Leseprobe Das Fräulein von Berlin

1

Oktober 1926

Die Toten waren überall. Allgegenwärtig. 

Balugar konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass es so war. Manchmal spürte er die Gegenwart seines Sohnes wie einen kühlen Hauch im Nacken, doch wenn er sich umdrehte: nichts. 

Balugar seufzte tief und fuhr damit fort, seinen Zauberstab, seine magischen Karten und die Handguillotine in den Koffer zu packen. Er war nur ein simpler Trickser, aber es gab sie, die Menschen, die wahre Magie beherrschten, Menschen, zu denen die Toten sprachen. Doch deren Dienste kosteten Geld, und Balugar hatte kaum gewusst, wovon das Zugticket nach Berlin zahlen; Holzklasse mit viermal umsteigen. Selbst dafür hatte er sämtliche seiner Freundinnen anschnorren müssen. 

Andererseits lebten sie in schnelllebigen Zeiten, das Rad Fortunas drehte sich beständig, schon morgen konnte alles rosig aussehen – besonders wenn man ein gutes Gedächtnis hatte und die richtigen Leute kannte. 

Ein zufriedenes Lächeln huschte über seine Züge und sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckend, nahm er seinen Koffer und schlich den Wohnungsflur entlang. Sein Grinsen wurde noch breiter, als es ihm gelang, die Haustür vollkommen lautlos hinter sich zu schließen. 

Sollte sein Plan aufgehen, konnte er seiner Zimmerwirtin ja die ausstehenden drei Monatsmieten zuschicken. Ob die das Geld heute oder in ein paar Monaten bekam, war ja im Grunde egal. Aber ihm, ihm lief die Zeit davon, von jetzt an zählte jeder Tag. 

„Schränker-Max, der berüchtigte Berliner Geldschrankknacker, noch immer verschwunden. Polizei ratlos“, brüllte ein Zeitungsjunge über den Bahnhofsvorplatz. „Ringt mit dem Tod: Der große Houdini im Krankenhaus.“ 

Noch so ein Trickser. Einen Moment spielte Balugar mit dem Gedanken, die Zeitung zu kaufen, dann entschied er sich dagegen. Besser das Geld zusammenhalten. Es ging ja nicht nur um ihn. Es ging um seinen toten Sohn. Und auf einmal, da war ihm wieder, als lächle ihm sein Kind zu.

Dezember 1926

Die meisten Menschen hielten Bernhard Greiff für wahnsinnig.

Das lag vermutlich weniger daran, was er sagte oder tat, als daran, dass er die Jahre 1917-1925 in verschiedenen Nervenheilanstalten verbracht hatte. Hätten die Menschen sich die Zeit genommen, genauer hinzusehen, hätten sie vielleicht gemerkt, dass sich Bernhard wirklich bemühte, vollkommen normal zu sein. Nur leider hatten es ja immer alle eilig – Tempo, Tempo! Der Schlachtruf des Jahrzehnts. 

„Bambi? Wo bleibst du denn?“

Das war Bernhards Schwester, Vicky. Vicky hatte es immer ganz besonders eilig. Sich mit rechts den Bubikopf föhnend, zog sie mit links einen Seidenstrumpf hoch, trank eine Tasse Kaffee, las einen neuen Roman und ermahnte ihre fünf Kinder. Vicky war Buchhändlerin mit eigenem Laden, und Mutter, und Ehefrau, und Frauenrechtlerin und alles zusammen und gleichzeitig. Neuerdings boxte sie auch noch – Bernhard ging schon beim Aufzählen beinahe k. o. 

„Bambi? Ist alles in Ordnung?“ 

Da war sie wieder, diese latente Besorgnis in der Stimme. Vicky mochte es nicht, wenn man wie alle war – Dämliche Spießer! Kleinbürger! –, aber sie mochte es auch ganz entschieden nicht, wenn man die Vorhänge annagte, weil sie so tröstlich nach Waschmittel und Stärke schmeckten. Es gab Dinge, die verrückt, aber in Ordnung oder sogar charmant waren, und es gab Dinge, die einfach nur verrückt waren. Den Unterschied zu erkennen, kostete Bernhard viel Kraft. 

