Leseprobe Das Fest des Viscounts

Kapitel eins

Caroline Anderson gab den Versuch auf, ihren Platz zu verteidigen, und rutschte ein wenig näher an die Wand der Postkutsche heran und weg von dem kräftigen Schenkel, der sich gegen sie presste.

Der Besitzer dieses Schenkels spreizte seine Beine noch weiter.

Verdammt! Caro starrte auf den mit Stoff bedeckten Körperteil. Es juckte ihr in den Fingern, ihr Messer aus der Manteltasche zu ziehen und den übergriffigen Körperteil zurückzudrängen in sein eigenes …

Nein. Es hatte keinen Sinn, die Dinge noch ungemütlicher zu machen, als sie ohnehin schon waren. Sie hatte Glück gehabt, dass diese Kutsche breiter war als üblich, sodass sechs Personen hineinpassten. Schließlich hatte sie nicht noch eine Nacht in London verbringen wollen. Und der Mann war nicht gefährlich – immerhin saß seine Ehefrau auf seiner anderen Seite. Er war einfach ein unaufmerksamer Mann.

Caro befände sich in viel größeren Schwierigkeiten, wenn der wie ein Wiesel aussehende Kerl schräg gegenüber von ihr auf dem Platz des Mannes mit den kräftigen Schenkeln säße. Schon seit sie London verlassen hatten, starrte das Wiesel sie an wie ein leckeres Bonbon. Zum Glück drängten sich zwei weitere Männer auf der Bank neben ihm und verhinderten damit, dass das Wiesel ihr näher kam.

Caro drehte den Kopf und blickte düster aus dem Fenster.

Oh, verdammt!

Konnten die Dinge überhaupt noch schlimmer werden? Der Schnee, der sich, als sie die Stadt verlassen hatten, träge als dünne Schicht auf die Gebäude gelegt hatte, hatte sich mittlerweile in dicke Flocken verwandelt. Er bedeckte die Wiesen und schmückte die Bäume. Wenn er weiterhin in dieser Geschwindigkeit fiel …

Nein, die Straße musste passierbar bleiben. Caro musste noch heute zurück ins Wohltätige Heim für die Betreuung und Unterstützung von Jungfern, Witwen und verlassenen Frauen und ihren unseligen Kindern. Es war fast Heiligabend.

Sie stieß einen langen Atemzug aus, und das Fenster beschlug. Sie könnte ein wenig Glück gut gebrauchen, aber glückliche Fügungen hatten sie auf dieser Reise nicht begleitet – zumindest nicht in großer Zahl.

Sie war gestern mit so großen Hoffnungen aus Little Puddledon aufgebrochen. Mr Harris, der Eigentümer des Drunken Sheep in Westling, hatte nicht nur erneut eine größere Bestellung für Widow’s Brew – das Bier, das Caro gemeinsam mit den anderen Heimbewohnerinnen produzierte – aufgegeben. Es war sogar noch besser gewesen: Er hatte ihr erzählt, dass er seinen Bruder in London besucht und ihn davon überzeugt hatte, ihr Bier zu probieren. Caro war so begeistert gewesen, dass sie den Mann fast umarmt hätte. Sie hatte davon geträumt, Widow’s Brew auf dem Londoner Markt einzuführen, seit sie die Rezeptur perfektioniert hatte. Und endlich war ihre Gelegenheit gekommen.

Und was für eine Gelegenheit. Sie schnitt der vorbeiziehenden Landschaft eine Grimasse. Ihr Magen zog sich vor Wut und Enttäuschung zusammen. Oh, was war ich doch für eine riesige Närrin?

Der bleichgesichtige Mann direkt gegenüber von ihr musste laut und feucht niesen – und erst danach holte er sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich unelegant die Nase.

Großartig. Das hatte Caro gerade noch gefehlt – von einem furchtbaren Schnupfen niedergestreckt zu werden. Das würde diesem erfolglosen Ausflug nur noch die Krone aufsetzen.

Caro verzog das Gesicht. Es war nicht so, als wäre sie nach London geeilt, nur um sich ihren persönlichen Traum zu erfüllen. Das Heim brauchte das Geld. Je mehr Bier sie verkaufte, desto weniger mussten sie sich auf die Launen ihres adligen Förderers, des Dukes of Grainger, verlassen.

Nun, mittlerweile waren es sogar mehrere Förderer. Als Pen Barnes, die ehemalige Hopfenbäuerin des Heims, im August den Earl of Darrow geheiratet hatte, hatte dieser versprochen, die Unterstützung des Dukes um seine eigene zu erweitern.

Ha! Caro hatte aus ihren schlechten Erfahrungen gelernt und vertraute einem Mitglied des Adels nur so weit, wie sie ein volles Bierfass schleppen konnte – also überhaupt nicht.

Ihr Stirnrunzeln wurde tiefer und ihr Blick finsterer. Ganz offensichtlich konnte sie dem Eigentümer eines Londoner Wirtshauses noch weniger vertrauen. Mr Harris aus Westling hatte die Sache wohl vollkommen missverstanden. Ja, sein Londoner Bruder war durchaus bereit gewesen, die Konditionen zu besprechen, aber die Ware, an deren Kauf er interessiert gewesen war, war nicht Caros Bier gewesen.

Ihre Lippen formten ein trockenes Lächeln. Sie hatte ihr Taschenmesser gut zum Einsatz gebracht. Dieser Feigling würde es sich gut überlegen, noch einmal eine Geschäftsfrau anzufassen.

Nicht dass mir das nun weiterhelfen würde.

Sie ließ ihre Schultern sinken. Wenn sie schonungslos ehrlich war, war das schlechte Verhalten des Schurken nicht der wirkliche Grund für ihren Trübsinn. Nein, ihre Stimmung war so niedergeschlagen, weil sie endlich eingesehen hatte, dass ihr Traum, den Londoner Markt zu erobern, purer Selbstbetrug gewesen war. Pen und Jo – Lady Havenridge, Baron Havenridges Witwe und die Gründerin des Heims – hatten bereits versucht, ihr das zu verdeutlichen, aber Caro hatte sich geweigert, ihnen zuzuhören. Die Wahrheit hatte ihr erst mit Gewalt entgegengeschleudert werden müssen, damit sie diese auch glaubte.

Sie war das letzte Mal mit siebzehn in London gewesen, vor dreizehn Jahren. Sie hatte vergessen, wie groß und geschäftig und überwältigend diese Stadt war. Selbst wenn es ihr irgendwie gelang, zehnmal – hundertmal – so viel Bier zu brauen wie jetzt, wäre das im Vergleich zu den riesigen Fässern der Londoner Brauereien nur ein winziger Tropfen. Und selbst wenn sie Bestellungen erhielte, wäre sie niemals zu einer verlässlichen Lieferung imstande. Little Puddledon war zu weit entfernt von der Stadt.

Oh Gott. Wie sehr ich mir doch wünsche …

Die Kutsche geriet ins Schleudern und rutschte über den Boden.

„Hoppala!“ Das war die Ehefrau des Mannes mit den kräftigen Schenkeln. „Wir landen noch im Graben, Humphrey. Ich sehe es schon kommen.“

Der Mann mit den kräftigen Schenkeln – oder vielmehr Humphrey – legte seine große Hand auf die seiner Ehefrau. „Mach dir keine Sorgen, Muriel. Der Kutscher weiß schon, was er tut.“

Wenn Muriel es nicht tat, konnte zumindest Caro das Zittern in seiner Stimme hören.

Er wandte sich dem trist gekleideten Mann zu, der ihm direkt gegenübersaß. „Ist es nicht so, Reverend?“

Der Geistliche sah von seinem Buch – einer Bibel – auf, öffnete den Mund und …

Wurde von einem ausdrucksstarken Schniefen des bleichgesichtigen Mannes unterbrochen, der anschließend schnell Gebrauch von seinem Taschentuch machen musste.

„Ich steige am Crow aus“, sagte das Bleichgesicht. „Ich will mir nicht das Genick brechen.“

Muriel sog die Luft ein und stöhnte.

Der Geistliche warf dem bleichgesichtigen Mann einen tadelnden Blick zu, bevor er Muriel ein Lächeln schenkte. „Aber, aber, Madam. Denken Sie daran, was das Buch der Bücher uns verrät.“ Er tätschelte seine Bibel. „‚Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.‘ Josua Kapitel eins, Vers neun.“

Der bleichgesichtige Mann schniefte erneut, dieses Mal griff er rechtzeitig zu seinem Taschentuch. „Der Herr kann mich ins Crow begleiten.“

Der Reverend warf ihm einen finsteren Blick zu. „Sir, Sie kommen der Gotteslästerung gefährlich nahe.“

Der bleichgesichtige Mann zuckte mit den Schultern. „Solange ich einem schönen, warmen Feuer und einem Glas Bier in meiner Hand nahekomme, bin ich zufrieden.“

Caros Gedanken schlugen eine neue Richtung ein. Das Crow befand sich nicht in London, aber es lag auf der Hauptroute der Postkutschen und es war näher an Little Puddledon. Wenn sie den Eigentümer des Wirtshauses davon überzeugen konnte, Widow’s Brew zu servieren, würde sich das vielleicht herumsprechen. Sie könnte einen größeren Markt erschließen, der jedoch nicht zu groß war.

Soll ich aussteigen und ein Gespräch mit dem …

Nein. Die übergriffigen Hände des Londoner Mr Harris – es war wirklich schockierend, wie sehr sich Brüder unterscheiden konnten – und die übergriffigen Blicke des Wiesels hatten Caro die Gefahren, denen eine allein reisende Frau sich zu stellen hatte, ins Gedächtnis gerufen. Wenn sie ihre Reise hier unterbrach, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie mehrere Tage im Crow festsitzen würde. Selbst wenn der Eigentümer des Wirtshauses kein Lüstling war, so war sie sich doch sicher, in dem Lokal mehr als nur einem betrunkenen, wollüstigen Rüpel zu begegnen. Ihr armes Taschenmesser würde gut zu tun haben.

Ganz davon abgesehen, dass Herbergen auf den Strecken von Postkutschen unglaublich teuer waren und Caro nicht genug Geld bei sich hatte. Und sie wurde im Heim gebraucht.

Muriel jammerte noch immer. „Humphrey, vielleicht sollten wir auch aussteigen.“

„Aber deine Schwester erwartet uns, Pummelchen. Sie wird sich Sorgen machen. Das weißt du doch.“

„J-ja. Aber was ist, wenn wir tatsächlich im Graben landen? Was ist, wenn wir erfrieren? Was dann?“

„Verdammt, Frau! Es ist nur ein wenig Schnee.“ Das Wiesel hatte endlich aufgehört, Caro anzustarren, warf stattdessen aber Muriel einen bösen Blick zu.

Caro sah wieder aus dem Fenster und erkannte, dass der „wenige“ Schnee den Steinmauern entlang der Straße weiße Käppchen aufgesetzt hatte.

Das Bleichgesicht schniefte erneut und tupfte sich die Nase ab. „Für einen Eisbären ist es vielleicht nicht viel Schnee. Ich besitze jedoch keinen dicken, weißen Fellmantel. Ich werde am Crow aussteigen, mich vor das Feuer setzen und mir den Pelz wärmen.“

Das klang wirklich verlockend.

„Wie denken Sie darüber, Madam?“ Plötzlich wandte sich der Geistliche an Caro. „Halten Sie das Wetter für zu … ähm … ungewiss für eine Weiterreise, besonders für so zarte Frauen, wie Sie und diese Lady es sind?“ Er nickte in Muriels Richtung.

Caro blinzelte ihn an. Empfindliche Frauen? Sie hätte wetten können, dass sie in der Lage war, länger und härter zu arbeiten als dieser Predigten schreibende und Bibeln umhertragende Pfarrer. Und das Wetter war ganz und gar nicht ungewiss. Aber sie konnte es sich nicht leisten – in jeglicher Hinsicht –, im Gasthaus Schutz zu suchen. Und wenn Muriel und Humphrey ausstiegen, würde das Wiesel mit Sicherheit zu ihr herüberrutschen und sich neben sie setzen. Igitt!

„Ich werde die Kutsche nicht verlassen“, erwiderte Caro, als sie rumpelnd in den Hof des Gasthauses fuhren.

„Nun, ich schon“, warf der bleichgesichtige Mann ein. Und genau, wie er es angekündigt hatte, war er, sobald der Kutscher die Tür entriegelt und die Trittstufen ausgezogen hatte, bereits aus der Kutsche ausgestiegen und hatte sich in Richtung des Crow mit seinem Licht und seiner Wärme und seinen Erfrischungsgetränken aufgemacht.

Caro sah ihm sehnsüchtig nach und zog in einem vergeblichen Versuch, die Kälte auszusperren, ihren Mantelkragen noch ein wenig enger. Sie hätte gern am Feuer gesessen …

Denk an die lüsternen Rüpel.

„Wenn Sie den Abort aufsuchen müssen, dann tun Sie das gleich“, mahnte der Kutscher. „Wir halten nicht lange. Ich möchte es bis nach Marbridge schaffen, bevor das Wetter sich verschlechtert.“

„Denken Sie, die Weiterfahrt ist sicher?“, fragte Humphrey, während Muriel sich an seinen Arm klammerte und ängstlich dahinter hervorblickte.

Caro hielt den Atem an.

Der Kutscher nickte. „Ja. Die Straße ist gut – gerade und flach – und die Pferde sind zuverlässig. Der Schnee ist nicht zu schlimm … noch nicht. Aber je früher wir uns wieder auf den Weg machen, desto besser.“ Er blickte die Fahrgäste mahnend an. „Also erledigen Sie Ihr Geschäft möglichst schnell. Ich werde nicht auf Sie warten, wenn Sie herumtrödeln.“

Der Kutscher trat zurück und Humphrey und das Wiesel kletterten aus der Kutsche. Dabei gelang es dem Wiesel, seine Hand „aus Versehen“ über Caros Knie streifen zu lassen.

„Entschuldigen Sie“, sagte er und hauchte ihr dabei eine widerlich riechende Wolke entgegen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, umschloss mit einer Hand das Messer in ihrer Tasche und entschied sich dazu, auf den Toilettengang zu verzichten. Die Kälte und, was noch wichtiger war, der Dreck der öffentlichen Außentoilette waren nicht sehr verlockend, aber Caro wollte insbesondere nicht riskieren, allein vom Wiesel abgefangen zu werden oder ihm die Möglichkeit zu bieten, die Sitzordnung zu verändern, während sie weg war.

Muriel musste zum gleichen Schluss gekommen sein, zumindest was die Außentoilette betraf.

„Sie reisen also allein?“, fragte sie, nachdem die Männer weg waren. Dabei warf sie Caro einen nervösen Blick zu, in dem sich eine Mischung aus Neugier und Misstrauen spiegelte.

Größtenteils Misstrauen.

Caro war versucht, zu verneinen und zu entgegnen, sie wäre mit einem imaginären Begleiter unterwegs. Sie biss sich aber doch auf die Zunge und zwang sich zu einem Lächeln. Sie war eine gute Verkäuferin, und sich selbst zu verkaufen – also ihr Geschick und ihre Zuverlässigkeit als Geschäftsfrau –, war oft ein Teil der Überzeugung zweifelnder Wirtshauseigentümer, ihrem Bier eine Chance zu geben. Sie würde diese Fähigkeiten auch in dieser Situation nutzen. „Ja. Ich fahre über die Feiertage nach Hause.“

Es gab keinen Grund, klarzustellen, dass ihr Zuhause das Wohltätige Heim für die Betreuung und Unterstützung von Jungfern, Witwen und verlassenen Frauen und ihren unseligen Kindern war.

