Leseprobe Das Geheimnis von Blue Manor

Prolog

St. Elizabeth, London, Juni 1952

Geliebte Kleine,

gern würde ich Dich mit Deinem Namen ansprechen, denn es ist unhöflich, es nicht zu tun. Allerdings weiß ich nicht, welchen sie Dir geben werden. Gleichwohl wirst Du für mich immer meine geliebte Kleine sein. Für immer, auch wenn sie Dich mir längst fortgenommen haben.

Tief in meiner Seele bin ich sicher, dass Du ein wunderschönes Mädchen werden wirst.

Und obwohl ich weiß, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Du diesen Brief jemals lesen kannst, brennt dennoch der Wunsch in meiner Seele, ihn Dir zu schreiben. Seit vielen Wochen drehe und wende ich diese Worte, mit denen ich all das Wichtige sagen möchte, das Du zu erfahren verdienst, in meinem Kopf. Aber selbst wenn ich einmal die Zeit finde, über alles in Ruhe nachzudenken, kommt dabei nicht das heraus, was ich möchte. Ich weiß nicht, ob es diese bleierne Müdigkeit ist, die mich nicht mehr verlassen hat, seitdem ich an diesem schrecklichen Ort gefangen bin, die meine Gedanken zu einem zähen Durcheinander werden lassen. Mir fehlen nicht nur die richtigen Worte. Es scheinen auch nie genug zu sein, um Dir alles zu erklären. Wie erklärt man das Unerklärliche, das Unbegreifliche? Du siehst, es geht schon wieder los, das Chaos in meinem Kopf.

Schließlich müssen diese Worte für ein ganzes Leben reichen. Für Dein ganzes Leben, das erst in ein paar Tagen beginnen wird. Vielleicht könnte ich mich besser ausdrücken, wenn ich nicht so entsetzlich müde wäre. Die Arbeit ist sehr schwer und die Nächte sind kurz – bitte verstehe mich nicht falsch, ich möchte nicht klagen, aber gerade jetzt wäre ich dankbar, klar und ausgeschlafen zu sein, während ich meinen ersten und letzten Brief an Dich verfasse. Es bleibt nicht mehr viel Zeit für uns, meine Kleine. Ich spüre es, der Tag Deiner Geburt rückt unerbittlich näher. Mit sanften Tritten fängst Du an, dich über die Enge in meinem Bauch zu beschweren. Glaube mir, ich verstehe das. Du sollst ja auch hinaus ins Leben. So, wie es gottgewollt ist. Trotzdem weine ich schon jetzt bei dem Gedanken, denn der Moment, wo Du das Licht der Welt erblickst, wird gleichzeitig unser Abschied sein. Das kann Gott nicht wollen, auch wenn sie sagen, dass Du ein Kind der Sünde bist. Glaube mir, das bist du nicht. Du bist ein Kind der Liebe. Das ist es, was ich Dir vor allem sagen muss. Niemand liebt Dich mehr als Dein Vater und ich. Dein Vater hätte alles für Dich getan, aber sie haben ihn nicht gelassen. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist, aber ich weiß, dass er uns niemals freiwillig im Stich gelassen hätte. Geliebte Kleine, vergiss das niemals!

Nie werde ich Dich barfuß über eine Wiese mit Mohnblumen laufen sehen, aber ich wünsche mir, dass Du es tun wirst. Mit wehenden blonden Locken im Wind, während Deine blauen Augen strahlen wie Saphire und Dein Mund sich zu einem verzückten Lächeln formt. Dieses Bild lebt in mir, von jetzt an und für alle Zeit.

Mein Herz, in diesem Moment ertönt der Gong zum Abendgebet. Ich muss eilen, obwohl ich Dir noch so viel sagen möchte. Vielleicht schenkt der liebe Gott mir etwas Glück und ich kann den Brief in den nächsten Tagen fortsetzen, aber vielleicht war dies auch die letzte Gelegenheit.

