

Außerdem hatte er ihr nicht vergeben. Sowohl seine Mutter als auch sein Onkel sagten, er sei zu nachtragend und würde nicht leicht verzeihen. Er blickte auf ihre kleine Hand hinab und kaute auf seiner Lippe. Vielleicht hatten sie beide recht; vielleicht wäre es ratsam, zumindest so zu tun, als würde er ihr vergeben. Gerade hatte er sich dazu durchgerungen, „Frieden“ zu sagen, als Lady Elinor seine Hand ergriff.

„Seien Sie nicht böse auf mich. Ich habe mich entschuldigt.“

„Ich bin nicht böse“, log er und zog unsanft seine Hand aus ihrem Griff. Er nahm an, dass es ungehörig wäre, erwischt zu werden, wie er um drei Uhr früh die Hand der Tochter des Hauses hielt. Oder auch zu jeder anderen Tageszeit.

„Warum seid Ihr nicht dort drinnen“, er deutete mit seinem Kinn in Richtung Ballsaal, „und tanzt? Äh, Mylady?“, fügte er ein wenig zu spät hinzu.

Schnaubend hob sie ihren Rock und entblößte einen schockierend großen Teil ihres Beins. „Hiermit?“

Iain starrte auf ihr Bein hinab. Natürlich hatte er schon Mädchenbeine gesehen, doch noch nie das einer Lady. Ihre Strümpfe waren mit Blumen bestickt – Gänseblümchen vielleicht. Sein Unterleib zuckte anerkennend, während er den sanften Schwung ihrer Wade betrachtete. Für so ein winziges Ding hatte sie wohlgeformte Beine.

Sie ließ ihre Röcke fallen. „Gaffen Sie mein Bein an?“

„Was erwartet Ihr, wenn Ihr herumlauft und Eure Röcke auf diese Weise anhebt?“ Die Worte waren heraus, bevor er sie aufhalten konnte. Iain kniff die Augen zusammen und wartete darauf, dass sie anfing zu kreischen. Als er jedoch ein Kichern vernahm, öffnete er sie wieder.

Sie betrachtete ihn skeptisch. „Sie sind nicht wie die anderen Diener.“

Was sollte Iain dazu sagen?

„Sie sehen sehr jung aus. Wie lange sind Sie schon Diener?“

„Heute ist mein erster Tag.“

„Sie werden Ihre Arbeit nicht allzu lange behalten, wenn Sie mit den anderen Mitgliedern meiner Familie ebenso umgehen. Oder ihre Beine angaffen.“

Hitze stieg ihm ins Gesicht und er schürzte die Lippen. Was immer sie auf seinem Gesicht sah, entzückte sie.

„Wie alt sind Sie?“

„Neunzehn, Mylady.“

„Was für ein Angeber!“

„Wie alt seid Ihr denn?“, fragte Iain und wollte gleich darauf in Geheul ausbrechen. Wenn er so weitermachte, wäre er seine Arbeit noch vor dem Frühstück los.

„Sechzehn.“ Sie hörte auf zu lächeln und ihre Augen wurden trüb wie ein Sonnenuntergang, der seine Farbe verlor. „Doch ich könnte ebenso gut vierzig sein. Ich werde nicht einmal eine Saison bekommen.“

„Ich dachte, alle jungen Damen bekämen zumindest eine Saison.“ Was für ein Blödsinn. Was wusste er schon über Aristokraten, Saisons oder irgendetwas davon? Es war, als hätte irgendein bösartiger Gnom die Herrschaft über seinen Körper übernommen. Irgendein Kobold oder ein Geist, der entschlossen war zu bewerkstelligen, dass er seine Arbeit verlor. Oder im Gefängnis landete. Er biss seine Zähne zusammen und schwor sich, seinen Mund nicht mehr zu öffnen, bis es an der Zeit war, Essen hineinzuschieben.

Glücklicherweise war die Tochter seines Arbeitgebers zu abgelenkt, um sein Verhalten merkwürdig zu finden.

„Heute Abend war mein Verlobungsball.“ Ihre wohlgeformten blassrosa Lippen bogen sich nach unten. „Warum sollte mein Vater den Aufwand einer Saison betreiben, wenn er mich doch so einfach ohne eine loswerden kann?“

Das schien eine merkwürdige Art, über eine Verlobung zu sprechen, doch diesen Gedanken behielt Iain für sich.

„Der Earl of Trentham ist mein Verlobter“, fügte sie hinzu. Sie benötigte sein Zutun nicht, um eine Unterhaltung zu führen. „Er ist schrecklich verliebt.“

Das Schweigen wurde unangenehm. Iain räusperte sich. „Dann müsst Ihr sehr glücklich sein“, sagte er, als er es nicht länger aushielt.

Ihre Augen, die ausdruckslos in die Ferne geblickt hatten, schärften sich und zogen sich zusammen. „Er ist nicht in mich verliebt, Sie Dummkopf. Er ist in ein Anwesen verliebt, das Teil meiner Mitgift ist. Ein Stück Land, das der Schlüssel zu einem Unternehmen ist, das er und mein Vater vorhaben.“

Die Wut, die in Iain aufflammte, weil er ein Dummkopf genannt worden war, verblasste schnell, als er das Elend und den Selbsthass auf ihrem Gesicht sah.

„Lord Trentham wird sein Land bekommen, mein Vater wird Teil seines Unternehmens, und ich? Nun ich werde …“ Sie schwieg, als würde ihr plötzlich klar, was sie da sagte und zu wem sie sprach. Sie starrte ihn an. Ihre grauen Augen waren plötzlich geschmolzenes Silber. „Warum erzähle ich Ihnen all das? Wie könnten Sie je wissen, wie es ist, ein hässlicher Krüppel zu sein? Sie werden nie dazu gezwungen werden, jemanden zu heiraten, der doppelt so alt ist wie Sie. Einen Mann, der Sie mit weniger Vergnügen anschaut als ein Stück Dreck.“ Ihr Mund verzog sich. „Ich bin für ihn nichts weiter als eine Zuchtstute.“

Ihre Miene wechselte von gequält zu höhnisch. Zuvor hatte Iain sie nicht für hässlich gehalten – unscheinbar vielleicht –, aber in diesem Moment wurde sie tatsächlich unansehnlich. Zorn entströmte ihr wie Dampf einem Kessel und Iain wich zurück, um sich nicht zu verbrennen.

Sie bemerkte seine Reaktion und lachte. Das Geräusch war ebenso böse wie das Funkeln in ihren Augen. „Was? Mache ich dir Angst, Bursche?“

Iain war, als hätte sie ihn mit einem weißglühenden Eisen berührt. Er machte zwei Schritte und schloss die Distanz zwischen ihnen, zornig über die unverdiente Beleidigung. Er blickte auf sie hinab und hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Sobald er in ihre Reichweite gelangte, glitten ihre Hände an den Aufschlägen seines Fracks empor wie zwei bleiche Schlangen. Er erstarrte unter ihrer Berührung, doch sie kam noch näher. Kleine, feste Wölbungen pressten sich an seine Brust.

Brüste! Brüste!, schrie ein entfernter, aber euphorischer Teil seines Verstandes. Sein Fortpflanzungsorgan hatte es bereits mitbekommen.

Iain sah in ein paar Augen hinab, die nun weich und flehend blickten. „Wie heißt du?“, fragte sie mit heiserer Stimme.

„Ich …“ Er hustete und räusperte sich. „Iain, Mylady.“

„Möchtest du mich küssen, Iain?“ Es war kaum ein Flüstern und Iain fragte sich, ob er sie richtig verstanden hatte. Er neigte seinen Kopf und wollte sie gerade bitten, sich zu wiederholen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre Lippen auf seine presste.