„Hatten Sie erwähnt, dass Sie Ihre Schwester besuchen?“ Caro hatte ebenfalls herausgefunden, dass es üblicherweise sehr gut funktionierte, den Ball der Unterhaltung zum Inquisitor zurückzuspielen – was auch dieses Mal zutraf.

Muriels Gesicht erhellte sich, und sie begann, über ihre Schwestern Mildred, Mirabel und Miranda zu plappern, die alle nicht weit von Marbridge entfernt wohnten, und darüber, wie Muriel jedes Jahr zu Weihnachten dorthin zurückkehrte, um das Fest mit ihnen zu feiern.

Caro nickte und gab ermutigende Geräusche von sich, um die Frau weiterhin am Sprechen zu halten. Sie zählte die Sekunden, bis die Männer endlich zurückkehrten und sie ihre Reise fortsetzen konnten. Eines der Dinge, die sie am meisten an Weihnachten hasste, war die Art, wie die Leute ihre alten, modrigen Erinnerungen wieder ausgruben und sie mit Kränzen, Kerzen und Nostalgie schmückten. Die Vergangenheit ließ man am besten auch in der Vergangenheit zurück. Zum Glück stimmten ihr die meisten Frauen aus dem Heim in dieser Sache zu.

Humphrey und das Wiesel kehrten zurück. Humphrey kletterte sofort wieder in die Kutsche. Das Wiesel lungerte jedoch weiterhin in der Kälte herum.

Oh Gott. Er wird versuchen, sich auf den Platz des Bleichgesichts zu setzen.

Caro ergriff ihr Messer, dazu bereit, es in dem Moment aus der Tasche zu ziehen, in dem auch nur irgendein Körperteil des Wiesels sie berührte. Wenn der Mann glaubte, sie ließe seine Beleidigungen höflich über sich ergehen, würde sie ihn sehr schmerzhaft überraschen.

Humphrey verwandelte sich in einen unwissentlichen Verbündeten. „Was tun Sie da draußen, Sir?“, fragte er. „Kommen Sie herein, bevor Sie sich noch den Hintern abfrieren.“

Das Wiesel zuckte mit den Schultern – vielleicht war es auch nur ein Zittern gewesen. „Ich k-komme wieder herein, wenn der Reverend zurück ist. Kein Grund, länger zu s-sitzen, als ich muss.“

„Aber Sie holen sich dort draußen noch den Tod“, stieg Muriel in die Unterhaltung ein.

„Nein. Ich bin die K-K-Kälte gewöhnt.“

Das war ganz bestimmt ein Zittern gewesen. Jedenfalls erschien der Kutscher genau in diesem Moment und setzte dem Plan des Wiesels ein Ende.

„Steigen Sie ein, Mann.“ Er verlieh seiner Stimme eine gewisse Härte. „Wir müssen jetzt aufbrechen. Der Kutscher, der gerade aus Marbridge gekommen ist, hat erzählt, dass die Straßenverhältnisse schlechter werden.“

„Aber was ist mit dem Reverend? Er ist noch nicht zurück vom Abort.“

Der Kutscher stemmte die Hände in die Hüfte. „Möchten Sie ihm Gesellschaft leisten? Denn das werden Sie, wenn Sie nicht augenblicklich in die Kutsche steigen.“

Einen Augenblick lang standen sich die beiden nur gegenüber, dann murrte das Wiesel und stieg schließlich ein. In dem Moment, in dem sein Hinterteil sich auf der anderen Bank niederließ, warf der Mann Caro einen anzüglichen Blick zu.

„Warum setzen Sie sich nicht zu mir?“ Er klopfte auf den Platz neben sich.

„Gute Idee“, stieg auch Humphrey ein.

„Setzen Sie sich rüber, meine Liebe.“ Das war Muriel gewesen. „Das macht es für uns alle bequemer.“

Ha! Für Caro wäre es deutlich unbequemer – wie auch für alle anderen Fahrgäste, nachdem sie dem Wiesel ihr Messer ins Bein gerammt haben würde.

Die Rückkehr des Geistlichen, der genau in diesem Moment auf die Kutsche zugestolpert kam, während er sich noch seinen Hosenstall zuknöpfte, rettete sie.

„Gerade noch rechtzeitig, Reverend“, sagte der Kutscher. „Wir hätten Sie fast hier zurücklassen müssen.“

„Entschuldigen Sie.“ Der Geistliche schwang sich in die Kutsche und zwang das Wiesel so dazu, ein wenig zur Seite zu rutschen. „Störrischer Darm.“

Das waren mehr Informationen, als Caro sich gewünscht hätte, aber sie begrüßte alles, was ihr das Wiesel vom Leib hielt.

Der Kutscher begann, die Trittstufen wieder einzuklappen.

„Warten Sie! Oh, bitte, Sir. Warten Sie.“

Der Kutscher hielt in seiner Bewegung inne und blickte – sie alle blickten – in Richtung des Gasthauses. Eine junge Frau mit einer kleinen Tasche und ein Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, bewegten sich in einer Mischung aus Rennen und Schlittern über die schneebedeckten, glatten Pflastersteine zur Kutsche.

„Sir“, rief die Frau mit angespannter und ein wenig atemloser Stimme, „ich habe eine Fahrkarte für einen Sitzplatz im Innenraum. Man sagte mir, dass es in dieser Kutsche vielleicht noch einen Platz für mich gibt, da ein Herr ausgestiegen sei.“

Zögerlich runzelte der Kutscher die Stirn.

„Es gibt nur noch einen Platz, und Sie sind zu zweit“, warf der Geistliche ein. „Das wird nicht passen. Gehen Sie zurück ins Gasthaus.“

Nun, das war christliche Nächstenliebe.

Der Kutscher setzte eine düstere Miene auf. „Hören Sie, Reverend. Das hier ist meine Kutsche. Ich treffe hier die Entscheidungen, wer mitfährt und wer nicht.“

„Und ich bin derjenige, der neben diesen Leuten sitzen muss.“

Der Blick des Kutschers verfinsterte sich noch mehr. „Sofern Sie nicht aussteigen und im Crow bleiben oder einen Platz auf dem Dach einnehmen möchten.“

„Lassen Sie die Frau doch draußen sitzen, wenn sie unbedingt mitfahren möchte.“

Nun fingen auch das Wiesel und Humphrey an zu murren. Die Sache schien offensichtlich aus dem Ruder zu laufen.

Da Muriel es nicht tat, musste Caro sich wohl zu Wort melden. „Ein Kind kann nicht auf dem Dach sitzen.“

Der Mann mit der Bibel – und dem störrischen Darm – zog die Schultern hoch.

Die junge Frau verschwendete ihre Zeit nicht mit ihm. Sie wandte sich erneut an den Kutscher. „Bitte, Sir. Wir müssen noch vor Weihnachten nach Marbridge, und Ihre Kutsche könnte die letzte sein, die uns dorthin bringt.“

Der Kutscher blickte sie noch ein wenig länger an und stieß dann einen langen Atemzug aus. „Also gut. Aber der Junge muss auf Ihrem Schoß sitzen. Sie werden den Reverend nicht bedrängen.“

Die Frau nickte und reichte dem Kutscher ihre Tasche, während der Junge bereits in die Kutsche kletterte. Dann folgte sie ihm ungeschickt. Ihr rechter Arm musste verletzt sein. Sie hatte ihn so unter ihrem Mantel verborgen, als steckte er in einer Schlinge. Er hing nur nutzlos da, ohne dass sie Anstalten machte, ihn zu benutzen.

Caro hatte erwartet, dass der Reverend ein Stück in Richtung des Wiesels rutschen würde. In der Kutsche war nicht mehr viel Platz, der Junge war jedoch so dünn wie ein Schilfhalm. Stattdessen warf der Geistliche der Frau einen bösen Seitenblick zu und öffnete seine Bibel. Er bewegte sich nicht ein bisschen.

Die Stimmung in der Kutsche verschlechterte sich augenblicklich, sodass sie der Kälte draußen Konkurrenz machen konnte – nun, das war nicht besonders überraschend, da der Kutscher noch immer die Tür aufhielt und darauf wartete, dass die Fahrgäste sich endlich sortiert hatten. Aber nicht nur die eisige Luft sorgte für frostige Stimmung. Auch die eisigen Blicke, die Humphrey und das Wiesel den Neuankömmlingen zuwarfen, trugen dazu bei. Muriel zog die Nase hoch und zupfte theatralisch ihren Rock zurecht, so als wollte sie auf keinen Fall riskieren, von den beiden berührt zu werden.

Caro sah erneut zu der Frau. Die anderen Fahrgäste waren keine Mitglieder des ton – ganz im Gegenteil. Sie waren keinesfalls besser gekleidet, obwohl die Kleidung der Frau und des Jungen durchaus abgenutzt aussah. Was ihre Mitreisenden jedoch dazu ermutigte, die arme Mutter mit einer solchen Geringschätzung zu behandeln, war wohl der Schleier aus Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, der sie umgab.

Es war der gleiche Schleier, der so vielen Frauen anhaftete, wenn sie im Wohltätigen Heim ankamen.

Der Junge schmiegte sich an seine Mutter und kletterte, sobald sie Platz genommen hatte, auf ihr linkes Bein. Dabei gab er besonders acht, nicht gegen ihren verletzten Arm zu stoßen. Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, das die dunklen Schatten unter ihren Augen und die Anspannung in ihrem Ausdruck jedoch nicht vertreiben konnte, und drückte ihn fest an sich.

Zu Caros Überraschung spürte sie, wie eine Welle des Mitgefühls sie überkam.

Sie verzog das Gesicht. Jo war diejenige mit dem großen Herzen, nicht sie. Caro war die scharfsichtige, pragmatische Geschäftsfrau des Heims. Ein großes Herz konnte beim Streben nach Profit zur Belastung werden.

Der Kutscher stieß ein erleichtertes Seufzen aus. „Also gut. Dann machen wir uns mal auf den Weg.“ Er wollte gerade die Tür schließen.

„Halt!“

Dieses Mal waren es zwei laute, übermütige junge Männer, eingehüllt in dicke Wintermäntel, die über den Hof des Gasthauses schlitterten und kurz vor einer Kollision mit dem Kutscher zum Stehen kamen. Einer der Männer musste sich an der Kutsche abstützen, um seine Vorwärtsbewegung rechtzeitig zu bremsen. Das brachte die Kutsche leicht ins Wanken.

„Fahren Sie nach Marbridge?“, fragte der Mann, der sich nicht an die Kutsche lehnte, in leicht undeutlichem Tonfall.

„Ja.“ Die Härte war in die Stimme des Kutschers zurückgekehrt.

„Hervorragend“, erwiderte der andere Mann. „Da müssen wir auch hin.“ Er streckte eine Hand nach der Tür aus.

Mit Sicherheit würde der Kutscher keinen der Männer aus der Kutsche verbannen – und es mussten immerhin sogar zwei Plätze geräumt werden. Die Mutter warf Caro einen panischen Blick zu. Wahrscheinlich vermutete die Frau, dass sie die Erste wäre, die ihren Platz würde räumen müssen. Und vermutlich lag sie damit sogar richtig. Caro befürchtete, die Zweite zu sein.

Sie sollen es nur versuchen.

Zum Glück wurde Caro nicht dazu gezwungen, ihren Platz zu verteidigen. Der Kutscher behauptete seine Stellung – und hielt den Türgriff fest umschlossen, sodass die Tür sich kein bisschen weiter öffnen ließ.

„Wie Sie sehen, ist der Innenraum bereits voll. Wenn Sie noch heute aufbrechen wollen, müssen Sie oben mitfahren.“

Die Männer zuckten mit den Schultern.

„Na gut. Wir haben Mäntel.“ Der erste Mann hielt eine Flasche hoch. „Und Brandy, um uns warm zu halten.“

Muriel keuchte. „Humphrey, sag etwas“, zischte sie, nachdem der Kutscher endlich die Tür geschlossen hatte. „Es kann nicht sicher sein, wenn diese betrunkenen Rüpel mitfahren.“

„Höchstwahrscheinlich sind nur sie diejenigen, die in Gefahr sind“, behauptete das Wiesel. Als die Männer sich auf ihre Sitze schwangen, geriet die Kutsche erneut ins Wanken. „Wenn sie allerdings genug getrunken haben, werden sie nichts spüren, wenn sie herunterfallen und auf dem Boden aufschlagen.“

Muriel starrte das Wiesel an und stieß ihrem Ehemann dann den Ellbogen in die Seite. „Sag etwas“, zischte sie noch einmal.

Es war zu spät. Die Kutsche hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.

Und unter dem Mantel der jungen Mutter begann etwas zu jammern.

Der Reverend wandte den Blick von seiner Bibel ab und schaute die Frau finster an. In seinem Ausdruck lag eine Mischung aus Beunruhigung und Unglaube. „Großer Gott, Frau, was haben Sie da?“

„Das ist meine Schwester Grace“, antwortete der Junge, während seine Mutter einen sehr kleinen, sehr jungen Säugling unter ihrem Mantel hervorholte. „Sie ist noch ganz klein.“

Der Geistliche schnaubte viel zu ausdrucksvoll – ganz offensichtlich hielt er „Grace“ für einen sehr unangemessenen Namen – und wandte seinen finsteren Blick dem Jungen zu, der tapfer sein Kinn hob und den Blick des Pfarrers unerschrocken erwiderte.

Währenddessen versuchte die Mutter auf dem begrenzten Platz, der ihr zur Verfügung stand, den Säugling zu beruhigen. „Schh.“ Sanft schaukelte sie das Kind auf und ab. „Schh.“

„Grace ist erst vier Wochen alt.“ Mit seiner hellen, klaren Stimme warf der Junge jedes seiner Worte wie einen Kieselstein in einen ruhigen Teich. Dabei sandte er kleine Wellen der Fassungslosigkeit durch die anderen Fahrgäste der Kutsche.

Die Mutter war sich der sich in dem bedrängten Innenraum formenden Missbilligung durchaus bewusst. Sie lehnte sich zu ihrem Sohn und flüsterte ihm zu: „Pst, Edward. Stör die Leute nicht.“ Dann bewegte sie ihren Arm, in dem sich der Säugling befand, noch weiter in Richtung der Wand der Kutsche und versuchte so, ihrem Sohn auf ihrem Schoß ein wenig mehr Platz einzuräumen.

Die arme Frau. Es war schon schlimm genug, dass sie während eines Schneesturms reisen musste, in einer öffentlichen Postkutsche, mit einem kleinen Jungen und einem Säugling, nur einen Monat nach dessen Geburt. Sie sollte sich nicht so allein und verurteilt fühlen von allen sie umgebenden Personen.

„Hier, lassen Sie mich das Kind für Sie halten“, bot Caro an.

Die Frau zögerte. Es machte sie sichtlich nervös, ihren kostbaren Nachwuchs einer Fremden anzuvertrauen.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe viel Erfahrung.“

Caro war das fünfte von elf Kindern und die einzige Tochter. Ihre arme, überlastete Mutter hatte sie, sobald sie alt genug gewesen war, eine Wiege zum Schaukeln zu bringen, in die Pflege ihrer Geschwister eingespannt. Und mit siebzehn war sie dann nach London gegangen, um dort als Kindermädchen zu arbeiten …

Nein. Caro drängte diese Erinnerungen zurück in die Kiste, die sie für sie eingerichtet hatte, und schlug sie wieder zu.