Ansonsten verzichte ich freiwillig auf jedes Glück, wenn Du es dafür bekommst, Liebes. Möge Dein Leben voller Wunder und Schönheit und blauer Blumen sein.

In ewiger Liebe

Deine Mum

1.

Nervös lauschte Sophie dem Freizeichen, das aus ihrem Handy drang. In Los Angeles war es jetzt kurz vor Mitternacht. Eine günstige Zeit, um Kate zu erwischen. Vorausgesetzt, die Party war nicht so lustig, dass ihre beste Freundin ihren eisernen Prinzipien untreu wurde, nach denen sie an Drehtagen grundsätzlich früh zu Bett ging. Es geschah zwar selten, aber es kam vor, dass sie eine Ausnahme machte.

Aber bitte nicht heute, betete Sophie still und eindringlich. Obwohl sie genau wusste, was Kate ihr sagen würde – falls sie noch ans Telefon ginge –, brauchte Sophie die Worte ausgesprochen. Nur dann bestand die Chance, dass sich ihre Nerven so weit beruhigten, dass sie ihr Büro gleich verlassen und sich rechtzeitig auf den Weg zu ihrem Termin machen konnte.

„Hey Sweetheart!“ Kates Stimme drang wohltuend und wach in Sophies Ohr.

„Gott sei Dank, du bist schon zurück.“ Erleichterung flutete Sophies Körper.

„Ist etwas passiert?“, fragte Kate alarmiert.

„In zehn Minuten ist es so weit.“ Sophies Stimme klang, als würde exakt zu diesem Zeitpunkt die Welt untergehen. Völliger Blödsinn, sie wusste es, dennoch fühlte es sich gerade genauso an.

„Was … Wie … Ach, du meinst deinen Termin mit Ethan?“ Kate lachte befreit.

„Genau den.“ Sophie seufzte schwer und spielte mit dem Kugelschreiber in ihrer Hand.

„Komm schon, Honey! Das Gespräch ist ein Selbstläufer! Du machst dir mal wieder vollkommen umsonst Sorgen. Dein Chef wird niemand Besseres finden für den Job, und glaub mir, das weiß er auch.“

Sophie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, ließ den Kugelschreiber fallen und legte stattdessen eine Hand auf ihren Magen, in dem sich seit letzter Nacht hartnäckig das Gefühl hielt, dass sich etwas unwiderruflich verknotet hatte. „Ich weiß nicht, mein Gefühl sagt mir ganz deutlich etwas anderes.“

„Ruf mich später an, um mir zu sagen, dass ich wie immer richtiggelegen habe.“ Kates Lachen klang fröhlich und so nah, als sei sie in ihrer Londoner Wohnung und nicht Tausende Meilen entfernt in Los Angeles.

Sophie gönnte ihrer besten Freundin die Chance von Herzen, die ihr das Filmprojekt in den USA bot. Trotzdem war der Wunsch überwältigend, sich mit Kate später auf einen Drink zu treffen. Unabhängig davon, ob sie auf den Erfolg oder eine bittere Niederlage anstoßen könnten. Sie biss sich auf die Lippen. In einem hatte Kate bereits recht: Es würde nicht mehr lange dauern, bis Sophie Gewissheit hätte, ob sie den Job kriegen würde oder nicht. Vielleicht lag Kate tatsächlich richtig und nicht der Knoten in ihrem Magen …

„Wie war denn dein Tag?“, wollte Sophie wissen. Natürlich interessierte es sie, was sich im Leben ihrer besten Freundin tat, die so entsetzlich weit weg war. In diesem Fall spielte allerdings auch der schwache Versuch in die Frage hinein, sich wenigstens für einen Moment von der eigenen Sorge abzulenken.

„Wunderbar! Die Kollegen sind immer noch ein Traum, der Regisseur fordernd, aber fair. Also gilt weiterhin, dass ich es keine Sekunde bereut habe, dem Ruf der weiten Welt zu folgen.“

„Das freut mich so für dich!“ Das war die Wahrheit, auch wenn sie Kate furchtbar vermisste.