Iain hatte bereits Mädchen geküsst. Gerade erst letzte Woche hatte er mit einem der Hausmädchen drüben in den Ställen einiges mehr getan als küssen. Doch dieser Kuss war anders. Es war ein sanftes, zaghaftes Angebot und kein Übergriff. Es abzulehnen war undenkbar. Er beugte sich tiefer hinab, legte seine Hände auf ihre Hüften und zog sie dichter zu sich heran. Sie war so zierlich, dass seine Finger beinahe um sie herumfassen konnten. Sie gab ein leises Geräusch von sich und berührte mit sanften Fingern seine Wange, während ihr geschmeidiger Körper mit seinem verschmolz.

„Sie verdammter Bastard!“

Das Mädchen sprang kreischend zurück, während Iains Kopf vor Schmerz explodierte. Er stolperte und vor seinen Augen tanzten bunte Lichter. Als er hinter sich tastete, um sich an der Wand abzustützen, griff er ins Leere. Ein Fuß trat seine Beine unter ihm fort und er knallte auf den Rücken, wobei sein Kopf auf dem Holzfußboden aufschlug.

„Lord Trentham, nein!“ Lady Elinors Stimme war durch das quälende Pochen in Iains Schädel kaum zu hören. Ein Körper – Lord Trenthams? – fiel mit erdrückender Kraft auf Iains Brust. Weiche, aber kraftvolle Hände schlossen sich um seinen Hals und drückten zu.

„Sie verdammtes Schwein, wie können Sie es wagen, meine Verlobte anzurühren?!“ Das Würgen an seinem Hals ließ nach und eine Faust krachte an die rechte Seite seines Schädels. „Wie können Sie es wagen, Ihre schmutzigen Hände an Höhergestellte zu legen?!“ Ein weiterer Schlag traf seine linke Schläfe.

Hört auf! Hört sofort auf, er hat nichts Falsches getan. Ich war es!

„Um dich kümmere ich mich später, du kleine Hure“, zischte der Earl. Sein Ton war noch verächtlicher als seine Worte, während seine Fäuste wieder und wieder auf Iains Kopf niedergingen. Iains Mund füllte sich mit Blut und er versuchte, es auszuspucken, bevor er sich daran verschluckte. Dann wurde ein Knie zwischen seine Oberschenkel gerammt und er schrie auf, während die Welt düster wurde.

Ihr werdet ihn noch umbringen!

Iain würgte und Trentham ließ von ihm ab, um zu vermeiden, mit Blut und Erbrochenem besudelt zu werden. Iain rollte sich auf die Seite und legte die Hände schützend auf seinen schmerzenden Unterleib. Sein Magen zog sich zusammen und er erbrach sich, bis nichts mehr in ihm übrig war.

Er wollte sterben.

„Was zum Teufel geht hier vor?!“

Iain erkannte vage Lord Yarmouths Stimme.

„Mach, dass er aufhört, Papa. Er wird ihn umbringen!“

„Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, dass er sich wünscht, tot zu sein“, knurrte Trentham, bevor er Iain in die Seite trat.

Iain stöhnte und rollte sich herum. Er wollte seine Hände nicht von seinem Bauch nehmen und weitere Tritte kassieren.

„Trentham, was ist hier los?“, fragte Yarmouth erneut.

„Dieser Flegel war gerade dabei, Eure verdammte Tochter zu besteigen, als ich ihn erwischte.“

„Das ist nicht …“, begann Elinor.

„Schweig!“, brüllte ihr Vater.

„Führt Ihr so Euren Haushalt, Yarmouth? Ist das schon einmal vorgekommen? Ist sie überhaupt noch intakt?“

„Ich versichere Euch, Trentham, dass etwas Derartiges noch nie passiert ist. Seht sie Euch an. Glaubt Ihr, dass sie für irgendeinen Mann eine große Versuchung darstellt?“ Der Viscount fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Außerdem ist das hier nur ein Junge. Ich habe Lady Yarmouth gesagt, dass er für die Position zu jung ist. Wir werden ihn unverzüglich entlassen und vergessen, dass das hier je geschehen ist.“

„Ich werde es nicht vergessen, Yarmouth. Und ich werde nicht die abgelegte Geliebte dieses Rüpels heiraten – nicht, bevor mein Arzt sie untersucht hat und mir schwört, dass sie intakt ist. Und ich möchte, dass der hier …“ Er trat Iain gegen die Schulter. „… bekommt, was er verdient.“

„Wir haben nichts Falsches getan, Papa. Es war nur …“

„Noch ein Wort von dir, Elinor, und du wirst es sehr bedauern!“ Die normalerweise sanfte Stimme des Viscounts war gefüllt mit Zorn und Verachtung. Ein unangenehmes Schweigen folgte seinen Worten, bevor er weitersprach. „Nun gut, Trentham.“

Papa, nein! Es war nur ein Kuss. Er wollte es nicht einmal. Ich habe ihn angefleht …“

Genug!“ Dem Wort folgten ein lautes Klatschen und ein erstickter Schrei.

„Ich möchte, dass er wegen versuchter Vergewaltigung angeklagt wird“, sagte Trentham mit plötzlich kühler und gefasster Stimme.

„Sehr wohl“, sagte der Viscount. „Thomas, Gerald, fasst ihn! Ihr könnt ihn in den Kerker sperren, während einer von euch den Constable holt.“ Vier Hände schlossen sich um Iains Arme und zogen ihn hoch. Schwach wehrte er sich, wand sich in ihrem Griff, während sie über den weichen Teppich davongingen.

„Ihr unfähigen Trottel!“ Die Stimme des Earls of Trentham kam von hinten. „Lasst mich sicherstellen, dass dieses Stück Dreck euch keinen weiteren Ärger macht.“ Etwas Hartes schlug gegen Iains Kopf und die Welt versank in Schwärze.

Kapitel Zwei

Im Dorf Trentham, fünfzehn Jahre später, 1817

Elinor wusch das Blut von ihren Händen und wandte sich wieder dem Jungen zu. Seine Augen unter den schweren Lidern waren von getrockneten Tränen verklebt. Bald würde er schlafen. Sie bedeutete der Mutter des Jungen, herauszukommen.

„Er wird sich erholen, Mrs Carruthers. Es war nur ein kleiner Schnitt. Kopfwunden bluten immer sehr stark, deshalb sah es schlimmer aus, als es ist. Mit dem bisschen Laudanum, das ich ihm gegeben habe, wird er den Tag über schlafen. Morgen kann er normal essen, behalten Sie ihn jedoch ein paar Tage drinnen und lassen Sie ihn sich ausruhen.“

„Oh, vielen Dank, Lady Trentham!“ Die ältere Frau wischte sich Tränen von ihren vom Wetter geröteten Wangen und küsste Elinors Handrücken, bevor Elinor bewusst wurde, was sie da tat. „Ich war so panisch, als ich vor Doctor Venables Haus stand und erfuhr, dass er unterwegs war, um der ältesten Tochter des Squires bei ihrer ersten Geburt zu helfen. Wärt Ihr nicht gewesen, wäre mein Sohn gestorben. Ganz sicher.“

Sanft entwand Elinor sich dem Griff der Frau. „Nein, nein, bestimmt wäre er nicht gestorben. Es war nur ein kleiner Schnitt, Ma’am, nichts Lebensbedrohliches. Sie sollten ihn nun nach Hause bringen, bevor er aufwacht.“

„Ich habe kein Geld, Mylady.“ Ihre ohnehin schon roten Wangen färbten sich noch dunkler.

„Bitte machen Sie sich darüber keine Sorgen, Mrs Carruthers.“

„Mr Carruthers wird die Lämmer bald hereinholen. Ich werde Euch eine schöne Keule bringen.“

„Das wäre wunderbar.“

Endlich ging Mrs Carruthers und nahm ihr schlafendes Kind und ihre unangenehme Dankbarkeit mit sich. Zurück blieb Elinor, die sich ans Aufräumen machte. Sie hatte gelernt, die Geschenke, die ihre Patienten anboten, anzunehmen, auch wenn sie die Dinge, die die Leute kaum entbehren konnten, nicht brauchte. Sie wollte die gutherzigen Menschen nicht beleidigen und fand immer einen Platz für die Gaben, meist in einem anderen bedürftigen Haushalt. Auf den Ländereien des gegenwärtigen Earl of Trentham gab es davon wahrlich genug.