Der kleinen Grace entfuhr ein dünnes Jammern und ihre Mutter gab nach. „Vielen Dank“, hauchte sie sanft. Sie lehnte sich nach vorn und Caro nahm das kleine Bündel entgegen. „Seien Sie vorsichtig mit ihrem Köpfchen.“

Caro nickte und fragte sich erneut, was eine Frau, die gerade erst ein Kind geboren hatte, kurz vor Weihnachten hinaus in den Schnee gezwungen hatte.

Ah. In dem Moment, in dem sie das warme Gewicht des Säuglings spürte – die Kleine war vermutlich nicht einmal so schwer wie ein Krug Bier –, erinnerten sich Caros Hände wieder daran, wie sie ein so kleines Kind halten mussten. Sie legte sich Grace an die Schulter, tätschelte ihr sanft den Rücken und summte leise. Es überraschte Caro, dass Ruhe sie durchströmte, als es ihr gelang, die Kleine wieder in den Schlaf zu wiegen.

Frauen mussten sich zusammenschließen und sich gegenseitig unterstützen. Das taten sie auch im Heim – zumindest meistens. Caro blickte hinüber zu Grace’ Mutter. Benötigte sie eine Zuflucht im Heim? Caro könnte …

Nein, leider konnte sie das nicht tun. Die Räumlichkeiten im Heim waren sehr begrenzt. Es gab nicht einmal genug Platz für getrennte Schlafsäle für Mädchen und Jungen. Jo hatte sich frühzeitig dazu entschieden, dass sie keine Mütter mit Söhnen aufnehmen konnten, die dem Kleinkindalter entwachsen waren.

Wenn die Frau nur Grace bei sich hätte, ständen die Türen des Heims für sie weit offen. Aber schließlich gab es auch noch Edward.

Eine unbehagliche Stille hatte sich über die Kutsche gelegt – niemand wollte an so einem beengten Ort mit einem schreienden Säugling gefangen sein. Sobald jedoch deutlich geworden war, dass Grace in den Schlaf zurückgefunden hatte, schienen sich alle wieder zu entspannen. Der Geistliche hatte sich erneut seiner Bibellektüre zugewandt; das Wiesel und Muriel blickten auf ihrer Seite der Kutsche aus dem Fenster. Vermutlich aus Angst, den Säugling durch seine Bewegungen aufzuwecken, war Humphrey mit seinem kräftigen Körper, so gut es ihm möglich war, von Caro weggerutscht. Die junge Mutter und ihr Sohn waren in einen, wie es schien, erschöpften Schlaf gefallen.

Vorsichtig verlagerte Caro die Position des Säuglings und tätschelte ihm dabei sanft den Hintern, als er zu wimmern begann. Immer noch fiel Schnee vom Himmel, aber bislang bewegte sich die Kutsche auch weiterhin. Gott sei Dank. Vielleicht würde Caro Marbridge tatsächlich noch rechtzeitig erreichen, um die eine Postkutsche zu erwischen, die sie nach Little Puddledon bringen würde.

Und dann fing Grace an, leise schnüffelnde, hungrige Geräusche von sich zu geben.

Oh, verdammt. Wie sollte Grace’ Mutter in diesem beengten Käfig voller missbilligender Männer ein Kind stillen? Aber mit einem hungrigen Säugling konnte man nicht diskutieren. Grace würde schon bald zu schreien anfangen. Es sei denn …

Vielleicht konnte ein Trick, den Caro bei der Pflege ihrer Geschwister gelernt hatte, ihnen noch ein wenig Zeit verschaffen.

Sie bot Grace den Knöchel ihres kleinen Fingers zum Nuckeln an.

Ah. Sie hatte vergessen, wie überraschend kräftig und rhythmisch das Nuckeln eines Säuglings sein konnte. Die Empfindung löste in ihr ein … seltsames Gefühl aus. Fast so, als wünschte sie, selbst Mutter eines Kindes zu sein.

Unsinn! Was sie sich wirklich wünschte, war ein Wunder. Dass es ihr gelang, Grace so lange zufriedenzustellen, bis sie nach Marb…

Hüja!“

Plötzlich nahm die Kutsche an Fahrt auf, und vom Dach drang ein Sturm aus Rufen und Fluchen in den Innenraum.

Oh, verdammt. Die betrunkenen Rüpel mussten die Zügel des Kutschers übernommen haben.

Caro festigte ihren Griff um das Bündel in ihrem Arm.

„Humphrey!“, schrie Muriel. „Mach, dass sie anhalten.“

„Guter Gott, Frau, wie soll ich das anstellen? Ich stecke hier unten mit dir fest.“

Dem Wiesel entfuhr ein recht kreativer Fluch, und selbst der Reverend wandte sich in weniger höflichem Tonfall an den Herrn, während sie die Straße entlangschlitterten.

„W-was passiert hier, Mama?“

Die junge Mutter umarmte ihren Sohn. „Ich glaube, die Männer, die oben mitfahren, haben die Führung der Kutsche übernommen, Edward.“ Sie bemühte sich, in ruhigem Ton zu sprechen, aber Caro hörte das leichte Zittern in ihrer Stimme.

Muriel versuchte nicht einmal, ihre Beunruhigung zu verstecken. Sie griff nach dem Arm ihres Ehemannes und kreischte: „Hilf uns, oh Herr, wir werden im Graben landen!“

„H-halt dich an mir fest, Edward.“ Die Mutter richtete ihren vor Verzweiflung und Flehen nur so strotzenden Blick auf Caro.

„Ich halte Grace fest.“ Caro umfasste den Säugling so sicher, wie sie nur konnte, und presste sich gegen die Wand der Kutsche. Sie hielt nicht viel vom Beten – sie fand, dass es ihr üblicherweise besser bekam, sich auf sich selbst zu verlassen als auf eine weit entfernte und undurchschaubare Gottheit. Dennoch sandte sie ein schnelles, ernsthaftes Flehen zum Allmächtigen für den Fall, dass Er ihr doch zuhörte.

Nach ihrem gedachten „Amen“ geriet die Kutsche ins Schleudern. Jeder außer Caro und, Gott sei Dank, dem Säugling schrie. Caro war viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Körper um den von Grace zu winden. Wenn die Kutsche auf der Seite landete, würde es sehr schwer werden, das Kind zu schützen.

Das Schlittern schien unendlich lange weiterzugehen. Endlich gab es einen Ruck, ein Beben, und die Kutsche kam zum Stehen, noch immer in aufrechter Position.

Und dann sackte der Boden ein Stück ab, was noch mehr Schreie und Flüche nach sich zog.

„Was war das, Humphrey?“, quietschte Muriel.

Statt ihres Ehemannes antwortete das Wiesel: „Hat sich so angefühlt, als sei die Achse gebrochen. Sieht so aus, als würden wir es heute nicht mehr bis nach Marbridge schaffen.“ Der Mann blitzte den Geistlichen an und nickte in Richtung seiner Bibel. „Aber zumindest müssen wir uns nicht fürchten. Schließlich reist der Herr ja mit uns, nicht wahr, Reverend?“

In der Miene des Geistlichen spiegelte sich Wut. „Sie sind beleidigend, mein Herr!“

„Mir ist kalt und ich bin hungrig, und nun stecke ich im Nirgendwo im Schnee fest.“ Das Wiesel zuckte mit den Schultern. „Vermutlich werde ich erfrieren. Da kann ich bei Ihrem Gott wahrscheinlich schon sehr bald eine Beschwerde einlegen.“

Muriel schrie auf.

„Halten Sie den Mund“, warf Humphrey dem Wiesel scharf entgegen.

Ja, in der Tat. Dachte keiner dieser Unholde auch nur eine Sekunde an den Jungen? Er war bleich und blickte mit weit aufgerissenen Augen zu seiner Mutter auf. „Es wird alles gut werden, oder, Mama?“

Seine Mutter zwang sich zu einem angespannten Lächeln und strich ihm das Haar zurück. „Ja, Edward. Solange wir nur zusammen sind, wird alles g-gut werden.“

Das war alles schön und gut, aber die Wahrheit war, dass sie aus dieser Kälte herausmussten, insbesondere die arme kleine Grace. Damit, dass sie jammernd hier herumsaßen und diskutierten, würden sie dieses Ziel wohl nicht erreichen. Jemand musste mit dem Kutscher sprechen.

Ganz offensichtlich war dieser Jemand Caro.

Sie drückte die Tür der Kutsche auf und warf einen Blick hinaus. Die Achse war tatsächlich gebrochen; der Boden war ziemlich nah gekommen. „Ich bin gleich zurück“, erklärte Caro Grace’ Mutter. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich sorge dafür, dass Grace warm bleibt.“

Ihren Sohn in einer festen Umarmung umklammert und mit mattem, niedergeschlagenem Gesichtsausdruck nickte sie schwach.

Caro kletterte aus der Kutsche, zog ihren Mantel behaglich um den Körper des Säuglings und machte sich zum Kutscher auf, der gerade zusammen mit den zwei Rüpeln versuchte, die Pferde auszuspannen. Damit hatten sie jedoch keinen großen Erfolg.

„Sir, ich muss kurz mit Ihnen sprechen, bitte.“

Der Kutscher sah sie flüchtig an und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. „Gehen Sie zurück in die Kutsche, Madam. Einer dieser Männer …“ Er starrte in Richtung der Schurken, die sie erst in diese Situation gebracht hatten. „… wird zum nächsten Halt reiten und Hilfe holen, sobald wir eines der Pferde befreien konnten.“

Caro betrachtete die Rüpel. Zumindest schien der Unfall sie wieder ausgenüchtert zu haben. „Und wie lange wird das dauern?“

Der Kutscher blickte sie grimmig an. „Vermutlich eine Stunde oder noch länger.“

Caro schüttelte den Kopf. „Zu lange. Für die Kinder ist es viel zu kalt, hier zu warten. Vor allem der Säugling muss sich sofort an einem Feuer aufwärmen.“

Die Brauen des Kutschers schossen in die Höhe. „Säugling?! Wo zur Hölle – ich meine, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Madam, aber … ein Säugling?“

„Die Kleine befand sich unter dem Mantel ihrer Mutter, als sie am Crow eingestiegen ist. Sie ist erst wenige Wochen alt und muss wirklich umgehend in die Nähe eines Kamins.“

Der Kutscher sah verärgert aus – und verzweifelt und hilflos. „Wie wollen Sie das anstellen, wenn ich fragen darf? Diese Narren können sich keine Flügel wachsen lassen und davonfliegen, wissen Sie?“

„Das weiß ich.“ Was sollte sie nun tun?

Caro ließ ihren Blick über die schneebedeckte Landschaft wandern. Um sie herum fielen weiterhin dicke Flocken. In der Steinmauer neben ihnen befand sich eine Lücke und es schien so, als führte eine mit Schnee bedeckte Zufahrt zu einem weit entfernten Lichtschein …

„Was ist das für ein Licht dort drüben?“

Der Kutscher blickte in die Richtung, in die Caro zeigte. „Oh, Lord Devil muss wohl zu Hause sein. Dem sollten Sie nicht zu nah kommen.“

Lord Devil? Der teuflische Lord?

Ein seltsamer Anflug von Aufregung schoss durch Caro: eine Mischung aus Schrecken und Ungeduld. Ähnlich dem Gefühl, als sie das erste Mal einen Wirtshauseigentümer getroffen hatte, um ihm ihr Widow’s Brew zu verkaufen. Das muss Nick sein …

Nein! Was war nur los mit ihr? Sie hatte geglaubt, von jeglicher romantischen Dummheit geheilt zu sein. Sie hatte Nick – wenn es denn tatsächlich Nick war – nicht mehr gesehen seit … Schnell rechnete sie im Kopf nach.

Seit siebzehn Jahren. Sie war dreizehn gewesen, ein naives Kind, als er das letzte Mal mit ihrem Bruder Henry in den Schulferien zu ihnen nach Hause gekommen war. Ihre damaligen Gefühle für Nick waren nicht mehr als eine alberne Schwärmerei gewesen. Er war der Einzige von den Freunden ihrer Brüder gewesen, der sie nicht ignoriert oder geärgert hatte.

Daher rührte dieses seltsame Gefühl – ein leiser Widerhall ihrer einst verspürten Verehrung.

„Sie meinen den neuen Lord Oakland?“

„Ja.“

Caro hatte keine Angst vor Nick. „Nun, wenn er ein warmes Feuer besitzt, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich ihm nah kommen möchte. Selbst ein Teufel würde einen Säugling nicht abweisen.“ Und schon gar nicht der Nick, den Caro von früher kannte.

Es ist siebzehn Jahre her. Menschen verändern sich.

Ja, das taten sie. Aber Nick konnte sich nicht so sehr verändert haben.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, erwiderte der Kutscher, aber Caro hatte sich bereits umgedreht. Es gab keine Zeit zu verlieren.

Sie steckte ihren Kopf zurück in die Kutsche und wandte sich an Grace’ Mutter. „Es gibt ein Haus hier in der Nähe. Ich nehme Grace mit dorthin und schicke Ihnen Hilfe.“

Die Frau runzelte die Stirn, musste dann aber doch zu dem Schluss gekommen sein, dass es besser war, wenn Grace schnell ins Haus kam. Sie nickte. „Also gut. Beeilen Sie sich.“

„Und schließen Sie die verdammte Tür“, schimpfte der Geistliche. „Wollen Sie, dass wir alle erfrieren?“

Muriel seufzte, Humphrey starrte sie an, und selbst im Gesichtsausdruck des Wiesels lag statt Bewunderung nur Verärgerung.

„Also gut.“ Caro warf die Tür zu und machte sich durch den Schnee auf den Weg zum Haus.

Kapitel zwei

Nicholas St. John, Viscount Oakland, oder, wie manche ihn nannten, Lord Devil, wandte den Blick vom Honourable Felix Simpson ab, der es sich in dem rot gepolsterten Sessel am Feuer gemütlich gemacht hatte. Polly kniete zwischen seinen Beinen. Zum Glück blockierte Pollys Körper Nicks Blick darauf, was sie gerade tat, aber Pollys Kopfbewegungen und Felix’ Stöhnen nach zu urteilen, hatte Nick eine wohlbegründete Vermutung.

Leider gab es jedoch auch keinen sichereren Fleck in seinem Salon, auf den er seinen Blick richten konnte. Bertram Collins, der sich die Sitzbank mit Fanny teilte, sah so aus, als hätte er seine Zunge so weit im Hals des Mädchens versenkt, dass er eine Probe ihres vor mehreren Stunden zu sich genommenen Mittagessens hätte entnehmen können.

„Oh“, keuchte Felix. „Das ist es, Liebes. Jetzt schneller. Schnell… ah. Ah. Jaaa.“

Verdammt. Wenn Nick sich seine Finger in die Ohren steckte und vor sich hin summte, wäre das wohl zu auffällig. Er würde die Geräusche der körperlichen Leidenschaft so gut, wie es ihm nur möglich war, ertragen müssen, ohne sich dabei peinlich berührt zusammenzukrümmen.

Zusammenzucken?! Was zur verdammten Hölle ist nur los mit mir?