„Danke. Und später freuen wir uns gemeinsam über deinen Erfolg und darauf, dass du nie wieder abgehalfterte und verbitterte Kollegen von mir interviewen musst!“

„Oder aufgehende Sternchen, die sich bereits für Weltstars halten“, ergänzte Sophie und verzog das Gesicht. Wenn alle Schauspieler so bodenständig und fleißig wären wie Kate, würde sie vielleicht nicht so dringend nach einer Alternative zu ihrem jetzigen Aufgabengebiet suchen. Dann wurde ihr klar, dass die Vorstellung nicht nur unrealistisch war, sondern ihr kaum wirklich helfen würde. Sie wollte endlich über politische Themen berichten, recherchieren, mittendrin sein. Wozu hatte sie sonst jahrelang Politikwissenschaften studiert? Doch nicht, um ewig weiter boulevardeske Themen abzudecken und dankbar zu sein, wenn gelegentlich ein Artikel über eine echte Kulturveranstaltung als Highlight daraus hervorstach.

„Die sind die Schlimmsten!“ Kate lachte erneut. „Und mein Fachgebiet, nicht deins. Glaub mir, diese Zeit wird bald hinter dir liegen.“

„Versprochen?“

„Versprochen“, entgegnete Kate mit fester Stimme. „Also ruf mich an, sobald wir die Champagnerkorken knallen lassen können!“

„Das mache ich“, murmelte Sophie und setzte sich aufrechter hin.

„Wann kommt Adam zurück?“

„Morgen.“ Eigentlich, fügte Sophie stumm hinzu. Wenn nicht wieder etwas dazwischen käme. Wie so oft in den letzten drei Jahren … Vermutlich der Preis, den man zahlen musste, wenn man mit einem Musiker zusammen lebte.

„Das ist doch großartig! Dann kannst du immerhin mit ihm schon eine Siegesfeier einläuten. Bis wir es krachen lassen, wird ja leider noch einige Zeit vergehen.“ Kate seufzte. „Ich vermisse dich!“

„Ich dich auch!“ Sophie schluckte trocken. „Ich muss jetzt gleich rein zu Ethan.“

„Toi, toi! Geh und hol dir den Job!“

„Ay ay, Sir.“ Sophie lachte leise und beendete das Gespräch. Langsam legte sie ihr Handy auf den Schreibtisch vor sich. Etwas weniger verzagt blickte sie durch das regenverhangene Fenster hinaus in den trüben Londoner Vormittag. Der Straßenlärm drang nur gedämpft zu ihr nach oben in den fünften Stock. Natürlich war es kindisch, sich von Kate etwas versprechen zu lassen, was diese überhaupt nicht in der Hand hatte. Trotzdem fühlte sie sich etwas besser und der Knoten in ihrem Magen schien zumindest eine Spur geschrumpft. Sie sah auf die Uhr an ihrem Bildschirm. Fünf Minuten noch. Zeit, um zur Toilette zu gehen, einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen und sich dann in die Höhle des Löwen zu wagen.

Sophie nahm auf dem angebotenen Platz in der Sitzecke am Fenster ihrem Chef gegenüber Platz. Wie üblich strahlte der Raum ein gepflegtes, kreatives Chaos aus. Zwischen unzähligen Grünpflanzen lagerten auf kleinen Tischen und halbhohen Regalen neben alten Ausgaben des Newstellers eine große Auswahl von Ausgaben der Konkurrenz. In dem Bücherregal hinter dem schlichten und mit Schriftstücken überladenen Schreibtisch waren Dutzende Bücher aufgereiht – Biografien, Politik-Ratgeber und sonstige Bestseller drängten sich dicht an dicht. Nur der Tisch in der Besucherecke war erstaunlich aufgeräumt und bis auf Ethans Kaffeebecher leer.