Stirnrunzelnd räumte sie die verschmutzten Tücher zusammen. An den Neffen ihres verstorbenen Ehemannes – den aktuellen Earl – zu denken, gefiel ihr ungefähr genauso gut wie die Erinnerung an ihren toten Mann selbst. Also überhaupt nicht.

Stattdessen wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Arbeit zu, die sie heute noch beenden wollte. Sie studierte das menschliche Verdauungssystem und hatte den Aufsatz noch nicht fertig, den Doctor Venable ihr aufgetragen hatte.

Sie säuberte die kleine Praxis und wollte gerade mit ihren Studien beginnen, als Beth hereingeplatzt kam. Auf ihren fülligen rosigen Wangen leuchteten zwei rote Flecke.

„Ihr müsst mit mir kommen, Mylady. Schnell! Seine Lordschaft ist mit einem Gast im Anmarsch.“ Beth blickte sich in der Praxis um und kniff verächtlich die Lippen zusammen. „Ihr wisst, wie der Earl über das denkt, … nun … was Ihr hier tut.“

Elinor klappte das Buch zu, das sie gerade erst aufgeschlagen hatte. „Zum Glück muss ich mir über das Wohlwollen oder Missfallen Seiner Lordschaft keine Gedanken machen, Beth. Ich bin frei von jeglichem männlichen Einfluss, bis ich eines Tages meine sterbliche Hülle abstreifen werde.“

Beth blickte finster. „Nun, ich weiß nichts über irgendwelche Hüllen, Mylady, aber Ihr habt Blut auf Eurem zweitbesten Musselin. Kommt nun, wir müssen uns beeilen.“

Ihre Zofe schimpfte den ganzen Weg von dem Außengebäude, das ihr als Praxis diente, bis zum Witwenhaus, in dem sie mit Elinor lebte. Selbst als sie ihre Gemächer erreichten, hörte sie nicht auf. Stattdessen riss sie ihr das anstößige Kleid vom Leib und zeterte weiter vor sich hin, während sie Elinor in ihr drittbestes Tageskleid hüllte.

„Dieses Kleid ist eine Schande, Mylady. Ich kann den Saum nicht noch einmal umnähen, es ist überall fadenscheinig.“

„Wo hast du mit Lord Trentham gesprochen?“, fragte Elinor, bevor Beth sich in ihr Lieblingsthema vertiefen konnte – den miserablen Zustand von Elinors Garderobe.

„Er war auf dem Weg in die Stadt, als ich gerade vom Markt zurückkam, Mylady.“ Sie schwieg, während sie die kleinen Knöpfe schloss und Elinor hingerissen ansah. „Bei ihm war der bestaussehende Mann, den ich je gesehen habe.“

„Ach ja? Und wer ist dieser Tugendbold?“

„Er ist kein Ausländer, Mylady, sondern ein vorbildlicher Gentleman.“

Elinor verkniff sich ein Lächeln. „Ein Tugendbold ist jemand von unübertrefflicher Güte, Beth, und kein fremdländischer Titel.“

„Er hat die schönsten grünen Augen“, fuhr Beth fort, die anscheinend nicht an Vorträgen über Vokabeln interessiert war. „Und Haare von der Farbe polierten Kupfers. Er war todschick gekleidet, Mylady. Neben ihm sah Seine Lordschaft geradezu langweilig aus. Sein Frack war in einem dunklen Senfton …“

Elinor hob eine Hand. „Grün, Kupfer, Senf? Das klingt sehr gewöhnlich. Hatte er Glöckchen am Hut?“

Beth grummelte. „Oh, Ihr wollt mich veräppeln, Mylady.“ Sie zupfte ein paarmal an Elinors Schultertuch herum, bevor sie zurücktrat, um ihr Werk im Spiegel zu betrachten. Ihr Lächeln verblasste.

„Arme Beth“, kicherte Elinor und tätschelte die Hand ihrer Zofe. „Ich gebe dir nicht viel, womit du arbeiten kannst, nicht wahr?“ Sie ging zur Tür. Ihr Bein fühlte sich schwer und seltsam an, weil sie in der Praxis zu lange gestanden hatte.

„Oh, Mylady, sagt so etwas nicht. Ihr habt so eine schöne Figur und wunderbare Augen. Dazu tolles dichtes Haar. Wenn Ihr mich nur ließet …“

„Ich schätze, ich muss ihnen Tee anbieten“, sagte Elinor und unterbrach ihre Zofe, bevor diese sich auf ein weiteres ihrer bevorzugten Themen stürzen konnte: Elinor, die nicht das Beste aus sich herausholte. „Sagst du Hetty, dass sie ein paar von ihren Rosinenbrötchen bringen soll? Die sind gerade das Richtige für einen Gentleman. Ich werde sie in der Bibliothek empfangen“, fügte sie hinzu und schloss die Tür vor der Nase ihrer protestierenden Zofe. Dann stieg sie humpelnd die schmale Treppe ins zweite Geschoss hinab.

Sie würde ihre Besucher in dem von Büchern gesäumten Raum empfangen, auch wenn das gegen die Konvention verstieß. Vielleicht auch gerade deswegen. Es würde zudem den Nachfolger ihres verstorbenen Mannes ärgern.

Elinor verabscheute Charles Atwood, den Fünften Earl of Trentham, und er erwiderte ihren Hass. Er war ein habgieriger, selbstverliebter Mann, der sich schlecht um das Anwesen und die darauf lebenden Menschen kümmerte. Er war nie damit zufrieden gewesen, dass er den Titel, die Ländereien und den Reichtum seines verstorbenen Onkels geerbt hatte. Elinors mageres Auskommen von tausend Pfund im Jahr und die Tatsache, dass sie im Witwenhaus lebte, waren ihm ein Dorn im Auge.

Nichts würde er lieber sehen, als dass sie aus ihrem Haus vertrieben würde. Zu Elinors Glück war der einzige Weg, auf dem er das erreichen konnte, der Verkauf des Anwesens. In der derzeitigen Lage war es nahezu unmöglich, jemanden zu finden, der das heruntergekommene Anwesen würde kaufen wollen.

Elinor schob den Gedanken beiseite und ließ sich in ihren Sessel fallen. Sie begann, die Unordnung auf ihrem Schreibtisch zu beseitigen, die sich dort immer wieder bildete, so sehr sie sich auch bemühte, das zu verhindern. Gerade hatte sie ein paar Bücher zurück ins Regal gestellt, als die Tür zur Bibliothek aufschwang.

„Der Earl of Trentham und Mr Stephen Worth“, kündigte Beth an. Ihre Stimme klang pompös genug, um eines Prinzen würdig zu sein.

Charles schritt in die Bibliothek, als würde sie ihm gehören. Natürlich tat sie das auch. Hinter ihm betrat der beeindruckendste Mann, den Elinor je gesehen hatte, den Raum. Sein Haar leuchtete in der Tat wie Kupfer und seine Augen hatten wirklich die lebhafte Farbe von Smaragden. Als wäre das nicht genug, sahen seine Züge und seine Gestalt aus wie die eines Sagenhelden. Es fiel ihr sehr schwer, ihren Blick wieder von ihm abzuwenden und ihn auf die weit weniger anziehende Person des Earls zu richten.

Charles verbeugte sich nachlässig vor ihr. „Guten Tag, Elinor. Du siehst bezaubernd aus.“ Er grinste über seine eigene Lüge. „Mr Worth, darf ich Ihnen meine Tante vorstellen, Lady Trentham. Elinor, das hier ist Mr Stephen Worth.“

Der Beau überragte Charles um mehrere Zentimeter. Seine breiten Schultern, die in Wildleder gehüllten Schenkel und die blank polierten Stiefel beherrschten den Raum. Seine schönen Augen ruhten auf ihrem Gesicht und seine vollen Lippen bogen sich auf eine Art, die ihr seit Langem schlummerndes Herz zum Leben erweckte. Es schlug gegen ihre Rippen wie ein Wahnsinniger gegen die Wände seiner Gefängniszelle.

„Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen, Mylady.“ Sein Akzent war ungewöhnlich und Elinor war noch damit beschäftigt, ihn einzuordnen, als er ihre Hand nahm und sich darüber beugte. Sehr zu Beths Missfallen weigerte sie sich, Handschuhe zu tragen, und ihre Hände waren nicht die einer Lady. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, verspürte Elinor den Drang, ihre schwieligen, aufgesprungenen Finger vor diesem perfekten eleganten Geschöpf zu verbergen. So schnell, wie die Höflichkeit es zuließ, ließ sie ihre Hand sinken.

„Sie stammen nicht aus England, Mr Worth?“ Sie war erfreut, als sie hörte, dass ihre Stimme normal klang, wie seltsam sich auch immer ihr restlicher Körper verhalten mochte.

Seine Zähne leuchteten weiß in seinem sonnengebräunten Gesicht. „Nein, Mylady, ich komme aus Englands früherer Emporkömmlingskolonie.“ Sein anmaßendes Lächeln strafte seine bescheidenen Worte Lügen.

„Man kann die Vereinigten Staaten wohl kaum als Kolonie von Emporkömmlingen bezeichnen.“

Er grinste schief. „Dasselbe dachte ich auch, bis ich eine Saison in London verbrachte.“

Elinor musste lächeln. Welch ein Skandal dieser gebräunte, wunderbare Mann für die bleichen Aristokraten gewesen sein musste.

„Mr Worth ist geschäftlich hier, Elinor“, sagte Charles, der offensichtlich nicht zu gesellschaftlichem Klatsch aufgelegt war. „Er vertritt die Siddons Bank aus Boston.“ Seine blassblauen Augen, die so sehr denen von Elinors verstorbenem Ehemann glichen, betrachteten sie mit der kalten Berechnung einer Schlange.

„Natürlich habe ich von Siddons gehört“, murmelte Elinor. Meinte Charles, der Mann sei geschäftlich in England? Oder geschäftlich in Trentham? Was hatte Charles vor?

Die Tür ging auf und Beth brachte Tee herein. Elinor deutete auf ihren Schreibtisch. Der Blick ihrer Dienerin verriet, was diese von solch barbarischen Manieren hielt, doch Elinor ignorierte sie. Aus irgendwelchen Gründen war sie heute nicht geneigt, die Sicherheit ihres Schreibtisches zu verlassen, um den Tee angemessen zu servieren.

„Mr Worth hat den Duke of Coventry kürzlich mit seinem, äh, Erblehen geholfen“, sagte Charles, sobald sich die Tür hinter Beth geschlossen hatte. Bei dem Wort „Erblehen“ zuckte Elinor zusammen und verschüttete ein wenig Tee auf ihre Untertasse.

„Wie ungeschickt von mir“, murmelte sie und stellte ihre Tasse mit zitternder Hand ab. Als sie aufsah, blickten beide Männer sie an. Ein gewohnt boshaftes Augenpaar und das andere? Nun, sie wusste nicht genau, was sie in den Augen des Amerikaners sah. Neugier? Langeweile? Gier?

„Möchten Sie Milch oder Zucker, Mr Worth?“

„Milch und zwei Stück Zucker, bitte.“

Elinor bereitete seinen Tee zu, füllte einen Teller mit Gebäck vom Tablett und blickte auf. Der Amerikaner erhob sich und nahm ihr die Tasse ab. Er war groß, gut gebaut und bewegte sich mit der Grazie eines Athleten.

„Vielen Dank, Mylady“, sagte er mit seinem ungewöhnlichen wohlklingenden Akzent. In der Tat war nichts an ihm, das ihr nicht gefiel, außer vielleicht der Grund, der ihn nach Trentham geführt hatte.

Elinor wandte sich von seiner verstörend attraktiven Person ab und bereitete den Tee für Charles. Sie war froh darüber, etwas zu haben, womit sie sich beschäftigen konnte, während sie ihre nächste Frage stellte.

„Aber Blackfriars ist kein Erblehen.“ Dankbar, dass ihre Hand nicht mehr zitterte, reichte sie Charles die Teetasse.

Er nahm die Tasse, lehnte das Gebäck jedoch ab.

„Nein, das ist es nicht. Doch das ist nicht die einzige Dienstleistung, die Mr Worths Bank anbietet.“

Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. „Nein?“

„Ich muss meine Situation berücksichtigen“, sagte Charles mit einem hämischen Grinsen. „Du weißt besser als jeder andere, dass das Anwesen für mich ein Fass ohne Boden ist, Elinor. Du hast beinahe ein Jahrzehnt zugesehen, wie es meinen Onkel ausgelaugt hat. Da die Getreidepreise weiter fallen, wird es zukünftig kaum besser werden. Wir haben die Franzosen vielleicht auf dem Schlachtfeld geschlagen, aber ihre Rache werden sie auf den Äckern bekommen. Im Hinblick auf die Landwirtschaft können wir einfach nicht mit ihnen mithalten. Allein der Versuch wäre töricht.“

Elinor ignorierte die Argumentation, die er sich zurechtgelegt hatte.

„Das Anwesen ist weit davon entfernt, gänzlich genutzt zu werden, Charles. Blackfriars würde viel mehr Gewinn abwerfen, wenn du die nötigen Reparaturen in Auftrag geben würdest, um mehr Pächter anzulocken. Aktuell wird nur die Hälfte des Landes bewirtschaftet und viele der Cottages sind …“

Charles winkte ab und verzog seine dünnen Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. „Die Dinge liegen heute ganz anders als noch vor fünf Jahren. Der Landadel ist ein Anachronismus und je eher Männer von Sinn und Verstand das erkennen, desto besser für England. Landwirtschaft gehört der Vergangenheit an, nicht wahr, Worth?“

Der Amerikaner stellte seine Teetasse ab und zuckte leicht mit seinen breiten Schultern. „Vielleicht habt Ihr den Sachverhalt etwas zu einfach dargestellt, Mylord.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte er sich an Elinor. „Dennoch fürchte ich, dass der Earl im Kern recht hat, Lady Trentham. Die englische Landwirtschaft war bereits vor Waterloo angeschlagen. Sie ist weit davon entfernt, stabil zu sein, und die großen Landsitze Englands können keine weiteren Jahrzehnte der Misswirtschaft überleben, wie es in der Vergangenheit der Fall war.“

Charles blinzelte und runzelte dann die Stirn, als glaubte er, den Amerikaner nicht richtig verstanden zu haben. Er wandte sich von ihm an Elinor und setzte seine Argumentation fort.

„Wir sollten unser Augenmerk nun auf die Industrie lenken. Ich meine, sollen die Franzmänner doch den Ackerbau machen.“

Elinor ignorierte die törichte Prahlerei des Earls und strich ihre Röcke glatt. Beth hatte recht gehabt, ihr blaues Musselinkleid konnte sie nicht länger tragen. Der Saum war so oft umgenäht worden, dass man es aus der Ferne erkennen konnte. Sie musste dem reichen, gut gekleideten Amerikaner wie ein Gassenkind erscheinen. Sie blickte auf und sah, dass das Objekt ihrer Überlegungen sie anstarrte. In seinen grünen Augen lag etwas, das aussah wie … Zorn? Elinor wich zurück und er senkte seinen Blick auf seinen Teller, sodass sie ihn nicht weiter studieren konnte. Er nahm einen Keks und schob ihn zwischen seine wohlgeformten Lippen, bevor er wieder aufsah. Sein Blick war weich wie frische Milch.

Elinor wurde bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Sie musste seine Miene falsch interpretiert haben. Warum sollte er zornig sein? Sie war es, die auf ihn wütend sein sollte, besonders, wenn er tatsächlich aus dem Grund hier war, den Elinor vermutete.