Er sollte sich der klugen Livy zuwenden, die geduldig seinen Arm – seinen noch immer mit dem Stoff seiner Jacke bedeckten Arm – streichelte, und sich selbst den körperlichen Freuden hingeben.

Bei dem Gedanken schrumpfte sein für diese Freuden wohl wichtigster Körperteil zusammen – sowohl wörtlich als auch metaphorisch.

Das hier ist Oakland. Dieser verdammte Ort überschattet einfach alles.

Nick nahm noch einen Schluck Brandy in der Hoffnung, dass der Alkohol sein Unbehagen abschwächte und ihn benommen genug werden ließ, sich der Liebestätigkeit hinzugeben, die Livy ganz eindeutig von ihm erwartete.

Warum zur Hölle habe ich es für eine gute Idee gehalten, auf Oakland eine Weihnachtsorgie zu veranstalten?

Er hasste Weihnachten und Oakland. Für gewöhnlich blieb er während der Feiertage in der Stadt, wo der Lärm und der Dreck und das breite Angebot an Aktivitäten – artigen und besonders unartigen – ihm halfen, dieser unausstehlich fröhlichen Zeit ein wenig die Härte zu nehmen. Aber zwei Abende zuvor hatte er den Fehler gemacht, in seinem Stadthaus einen Empfang auszurichten.

Nun, der Empfang selbst war kein Fehler gewesen. Der Fehler war mit seinem Nachbarn Myles Gray aufgetaucht. Myles hatte mit Rufus, seinem großen Hund unbekannter Abstammung, einen Spaziergang gemacht, als er die Feierlichkeiten gehört und sich dazu entschieden hatte, einen Blick hineinzuwerfen. Myles hätte Rufus besser zunächst am Zaun festgebunden, aber daran hatte er gar nicht gedacht.

Sobald der Butler die Tür geöffnet hatte, war es zu spät gewesen. Wie das Pech es gewollt hatte, war genau in diesem Moment ein Diener durch die Eingangshalle gegangen. Er hatte einen Stapel mit Tellern voller Schinken, Würstchen, Brot und Käse bei sich getragen.

Rufus hatte vor Freude ein lautes, tiefes Bellen von sich gegeben und war losgelaufen. Dabei hatte er seine Leine aus Myles’ Hand gerissen. Dem Diener war ein lauter – vielmehr ein durchdringender – Schrei der Verwunderung und des Schrecks entfahren, und er hatte die Arme hochgerissen, was den Stapel an Tellern ebenfalls in die Luft befördert hatte. Das Essen und das Geschirr waren auf sie herniedergeprasselt, Teller waren auf dem schwarz-weißen Fliesenboden zerschellt.

Für ein so großes Tier war Rufus überraschend wendig und flink. Und klug. Er hatte ganz offensichtlich verstanden, dass er den Kürzeren gezogen hätte, wenn er die Leckereien noch an Ort und Stelle verschlungen hätte. Also hatte er sich so viele der zu Boden gefallenen Köstlichkeiten wie möglich geschnappt und war geflüchtet.

Im Nachhinein hätte Nick vermutlich jemanden damit beauftragen sollen, dem Hund umgehend zu folgen. Myles war zwar hinter Rufus hergelaufen, war aber auf einer Scheibe Schinken ausgerutscht und unsanft auf dem Boden gelandet. Nicks leicht angetrunkene Gäste hatten sich von dem Drama, das sich vor ihren Augen entfaltet hatte, so sehr unterhalten gefühlt, dass sie nicht in der Lage gewesen waren, den Hund wieder einzufangen. Und die Bediensteten waren darauf konzentriert gewesen, Myles und dem unglücklichen Diener wieder auf die Beine zu helfen und das Chaos zu beseitigen, bevor noch jemand ausrutschte und auf dem Boden landete.

Als sie alles wieder in Ordnung gebracht und sich endlich auf die Suche nach Rufus begeben hatten, hatte der Hund seine gesamte Beute bereits verspeist – und wieder erbrochen, das meiste davon in Nicks Schlafzimmer. Der Gestank war beeindruckend gewesen. Nick war nichts anderes übrig geblieben, als sich aus dem Staub zu machen, während seine Teppiche und Decken gewaschen und getrocknet wurden.

Ihm war also die Idee gekommen, zwei seiner unvernünftigsten Freunde und ihre liebsten Mätressen während der von ihm am meisten verabscheuten Feiertage mit auf seinen verhassten Landsitz zu nehmen. Wie sonst hätte er allen eine lange Nase machen können, als hier anstelle von Weihnachten die Römischen Saturnalien auszurichten?

Der alte Pearson, der Gutsverwalter, Brooks, der Butler, und Mrs Brooks, die Haushälterin, waren entsprechend entsetzt gewesen, als gestern die Kutschen vor dem Gutshaus vorgefahren und Nick und seine verrufenen Gäste hinausgestolpert waren.

Und ich war erstaunlicherweise entsetzt von ihrer Reaktion. Warum zur Hölle war das so? Ich wollte sie empören.

Das Entsetzen hatte jedoch nur einen Moment lang angehalten. Um das Gefühl zu vertreiben, hatte sich Nick nur die dünne, nasale Stimme seines Onkels ins Gedächtnis rufen müssen – genau so, wie er es auch jetzt wieder tat.

So verhält sich kein Viscount.

Er biss die Zähne zusammen. Halt den Mund, Onkel Leon.

Würde er sich jemals von diesem Mann befreien können? Der ältere Bruder seines Vaters war nun schon seit fast einem Jahr tot – und Nick schon viel länger erwachsen und so unabhängig von ihm wie möglich. Dennoch hörte er die kritische Stimme seines Onkels noch immer, insbesondere wenn er nach Oakland kam. Plötzlich war Nick nicht mehr der zweiunddreißigjährige Mann, sondern der elfjährige Junge, gerade verwaist, der Sonne und der Wärme Italiens entrissen und in die Kälte und Dunkelheit Englands verfrachtet – in die kalten, dunklen Hallen Oaklands –, konfrontiert mit einem ebenso kalten und dunklen Mann.

Papa war so anders gewesen; er hatte stets gelacht oder gelächelt. Er war auf seiner Kavaliersreise gewesen, als er sich in Venedig – und in eine junge Italienerin – verliebt hatte. Daraufhin hatte er entschieden, seine Reise dort zu beenden, wo er die warme Sonne und das blaue Wasser hatte genießen und seine Tage mit dem Malen hatte verbringen können. Nick war zweisprachig aufgewachsen. Er hatte sowohl Englisch als auch Italienisch gelernt – hauptsächlich jedoch Italienisch. Stets war er von seinen italienischen Tanten und Onkeln und Cousins und Cousinen umgeben gewesen.

Und dann hatte das Fieber ihm seine Eltern genommen.

Es war schrecklich gewesen; selbst jetzt bereitete ihm die Erinnerung immer noch Schmerzen. Ein paar Monate später hatte Josiah Pennyworth, ein durch Venedig reisender Lehrer, das Haus seines Großvaters besucht, um Nicks Familie darüber zu informieren, dass er von Viscount Oakland beauftragt worden war, Master Nicholas nach England zu bringen, weg von jedem und allem ihm bis dahin Bekannten.

Nick war also von seiner glücklichen, überschwänglichen italienischen Familie in ein dunkles, leeres Haus mit einem steifen, ernsten alten Mann gekommen – obwohl er, als er es sich später ausgerechnet hatte, festgestellt hatte, dass sein Onkel erst in seinen Vierzigern gewesen sein musste.

Was sich damals dennoch uralt angefühlt hatte.

Livy knabberte nun an Nicks Ohr herum. Ihre Finger waren von seinem Ärmel zu seinem Schritt gewandert. „Wollt Ihr nicht auch spielen, Nick?“

„Hm.“ Er sollte spielen wollen.

Er zwang sich dazu, Livy anzusehen und ihr ein Lächeln zu schenken. Er mochte sie. Sie war bei Weitem seine liebste Hure, erfinderisch im Bett und umgänglich außerhalb. Vielleicht würde sich sein Schwanz nach den einleitenden Bewegungen endlich aufraffen.

Letzte Nacht hat er das nicht getan.

Oh Gott.

Nick schob diesen demütigenden Gedanken beiseite und lehnte sich in Richtung von Livys …

Klopf! Klopf! Klopf!

„Es ist jemand an der Tür“, beschrieb Livy das Offensichtliche.

„Brooks wird sich darum kümmern.“

Nein, das würde er nicht tun.

Sein Butler hieß solche Orgien nicht gut. Seit sie hier angekommen waren, hatte er sich rargemacht.

Vielleicht würde die Person vor der Tür ja wieder verschwinden.

Nick lächelte Livy an …

Klopf! Klopf! Klopf!

Wer auch immer das war, er hatte einen kräftigen Arm und klang verdammt entschlossen.

„Wer zur Hölle ist an einem solchen Tag draußen unterwegs?“, fragte Felix. Polly saß nun auf dem Boden und entblößte dem gesamten Raum Felix’ erschöpften Schwanz.

Nick wandte den Blick ab – dabei bemerkte er, dass Bertram seine Zunge zurückgezogen hatte – und schaute aus dem Fenster. Draußen wurde es dunkler und dunkler, und der Schnee fiel noch immer in dicken Flocken. Ah. Das war ganz offensichtlich kein Höflichkeitsbesuch.

„Ich werde einmal nachsehen.“ Er stand auf und machte sich auf den Weg zur Eingangstür. Im Weggehen rief er: „Vielleicht möchtest du dich in Ordnung bringen, Felix. Nur für den Fall, dass jemand an der Tür ist, den ich nicht direkt in die Stallungen schicken kann.“

Klopf! Klopf! Klopf!

In der Eingangshalle war das Geräusch noch deutlich lauter zu hören.

Großer Gott, wenn der Mann so weitermacht, wird er noch ein Loch in die Tür hämmern.

„Schon gut, schon gut. Ich höre Sie ja.“ Nick beeilte sich, zur Tür zu gelangen, diese zu entriegeln und aufzuziehen.

Oh.

Die Person, die nun vor ihm stand, war in einen Mantel gehüllt, die Kapuze hing ihr tief ins Gesicht, aber die Hand hielt sie erhoben, um sie erneut gegen die Tür zu hämmern. Bei der Person handelte es sich jedoch nicht, wie von Nick angenommen, um einen Mann.

„Das hat ganz schön lange gedauert“, beschwerte sich die Frau, während sie sich an Nick vorbeidrängte. „Man könnte meinen, ein so großes Haus sei besser organisiert.“

Wie zum Beweis seiner Überrumpelung versuchte Nick nicht, sie aufzuhalten. Nicht dass er jemals eine arme, wehrlose Frau zitternd im Schnee zurücklassen würde.

Die Frau schüttelte sich ihre Kapuze vom Kopf und blickte Nick direkt ins Gesicht.

Vielleicht war sie doch nicht so wehrlos – oder zumindest keineswegs verunsichert von der Tatsache, allein in einem fremden Haus mit einem fremden Mann zu stehen.

Zwischen ihren Brauen erschien eine kleine Falte der Verwunderung und Verwirrtheit. Sie verschwand jedoch fast sofort wieder, als hätte sie den Gedanken, der ihr gerade gekommen war – welcher auch immer das gewesen sein mochte –, sofort verworfen. „Die Postkutsche hatte einen Unfall. Sie müssen die anderen Bediensteten zusammenrufen und sich unverzüglich zu unserer Hilfe aufmachen.“

Sie hält mich für den Butler.

Ich habe die Tür geöffnet.

„Da sind zwei Frauen, ein kleiner Junge und fünf oder vielmehr sechs Männer, einschließlich des Kutschers, die in der Kälte festsitzen.“

Wo habe ich diese Augen schon einmal gesehen?

Sie waren bemerkenswert dunkelblau und groß und von langen, dunklen und vollen Wimpern gesäumt. Das Haar der Frau war ebenfalls dunkel. Sie war recht hübsch.

Eine solche Frau würde ich nicht vergessen. Ich kann ihr nicht schon einmal begegnet sein.

Aber diese Augen …

„Sir!“ Ihre scharfe Stimme sorgte dafür, dass Nicks Aufmerksamkeit sich wieder auf die Gegenwart richtete. Sie starrte ihn wütend an. „Was ist los mit Ihnen? Haben Sie mich nicht gehört? Sie müssen sofort einen Hilfstrupp organisieren. Ich bin mir sicher, dass Ihr Dienstherr das auch von Ihnen verlangen würde.“

„Mein Dienstherr?“

Sie sprach so, als würde sie ihn kennen – oder vielmehr, als würde sie Lord Oakland kennen. Da sie Nick offensichtlich nicht erkannte, musste sie davon ausgehen, dass sein Onkel noch am Leben war.

Aber auch das ergab absolut keinen Sinn. Die Nachricht über Leons Tod musste mittlerweile auch das kleinste Dorf erreicht haben – er lag nun seit fast einem Jahr unter der Erde. Und Nick wäre schockiert, wenn der alte Miesepeter dieser Frau jemals begegnet wäre. Sie war viel zu jung, um zu Onkel Leons Umfeld gehört haben zu können – nicht dass ihn irgendein Umfeld umgeben hatte, von dem Nick gewusst hätte.

Aber was ihn am meisten schockieren würde, wäre jegliche Person, die der Meinung war, Onkel Leon hätte sich dazu durchgerungen, unbekannten Reisenden zur Hilfe zu eilen.

Nein, das war nicht gerecht. Leon mochte zwar ein verbitterter alter Mann gewesen sein, aber er wäre nicht so herzlos gewesen, jemanden außerhalb seiner Tore erfrieren zu lassen.

Zumindest denke ich das.

„Ja. Lord. Oakland. Der. Viscount.“ Sie sprach nun so langsam und deutlich, als würde sie ihre Worte an einen Dummkopf richten.

Wer ist sie?

Und dann begann ihr Mantel zu wimmern.

Himmel, Nick musste betrunken sein, aber er war eigentlich nicht davon ausgegangen, so viel Brandy konsumiert zu haben.

Benommen sah Nick zu, wie die Frau in die wärmenden Schichten ihres Mantels griff und einen Säugling enthüllte.

Einen sehr kleinen Säugling.

Nick trat einen Schritt zurück, woraufhin sie einen Schritt auf ihn zumachte. Er war sich sicher, wenn ihre Hände nicht damit beschäftigt gewesen wären, den Säugling zu halten, hätte sie mit ihrem Finger eindringlich und scharf auf Nicks Brust herumgestochert.

„Sind Sie taub, mein Herr? Haben Sie nicht zugehört, als ich sagte, dass ein kleiner Junge an dem Unfall beteiligt war? Hier sind Menschenleben in Gefahr!“

„Ähm … ja.“ Kinder machten Nick nervös. Nicht dass er jemals wirklichen Kontakt zu ihnen gehabt hätte, aber wenn er eines sah, fühlte er sich einfach nur groß und unbeholfen. Dieses hier sah so aus, als sei es nur ein wenig länger als sein Unterarm. „Wie alt ist Ihr Kind?“

Finster blickte die Frau ihn an. Ganz offensichtlich war sie eine Person, die Dummköpfe nicht ertragen konnte. „Welche Rolle spielt das?“

Ihre Augen sind wunderschön, selbst wenn sie mir damit solche Dolchstöße versetzt.

Wunderschön und vertraut.