Sophie schlug die Beine übereinander und sah ihren Chef erwartungsvoll an. Der kurze Blick in den Spiegel eben hatte ihr zumindest bestätigt, dass ihre Aufregung und das ungute Gefühl im Magen nicht offensichtlich waren. Der blonde Bob saß noch so perfekt, wie sie ihn in der Früh frisiert hatte, und ihre rauchgrauen Augen blickten scheinbar mit professioneller Ruhe in die Welt. Flüchtig musste Sophie an Mike, ihren früheren Boxtrainer, denken. Bei ihm hatte sie gelernt, wie wichtig die Ausstrahlung beim Kampf ist. Du darfst dich schwach fühlen, aber zeige es niemals! Mit einem verschmitzten Grinsen hatte er hinzugefügt: Noch besser ist es natürlich, wenn du dich auch stark fühlst! Nun, davon war sie meilenweit entfernt, sie konnte sich also nur an den ersten Ratschlag halten.

„Liebe Sophie, zunächst einmal herzlichen Dank für deine Bewerbung, über die ich mich sehr gefreut habe!“ Ethan Carter legte die Fingerspitzen an die Lippen und musterte Sophie durch die Gläser seiner Nickelbrille.

Er dankte für ihre Bewerbung? Die Schlinge in Sophies Magen zog sich zu. Das hier war kein Kampf. Zumindest kein fairer. Ethan war Gegner und Schiedsrichter in einer Person.

„Du weißt ja, dass es vom ersten Tag an mein Wunsch war, ins politische Ressort zu wechseln. Mein Studium der Politikwissenschaften …“ Weiter kam Sophie nicht, da Ethan sie mit einer Handbewegung unterbrach. Während er sich durch die braunen Locken fuhr, die von grauen Strähnen durchzogen wurden und ihm Ähnlichkeit mit einem Streifenhörnchen verliehen, seufzte er tief. In dem Moment wusste Sophie, dass sie bereits verloren hatte. Noch ehe sie wirklich in den Ring hatte steigen können.

„Es tut mir leid, aber ich muss dir leider absagen. Verstehe mich nicht falsch, du bist eine großartige Mitarbeiterin. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.“ Ein wohlwollendes, kleines Lachen sollte der Niederlage ihre Schärfe nehmen. „Und das ist einer der Punkte, warum ich dir die Stelle nicht geben kann. Ich brauche dich dort, wo du bist. Du machst einen wunderbaren Job, und auch wenn du es vielleicht nicht so siehst: Es ist wertvolle Arbeit, die du leistest!“

Sophies Mund war staubtrocken und der Knoten in ihrem Magen dehnte sich schmerzhaft aus. Obendrein spürte sie, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Wütend drängte sie sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch wenn der Kampf verloren war, Schwäche würde sie nicht zeigen!

„Danke, aber du hast mir mehrmals zugesichert, dass der Tag kommen wird, an dem ich in meinen Wunschbereich wechseln kann.“ Ihre Stimme klang erstaunlich fest, was sie selbst verblüffte.

„Aber ja, natürlich wird er kommen!“ Ethan lächelte flüchtig und strich sich fahrig über die Stirn.

Für einen Moment fühlte Sophie fast so etwas wie Mitleid mit ihrem Chef. Sie spürte sein Unbehagen, vielleicht sogar einen Hauch von schlechtem Gewissen. Ethan war kein schlechter Vorgesetzter. Den vollen Einsatz, den er als Chefredakteur in den Erfolg des Newstellers steckte, forderte er zwar auch von seinen Mitarbeitern, blieb dabei jedoch meistens fair. Belohnte besonderes Engagement und verteilte Lob – wenn auch sparsam. Nur Beförderungsstellen, die vergab er noch seltener.

Sophie holte tief Luft und setzte sich aufrechter hin. „Das versprichst du mir seit zwei Jahren! Und seit vier Jahren mache ich brav einen Job, der nicht annähernd meinen Fähigkeiten entspricht.“

„Das kannst du so doch nicht sagen, Sophie. Deine Empathie lässt dich selbst aus schwierigsten Interviewpartnern das Bestmögliche zum Vorschein bringen. Und dein Talent zu schreiben, ist auch bei Unterhaltungsthemen vonnöten.“

„Wer wird es?“, unterbrach sie Ethan und zum ersten Mal zitterte ihre Stimme leicht.