„Sie haben dem Duke geholfen, sein Erblehen aufzulösen? Ist es das, was Banker in Ihrem Land tun, Mr Worth?“

Er lächelte nicht, doch irgendwie wusste Elinor, dass er ihre scharfen Fragen amüsant fand.

„Nicht immer, Mylady, doch ich bin auch Anwalt. Als solcher interessiere ich mich für antiquiertes Eigentumsrecht.“ Sein Blick glitt an Elinor hinab, über ihren Schreibtisch und den Rest des ärmlichen Zimmers, als wären Erblehen nicht das einzige Amüsante, was England zu bieten hatte. „Man könnte beinahe sagen, dass Erblehen so etwas wie mein Hobby sind.“

Elinor wollte ihn gerade fragen, was er so daran mochte, uralte Anwesen zu zerstören, doch Charles sprach, bevor sie es konnte.

„Mr Worth ist nicht hier, um über Erblehen zu sprechen, Elinor. Er glaubt, seine Bank hätte ein Interesse daran, Blackfriars zu kaufen.“

Elinor war nicht dumm. Sie kannte den einzigen Grund, aus dem Charles und sein verweichlichter Sohn – ein Mann, der ebenso wenig Sinn und Anstand besaß wie sein Vater – Blackfriars noch nicht verkauft hatten: Es lag am Mangel an Interessenten für ein solches Anwesen. Das Land war in schlechtem Zustand und das Haus würde einen monströsen Batzen Geld für seine Restaurierung und den Unterhalt verschlingen.

Sie taxierte den Amerikaner mit einem kühlen Blick und hoffte, dass er das üble Gefühl verbarg, das sich von ihrem Magen aus in den restlichen Körper ausbreitete.

„Ist es ein weiteres Ihrer Hobbys, unprofitable Anwesen aufzukaufen, Mr Worth?“

Er lächelte. „Unsere Bank ist stets auf der Suche nach guten Investitionen. Ich muss einige Nachforschungen anstellen, bis ich einen wirklichen Wert abschätzen kann.“

Elinor fand seine ruhige, selbstbewusste Art mehr als nur ein wenig ärgerlich, besonders seit er davon sprach, ihr Zuhause zu kaufen. Sie fragte sich, ob das wohl rechtens war.

„Wenn die englische Landwirtschaft so antiquiert ist, warum ist ihre Bank dann daran interessiert, ein landwirtschaftliches Anwesen zu kaufen?“

„Wir investieren in ein breitgefächertes Feld von Unternehmungen, Lady Trentham. Ich sagte nicht, dass wir uns bereits entschieden haben, ein Gebot für das Anwesen abzugeben. Es ist noch viel zu früh, um sagen zu können, ob Blackfriars und die Siddons Bank zusammenpassen. Ich werde ein wenig Zeit in der Gegend verbringen müssen, um das herauszufinden.“

Seine sanfte Miene hätte einen Pfaffen stolz gemacht. Doch warum fühlte Elinor sich plötzlich atemlos und ängstlich, als würde sie auf einem durchgehenden Pferd an einer Klippe entlangrasen?

Sie wandte ihren Blick von seiner seelenruhigen, aber verstörenden Miene ab. „Probieren Sie ein Rosinenbrötchen, Mr Worth. Sie sind köstlich.“

***

Stephen warf seinen Hut und seine Handschuhe auf den klapprigen Walnusstisch und zog an dem zerfledderten Glockenzug. Er war erst seit ein paar Tagen zu Gast auf Blackfriars, doch er hatte bereits gelernt, dass man am besten nach einem Diener rief, lange bevor man ihn brauchte.

Er wand sich aus seiner eng sitzenden Reitjacke und verfluchte einmal mehr die Abwesenheit von Bains, der seit sechs Jahren sein Kammerdiener war. Er hatte den Mann nur ungern in Boston zurückgelassen, doch es war ihm kaum eine Wahl geblieben. Sein Vorhaben in England war viel zu heikel, als dass er es durch unbedachtes Geplapper hätte aufs Spiel setzen können. Niemand wusste so gut wie Stephen, wie gern Diener redeten.

Nein, der einzige Angestellte, dem er bei diesem Unterfangen trauen konnte, war Fielding, ein Mann, der so wenig redete, dass er auch hätte stumm sein können. Doch Stephen hatte den schweigsamen Mann dummerweise auf eine Erkundungstour geschickt, sodass er nun nicht einmal auf dessen eher ungeschickte Hilfe zurückgreifen konnte. Es war verdammt lange her, dass er sich selbst hatte auskleiden müssen.

Stephen konnte beinahe hören, wie Jeremiah, sein weiser Mentor, ihn auslachte. „Du bist ein eitles, die Bequemlichkeit liebendes Geschöpf, Stephen“, hatte der alte Puritaner ihn viele Male gerügt.

Obwohl er zum Zeitpunkt seines Todes einer der reichsten Männer Amerikas gewesen war, hatte Jeremiah Siddons wie ein Asket gelebt und die meisten Luxusgüter als gotteslästerlich und Zeichen der Schwäche angesehen.

Stephen litt nicht unter derlei Gewissensbissen. Er hatte hart gearbeitet und viel geopfert, um sich den Luxus leisten zu können, den er nun genoss. Stirnrunzelnd betrachtete er die verstaubten gelben Vorhänge und fadenscheinigen Teppiche, die ihn umgaben. Er seufzte. Nun, er genoss den Luxus, der ihn überall umgab, nur nicht auf Blackfriars, einem Haus, dessen Annehmlichkeiten ebenso gotisch waren wie seine Erscheinung.

Es ärgerte ihn über alle Maßen, in klammen Laken zu schlafen und in spärlichem, lauwarmem Wasser zu baden. Fielding mochte eine Katastrophe sein, wenn es ums Ankleiden oder Frisieren ging, doch er sorgte stets dafür, dass Stephen ein Minimum an Komfort genießen konnte.

Dennoch hatte er Fielding nicht als Kammerdiener angestellt. Er hatte ihn angeworben, um heikle geschäftliche Dinge zu erledigen, die der schweigsame Mann mit absoluter Diskretion, Taktgefühl und schonungsloser Effizienz anging.

Stephen hatte seinem mürrischen Diener versprochen, ihm genügend Zeit zu lassen, um seine eigenen Belange zu verfolgen. Es waren private Dinge, über die Stephen nicht viel wusste und es dabei auch belassen wollte.

Nein, Fielding war kein Kammerdiener. Er war nicht einmal ein normaler Angestellter. Fielding war in keinerlei Hinsicht normal.

Stephen schob die Gedanken an seinen rätselhaften Diener beiseite und sah sich weiter in der düsteren, mottenzerfressenen Kammer um. Ohne Zweifel war es das beste Zimmer, das zur Verfügung stand. Der offensichtliche Verfall mochte unangenehm sein, aber er war ein gutes Zeichen für Stephens Vorhaben. Lord Trentham brauchte verzweifelt Geld. Reif für die Ernte, hätte Jeremiah gesagt und dann leise gekichert, als wäre er mit einer kriminellen Handlung davongekommen, die darin bestanden hatte, den vulgären Ton der Straße zu verwenden.

Ja, Stephen hatte den gierigen Lord Trentham schon fast in seiner Tasche.

Er wandte seine Gedanken dem eigentlichen Grund seines Besuchs zu: der Countess of Trentham, der Tante des Earls, die tatsächlich jünger als ihr Neffe war.

Sie nach all den Jahren zu sehen, war wie ein Schlag gegen die Kehle gewesen. Stephen hatte kaum atmen können, als er die Bibliothek betreten hatte und sie dort stehen sah.