Nick würde schon noch herausfinden, wer sie war.

Oder du fragst sie einfach …

Der Säugling, der sein Jammern eingestellt hatte, sobald er aus dem Mantel hervorgeholt worden war, fing wieder an zu weinen – ein dünnes, stechendes, markerschütterndes Geräusch, das Nicks Gehirn vor Panik gefrieren ließ.

„Schh.“ Die Frau umschloss den Kopf des Kindes, drückte es an ihre Brust und fiel in einen seltsamen kleinen Tanz aus wiegenden und wippenden Bewegungen ein. Den Säugling musste dieses Geschaukel beruhigen oder zumindest ablenken, denn er hörte zum Glück auf zu schreien.

Nick seufzte vor Erleichterung – und die rechte Augenbraue der Frau schoss in die Höhe.

Ist das ein Anflug von Berechnung in ihren Augen?

„Sie ist hungrig. Sie wird jeden Moment wirklich zu schreien anfangen.“

Ganz sicher Berechnung. Sie wusste genau, was Nicks Herz am meisten aufwühlte.

Diskret versuchte er, seine schwitzigen Handflächen an seinen Hosen abzuwischen. „Können Sie sie nicht füttern?“

Die Frau lächelte – ziemlich böse, wie er fand. „Nein, das kann ich nicht. Sie ist nicht mein Kind. Ich habe sie mit hierhergebracht, um Hilfe zu holen, weil sie zu klein ist, um noch länger draußen in der Kälte zu bleiben.“ Erneut verfinsterte sich ihr Blick. „Und wir verschwenden hier wertvolle Sekunden. Ihre Mutter und ihr Bruder – und die anderen Fahrgäste – sind noch immer in der Kutsche. Wenn Sie mir nicht helfen können, Sir, dann verraten Sie mir wenigstens, wo ich jemanden finde, der es kann.“

Richtig. Nick konnte auch später noch herausfinden, wer die Frau war. „Ich hole ein paar Männer und mache mich umgehend auf den Weg. Wo genau befindet sich die Postkutsche?“

Die Frau lächelte leicht. Ihre Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. „Direkt hinter den Toren. Wir waren auf dem Weg nach Marbridge, als ein paar betrunkene Schurken die Zügel übernommen und uns in den Graben befördert haben. Dabei ist eine Achse gebrochen.“

Sie konnten also die Postkutsche nicht dafür verwenden, die Reisenden zum Haus zu transportieren.

„Gibt es Verletzte?“ Das würde die Sache nur noch komplizierter machen.

„Nein, Gott sei Dank nicht. Die Kutsche ist aufrecht zum Stehen gekommen. Bis auf die Kälte geht es allen gut.“ Erneut blickte sie ihn finster an. „Und es wird immer kälter.“

Nun war Nick an der Reihe, sie verwirrt anzustarren. „Aber wenn niemand verletzt ist, warum haben die anderen Fahrgäste Sie dann nicht hierher begleitet?“

Seine Aussage entlockte der Frau ein Schnauben, was wiederum den Säugling aufschreckte.

„Schh.“ Die Frau schaukelte das Kind wieder auf und ab, um es zu beruhigen, bevor sie Nick antwortete. „Der Kutscher denkt, dass Ihr Dienstherr zu kaltherzig sei, um sich um Leute wie uns zu kümmern.“ Sie blitzte ihn an. „Leute, die verzweifelt Hilfe benötigen. Er hat mir gesagt, ich solle mich nicht damit abmühen, hierherzukommen und um Hilfe zu bitten.“

Nun war Nick derjenige, der schnaubte. Kaltherzigkeit war die perfekte Beschreibung für seinen Onkel. Der Mann war ein starrköpfiger, hochnäsiger, scheinheiliger Fanatiker gewesen, der jedem Raum, den er betreten hatte, sofort das kleinste bisschen Spaß genommen hatte. Sein Gesicht wäre bei einem Lächeln vermutlich zersprungen.

Aber der Kutscher muss doch wissen, dass ich nun der Viscount bin …

Großer Gott, ich bin doch nicht zu Onkel Leon geworden, oder?

Die Frau runzelte die Stirn. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Engländer – nicht einmal ein Adliger …“

Nicht einmal ein Adliger?

„… Kinder in Not abweisen würde. Wenn Sie jedoch befürchten, dass Ihr Dienstherr so handelt, bin ich gern bereit, persönlich mit ihm zu sprechen.“ Sie durchbohrte Nick mit ihren lieblichen Augen. „Nachdem alle in Sicherheit sind.“

Soll ich ihr verraten, wer ich bin?

Zu spät. Nicks Gäste, die sich mittlerweile vermutlich fragten, was ihn so lange aufhielt, betraten die Eingangshalle.

„Was ist hier los, Nick?“, fragte Bertram.

Bei der Erwähnung von Nicks Namen sog die Frau scharf die Luft ein. Ihre Augen weiteten sich vor … Entsetzen? Enttäuschung?

Auf jeden Fall Wiedererkennen – und dahinter die einfache Erkenntnis, dass er der Viscount war. Sie kannte seinen Vornamen. Sie mussten sich kennen, aber warum konnte er sich dann nicht erinnern, wer sie war? Üblicherweise vergaß er hübsche Frauen nicht.

Felix gab einen langen, tiefen Pfiff von sich. „Na, sieh mal einer an, was der Schneesturm hier hereingepustet hat.“

Die Frau bedachte Felix mit einem besonders finsteren Blick und wandte sich dann den anderen zu. „Es hat einen Unfall gegeben“, erklärte sie. „Ich habe versucht, Lord Oakland …“ Das sagte sie ganz klar mit Verachtung in der Stimme. Was hatte sie gegen den Adel? „… dazu zu bewegen, einen Hilfstrupp zu organisieren. Mehrere Leute sitzen draußen in der Kälte fest. Dazu gehören auch die Mutter dieses Kindes sowie ihr kleiner Sohn.“

Erneut begann der Säugling zu schreien – Nick hätte es der Frau durchaus zugetraut, ihm einen kleinen Knuff versetzt zu haben – und unterstrich so die Dringlichkeit.

„Das arme Ding ist hungrig“, sagte Polly.

„Ja.“ Die Frau warf Nick erneut einen bösen Blick zu. „Und sie wird immer lauter und lauter schreien, bis jemand endlich ihre Mutter rettet.“

„Richtig.“ Wer auch immer die Frau war, sie hatte recht: Es war schon lange an der Zeit, zu handeln. Nick blickte zu den anderen Männern. „Bert, Felix, begleitet ihr mich? Ich muss die Bediensteten informieren, dass sie die Pferde vor den Schlitten spannen und sich auf unsere neuen Gäste vorbereiten sollen, und dann können wir aufbrechen.“

Nick tat sein Bestes, bei dem Gedanken daran, hinaus in den kalten Schnee gehen zu müssen, ein Schaudern zu unterdrücken.

Erneut blickte er zu der Frau. „Ich mache mich auf den Weg in die Garderobe. Lassen Sie mich Ihnen Ihren Mantel abnehmen, Miss …“

Sie schaute den Säugling an. „Anderson“, erwiderte sie dann.

Anderson …

Großer Gott!

Zieh keine voreiligen Schlüsse. Das ist ein häufiger Name.

Aber diese Augen …

Jetzt wusste Nick, wo er diese bereits gesehen hatte. Vor vielen Jahren im Gesicht eines jungen Mädchens.

Im Alter von elf bis fünfzehn Jahren hatte er die hallenden Räume Oaklands gemieden und die Schulferien – außer zu Weihnachten – bei seinem Freund Henry Anderson zu Hause verbracht. Das Haus der Andersons war natürlich immer noch in England gewesen. Für einen Jungen, der in Venedig aufgewachsen war, war es deshalb auch immer noch kalt und feucht und dunkel gewesen. Gleichzeitig war es aber auch überfüllt und laut und voller Leben gewesen. Henry hatte drei ältere Brüder und viele jüngere Geschwister– seine nächst jüngere Schwester war diese Frau.

Caroline … Caro! Das war ihr Name. Sie war schon damals stark und furchtlos gewesen und hatte stets darauf bestanden, bei all ihren Abenteuern dabei zu sein. Nick hatte sie gemocht – er hatte sie einfach wie einen weiteren Jungen behandelt, was damals durchaus als Kompliment verstanden werden konnte.

Heute sah sie in keinster Weise mehr wie ein Junge aus.

Nick streifte ihr den Mantel von den Schultern, während sie das Kind weiter schaukelte. Der Stoff war schwer genug, um sie zu wärmen, aber er war mitnichten luxuriös. Stil und Schnitt des Mantels – und ihres Kleides – waren zudem eher praktisch als modisch.

„Werdet Ihr Euch beeilen?“, fragte sie, sobald sie sich aus dem Mantel befreit hatte. Die Schärfe in ihrer Stimme musste den Säugling aufgewühlt haben, da er – nein, die Kleine, sie – wieder zu weinen anfing. „Schh, Grace.“ Caro warf Nick einen strengen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Kind widmete. „Der nette Herr wird deine Mutter schon bald herbringen.“

Nun, er hatte seinen Marschbefehl erhalten, nicht wahr?

„Ich bin schon unterwegs. Gehen Sie in den Salon und wärmen Sie sich am Feuer auf. Ich schicke die Mutter der Kleinen zu Ihnen, sobald wir zurück sind.“

Sie warf ihm einen eindringlichen Blick zu, der ihm ein Höllenfeuer versprach, sollte er sich nicht beeilen, und verschwand gemeinsam mit den anderen Frauen im Salon.

„Kommt.“ Nick bedeutete Felix und Bertram, ihm zu folgen.

Die ist ja wirklich ein Prachtstück“, entfuhr es Felix, als sie den Gang entlangschritten. „Diese Augen. Diese Haut. Diese …“ Er hielt sich die Hände mit gebogenen Fingern vor die Brust. „Das Kleid ist entsetzlich, aber ich würde eine große Summe darauf verwetten, dass das, was sich darunter befindet, das Auspacken auf jeden Fall wert ist.“

Eine überraschend heftige Welle der Verärgerung überkam Nick. „Hüte deine Zunge.“

Zunge …

Verdammt noch mal, was war nur los mit ihm? Das war eine verdammte Redewendung. Er sollte nicht plötzlich darüber nachdenken, seine Zunge mit Caros zu verknoten – wenn es sich bei der Frau tatsächlich um die Caro Anderson handelte, die er kannte. Sie würde ihn vermutlich so fest beißen, dass seine Zunge blutete, und ihm obendrein ihr Knie zwischen die Beine rammen, sodass seine Stimme eine Oktave höher würde.

Felix’ und Bertrams Brauen schossen in die Höhe.

„Du hast selbst ein Auge auf sie geworfen, nicht wahr?“ Felix hob die Schultern. „Nun, dann werde ich selbstverständlich nicht versuchen, sie zu verführen.“

„Ich habe kein Auge auf sie geworfen.“ Zumindest würde er das nicht zugeben. „Und das solltest du auch nicht tun.“ Nick würde den Männern nicht verraten, für wen er sie hielt. „Sie wirkt wie eine anständige Frau, die für jegliche Art von Spielereien nicht zur Verfügung steht.“

Felix schnaubte. „Als allein reisende Frau in einer Postkutsche? Ich denke nicht.“

„Das scheint wirklich unwahrscheinlich zu sein, Nick“, stimmte Bertram Felix’ Aussage zu.

Nick runzelte die Stirn, öffnete den Mund, um zu widersprechen …

Und hielt inne. Er hatte Caro seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen. Er wusste nichts über diese Frau.

„Wir wissen nicht, ob sie allein reist. Sie könnte das Kindermädchen des Säuglings sein.“ Ah ja. Das musste es sein. Nick hatte eine dumpfe Erinnerung daran, wie Henry ihm vor vielen Jahren, als ihre Wege sich gekreuzt hatten, erzählt hatte, dass Caro nach London gegangen war, um als Kindermädchen zu arbeiten.

Die Frau schien ganz augenscheinlich zu wissen, wie sie mit der Kleinen umzugehen hatte, und beschützte sie verbissen.

Welchen Dingen widmet sie sich noch so verbissen?

Ein besonders anzügliches Bild ihrer blauen Augen und ihres klugen, ihn anlächelnden Mundes, ihres auf seinem Kissen ausgebreiteten Haars, während er …

Hör auf!

Nick hatte die Phase, in der er versucht hatte, unter den Rock jeder Frau zu gelangen, der er begegnete, schon vor Jahren hinter sich gelassen. Er hatte viel Zeit als Lebemann verbracht, größtenteils um seinen Onkel zu schockieren und zu blamieren. Das zuzugeben, war für ihn nicht gerade angenehm oder erstrebenswert, aber es war die Wahrheit. Als sein Onkel gestorben war, hatte ihn das tiefe Verlangen, weiterhin bei jeder Gelegenheit Unzucht zu treiben, verlassen. Gedankenloses Herumvögeln hatte ihm kein wirkliches Vergnügen bereitet, sondern ihn stattdessen mit einem seltsamen Gefühl der Leere und der Unzufriedenheit zurückgelassen.

„Auch ein Kindermädchen kann ein bisschen körperliches Vergnügen gut gebrauchen“, sagte Felix. „Sie ist kein junges Mädchen, Nick, und wahrscheinlich auch keine Jungfrau mehr. Dafür hat sie zu viel Feuer.“ Er grinste. „Ich wette, sie würde meine Laken verbrennen. Sei kein Spielverderber. Wenn du kein Interesse hast, lass mich es versuchen.“

Nick schluckte die plötzlich aufsteigende, unerklärliche Wut herunter, die ihn zu ersticken drohte. „Sie ist Gast in meinem Haus. Ich werde nicht zulassen, dass sie belästigt wird.“ Und wenn sie tatsächlich Henrys Schwester war, war das ein weiterer Grund, sie zu beschützen.

Nicht dass Nick davon ausging, dass Caro seinen Schutz überhaupt benötigte. Sie war ihm so vorgekommen, als wäre sie durchaus in der Lage, sich selbst zu beschützen.

„Ich werde die Frau nicht vergewaltigen, Nick. Ich denke, sie ist alt genug, um zu wissen, was sie will …“ Felix’ Lippen formten ein Grinsen. „… und braucht. Offen gestanden wirkte sie äußerst aufgewühlt. Wahrscheinlich will sie einmal gut durchgeackert werden, um sich wieder zu beruhigen und ihr Inneres ins Gleichgewicht zu bringen.“

Felix ist ein lästiger Schuft. Warum habe ich ihn hierher eingeladen?

„Polly wird es vermutlich nicht gefallen, wenn du deine Aufmerksamkeit dieser neuen Frau schenkst, Felix“, warf Bertram ein.

Felix lachte. „Das hier ist eine Orgie, Bert. Polly weiß, dass sie keinen alleinigen Anspruch auf mich hat.“ Er grinste ein wenig stolz. „Nicht dass ich nicht mehr als eine Frau gleichzeitig beglücken könnte.“

Sobald ich nach London zurückkehre, werde ich diese Verbindung beenden.

Ihre vom harten Fliesenboden und den nackten Wänden widerhallenden Stimmen mussten laut genug gewesen sein, um einen der Bediensteten aufmerksam werden zu lassen, dass etwas im Gange war – etwas anderes als eine Orgie –, denn gerade als sie ihre Nagelschuhe, Mäntel, Hüte und Schals anzogen, erschien Brooks aus dem hinteren Teil des Hauses.