„Richard, ein Verlagsfremder.“

Sophie schnappte nach Luft und ballte unbewusst die Fäuste. „Du nimmst einen Externen?“

Ethan, der auf seine Hände geblickt hatte, hob den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Dann nickte er langsam. „Hör mal Sophie, nimm es nicht persönlich. Richard hat beste Referenzen und bringt einiges an Erfahrung mit.“

„Mit Erfahrung würde ich auch gerne dienen. Dazu müsste ich allerdings erst einmal die Chance bekommen, welche zu machen.“ Nimm es nicht persönlich … Die Worte hallten höhnisch in ihrem Kopf wider, während sie ihren Chef fassungslos anstarrte. Der Hauch seines schlechten Gewissens hatte sich bereits wieder verflüchtigt. Falls sie den Ausdruck überhaupt richtig gedeutet hatte. Vielleicht war ihm das Gespräch auch schlicht unangenehm. In Sophie wallte der Wunsch auf, später ins Studio zu marschieren, die Boxhandschuhe anzuziehen und ihren Frust im Ring abzubauen. Vielleicht würde sie es wirklich tun und das Training endlich wieder aufnehmen. Seit Ewigkeiten hatte sie es ausgesetzt, nicht zuletzt wegen des strammen Pensums, das sie für den Newsteller absolvierte. Und wofür? Um sich jetzt anzuhören, dass sie im Unterhaltungsbereich bestens platziert war.

„Du kriegst deine Chance, Sophie. Ganz sicher, nur eben jetzt noch nicht“, sagte Ethan leise.

Wieder spürte sie Tränen aufsteigen. „War es das?“ Nur mit Mühe schaffte sie es, sich zu zügeln. Am liebsten hätte sie ihren Chef angebrüllt oder ihm den Inhalt seines Kaffeebechers über den Kopf geschüttet. Letzteres war für einen Moment eine verführerische Option. Gerade rechtzeitig wurde ihr bewusst, dass dies das Letzte war, was ihr dabei helfen würde, ihr Ziel zu erreichen. Das Einzige, was sie sich damit sichern würde, wäre eine fristlose Kündigung, die sie sich ganz und gar nicht leisten konnte.

Ethan nickte. „Ach, eins noch.“

Sie sah ihn fragend an.

„Könntest du Richard am Anfang etwas unter die Arme greifen? Ihm unsere Abläufe zeigen und ihn mit den Kollegen bekanntmachen? Er wird morgen anfangen und da stecke ich leider mitten in der Budgetierung. Bist du so lieb?“

3.

„Guten Abend, mein Name ist Sophie Redgrave. Ich rufe aus London an. Lady Montenay bat mich um Rückruf. Könnte ich sie bitte sprechen?“ Nervös drehte Sophie die Wasserflasche, die ihre rechte Hand umklammerte, während die andere das Telefon ans Ohr presste. Die Stimme am anderen Ende hatte sich mit einem knappen, eher unfreundlichem Hallo gemeldet. Sophie vermutete, eine Angestellte am Apparat zu haben.

„Guten Abend, meine Liebe. Das tun Sie bereits.“ Ein kurzes heiseres Geräusch, das einem Lachen ähnelte, drang aus dem Hörer.

Sophie erstarrte. Unwillkürlich setzte sie sich aufrechter hin, die Wasserflasche glitt aus ihrer Hand. „Oh … das … Das ist gut.“ Sie verdrehte die Augen. Ihr Gestammel war vermutlich nicht dazu angetan, ihre Gesprächspartnerin von ihrer Qualifikation zu überzeugen. Auch wenn Sophie noch nicht wusste, ob das überhaupt wichtig war, ärgerte sie sich dennoch.

„Ja, das finde ich auch. Es ist gut, dass Sie mich sofort zurückrufen. Ich freue mich.“

Es entstand eine kleine, spannungsvolle Pause, und Sophie widerstand dem Impuls, drauflos zu plappern.