Fünfzehn Jahre lang hatte diese Frau seine Gedanken dominiert. Ihr Gesicht war das Erste gewesen, was er gesehen hatte, wenn er am Morgen erwacht war, und das Letzte, bevor er wieder einschlief und sie in seine Träume mitnahm. In seinem Kopf hatte sie mit den Jahren monumentale Ausmaße angenommen. Heute hatte er gesehen, dass die Lady Elinor aus seiner Erinnerung nichts mit der Realität gemein hatte.

Irgendwie war sie in seinen Gedanken zu einer kräftigen Gestalt herangewachsen. Stephen erinnerte sich nicht daran, dass sie so … zierlich war. Feengleich. Nicht, dass es eine Rolle spielte, schließlich war sie ohne Zweifel dieselbe Person. Fünfzehn Jahre lang hatte er das hier geplant und sich unzählige Male gefragt, ob sie ihn erkennen würde, wenn es so weit war. Sie hätte ihn erkennen sollen: den Mann, dessen Leben sie ruiniert hatte. Doch in ihren silbergrauen Augen war nicht ein Funke des Erkennens gewesen.

Nun, warum auch? Er war nichts als ein Diener gewesen – nur wenig mehr als ein Leibeigener – und kaum der Erinnerung wert. Tatsächlich wurden die Diener in vielen aristokratischen Häusern gänzlich ihrer eigenen Identität beraubt und bekamen alle denselben Namen, damit es für ihre Herren leichter war, sie anzusprechen. Die große Lady Trentham hatte den Vorfall möglicherweise komplett vergessen.

Stephen verzog die Lippen, als er über Lord Yarmouths arrogante kleine Tochter nachdachte. Die Frau, die ihn in einen Kriminellen auf der Flucht verwandelt hatte, ihn in ein fremdes Land verbannt und gezwungen hatte, seinen Namen zu ändern. Ihretwegen war er auf einem Auge blind.

Und all das hatte sie mit einem einzigen Kuss bewerkstelligt.

Es war nicht einmal ein guter Kuss gewesen, wenn er sich recht erinnerte.

Stephen dachte an sie zurück, wie sie heute in ihrer vollgestopften, schäbigen Bibliothek gesessen hatte. Seine Erinnerungen waren die eines fünfzehnjährigen Jungen gewesen. Sein jüngeres Selbst – dieser arme verängstigte Diener – hatte sie in seiner Erinnerung zu einer unwiderstehlichen Sirene aufgebauscht. In Wirklichkeit war sie nichts weiter als eine winzige, irgendwie farblose alternde Matrone.

Warum hatte er dann so ein Prickeln gespürt, als er ihre Hand berührte? Das deutliche, blitzartige Gefühl hatte nicht im Geringsten ihrer Größe entsprochen, und auch nicht ihrer schlichten Erscheinung.

Oh, sie war kein Hausweibchen, gestand er sich. Aber schön war sie auch nicht. Kaum die Art von Frau, die ein Mann auswählen würde, um sein Leben zu ruinieren. Nicht, dass er dabei irgendetwas zu sagen gehabt hätte.

Dennoch hatte er eine unangenehme Enge in seiner Brust und ein Zucken in seiner Hose verspürt, als sie mit ihren silbergrauen Augen zu ihm aufgesehen hatte.

Stephen schüttelte die vorübergehende Anziehung ab. Es war nur die Reaktion seines Körpers nach so vielen Jahren der Vorfreude. Außerdem fand er zierliche Frauen nicht im Geringsten attraktiv. Er bevorzugte stabilere Gefährtinnen. Stephen war ein großer Mann und er schätzte üppige Figuren und großzügige Kurven – einen gesunden Armvoll unter ihm im Bett.

Nicht, dass es auf seine Vorlieben ankam, das hier war Arbeit, kein Vergnügen.

Das Einzige, woran er sich bei Elinor Trentham noch genau erinnerte, waren ihre Augen. Sie waren groß, klar und grau. Als er sie zuletzt gesehen hatte, hatte ihr Ausdruck innerhalb weniger Momente von hochmütig über belustigt zu verzweifelt gewechselt. Heute war ihr Blick nicht zu entschlüsseln gewesen.

Nun, nicht ganz. Stephen lächelte. Ihre Augen hatten sich immer sehr vielsagend verengt, wenn sie den aktuellen Earl angesehen hatte. Wer konnte es ihr verdenken? Trentham war ein tyrannischer Wurm von einem Mann. Schlimmer noch, er war dumm. Nur ein dummer Mann würde vergnügt darüber nachdenken, Blackfriars zu verkaufen, eines der feinsten Beispiele spätgotischer Architektur in ganz England, möglicherweise auf der ganzen Welt. Und doch wäre das weitläufige Haus selbst für ein gesundes Anwesen eine Belastung, und der Earl of Trentham führte kein gesundes Anwesen. Stephen grinste. Die Torheit und die Bestechlichkeit des Earls spielten ihm in die Karten und würden es zu einem Vergnügen machen, den Mann um sein Geburtsrecht zu bringen.

Seine Bestechlichkeit würde Stephen auch in Bezug auf Elinor Trentham behilflich sein. Zwischen der Witwe und ihrem Neffen gab es keine Zuneigung, und der Earl hatte keinerlei Bedenken, sie um ihren Besitz zu bringen. Trentham war voller Schadenfreude gewesen, als er Stephen erzählte, dass die Countess das Haus, in dem sie wohnte, nicht zeitlebens nutzen durfte.

Ja, der Mann war Abschaum, aber er würde Stephens Zwecken hervorragend dienen.

Ein blasses Gesicht mit silbrigen Augen verscheuchte jeden Gedanken an den jämmerlichen Earl. Stephen hatte jahrelang recherchiert und alles gelesen, was über den englischen Adel geschrieben worden war. Zum Beispiel wusste er, dass die Frau eines Earls bei der Hochzeit nicht dessen Nachnamen annahm. Sie war nicht Elinor Atwood, sondern Elinor Trentham. Sie war auch ganz und gar nicht, was er erwartet hatte, eine Erkenntnis, die ein wenig … verstörend war.

Er goss sich einen ordentlichen Brandy aus der Karaffe ein, die Fielding ihm eingepackt hatte. Die Getränke und Speisen des Earl of Trentham waren ebenso schäbig wie sein Haus und sein Anwesen.

Die Witwe hatte heute die Wahrheit gesagt. Hätte der Earl sein Land angemessen bewirtschaftet, würde es nun mehr als genug abwerfen, um das Haus und die Pächter zu versorgen. Zum Unglück für Blackfriars und alle, die davon abhingen, war der Ertrag nie groß genug, um des Earls liebste Sache zu unterhalten: ihn selbst.

Stephen wollte sich nicht beschweren. Der Earl war so geldgierig, dass es von Stephens Seite keiner großen Anstrengungen bedürfen würde, ihn davon zu überzeugen, den Erlös aus dem Verkauf von Blackfriars in ein einzigartiges Unternehmen zu investieren. Ein animalisches Grinsen breitete sich auf Stephens Lippen aus. Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Ja, den törichten, habgierigen Earl zu ruinieren war beinahe zu einfach. Im Gegensatz zu dem zweiten, wichtigeren Teil seines Plans: Elinor Trentham. Die Countess war weitaus klüger als der Earl.

Sie redete nicht nur intelligent und gebildet, sondern schien auch nicht zu haben, was der Earl im Überfluss besaß: Gier. Mit ihrem abgetragenen Kleid und dem mottenzerfressenen Haus schien sie nicht nur zufrieden, sondern schaffte es auch noch, ein Bild gelassener Überlegenheit aufrechtzuerhalten. Stephen wusste aus Erfahrung, wie schwierig es war, Menschen zu manipulieren, die nicht mehr im Leben wollten – mehr Geld, mehr Macht, mehr irgendwas.

Doch irgendetwas musste es geben, was einen Wert für sie hatte. Etwas, das er ihr wegnehmen konnte. Es musste einen Weg geben, sie zu verletzen. Stephen würde nicht aufhören, danach zu suchen, bis er es gefunden hatte. Ein leises Kratzen an der Tür riss ihn aus seiner Träumerei.