Die Augen des Butlers weiteten sich. „Mylord, Ihr wollt doch nicht hinausgehen?“

Es würde für Nick wohl keinen anderen Grund geben, seine gesamte verdammte Winterbekleidung anzuziehen. Und dennoch konnte er Brooks’ Überraschung nachvollziehen. Es war kein Geheimnis, dass Nick das winterliche Wetter verabscheute.

„Leider doch.“ Man sollte meinen, dass er sich nach mehr als zwanzig Jahren in England an die Kälte und die Feuchtigkeit gewöhnt hatte, aber der Winter erschütterte ihn noch immer bis ins Mark. „Die Postkutsche hatte einen Unfall, und draußen sind Leute, die auf Hilfe warten. Könnten Sie Walters anweisen, die Pferde vor den Schlitten zu spannen und ihn nach unten zur Straße zu bringen, um die Reisenden abzuholen? Und teilen Sie Mrs Brooks mit, dass wir zusätzliche Personen im Haus beherbergen und mit Essen versorgen müssen …“

Sie hörten einen hohen, dünnen, aufgebrachten Schrei, der nur aus dem Salon kommen konnte.

Der arme Brooks verlor erneut die Fassung und riss die Augen auf. „Mylord?“

„Ja, das ist ein Säugling. Seine Mutter befindet sich noch immer in der Kutsche. Das … ähm … Kindermädchen hat den Säugling mit hierhergebracht, als es Hilfe holen wollte.“ Energisch setzte Nick sich seinen Kastorhut auf. „Wir werden uns nun auf den Weg zur Kutsche machen, um nachzusehen, wie die Lage ist, und den Reisenden mitteilen, dass Hilfe unterwegs ist. Wenn wir können, werden wir ein paar der Männer zu Fuß mit zurückbringen, aber wir benötigen vermutlich den Schlitten, um die Frauen und den Jungen und all das Gepäck abzuholen.“

Brooks nickte. „Ja, Mylord. Ich werde mich sogleich darum kümmern.“

Der Säugling schrie erneut und bewegte sie so alle zum Handeln. Brooks beeilte sich, einige unglückliche Diener zu den Stallungen zu schicken und Mrs Brooks zu informieren, sich auf den neuen Besuch vorzubereiten. Nick führte die Männer zur Tür und stieß sie auf.

Eine Welle aus eisiger Luft und Schnee schlug ihm ins Gesicht.

Gott, ich hasse den englischen Winter.

Er biss die Zähne zusammen und tauchte in die verdammte Kälte ein.

Kapitel drei

Das war Nick.

Caro stand vor dem Feuer, hielt Grace fest an ihre Schulter gedrückt und schaukelte und wippte sie auf und ab. Ihr sanfter Tanz beruhigte die Kleine erneut, aber wenn sich diese verdammten Männer nicht beeilten, würde bald nicht einmal ein schwungvoller schottischer Volkstanz Grace noch vom Weinen abhalten können.

Wieso habe ich ihn nicht sofort wiedererkannt?

Die Antwort war offensichtlich. Caro hatte sich auf die Notlage und nicht auf den Mann konzentriert. Und es war fast zwanzig Jahre her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aus dem linkischen Jungen war ein erwachsener Mann geworden.

Ein erwachsener, gut aussehender Mann.

Caro runzelte die Stirn. Und augenscheinlich auch ein verantwortungsloser Mann.

In dem Moment, in dem sie seine Gäste gesehen hatte, hatte Caro gewusst, welche Art Veranstaltung sie mit ihrem Besuch unterbrochen hatte. Die Männer – einschließlich Nick – hatten zerzaust gewirkt und … entspannt. Das war die beste Beschreibung, die ihr einfiel, um die zwanglose Vertrautheit der Gruppe zu beschreiben, die mit Sicherheit keine Familie war.

Nun, Nick hatte keine Familie mehr, zumindest nicht in England.

Aber davon abgesehen hatten die Jahre im Heim, wo Caro unter vielen ehemaligen Prostituierten gelebt hatte, es für sie mehr als offensichtlich gemacht, welcher Arbeit diese Frauen nachgingen.

Es geht mich nichts an, wenn Nick in seinem Landhaus Unzucht treiben möchte. Warum sollte er das auch nicht tun? Oakland hat sich für ihn nie wie ein Zuhause angefühlt.

Außer dass er jetzt Lord Oakland war. Es war seine Pflicht, sich um das Anwesen und die dort lebenden und arbeitenden Personen zu kümmern.

Caro spürte eine starke … was? Enttäuschung?

Lächerlich. Es war nicht ihre Sache, wie Nick sein Leben lebte. Außer …

Ihr Magen zog sich zusammen. Es kümmerte sie, was für ein Mann Nick geworden war.

Sie hatte im Laufe der Jahre über seine Eskapaden gelesen, aber sie war davon ausgegangen, dass sie das nur getan hatte, um sich über das Leben eines alten Freundes auf dem Laufenden zu halten. Als sie den Bericht über den Tod seines Onkels gelesen hatte, hatte sie gedacht – gehofft –, dass die Übernahme des Titels Nick die Aufgabe und den Fokus geben würde, die ihm immer gefehlt hatten.

Offenbar nicht.

In Caros Magen bildete sich ein kalter, harter Knoten. Sie schaukelte Grace ein wenig schneller.

„Sie ist so winzig.“

Eine der Frauen war neben Caro aufgetaucht, als wollte sie Grace berühren, wäre aber zu ängstlich, das auch wirklich zu tun. Sie war jung, wahrscheinlich noch jünger als Grace’ Mutter, und recht füllig. Ihre üppigen Brüste standen kurz davor, aus ihrem Kleid herauszuplatzen. Auf ihrem Kopf befanden sich unzählige wilde blonde Locken, und ihre Augen …

Ihre Augen waren grau vor Sehnsucht.

„Würden Sie sie gern einmal halten?“ Obwohl das Halten eines hungrigen Säuglings wohl keine besonders angenehme Erfahrung war, es sei denn, man konnte ihn auch füttern.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen. Es presste die Lippen fest zusammen, so als könnte es so sein Gesicht vor dem Zerknittern bewahren.

„Ist schon gut, Fanny.“ Eine der anderen Frauen – die mit den roten Haaren, einem breiten Gesicht und ein paar vereinzelten Sommersprossen – legte Fanny beruhigend die Hand auf den Arm.

„Fanny hat im Frühling ein Kind verloren“, erklärte die dritte Frau. Sie war die kleinste und älteste von den dreien, vermutlich ungefähr in Caros Alter.

Fanny musste schlucken und nickte dann, immer noch unfähig, zu sprechen.

„Das tut mir so leid.“ Als sie jung war, hatte Caro geglaubt …

Sie schreckte vor der Erinnerung zurück.

Als sie jung war, hatte sie geglaubt, eine Fehlgeburt sei ein Segen für eine unverheiratete Schwangere, aber seitdem hatte sie gelernt, dass eine solche Angelegenheit deutlich komplizierter war. Einige Frauen waren erleichtert, so einer schwierigen Situation entkommen zu sein, andere hingegen waren verzweifelt, und fast alle waren traurig, auch wenn diese Traurigkeit sie mit unterschiedlicher Härte traf.

Und nun wusste Caro, dass es kein Fluch war, unverheiratet Mutter zu werden. Besonders nicht für Frauen, denen es gelang, sich ins Wohltätige Heim durchzuschlagen. Man musste sich bloß einmal Pen anschauen. Sie hatte ihre Tochter neun Jahre lang allein großgezogen, bis sie im August in einem absurden, fast märchenhaften Ende Harriets Vater geheiratet hatte.

Zumindest hoffte Caro, dass dieses Märchen ein glückliches war und der Earl sich letztendlich nicht doch als Biest entpuppte.

Sie tätschelte Grace und schaukelte sie noch etwas länger.

Nun gut. Caro war nicht besonders stolz darauf, das zugeben zu müssen, aber sie wäre vermutlich auch ein wenig froh und noch viel erleichterter, wenn Pens Ehe doch nicht zu einem glücklichen Ende kam. Sie waren noch immer auf der Suche nach einer Hopfenbäuerin, und ohne eine gute Hopfenernte würde es auch kein Widow’s Brew mehr geben.

„Sind Sie das Kindermädchen der Kleinen?“, fragte die ältere Frau mit angenehmer Stimme. Ihr Gesichtsausdruck war freundlich, aber in ihrem Blick spiegelte sich eine gewisse Härte. Eine Gerissenheit.

Als Geschäftsfrau erkannte Caro diesen Ausdruck – und sie konnte bereits erahnen, was die Frau hoffte, ihr zu verkaufen. Bestimmt ging sie davon aus, Caro mit ihrer charmanten Art dazu zu bewegen, sich ihrer Gruppe von Mätressen anzuschließen.

Aber vielleicht vermutete Caro ein Motiv, das nicht da war. Immerhin war die Frage durchaus einleuchtend.

„Nein. Ich habe lediglich angeboten, Grace zu halten. Der Platz in der Kutsche war sehr begrenzt, und ihre Mutter benötigte Hilfe.“

„Ah.“ Der Blick der Frau wurde noch ein wenig entschlossener. Sie lächelte. „Es überrascht mich, dass Ihr Ehemann Sie allein reisen lässt – oder ist er noch in der Kutsche?“

Oh Gott. Bitte lass mich in dieser Sache falschliegen. „Ich bin nicht verheiratet.“

„Ich verstehe.“ Das Lächeln der Frau wurde breiter und ihre Stimme strotzte nur so vor Schmeichelei. „Sie müssen wissen, dass Ihre Figur, Ihr Gesicht – ganz besonders diese wunderschönen blauen Augen – sehr beeindruckend sind. Haben Sie jemals den Wunsch verspürt, in der Stadt zu leben und zu arbeiten? Ich könnte Ihnen zu einer wirklich großartigen Arbeit verhelfen.“

Verdammt, verdammt, verdammt. Ich hatte recht.

„Ich habe bereits eine Arbeit.“

Nachdem Caro jahrelang mit ehemaligen Prostituierten – die „verlassenen Frauen“ im Namen des Heims bezogen sich nicht nur auf Frauen, die von ihren Familien verlassen worden waren, sondern auch auf solche, die gemäß den gesellschaftlichen Regeln verstoßen worden waren – zusammengelebt und gearbeitet hatte, verspürte sie keinerlei moralische Entrüstung mehr. Eine Frau musste für sich selbst entscheiden, wie sie die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzte, um sich im Leben durchzuschlagen. Aber Caro verspürte auch kein Verlangen, dieser Gruppe Halbweltdamen beizutreten. Sie musste schon dem Tod direkt ins Gesicht blicken, um noch einmal zuzulassen, dass ein Mann sie auf diese Art berührte.

„Aber diese Arbeit wäre viel, viel besser. Sie würden sich nur mit den absolut Besten der Gesellschaft umgeben.“ Das Lächeln der Frau wurde noch durchtriebener. „Mit den besten Gentlemen der Gesellschaft. Mit nur wenig Aufwand werden Sie zu Reichtum und Unabhängigkeit gelangen. Ein solches Ausmaß können Sie sich in Ihren wildesten Träumen nicht vorstellen.“

Bei dem Gedanken daran, was dieser „Aufwand“ beinhaltete, zog sich Caros Magen zusammen.

„Das stimmt“, bestätigte das rothaarige Mädchen. „Livy kennt wirklich alle hohen Tiere der Gesellschaft.“

Fanny nickte. „Ich habe als Schankdame gearbeitet, bevor ich mich Livy angeschlossen habe. Das hier ist viel besser.“ Sie grinste. „Es ist nicht wirklich Arbeit.“

Die ältere Frau – Livy – lächelte. „Ich kenne eine Menge Gentlemen – sogar einige Lords –, die mit Sicherheit sehr glücklich wären, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Erneut zog sich Caros Magen zusammen. Zum Glück war er leer. Sonst hätte sie ihre Absage wohl auf äußerst dramatische Art vermitteln können.

„Vielen Dank, aber ich bin mit meiner momentanen Situation wirklich sehr zufrieden. Ich bin die Brauerin im Wohltätigen Heim für die Betreuung und Unterstützung von Jungfern, Witwen und verlassenen Frauen und ihren unseligen Kindern in Little Puddledon.“

Alle drei Frauen blinzelten. Den Namen des Heims zum ersten Mal zu hören, hatte häufig diese Wirkung auf die Leute.

„Mein Name ist Caroline Anderson.“ Grace quietschte und Caro wippte sie noch ein wenig energischer auf und ab. Die Männer sollten besser sehr, sehr bald mit ihrer Mutter zurückkommen. Caro würde den armen Säugling nicht mehr lange ablenken können. „Und Sie sind …?“

„Olivia – Livy – Williams“, antwortete die ältere Frau und stellte dann auch die anderen beiden vor. „Fanny Taylor und Polly White.“ Sie lächelte langsam und mit wachsamem Blick und hoffte wohl noch immer darauf, dass Caro ihr Angebot annahm. „Wir sind zu einer Weihnachtsorgie hier.“

Oh, verdammt.

Caro hatte gewusst, dass es sich bei dieser Veranstaltung um eine skandalöse Zusammenkunft handelte, aber ihr war nicht klar gewesen, dass sie tatsächlich so skandalös war. Offensichtlich hatte Nick sich das Leben eines dekadenten Mitglieds des Adels vollständig zu eigen gemacht.

„Es gibt keinen Grund, warum Sie sich uns nicht anschließen sollten. Wenn der Schnee weiterhin so heftig fällt, werden Sie hier wohl eine Weile lang feststecken. Da können Sie genauso gut ein wenig in das Leben hineinschnuppern, das ich Ihnen anzubieten hätte. Wenn es Ihnen gefällt …“ Livy hob die Brauen und zuckte mit den Schultern.

„Wir werden sehr gut bezahlt“, warf Polly ein.

Livy nickte. „Sie hätten es wirklich schwer, eine Arbeit zu finden, die nur halb so gut entlohnt wird – und die gleichzeitig so angenehme Arbeitszeiten und eine so reizende … ähm … Gesellschaft mit sich bringt.“

Wie konnte Caro nur zu der Frau durchdringen? Vielleicht, wenn sie langsam und deutlich sprach. „Ich. Bin. Wirklich. Nicht. Interessiert.“

Und sie hoffte wirklich, wirklich, dass Nick bald zurückkam. Er hatte nun bestimmt genug Zeit gehabt, zur Kutsche und wieder zurück zu stiefeln. Es war schließlich nicht so, als wäre er zu einer Wanderung nach Marbridge aufgebrochen.

Livys gewitzte Augen musterten Caro noch immer. „Ich denke, Sie sind genau die Frau, die Nick braucht. Er wirkte kürzlich ein wenig gelangweilt – ein wenig … ähm … lasch im Bett, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Nein! Caro wollte absolut nichts über Nick und sein Bett erfahren. Wenn sie nicht gerade ein Kind im Arm gehalten hätte, hätte sie sich die Finger in die Ohren gesteckt und vor sich hin gesummt.

Das war jedoch gar nicht notwendig. Die kleine Grace verlor endgültig die Geduld. Ihre einschneidenden und beharrlichen Hungerschreie beendeten die Unterhaltung.