„Ich komme gleich.“ Bernhard saß auf seinem Bett. Er war ordentlich gekämmt, seine Nägel waren sauber, seine Zähne geputzt. Er trug weite, der Mode entsprechende Baumwollhosen und ein helles Leinenhemd mit frischem Kragen. Neben ihm lag der Pullunder – grün-braun gestreift mit roten Bündchen. Er musste nur noch den Pullunder anziehen, dann wäre er fertig. 

Der Pullunder war aus Wolle. 

Eine Freundin Vickys hatte ihn Bernhard zum Geburtstag gestrickt. Sie hatte beteuert, den Schafen ginge es bestens, sie hätten ein wunderbares Leben. Sie kenne die Spinnerei und sie kenne den Schäfer, kein Tier habe für diesen Pullunder leiden müssen. 

Der Pullunder war aus Wolle. 

Bernhards Magen krampfte sich schon bei der kleinsten Berührung mit diesem Ding vor Ekel zusammen. 

Normale Menschen trugen im Winter Pullunder über dem Hemd. Willi, Bernhards Schwager, trug oft sogar ganze Strickpullover und obendrein noch Tweedhosen. Der komplette Mann vom Filzhut bis zu den Wollstrümpfen in totes Tierhaar gewandet. Bernhard durfte gar nicht darüber nachdenken.

Jetzt klopfte es. 

Man konnte sehr viel über einen Menschen lernen, wenn man nur aufmerksam auf seine Art zu klopfen achtete. 

Vicky beispielsweise riss schon während des Klopfens die Tür auf. Ihre Zeit war zu kostbar, um sie das Holz einer geschlossenen Tür anstarrend zu vertrödeln. 

Oder Willi, der hämmerte immer mit allen vier Fingergelenken. Es war das laute Klopfen eines Menschen, der wusste, dass sich die Tür öffnen würde. Eines Menschen, der um sein Recht, einzutreten, wusste. 

Wilhelm Genzer war Doktor der Chemie. Er ging mit weit ausholenden, sicheren Schritten und er liebte seine Frau, seine fünf Kinder, seine Arbeit am Kaiser-Wilhelm-Institut. Vermutlich liebte er sogar Bernhard, seinen bei ihm einquartierten wahnsinnigen Schwager. Wenn Willi lachte, was oft vorkam, dann warf er den Kopf in den Nacken und riss den Mund auf, als wolle er die ganze Welt verschlucken. Ein einziger großer, köstlicher Happs. 

Wer so lachte, konnte auch mit allen vier Fingergelenken klopfen.

Bernhard war oft ein wenig neidisch auf seinen Schwager.

Es klopfte abermals. Zaghaft, nur mit dem Zeigefingergelenk. Sicher Konrad, der älteste von Vickys fünf Kindern.

„Onkel Bambi? Mama fragt, ob alles in Ordnung ist.“ 

Wie kann es Konrad sein? 

Um diese Uhrzeit? 

Konrad muss doch in die Schule. 

Warum ist Konrad nicht in der Schule!

Ganz tief durchatmen. Ruhig atmen. 

Nicht panisch werden. 

Ein, aus, ein, aus. 

Bernhard Greiff sah sich selbst, wie er dort auf diesem Bett saß. Die Hände zu verkrampften Fäusten geballt, die Füße fest, sehr fest auf den Boden gestemmt. Er atmete. 

Da pfeift etwas.

Eine Granate!

Nein, nein! 

Einatmen, ausatmen. 

Was da pfeift, ist die elektrische Bahn. 

Einatmen, ausatmen. 

Er ist in Berlin, in Charlottenburg, am Savignyplatz. Es ist alles in Ordnung. Der Krieg ist vorbei. 

Einatmen, ausatmen. 

„Onkel Bambi? Papa, Line und ich gehen in die Kirche, willst du denn heute nicht mitkommen? Brutus muss doch Gassi.“

Einatmen, ausatmen. 

Sie gehen in die Kirche. 

Es ist Sonntag. 

Es ist alles in Ordnung. 

Und mit der heiteren Stimme eines Menschen, der ein wenig geträumt hatte, rief Bernhard: „Ich komme gleich. Ich habe gerade noch einen Fleck auf dem Hemd entdeckt.“ 

Eine herrliche Erklärung.