„Herein.“

Die Tür öffnete sich und ein Mädchen stand dort – die überfreundliche Dienerin von gestern Abend.

„Sie haben nach mir geschickt, Mr Worth?“ Ihre blauen Augen funkelten und ihre vollen Lippen öffneten sich. Wilde Strähnen herbstgoldenen Haars quollen unter ihrer Haube hervor. Ihre Uniform konnte ihre üppige Figur ebenso wenig im Zaum halten.

Stephen ignorierte ihre einladenden Lippen genauso wie die plötzliche Schwere in seinem Unterleib. Er hatte nichts gegen eine schnelle Nummer mit einer attraktiven Frau – ob Dienerin oder Adlige –, aber nicht, wenn er geschäftlich unterwegs war. Und schon gar nicht, wenn er das Geschäft seit fünfzehn Jahren geplant hatte.

„Bereiten Sie ein Bad für mich vor.“ Er löste seine Krawatte und warf sie über eine Stuhllehne. „Ich mag es, wenn das Wasser beinahe kocht.“ Auf diese Weise kam es vielleicht in einem Zustand an, in dem sich noch kein Eis auf der Oberfläche gebildet hatte.

Ihr Blick fiel auf seinen entblößten Hals. „Sehr wohl, Mr Worth.“ Sie atmete so tief ein, dass Stephen hätte schwören können, ihre Gedanken zu hören. „Wünschen Sie, dass ich … Ihnen Gesellschaft leiste?“

Aus dem schweren Gefühl wurde eine wahrhafte Schwellung, als er sich vorstellte, wie das Wasser über ihre üppigen Kurven lief und sich dann hinabwand zu etwas, das sicher …

„Nein“, sagte er bestimmt und zerstörte die Fantasie, bevor sie sich formen konnte. „Ich komme zurecht.“

Er wandte sich ab und wartete auf das Geräusch der sich schließenden Tür, bevor er seinen Drink leerte.

Für Frauen würde später noch genügend Zeit sein.

Kapitel Drei

Coldbath Fields Gefängnis, London, 1802

Ein lautes, gequältes Stöhnen riss Iain aus dem Schlaf. Als er seine Augen öffnete, wurde ihm klar, dass der Laut von ihm selbst gekommen sein musste.

Schmutziges braunes Licht fiel durch die Ritzen des hölzernen Schuppens. Es war gerade genug, dass er die anderen in dem großen Raum erkennen konnte. Die meisten von ihnen schienen zu schlafen. Der Tag war ungewöhnlich heiß und schwül gewesen und eine Übelkeit erregende Mischung aus fauligem Atem, Exkrementen und Verzweiflung hing über dem überfüllten Raum.

Iain versuchte durch den Mund zu atmen, als er seinen Kopf zurück auf das feuchte, stinkende Stroh legte. Vorsichtig betastete er seinen pochenden Schädel und zuckte zusammen. Sein Kopf fühlte sich an, als sei er in ein Dutzend Stücke zerbrochen und wieder zusammengesetzt worden, nur dass jetzt ein paar Teile fehlten. Seine Sicht war seltsam vernebelt, als würde er durch ein schmutziges Fenster schauen. Dennoch fühlte er sich besser als gestern oder am Tag davor, als er geglaubt hatte, er würde sterben.

Natürlich war das immer noch möglich.

Er lauschte dem schweren Atem schlafender Männer und sammelte seine Kräfte, um ihnen gegenüberzutreten, wenn sie erwachten, was sie früher tun würden, als ihm lieb war. Sie waren in den Schuppen gesperrt worden. Vielleicht ein Dutzend Männer. Offenbar hatte Iain das Pech gehabt, in derselben Nacht im Gefängnis zu landen, in der auch Edward Despard und seine revolutionären Kumpane festgenommen worden waren. Alle Zellen waren bereits überfüllt und Iain und einige andere waren in eines der vielen Außengebäude verlegt worden, aus denen das Gefängnis bestand, das als „The Steel“ bekannt war.

Essen gab es nur unregelmäßig und es wurde sofort von den Stärksten weggeschnappt. Er hatte nur einen Kanten Brot und ein wenig Wasser abbekommen und auch das nur dank seines unergründlichen Retters. Er drehte sich um und warf einen Blick auf den Mann – oder eher den Jungen –, der nicht weit von ihm an der Wand lehnte: den stämmigen Sträfling, der Iains Leben in den vergangenen Tagen mehr als einmal gerettet hatte.

Augen so schwarz wie die Abgründe der Hölle begegneten seinen und Iain blinzelte unter dem kalten, harten Blick. Was war passiert, dass ein Junge, der nicht viel älter als Iain selbst war, so innerlich tot aussah?

Er stützte sich auf seinen Ellbogen. „Ich wollte dir …“

Der Junge schüttelte leicht den Kopf und hob einen Finger an seine Lippen. Iain versuchte es noch einmal, diesmal leiser als ein Flüstern. „Danke.“

Der junge Riese zuckte mit seinen bulligen Schultern.

„Ich heiße Iain Vale, und du?“

Einen Moment lang glaubte er, der Junge würde nicht antworten.

„John Fielding.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, als wäre er enttäuscht darüber, dass er soeben gesprochen hatte.

„Wie lange bist du …“

Das laute Rasseln von Schlüsseln und das Quietschen rostiger Scharniere schnitten ihm das Wort ab. Der andere Junge sprang auf die Füße. Iain tat es ihm gleich, wenn auch weitaus weniger geschmeidig.

Das graue Licht der Abenddämmerung drang in den Raum und eine gebeugte, zerlumpte Gestalt stand in der geöffneten Tür.

„Hier is euer verdammtes Essen, ihr elenden Bastarde!“ Der Wächter schüttete einen Eimer voller Reste mitten auf das Stroh am Boden. Menschen, die nur Sekunden zuvor noch geschlafen hatten, sprangen auf. Bevor Iain das Essen erreichen konnte, waren die größeren Brotstücke bereits fort.

„Du“, knurrte der Wächter und deutete mit einem übel aussehenden Knüppel auf ihn. Iain wich zurück. „Ich?“

„Ja, du. Komm her!“

Iain schlurfte in Richtung des Wächters und erwartete jeden Moment, dass die Keule auf ihn niedersausen würde. Stattdessen packte der Wächter ihn an seinem schmutzigen Hemd und zog ihn dicht genug zu sich heran, dass Iain den Geruch sauren Biers und fauliger Zähne in seinem Atem wahrnehmen konnte.

„Sei bereit, Junge“, sagte der Wärter und schubste ihn so fest zurück, dass Iains Kopf gegen die Steinwand schlug. Er rutschte zu Boden. In seinem Kopf drehte sich alles.

Die Tür wurde zugeschlagen und die Hütte wieder in Dunkelheit getaucht. Fielding setzte sich neben ihn. „Was wollte er von dir?“

„Ich … ich weiß nicht.“ Iains Kopf pochte so sehr, dass er sich übergeben hätte, hätte er irgendetwas in seinem Magen gehabt. Er kämpfte sich in eine sitzende Position und etwas kratzte an seiner Brust. Als er sein zerrissenes Hemd berührte, fand er ein zerknülltes Stück Pergament.

„Er hat eine Nachricht in mein Hemd gesteckt“, flüsterte Iain seinem Freund und Retter zu. Aufregung durchströmte seinen geschwächten Körper, als er das kleine Stück Papier glattstrich und in der Dunkelheit versuchte, es zu lesen.

„Du kannst lesen?“, fragte John Fielding. Zum ersten Mal klang Überraschung in seiner Stimme mit.

„Ja.“ Iain stand auf und stolperte zu dem schmalen Schlitz, der einem Fenster gleichkam. Er trat jemandem auf den Fuß und wurde mit einer Flut von Flüchen bedacht, während er sich an die Wand lehnte und das wertvolle Stück Papier in das schwindende Tageslicht hielt.