„Wann können Sie nach Cornwall kommen, damit wir alles besprechen?“

Sophie öffnete den Mund, schloss ihn aber zunächst wieder, ohne etwas zu sagen.

„Sie möchten doch für mich arbeiten?“ Die Stimme von Lady Montenay klang alarmiert.

Sophie runzelte die Stirn. Nach dem harten Tag, den sie hinter sich hatte, brachte dieses Gespräch sie schon am Beginn an ihre Grenzen. Vielleicht hätte sie doch bis morgen mit dem Rückruf warten sollen. Zu spät, jetzt musste sie es durchstehen. Sie räusperte sich, bevor sie antwortete.

„Lady Montenay, zunächst müssten Sie mir sagen, für was genau Sie mich engagieren möchten. Ich bin Journalistin …“

„Aber das weiß ich doch, liebe Sophie. Ich darf doch Sophie sagen? Deswegen habe ich Ihnen doch die Nachricht hinterlassen.“ Die Stimme der alten Dame – jedenfalls war Sophie inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass Lady Gwineth Montenay bereits ein höheres Lebensalter erreicht hatte – hatte jetzt einen amüsierten Unterton.

Sophie versuchte sich zu sammeln. „Also … Ich arbeite für den Newsteller, wie Sie vermutlich wissen. Deshalb …“

„Aber natürlich weiß ich das“, unterbrach Lady Montenay sie sofort. „Ihre Arbeit ist brillant. Deswegen möchte ich ja, dass Sie für mich tätig werden.“

„Und inwiefern?“ Sophie kaute an ihrer Lippe, während sie nervös auf die Antwort wartete.

Wieder ein kehliges Lachen. „Ich möchte, dass Sie meine Memoiren verfassen.“

„Oh …“ Also kein Interview für den Newsteller. Die Gedanken wirbelten durch Sophies Kopf. Die Memoiren einer adligen alten Dame verfassen? Eine solche Aufgabe fand sich bislang nicht in ihren Vorstellungen, was ihre berufliche Zukunft anging. Ins politische Ressort wechseln: Das war es, was ihr vorgeschwebt hatte. Und noch immer vorschwebte, ungeachtet der bitteren Niederlage des heutigen Tages. Und ganz weit hinten versteckte sich noch dieser kleine Traum, den sie aber routinemäßig und sorgfältig wieder nach hinten verbannte. Aber im Auftrag Memoiren schreiben? Sie schüttelte unschlüssig den Kopf. Wie sollte sie das mit ihrem eigentlichen Job vereinbaren?

„Was sagen Sie?“ Lady Montenays Erwartung drang spürbar durchs Telefon.

„Ich weiß es nicht“, sagte Sophie zögernd. Irgendetwas reizte sie an der Aufgabe, das spürte sie. Aber selbst wenn sie den Auftrag annehmen würde – wie sollte das gehen? Nie und nimmer könnte sie das neben ihrer eigentlichen Arbeit schaffen. Sie ging ja aus Zeitmangel nicht einmal mehr zum Boxen …

„Vielleicht sollten wir zunächst die Konditionen besprechen. Danach überlegen Sie in Ruhe ein paar Tage und dann sehen wir weiter. Was halten Sie davon?“

Sophie nickte stumm. „Äh ja, das klingt gut“, brachte sie schließlich hervor.

„Also, ich stelle mir vor, dass Sie so rasch wie möglich zu mir nach Blue Manor kommen, damit wir mit der Arbeit beginnen können. Drei oder vier Monate werden wir vermutlich brauchen. Für diese Zeit müssten Sie sich natürlich beim Newsteller beurlauben lassen.“

Sophie sog scharf die Luft ein. Sie konnte Ethans Freude förmlich spüren … Nie im Leben würde er seine Zustimmung geben, stattdessen im Karree springen. Jeden freien Tag musste Sophie sich mühsam erkämpfen. Da wollte sie lieber nicht wissen, was er von einer Auszeit von mehreren Monaten hielt …

„Danach brauchen Sie vermutlich noch zwei oder drei Monate, um dem Ganzen den Feinschliff zu geben“, fuhr Lady Montenay unbeeirrt fort. „Sechs Monate insgesamt scheint mir eine realistische Zeitspanne zu sein.“

„Mein Chef wird mich niemals so lange freistellen“, sagte Sophie abwehrend.