***

Nick öffnete die Eingangstür gerade rechtzeitig, um Livys Stimme zu hören, die aus dem Salon zu ihm herüberdrang. Er verstand nur einzelne Wörter – gelangweilt, lasch, Bett –, aber das war genug, um ihm das Blut ins Gesicht schießen zu lassen und in seine Ohren und …

Zur Hölle, wahrscheinlich in seinen gesamten Körper, einschließlich seines armen, geschmähten Schwanzes.

Himmel! Mit wem spricht Livy da?

Kaltes Entsetzen trat plötzlich an die Stelle der Demütigung.

Bitte, lieber Gott, lass es nicht Caro sein.

Und dann fing der Säugling an zu schreien.

„Grace!“ Grace’ Mutter verschwendete keine Zeit damit, sich ihres Mantels zu entledigen, drückte sich an Nick vorbei, lief schnellen Schrittes durch die Eingangshalle – dabei verteilte sie eine Spur aus Schnee auf dem Fliesenboden – und verschwand im Salon.

„Grace ist hungrig“, erklärte Grace’ Bruder.

Nick nickte, schloss die Eingangstür und sperrte damit die Eiseskälte aus. Er und Bert und Felix hatten die Frau und ihren Sohn auf halber Strecke die Zufahrt hinauf zum Haus getroffen, als sie sich gerade ihren Weg durch den tiefen Schnee erkämpft hatten und Caros Spuren gefolgt waren. Grace’ Mutter hatte ihnen erzählt, dass die anderen noch immer in der Kutsche warteten und dass der Kutscher ihr geraten hatte, auch zu bleiben, dass sie das aber nicht hatte tun können – sie hatte gespürt, dass ihre Tochter sie brauchte.

Warum keiner der Männer auch nur den leisesten Anflug ritterlichen Verhaltens gezeigt und die Frau und das Kind begleitet hatte, sobald deutlich geworden war, dass sie sich auf den Weg machten, war für Nick unbegreiflich. Irgendwann würden sie alle hierherkommen müssen. Der Schnee, der in der kurzen, furchtbaren Zeit, die Nick draußen verbracht hatte, nur noch dichter geworden war, musste die Straßen vollkommen unpassierbar gemacht haben, selbst für einen Reiter. Oakland war ihre einzige Hoffnung auf Schutz – auf ihr Überleben, um es unverblümt zu sagen.

Also hatte Nick Felix und Bert zur Kutsche geschickt, während er sich auf den Rückweg gemacht hatte. Er hatte den Jungen auf seinem Rücken getragen und war vor der Frau hergelaufen, um ihr den Weg durch den Schnee bestmöglich zu ebnen. Er hatte gesehen, wie der Schlitten genau in dem Moment an ihnen vorbeigefahren war, als sie die Eingangstür erreicht hatten. Die anderen würden also auch bald eintreffen.

Oh, verdammt. Nun zitterte der Junge. Seine Zähne klapperten so laut, dass Nick sie hören konnte. Er würde …

„Lord Oakland!“ Caro kam mit großen Schritten auf Nick zu. Sie hatte sich den immer noch tropfenden Mantel der Mutter über den Arm gehängt. Die Mutter folgte ihr mit dem unaufhörlich schreienden Säugling im Arm. „Wir brauchen einen Raum mit einem … aah!“

Caro rutschte auf einer feuchten Fliese aus, verfing sich in dem Mantel und war im Begriff, zu fallen.

Nick stürzte sich nach vorn und fing sie auf. Er zog sie fest an seine Brust.

Hm. Das fühlt sich gut an.

Caro passte perfekt in seine Arme. Ihr Mund befand sich in genau dem richtigen Abstand zu seinem, dass er sie hätte küssen können …

Richtig. Und sich damit einen Schlag ins Gesicht oder noch wahrscheinlicher einen Tritt in die Leistengegend einhandeln würde.

In dem Moment, in dem Caro sich gegen ihn drückte, lockerte er seinen Griff. Ihre Wangen waren gerötet, und sie vermied es, ihm direkt in die Augen zu blicken.

Interessant …

Plötzlich fühlte Nick sich gar nicht mehr gelangweilt – oder lasch. Obwohl es ihm ein Rätsel war, warum er bei dem kreischenden Säugling überhaupt mehr fühlen konnte als einen pochenden Kopfschmerz.

„Mrs …“ Caro blickte zurück zu der Frau. „Wie heißen Sie, Madam?“ Sie musste ihre Stimme erheben, um sich Gehör zu verschaffen.

Ah. Sie ist also nicht das Kindermädchen.

„Emma Dixon“, erwiderte die Mutter lautstark.

Caro nickte und wandte sich wieder Nick zu. „Wir benötigen unverzüglich einen Raum mit einem lodernden Feuer, sodass Mrs Dixon sich aufwärmen und abtrocknen und Grace in Ruhe stillen kann.“ Sie schaute den Jungen an. „Und auch Edward sollte sich aufwärmen und abtrocknen können.“

Nick nickte. Was sollte er nun tun? Es war so schwer, während des Geschreis der kleinen Grace einen klaren Gedanken zu fassen.

Alle Schlafzimmer mit entzündetem Kamin und massiver Tür waren bereits belegt. In den anderen Schlafzimmern waren die Möbel noch in Tücher gehüllt, obwohl er davon ausging, dass die arme Mrs Brooks und die Kammermädchen die Räume bereits fieberhaft für die Gäste vorbereiteten. Und dennoch würde wohl in keinem der Räume schon ein Feuer im Kamin brennen.

Es gab nur eine Lösung für das Problem: Nick würde ihnen sein eigenes Schlafzimmer zur Verfügung stellen müssen.

„Kommen Sie mit.“ Er führte sie die Treppe hinauf. Der Junge trottete neben ihm her, die Mutter und Caro folgten ihnen mit dem schreienden Säugling.

Gestrandete Reisende zu beherbergen – besonders eine Frau und ihren Säugling –, passt wohl besser zum Geist der Feiertage als eine Orgie.

Ähm … wo war der Gedanke denn hergekommen? Das stimmte, wenn es sich bei dem Fest, das gefeiert wurde, um Weihnachten und nicht um die Saturnalien handelte, aber ein Durcheinander an Fremden bei sich aufzunehmen, war viel lästiger und deutlich weniger unterhaltsam.

Mit Caro fühlt es sich aber nicht lästig an.

Ja, aber die seltsame Begeisterung und Erwartung – wenn das tatsächlich die Gefühle waren, die Nicks Innerstes gerade in Aufruhr versetzten – konnten sich auch leicht in Enttäuschung und schmerzliche … äh … Verdrossenheit verwandeln. Soweit er wusste, war Caro eine rechtschaffene Frau, die an jeglicher Form des Liebesspiels nicht interessiert war.

Obwohl es da diese geröteten Wangen gegeben hat …

Nein. Denk daran, dass sie Henry Andersons Schwester ist.

Nicht dass er Henry in den letzten Jahren begegnet wäre. Kurz nachdem er fünfzehn Jahre alt geworden war, hatte Nick aufgehört, mit zu Henry nach Hause zu gehen, da Onkel Leon ihn dazu gezwungen hatte, alle Schulferien auf Oakland zu verbringen. Und Henry war nie ein Teil des eher wilden Freundeskreises gewesen, mit dem Nick sich in London herumgetrieben hatte.

Und dann hatte Henry jung geheiratet und sich auf dem Land niedergelassen, um sich seinen Pferden und seinen Kindern zu widmen.

Nick verspürte einen Anflug von Bedauern. Er hatte Henry gemocht. Ich hätte unsere Freundschaft nicht aufgeben sollen.

Aber Menschen veränderten sich. Entwickelten unterschiedliche Prioritäten.

Und was sind meine Prioritäten? Mich herumtreiben, saufen und meine Zeit verschwenden?

Ein Schuldgefühl schoss durch Nicks Körper, so wie es immer und immer häufiger passierte, seit sein Onkel tot war.

Das kommt nur, weil Pearson mich andauernd anfleht, mich mit ihm hinzusetzen und die langweiligen Bücher des Anwesens durchzugehen.

Gerade hatte Nick jedenfalls dringendere Probleme. Er konnte spüren, wie die ihm folgende willensstarke Frau mit ihren Blicken Löcher in seinen Rücken brannte, um ihn so zu schnelleren Bewegungen anzutreiben.

Nicht nur die Tatsache, dass Caro Henrys Schwester war, verlangte von Nick, sie mit Respekt zu behandeln. Er mochte zwar Lord Devil sein und nicht gerade der beste Grundbesitzer, aber er hatte nicht all seinen Anstand und seine … nun … Freundlichkeit verloren. Caro war eine Frau, die gezwungen war, Schutz in seinem Haus zu suchen. Das war genug, um ihre Sicherheit vor ihm selbst und seinen anderen Gästen zu garantieren.

Es sei denn, sie wünscht diese Sicherheit nicht.

Ha! Nick erkannte eine eigennützige Rationalisierung, wenn sie ihm in den Sinn kam.

Wo war sie all die Jahre über gewesen? Er erinnerte sich vage daran, dass sie nach London gegangen war …

Ach ja. Sie hatte eine Arbeit als Kindermädchen im Londoner Haus der Dervingtons angenommen, oder nicht? Nick erinnerte sich daran, dass er sich Sorgen um sie gemacht hatte, als er davon erfahren hatte, da Dervington nicht den besten Ruf hatte. Als Nick aber die Zeit gefunden hatte, sich endlich nach ihr zu erkundigen, war sie bereits fort gewesen. Ein wenig verdächtig, dachte er.

Erneut machten sich Schuldgefühle in ihm breit.

„Warum sind hier s-so viele leere Fl-Flecken?“

„Was?“

Edward zeigte an die Wände, auf die großen Rechtecke dunklerer Tapete, wo ganz offensichtlich einmal Gemälde gehangen hatten. „Hier f-fehlen B-Bilder.“

Die Zähne des Jungen klapperten so sehr, dass er Schwierigkeiten hatte, die Worte herauszubringen. Er musste so schnell wie möglich vor ein Feuer.

„Ich habe sie herunternehmen lassen. Sie gefielen mir nicht.“

Das Erste, was er als neuer Viscount Oakland getan hatte, war, alle dunklen, trostlosen Gemälde auf den Dachboden zu verbannen. Es war schon schlimm genug, durch die kalten und düsteren Hallen gehen zu müssen, ohne von Generationen missgestimmter – und schlecht gemalter – Ahnen mit finsteren Blicken bedacht zu werden. Als er ein Junge gewesen war, hatten sie ihm Albträume beschert. Er war stets mit gesenktem Blick an den Bildern vorbeigegangen.

Häufig hatte er sich gefragt, wie sein charmanter Vater, der stets fröhlich und sorglos mit einem Lächeln auf den Lippen durchs Leben gegangen war, von so mürrischen Leuten hatte abstammen können. Und während es möglich war, dass einige der Künstler ihre Objekte schlecht abgebildet hatten – er kannte die Kunstszene gut genug, um eine ungeschickte, langweilige Pinselführung zu erkennen –, war sein Onkel ein lebendes Beispiel für das strenge, mürrische Temperament seiner Vorfahren gewesen.

Und es waren nicht nur die steifen, nicht lächelnden Gesichter gewesen, die Nick hatte wegschaffen lassen. Die Bilder von toten Vögeln, sich über gefallene Hirsche hermachenden Jagdhunden, Sünder ins Höllenfeuer werfenden Racheengeln – all das war auf dem Dachboden verschwunden.

Ein Bild hatte Nick allerdings behalten: ein helles, fröhliches Landschaftsgemälde des Canal Grande, das er gut verstaut in einer der hintersten Ecken des Ankleideraums seines Onkels gefunden hatte. In dem Moment, in dem Nick es gesehen hatte, hatte es ihn nach Venedig und in seine frühe Kindheit zurückversetzt, in die Wärme der Sonne, zu den Rufen der Gondolieri, dem Platschen des Wassers.

Und dann hatte er sich das Gemälde einmal genauer angesehen und die Signatur seines Vaters in der unteren linken Ecke entdeckt.

Warum hatte sein Onkel das Bild dort versteckt, wo nur er es sich hatte ansehen können? Wichtiger noch: Warum hatte er es überhaupt behalten?

Vielleicht hatte es in dem dunklen Herzen des Mannes doch einen Funken Freude gegeben.

Nun hing das Gemälde gut sichtbar in Nicks Schlafzimmer an der Wand gegenüber dem Fußende seines Bettes. Es war das Letzte, was er jeden Abend sah, und das Erste an jedem Morgen. Nick hatte darüber nachgedacht, das Bild nach London mitzunehmen, aber er hatte nicht riskieren wollen, es beim Transport zu beschädigen. Es war alles, was ihm von seinem Vater geblieben war.

Und hier konnte Nick es besser gebrauchen. Es machte Oakland fast zu einem erträglichen Ort.

„Oh. Und W-Weihnachten mögen Sie auch nicht?“

Das tat Nick tatsächlich nicht. Als Junge in Venedig hatte er Weihnachten gemocht, mit den Masken und der Musik und den Straßenfesten. Aber hier in England?

Nein.

Nun, vielleicht war das nicht ganz gerecht. Er wusste vermutlich gar nicht, was ein richtiges englisches Weihnachtsfest war. Auf Oakland bei seinem strengen Onkel war Weihnachten immer nur ein religiöser Feiertag gewesen, den er im Gebet und in Buße hatte verbringen müssen.

Aber das konnte der Junge nicht wissen. „Warum glaubst du, dass ich Weihnachten nicht mag?“

„Hier gibt es gar kein G-Grün, keine Pf-Pflanzen.“ Edward rümpfte die Nase. „Es riecht nicht nach Weihnachten.“

Hm. Pflanzen. Mistelzweige …

Weder für Livy noch für Polly oder Fanny benötigte er eine pflanzliche Entschuldigung, um sich ihrem Mund zu nähern – oder sonstige leidenschaftliche Tätigkeiten durchzuführen –, aber Caro …

Vielleicht sollte Nick sich einmal auf die Suche nach ein paar Mistelzweigen machen.

„Es ist noch nicht Heiligabend. Wir werden das Haus noch mit weihnachtlichem Grün schmücken.“ Nick hatte nicht vorgehabt, Weihnachtsdekorationen anzubringen, aber da es so aussah, als steckte der Junge während der Feiertage hier fest, sollte Nick vielleicht doch sein Bestes versuchen, um das Haus ein wenig festlicher zu gestalten. Er wollte sich nicht in einen Spielverderber verwandeln, wie sein Onkel einer gewesen war.

Sie waren endlich bei seinen Räumlichkeiten angekommen.

„Wir sind da.“ Nick drückte die Tür auf.

Der Junge sog die Luft ein und sah sich aufmerksam um. Sein Mund stand einen Moment lang offen, bis seine Zähne wieder zu klappern anfingen. „Es sieht aus wie in einem Palast.“

Das Zimmer war groß – und leer, eine immense Platzverschwendung. Sein kleines Zimmer im Haus seines Vaters in Venedig mit den hellen, weißen Wänden und dem Meerblick hatte ihm viel besser gefallen.

„Es ähnelt einem Palast nur wenig.“ Nick ging hinüber zum Kamin, um das Feuer wieder zum Leben zu erwecken. Der noch immer weinende Säugling würde gleich da sein. Je schneller Nick das Feuer wieder zum Lodern brachte, desto schneller würde der Säugling gestillt werden können – und ihr Gehör wäre gerettet.