Sei bereit aufzubrechen, wenn der Mond heute Nacht am höchsten steht. Tu so, als wärst du krank, und …

Eine Hand schoss über seine Schulter und riss ihm das Papier aus den Fingern, bevor er gegen die Wand gestoßen wurde.

„Sieh an, was is das denn?“, fragte eine spöttische Stimme.

Iain drehte sich um und griff nach dem Papier, doch eine weitere Hand umfasste seinen Knöchel und riss ihn von den Füßen. Er landete auf seinem Rücken in dem schmutzigen Stroh.

„Ein Liebesbrief, Mylord?“, spottete dieselbe Stimme, während ein Fuß auf Iains Brust trat und ihn am Boden hielt. „Jemand hier, der einen Liebesbrief lesen kann?“

Die anderen lachten, während sein Peiniger im Halbdunkel auf Iain hinabstarrte, der nach Luft ringend unter seinem Stiefel lag.

„Ich meine, Seine Lordschaft sollte den Brief laut vorlesen. Was meint ihr, Jungs?“

„Verdammt richtig, Danno!“, rief eine andere Stimme, während lautes Gejohle die Hütte erschütterte.

Sein Peiniger, Danno, warf ihm den Brief auf die Brust, als sich ein großer Arm um seinen Hals legte, ihn von den Füßen riss und gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte.

Sobald der Stiefel verschwunden war, holte Iain stockend Luft und tastete nach dem Papier. Er hob das wertvolle Stück auf und hielt es sich vors Gesicht.

Sei bereit aufzubrechen, wenn der Mond heute Nacht am höchsten steht. Tu so, als wärst du krank, und ruf nach dem Wächter. Er wird dich zu einer kleinen Seitentür in der Gefängnismauer bringen. Ich werde auf dem Gefängnisfriedhof auf dich warten.

Der Brief trug keine Unterschrift, doch Iain erkannte die kleine, sorgfältige Handschrift seines Onkels. Er riss die Nachricht in kleine Stücke. Dann brachen Geraufe und Geschrei in der Hütte aus. Er blickte auf und sah John, der nicht nur Danno, sondern weiteren drei Männern gegenüberstand, die wie Unkraut aus dem Boden gewachsen waren. Der große Junge konnte es nicht mit der ganzen Bande aufnehmen.

Gerade als sich ein Schatten aus der Gruppe johlender Jungen löste und sich im Kreis hinter Fielding bewegte, kam Iain auf seine Hände und Knie. Er huschte über den schmutzigen Boden und griff nach dem Fuß des Schattens, gerade als dieser ihn heben wollte, um John hinterrücks einen Tritt zu versetzen. Iain riss mit all seiner Kraft. Der Junge verlor sein Gleichgewicht und stürzte zu Boden, wobei er Iain mit sich riss.

John drehte sich um und sah Iain an. Sein Gesicht war eine grässliche Maske des Hasses und der Wut. Seine riesigen Fäuste machten kurzen Prozess mit seinen Angreifern und deren eigene Feigheit übernahm den Rest, bis nur noch Fielding dastand.

Iain schlug und trat um sich und konnte ein paar gute Treffer auf Kopf und Hals seines Gegners landen. Schließlich rammte er ihm sein Knie in den Unterleib. Aus Erfahrung wusste er, wie effektiv das war. Er eilte zur Rückwand der Hütte und ließ den Jungen auf der Seite liegend zurück.

Fielding rutschte nicht weit entfernt an der Wand hinab. Seine Brust pumpte wie ein Blasebalg. Iain bewegte sich wie eine Krabbe, um zu ihm zu gelangen.

„Danke, dass du mich schon wieder gerettet hast.“

John ignorierte ihn. Sein Blick war auf die nun ruhige Gruppe auf der anderen Seite des Raumes gerichtet.

„Sie holen mich heute Nacht“, flüsterte Iain. „Du kannst mit mir kommen. Mein Onkel wird dir helfen.“

Das bittere Lachen des Jungen kam an die Oberfläche wie eine aufgedunsene Leiche aus einem tiefen, dunklen See.

„Was?“, fragte Iain, den die Reaktion des Jungen auf ein Angebot der Freiheit verblüffte.

„Der einzige Ort, an den ich gehe, ist Norfolk Island.“

Selbst Iain, der Tölpel vom Lande, hatte von der berüchtigten Strafkolonie gehört. „Du wirst deportiert?“

„Ja. Morgen. Zum Glück für dich.“ Er bedachte Iain mit etwas, das als Grinsen durchgehen konnte. „Ich bezweifle, dass du es hier auch nur einen Tag ohne mich schaffen würdest“, fügte er hinzu.

Iain wusste bereits, dass er es keine fünf Minuten geschafft hätte.

„Komm mit mir, John. Wir überreden den Wächter, indem wir ihm mehr Geld von meinem Onkel versprechen. Sicher interessiert es ihn nicht, ob einer oder zwei gehen, solange er mehr Geld in der Tasche hat.“

John schnaubte. „Nicht der Wächter wird mich aufs Boot setzen. Mein Leben ist keinen Pfifferling mehr wert, seit ich bei Fast Eddie in Misskredit geraten bin. Dieses Drecksloch von einer Insel hinter mir zu lassen, ist die einzige Chance, die ich habe.“

„Fast Eddie?“

„Ja, Fast Eddie. Er kontrolliert alles – vom Gin bis zu den Huren.“

„Was ist passiert?“

„Ist doch egal. Konzentrier dich einfach darauf, heute Nacht hier rauszukommen.“ Er wandte sich ab, um klarzustellen, dass die Unterredung beendet war.

Iain starrte in der Düsternis sein grimmiges Profil an und versuchte sich etwas einfallen zu lassen, damit John seine Meinung änderte. Deportation? Was für ein grässlicher Gedanke. Alles und jeden, den man kannte, zurückzulassen und allein in ein gefährliches Land aufzubrechen. Es war schlimm genug gewesen, nach dem Tod seiner Mutter Schottland zu verlassen, obgleich er gewusst hatte, dass sein Onkel Lonnie in London auf ihn wartete. Wie würde es sein, um die halbe Welt an irgendeinen fremden Ort zu fahren, an dem niemand einen kannte?

Seine Augen brannten und tränten, wie immer, wenn er an seine Mum dachte. Wenn er in dieser Zelle anfing zu weinen, wäre das sein Ende. Vielleicht würde John Fielding ihn selbst zusammenschlagen, wenn er sich derart gehen ließ. Er schluckte die Tränen herunter und hielt sich an der Wut fest, die dem Schmerz folgte. Seine Mutter wäre noch am Leben und er nicht in dieser gottverlassenen Stadt, wenn MacLeod sie nicht von ihrem Land gejagt hätte. Der Gedanke an den Highland-Lord machte Iain wütend und schenkte ihm Kraft.

„Du hast ihn verärgert, Iain, aber er ist dein richtiger Vater“, hatte Mum ihn erinnert, als sie in einem schmutzigen Zimmer in Edinburgh auf dem Sterbebett lag. „Du kannst immer zu ihm zurückkehren, wenn du Hilfe brauchst. Zu ihm oder zu deinem Onkel Lonnie.“

Iain hatte seinen Onkel diesem verdammten Bastard vorgezogen, der einem seiner Hausmädchen ein Kind gemacht und es dann einem seiner Pächter zur Frau gegeben hatte. Nicht, dass John Vale nicht freundlich zu seinem adoptierten Sohn gewesen wäre. Er hatte Iain behandelt, als wäre er sein eigen Fleisch und Blut.

Iain kniff die Augen zusammen, um den alten Schmerz zu vertreiben, und richtete seine Gedanken wieder auf den Jungen, der ihn in den letzten Tagen so oft gerettet hatte.

Deportation.

Zur Hölle, was für ein Albtraum! Er massierte seinen schmerzenden Nacken. Zum Glück würde Iain so etwas nie erleben müssen. Nicht solange Onkel Lonnie nach ihm sah.