„Wie der Papa. Weißt du noch, Onkel Bambi, diese Woche Dienstag, da hat der Papa auch die Elektrische verpasst, weil Mariechen ihn vollgespuckt hat. Und dann mussten seine Studenten warten und haben Siebzehnundvier gespielt und waren gar nicht traurig. Wir sind dann schon mal auf der Straße.“ Der Junge lachte und Line sang auf dem Flur: „O du fröhliche, o du selige …“

Davongekommen. Einmal mehr.

2

Bernhard und Brutus, der Senfhund der Familie, gingen jeden Morgen dieselbe Strecke. Exakt dieselbe Strecke, Bernhard war es lieber so. Einmal um den Savignyplatz herum, vorbei an dem bereits weihnachtlich geschmückten Schaufenster des Delikatessenladens, vorbei an der schon wieder neu und sehr unordentlich beklebten Litfaßsäule – Raucht Bulgaria Stern! –, ein Stück die Kantstraße entlang, die Ecke Bleibtreustraße passiert, die Schlüterstraße mit ihren imposanten Fassaden entlang und schließlich über die Pestalozzistraße wieder zurück.

An der Ecke Bleibtreustraße ging Bernhard immer aufrechter, mit sicheren, etwas breitbeinigen Schritten, und Brutus hob in stolzer Männlichkeit seinen schlappohrigen Kopf. Fräulein Schienagel, die hinreißende Naive des Staatstheaters, wohnte Ecke Bleibtreustraße. Fräulein Schienagel besaß einen weißen, an ein Schönwetterwölkchen gemahnenden Spitz – Leopoldine. Aber natürlich führte das elegante Fräulein Schienagel Leopoldine nicht selbst aus, das überließ sie ihrem Dienstmädchen, einem hellwangigem Geschöpf mit Haaren in der Farbe von Milchkaffee.

Wenn Bernhard und Fräulein Schienagels Dienstmädchen sich auf der Straße begegneten, senkte das Dienstmädchen immer sittsam den Blick, nur um ihn dann auf Bernhards Höhe erneut zu heben. „Guten Morgen, Herr Greiff.“

Da Bernhard ihren Namen nicht kannte und auch nicht wusste, wie er ihn herausfinden sollte, beließ er es stets bei einem knappen Nicken. Das war auch von daher sicherer, als dass man sich beim Nicken nicht verhaspeln konnte. Und Nicken war auch ganz offensichtlich nicht wahnsinnig. Nicken war also eine sehr gute Lösung. Brutus schien es ähnlich zu sehen, denn er ignorierte Leopoldine ebenso gekonnt wie vollkommen. Bellen und Schwanzwedeln wären ihm vermutlich angesichts solch schneeweißen, oft noch durch eine seidene Schleife geschmückten Pelzchens ordinär erschienen. 

Sonntags allerdings bestand keinerlei Risiko, den beiden Damen zu begegnen. Die Wochenenden verbrachte Fräulein Schienagel gewöhnlich bei einem ihrer zahlreichen Bewunderer auf dem Lande, da nahm sie Leopoldine mit. Was Fräulein Schienagels Dienstmädchen wohl sonntags machte? 

Lesen tat es ganz offensichtlich nicht, denn sonst wäre es ja vermutlich mal in der Buchhandlung von Bernhards Schwester Vicky vorbeigekommen. Er half dort im Lager, schlug Geschenke in buntes Papier oder lieferte Bücher mit dem Fahrrad aus. Wenn doch wenigstens Fräulein Schienagel einmal ein Buch bestellen würde. Vielleicht jetzt zu Weihnachten? Zu Weihnachten kauften schließlich auch die Leute Bücher, die selbst nicht lasen. 

„Juten Morjen, Herr Greiff! Morjen, Brutus!“, ertönte es von irgendwoher, und Bernhard brauchte einen kurzen Moment, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Da stand Karlheinz Düsenrein, der Leierkastenmann mit seinem Äffchen Coco. Coco in einem neuen, seltsam an Hermann Göring erinnernden Gummimantel. „Na, looft ihr wieda? Ick bin ufm Weech zum Alex, det jute Wetter ausnutzen.“

Er klopfte einige Male zufrieden auf seinen Leierkasten und Coco, der das für eine Aufforderung zu halten schien, lief einige Schritte in zackigem Stechschritt, grüßte dann mit der zum Nazigruß erhobenen Rechten. 