„Das kommt darauf an, wie entschlossen Sie ihm gegenüber treten.“

Jetzt erinnerte Lady Montenay Sophie an ihren Boxtrainer. Diese Aussage hätte von Mike stammen können.

„Vielleicht ist es für Ihre Ausstrahlung hilfreich, wenn wir über die finanziellen Konditionen sprechen. Ich biete Ihnen das dreifache Gehalt von dem, was Sie bei der Zeitung verdienen. Also falls Ihr Chef nicht kooperativ sein sollte und Sie trotzdem meinem Vorschlag zustimmen, haben Sie eine solide Basis, um sich anschließend in Ruhe einen neuen Job zu suchen.“

Sophie schnappte nach Luft. Sechs Monate lang das dreifache Gehalt? Diese Aussicht würde ihr Verhandlungsgeschick womöglich wirklich verbessern. Das kleine Erbe von Mum war das einzige Geld, das sie zurückgelegt hatte. Ansonsten war sie auf ihr monatliches Gehalt dringend angewiesen. Der Anteil, den Adam ihr für die Miete gab, entsprach nicht mal annähernd der Hälfte, und er kam zudem eher sporadisch. Sophie hatte sich noch nie darauf verlassen, und das war gut so.

„Bis wann möchten Sie Bedenkzeit haben? Reicht bis Ende der Woche?“

„Okay“, murmelte Sophie. Ihr war schwindelig, sie musste dringend den Kopf freikriegen, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Vorher war an eine Entscheidung nicht zu denken.

„Ich freue mich!“ Lady Montenays Stimme klang mit einem Mal viel jünger. Sophie wurde bewusst, dass sie sich erst ein sehr undeutliches Bild von der alten Lady gemacht hatte. Spontan hätte sie darauf getippt, mit jemandem zu sprechen, der zumindest die achtzig überschritten hatte. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, und Lady Gwineth war doch deutlich jünger. Das würde sie allerdings nur erfahren, wenn sie das seltsame Angebot annähme.

„Ach und noch etwas, Sophie. Falls Sie sich entscheiden, für mich arbeiten zu wollen, dann überweise ich Ihnen sofort den gesamten Betrag. Gerne, bevor Sie mit Ihrem Chef sprechen. Dann wissen Sie sicher, dass Sie nicht auf gut Glück den sicheren Arbeitsplatz aufs Spiel setzen!“

Verblüfft hob Sophie eine Augenbraue. Sie war in Versuchung, sich in den Arm zu kneifen. Sie träumte! Dieser Tag konnte gar nicht real sein!

„Okay“, murmelte Sophie erneut. „Danke!“ setzte sie hinterher.

„Ich danke für das nette Gespräch und dafür, dass Sie sich mein Angebot überlegen! Wenn Sie zu einer Entscheidung gekommen sind, rufen Sie mich bitte an.“

„Das mache ich“, versprach Sophie.

Lady Montenay verabschiedete sich. Sophie starrte noch eine ganze Weile auf das Telefon in ihrer Hand, bevor sie es behutsam auf den Tisch legte. Ratlos blickte sie durch das Wohnzimmerfenster in die Dunkelheit. Was sollte sie tun? Nach einer Weile des Grübelns wurden ihre Lider schwer. Sie rollte sich auf dem Sofa zusammen und zog eine Wolldecke über sich. Die Bilder des Tages flackerten unruhig und in nicht chronologischer Reihenfolge vor ihrem inneren Auge. Der letzte Gedanke, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, führte sie an einen menschenleeren Strand in Cornwall. An ihrer Seite schlenderte Adam, und ihre Hand war fest umschlossen von seiner, die sich warm und fest anfühlte.