Der Junge folgte Nick. „G-gehört das alles Ihnen a-allein?“

„Ja.“ Normalerweise. Letzte Nacht hatte er Livy hier unterhalten.

Oder zumindest hatte er versucht, sie zu unterhalten.

Sein Magen drehte sich um, und er beugte sich nach vorn, um nach dem Feuer zu sehen. Wenn ihn nun jemand beobachten würde, hoffte Nick, dass er seine gerötete Gesichtsfarbe auf die Nähe zur Glut zurückführen würde.

Er hatte geplant, Livy in dem mit seinem eigenen Raum verbundenen Schlafzimmer unterzubringen, das üblicherweise der Viscountess zustand, aber Mrs Brooks hatte gar nicht daran gedacht, dieses Zimmer vorzubereiten.

Nun, vielleicht hatte sie daran gedacht und sich dagegen entschieden, da es ihrer Vorstellung von Anstand und Moral entgegengestanden hätte. Nachdem Nick das Problem bemerkt hatte, hatte er überlegt, die Angelegenheit bei seiner Haushälterin zur Sprache zu bringen, aber die weihnachtlichen Geister – die alkoholischen Geister – hatten ihn zu betrunken werden lassen, als dass er noch in der Lage gewesen wäre, eine solche Diskussion zu führen. Am nächsten Morgen hatten sein Verstand und seine Besonnenheit wieder die Oberhand gewonnen.

Es war schon schlimm genug, Mrs Brooks darum zu bitten, eine Weihnachtsorgie gutzuheißen. Sie aber dazu zu zwingen, eine Mätresse – selbst eine so hervorragende, wie Livy es war – in dem Raum unterzubringen, der einst Lady Oakland gehört hatte, wäre vermutlich mehr gewesen, als sie hätte tolerieren können. Er wollte die Frau mit Sicherheit nicht zu einer Kündigung drängen. Hier auf dem Land eine neue Haushälterin zu finden – besonders nachdem er die Einheimischen verstimmt hatte –, würde sehr schwer werden.

Und vermutlich würde sie auch ihren Ehemann zum Gehen bewegen, und Nick hätte fortan auch keinen Butler mehr.

Er wollte Mrs Brooks’ Leben wirklich nicht umkrempeln. Sie war eine gute Frau. Sie war auf dem Anwesen aufgewachsen und hatte, als Nick noch ein Junge gewesen war, bereits als Kammermädchen im Gutshaus gearbeitet. Früher hatte sie ihm häufig Süßigkeiten mitgebracht, wenn sie von Besuchen bei ihrer Familie zurückgekehrt war. Sie hatte einen Bruder, der etwa in Nicks Alter war.

Nicht dass sein Onkel ihn mit dem Jungen oder mit einem anderen der auf dem Anwesen lebenden Kinder hätte spielen lassen. Oh nein. Für Onkel Leons Erben wäre es in keinem Fall angemessen gewesen, mit Personen niederer Herkunft zu verkehren. Besonders wenn man Nicks – aus Onkel Leons Sicht – bedauerlichen Stammbaum betrachtete. Nicks Mutter war schließlich nicht nur Italienerin gewesen, sondern auch die Tochter eines niederen Bäckers.

Und eigentlich hatte das Zimmer auch keine Rolle gespielt. Livy war nur wenige Schritte den Flur entlang untergebracht worden, und in jedem Fall …

Ähm … das warf vielleicht kein gutes Licht auf ihn, aber es hatte Nick ein großes, genüssliches Vergnügen bereitet, Livy in das prüde Bett seines Onkels einzuladen.

Nick verzog das Gesicht. Dem Geist seines Onkels eine lange Nase zu machen, war das einzige Vergnügen gewesen, das er letzte Nacht hatte genießen können.

Livy hatte seinen fehlenden … ähm … Geist freundlicherweise auf die große Menge Alkohol zurückgeführt, die er an dem Abend zu sich genommen hatte, aber eine solche Trinkerei hatte ihn zuvor noch nie beeinträchtigt. Und eben im Salon vor Caros Auftauchen war sein Schwanz trotz Livys Bemühungen erneut reglos geblieben.

Wieder drehte sich sein Magen um. Ich bin erst zweiunddreißig. Ich bin noch zu jung, um dem Geschlechtsverkehr abzuschwören.

Das musste der Fluch von Oakland sein. Dieses Problem hatte Nick in London noch nie gehabt. Sobald er zurück in der Stadt war, würde bestimmt alles wieder gut sein.

Und trotzdem …

Wenn er schonungslos ehrlich war, hatte es in letzter Zeit zu viele Situationen gegeben, in denen sich die Aussicht darauf, zu Hause zu sitzen und ein gutes Buch zu lesen, deutlich angenehmer angefühlt hatte, als sich draußen herumzutreiben und sich dort mit Frauen zu vergnügen.

Natürlich hatte es das. Nick war schließlich kein lüsterner Junge mehr. Er suchte sich seine Bettpartnerinnen sehr gewählt aus.

Du hast dich für Livy entschieden und warst der Situation dennoch nicht gewachsen.

Mist! Nun, dann musste seine aktuelle … ähm … erschlaffte Stimmung doch auf Oakland und die verdammte englische Kälte zurückzuführen sein.

„Lord Oakland.“

Nick zuckte zusammen. Das war Caros Stimme, spitz und vor Ungeduld nur so strotzend. Sie musste direkt hinter ihm stehen. Das Geschrei des Säuglings hatte die Geräusche ihrer Schritte ganz offenbar verschluckt. Würde sie ihn nun dazu drängen, sich mit dem Entfachen des Feuers zu beeilen, genau so, wie sie ihn dazu gedrängt hatte, den Hilfstrupp auf den Weg zu schicken?

Nick musste zugeben, dass sie mit der Rettung richtiggelegen hatte, aber manche Dinge konnte man nun mal nicht beschleunigen. Dem Feuer gut zuzureden, damit es endlich wieder anfing zu brennen, gehörte definitiv dazu.

Liebe zu machen ebenfalls …

Ha! In der vergangenen Nacht war es Nick nicht gelungen, seinen armen Schwanz zu irgendetwas zu überreden, ob schnell oder langsam.

Über seine Schulter hinweg blickte er Caro an. „Lassen Sie mich nur sichergehen, dass das Feuer richtig brennt, Miss Anderson, und dann werde ich verschwinden.“

Caro wies seine Worte mit einer wegwischenden Handbewegung ab. „Ich kann mich um das Feuer kümmern. Was wir jetzt brauchen, sind Decken und Handtücher. Mrs Dixon und Edward sollten so schnell wie möglich ihre nasse Kleidung ausziehen.“

„Richtig.“ Das Feuer brannte nun schön gleichmäßig, also erhob Nick sich und …

Wo zur Hölle finde ich zusätzliche Decken und Handtücher?

Er hatte keine Ahnung, wo er danach suchen sollte. Er war erst gestern angekommen …

Nein, er hätte auch seit Jahren hier sein können, und dennoch hätte er nicht gewusst, wo die zusätzliche Wäsche aufbewahrt wurde. Laken und Decken waren immer einfach wie von selbst auf seinem Bett aufgetaucht.

„Mylord?“

Gott sei Dank! Mrs Brooks war in der Tür erschienen. Nick wäre ihr gern um den Hals gefallen, weil er so erleichtert war, sie zu sehen. Er beherrschte sich aber und schenkte seiner Haushälterin lediglich ein Lächeln.

Zumindest standen der Junge und seine Mutter nun vor dem Kamin und zitterten nicht mehr. Er wirkte also nicht vollständig inkompetent. Selbst den Säugling hatte die Hitze des Feuers eingelullt und zur Ruhe gebracht.

Vielleicht sammelte die Kleine aber auch nur neue Kräfte, um gleich wieder losschreien zu können. Ohne dieses stechende Geräusch in den Ohren fiel das Denken auf jeden Fall deutlich leichter.

„Mrs Brooks, Sie sind genau die Person, die wir jetzt brauchen. Mrs Dixon und ihr Sohn Edward benötigen Handtücher und Decken und vielleicht ein Gestell, auf dem sie ihre Kleider vor dem Feuer zum Trocknen aufhängen können.“

„Selbstverständlich, Eure Lordschaft.“ Mrs Brooks lächelte die Frau und ihren Sohn an. „Kommen Sie einfach mit mir. Ich bringe Sie beide in Ihrem eigenen Zimmer unter und helfe Ihnen, es sich dort gemütlich zu machen. Die Männer haben Ihre Tasche hergebracht, Mrs Dixon. Sie und Ihr Sohn können sich also umgehend warme, trockene Kleidung anziehen.“ Mrs Brooks blickte zu Nick, während Mrs Dixon und Edward an ihr vorbeigingen. „Mylord, nachdem ich mich um Mrs Dixon und ihren Sohn gekümmert habe, wo wünscht Ihr, dass ich unsere anderen neuen …“ Sie musste schlucken. „… Gäste unterbringe?“

Gott, wen nahm Nick nur bei sich auf? Nicht dass er in dieser Sache irgendeine Wahl hatte; er konnte schließlich nicht die Tür verbarrikadieren und die armen Seelen draußen in der Kälte erfrieren lassen. Er hoffte lediglich, dass sich keiner der Gäste mit einem seiner Wertgegenstände aus dem Staub machte.

Obwohl es ihn vermutlich viel mehr ängstigen sollte, dass sie ihm seine Ruhe und seinen Verstand raubten. Seine Weihnachtsorgie war ganz sicher ruiniert – nicht dass sie vor der Ankunft seiner Überraschungsgäste noch besonders vielversprechend gewesen wäre.

„Bringen Sie sie dort unter, wo es Ihnen am besten erscheint, Mrs Brooks. Sie kennen die Räumlichkeiten besser als ich.“

Seine Haushälterin nickte und schaute dann zu Caro.

Oh nein, Mrs Brooks würde sie nicht auch fortführen. Caro musste ihm zunächst mehr über seine Überraschungsgäste verraten.

„Und danach kommen Sie bitte zurück und lassen mich wissen, wie der Stand der Dinge ist. Miss Anderson und ich warten hier auf Ihre Rückkehr.“

Nick hörte, wie Caro ein leises Quietschen entfuhr. Ob vor Überraschung oder Missbilligung, konnte er nicht sagen. Das Geräusch wurde jedoch schnell von Grace’ deutlich lauterem und viel entschlossenerem Kreischen, das aus dem Korridor zu ihnen herüberdrang, verschluckt.

Mrs Brooks hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. „Sehr gut, Mylord“, rief sie noch und schloss dann die Tür hinter sich.

„Lord Oakland …“

Nick hob die Hand. „Miss Anderson, bitte. Sie müssen mir helfen, herauszufinden, wen ich unter meinem Dach beherbergen werde.“ Er bedeutete ihr, auf einem der Ohrensessel vor dem Feuer Platz zu nehmen.

Sie blieb jedoch stehen und runzelte die Stirn. „I-ich weiß nichts über diese Leute.“

„Sie wissen mehr als ich. Sie haben immerhin einige Zeit mit ihnen in der Kutsche verbracht.“

„Ja, aber …“ Sie presste die Lippen zusammen, schluckte und sagte dann mit einem deutlichen Beben in der Stimme: „Es ist nicht a-anständig für mich, h-hier zu sein.“

Nick spürte, wie seine Brauen in die Höhe schossen und sein Mund aufklappte. Nicht anständig? Das war das erste Mal, dass die Frau, die in sein Haus geplatzt war, die ihn in seiner eigenen Eingangshalle beschimpft hatte – selbst als sie bereits gewusst hatte, dass er der Viscount war – und die mehrere Minuten mit drei Mätressen verbracht hatte, ohne sich in eine Ohnmacht zu flüchten, sich um Anstand sorgte. Sie war kein welkendes Mauerblümchen.

Die Caro, die er gekannt hatte, hätte sich nicht um den Anstand gesorgt.

Nick erinnerte sich noch an das erste Mal, als er ihr begegnet war – das erste Mal, als er mit zu Henry nach Hause gegangen war. Onkel Leon hatte ihn zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres in der Schule abgeladen. Er war der einzige neue Junge dort gewesen und seine dunklen Haare und Augen hatten deutlich gezeigt, dass er offensichtlich nicht zu hundert Prozent englisch war. Henry war einer der wenigen Jungen gewesen, mit denen Nick sich angefreundet hatte.

Henry war wirklich ein Prachtkerl. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass unser Kontakt abbricht.

Als Nick also das erste Mal mit zu Henry nach Hause gekommen war, hatte Caro ihn überrascht. Sie war etwa im gleichen Alter wie seine Cousine Maria gewesen, aber sie hatte Maria in keinster Weise geähnelt. Maria hatte Spitzenkleider und Puppen gemocht, Matsch gehasst und war vor Fröschen und Spinnen schreiend davongelaufen. Caro hingegen hatte nicht groß überlegen müssen, bevor sie eines von Henrys alten Oberteilen und ein Paar Hosen, aus denen er herausgewachsen war, angezogen und ihr Haar zurückgebunden hatte, um auf Erkundungsausflüge durch die Felder und Wälder zu gehen, wann immer sie sich an ihrer Mutter hatte vorbeischleichen können. Sie war stark und furchtlos und entschlossen gewesen.

Sie konnte doch keine Angst haben, dass er über sie herfallen würde, oder?

Ein Anflug von Schock – und ja, auch Kränkung – machte sich in Nicks Brust breit, dicht gefolgt von – und es war ihm durchaus unangenehm, das zuzugeben – einem Hauch Erleichterung. Wenn das ihre Sorge war, konnte Livy, als Nick mit Mrs Dixon zurückgekommen war, nicht seinen kläglichen Mangel an Elan im Bett beschrieben haben.

„Es tut mir leid, aber Anstand wurde zu diesem Empfang nicht eingeladen, Miss Anderson. Ich bin mir sicher, Sie haben bereits herausgefunden, welcher Arbeit Livy und die anderen Frauen nachgehen, nicht wahr?“

„Ja. Natürlich.“

Das war schon besser. Nun klang sie vielmehr verärgert als beunruhigt.

„Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihnen nichts zuleide tun werde. Ich würde keiner Frau etwas zuleide tun, aber sollte ich nicht vollkommen falschliegen, sind Sie Henry Andersons Schwester. Wir kannten uns bereits als Kinder, nicht wahr?“

Caro wirkte nicht überrascht. Sie musste diese Verbindung also auch bereits hergestellt haben.

„Ja, aber wir sind keine Kinder mehr.“

Das stimmte. Und als das schwächere Geschlecht waren Frauen Männern immer körperlich unterlegen. Vielleicht würde es Caro beruhigen, wenn sie eine Art Waffe in der Hand hätte, mit der sie sich im Notfall verteidigen könnte. Nick sah sich um …

Sein Blick fiel auf die Marmorstatuen zu beiden Seiten der Kaminuhr. Eine dieser Statuen würde den Zweck hervorragend erfüllen. Nick griff nach der am nächsten stehenden, hob sie an – sie war schwer, aber hoffentlich nicht zu schwer für Caro – und reichte sie ihr.

Caro war stark. Sie nahm ihm die Statue ohne Schwierigkeiten ab.

„Wofür ist die?“

„Um mir den Schädel einzuschlagen, wenn ich mich plötzlich vergessen sollte.“ Nick setzte ein, wie er hoffte, beruhigendes Lächeln auf. „Und nun setzen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen ein Glas Brandy einschenken?“