„Unsere neuste Nummer. Rechts Lametta, links Lametta und der Bauch wird immer fetta, in den Lüften is er größter – Hermann heeßt er!“ Karlheinz tätschelte seinem Äffchen stolz den winzigen Kopf. „Looft jut, jefällt den Leuten.“

„Das glaub ich sofort“, entgegnete Bernhard, aber weil die Braunhemden seiner Schwester regelmäßig das Schaufenster mit Hakenkreuz und Obszönitäten beschmierten, ergänzte er: „Pass halt auf, dass die Schweine dich nicht dabei erwischen.“

„Ach wat, ick loof denen doch hundertmal davon.“ Grinsend zeigte er auf sein Holzbein. „Ick wohn jetzt neuerdings sojar mit eenem von denen zusammen. Der Stanislawski is’n Winter über dritte Jeige uff’n Kreuzfahrtschiff, richtich schnieke den Nil hoch und so, und sein Zimmer, det hat meene Wirtin für so lange untavamietet. An ’nen Zauberer oder so wat. Braunhemd.“

Bernhard nickte einige Male stumm, und so sprach Karlheinz munter weiter: „Is aber sonst ʼn netter Kerl. Tritt mit Tricks in Bars und Varietés uff, halt nich in den jroßen wieʼm Wintergarten, aber er macht ooch richtje Jeisterbeschwörungen. Jegen Bares vasteht sich. Richtich top. Willste mal zu eener kommen?“

Entsetzt schüttelte Bernhard den Kopf. Was für ein grauenhafter Gedanke! Am Ende beschwor der noch den Gefreiten Jewgeni Smirnoff herauf. 

„Weeßt nich, wat de verpasst.“ 

Doch, das wusste Bernhard ganz genau. Es reichte vollkommen, dass der blutüberströmte Jewgeni ihm fast jede Nacht im Traum erschien, wenigstens tagsüber wollte er von ihm verschont bleiben. 

„Er is aber echt richtich top. Hat top hochkarätje Kundschaft, jestern bin ick heimjekommen, da saß da ʼn Fräulein. Aber holla, ick sach dir: Die hatte Beene!“ Er schüttelte anerkennend die Hand. „Aber hat jeflennt wie ʼn Schlosshund, weil wejen dem Muskel-Adolf …“ 

Er machte eine dramatische Pause, die Bernhard mit Nicken ausfüllte. Da der Bruder von Bernhards Schwager Kriminalkommissar war, sagte ihm der Name einiges – Muskel-Adolf war zwar noch keine dreißig, doch schon jetzt der allgewaltige Herr über das in Berlin in Ringvereinen organisierte Verbrechen. 

„Weeßte, se is wohl imma dem sein Lieblingsmädel jewesen, aber jetzt, jetzt isser mit so ʼner schnieken Blonden zusammen und hat keen Ooge mehr für det Fräulein mit den Beenen.“ Karlheinz seufzte. Ganz offensichtlich hätte er wenig dagegen einzuwenden gehabt, der unglücklichen Dame tröstenden Beistand zu leisten. „Und wenner se doch mal besucht, denn redet er nur vom Jeschäft und is mit’m Kopf Jott weeß wo. Haste jewusst, dat der nich mal im Schlafzimmer den Pistolenjürtel auszieht? Is sicher ooch keen leicht vadientes Jeld.“ Er kraulte sinnend sein Äffchen und fuhr dann fort: „Na, der Balugar, der Magier, der hat dem Fräuleinchen jedenfalls ʼn Trank jejeben, dat der Muskel-Adolf se wieder liebt.“

„Hoffentlich ist er dann nicht so entflammt, dass er nicht mehr zum Arbeiten kommt“, wandte Bernhard ein. „Es wäre doch ein Jammer, wenn die Berliner Polizei arbeitslos würde.“

Einen zittrigen Moment lang schwieg Karlheinz, und Bernhard fürchtete schon, er habe etwas Unnormales, gar offensichtlich Wahnsinniges gesagt, doch dann lachte der Leierkastenmann laut und klopfte ihm einige Male amüsiert auf die Schulter. „Se sind mir eener. Na, ick muss. Is bald Mittach, da will der sonntägliche Mensch Musike zur Stulle. Und wenn Se doch mal Lust auf so ʼne Seanze ham oder ʼn Liebestrank brauchen, sajen Set’s"’