Leseprobe Das Erbe von Rose Castle

Hayley

19. Mai 2018

Ein salziger Tropfen nach dem anderen landete auf der Glasscheibe des Bilderrahmens. Hayley wischte sie mit zitternden Fingern fort, wobei ihr ein Schluchzen entfuhr.

In den letzten Wochen hatte sie kein einziges Mal geweint. Nicht, als der Anruf aus dem Krankenhaus kam und der Arzt ihr mitteilte, dass ihre Mutter einen schweren Autounfall gehabt hatte. Nicht, als sie den geschundenen Körper ihrer engsten Vertrauten in dem Krankenbett hatte liegen sehen, mit all den Schläuchen und Apparaten, die sie gerade so am Leben erhalten hatten. Nicht einmal in dem Moment, in dem Hayley die Papiere für die Organspende unterschrieben hatte. Auch den Gang zum Bestatter, die Auswahl des Grabsteins und der Blumen sowie das Begräbnis selbst hatte sie hinter sich gebracht, ohne auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Hayley war stark geblieben. Hatte einfach funktioniert, getan, was getan werden musste, ohne irgendetwas davon wirklich an sich heranzulassen.

Jetzt aber, da sie ihr Lieblingsfoto in den Händen hielt, das sie und ihre verstorbene Mutter im botanischen Garten zeigte, realisierte Hayley zum ersten Mal, dass sie alleine war. Dass ihre geliebte Mutter unwiederbringlich fort war.

Und diese Erkenntnis, welche all die Zeit über still in einem Winkel ihres Verstandes gelauert hatte und nun brüllend hervorgesprungen war, ließ einen Damm in ihr brechen.

Mit wachsender Panik wischte sie sich mit dem Ärmel über die heißen, nassen Wangen und versuchte, auch die Glasscheibe des Bilderrahmens von den Tränenschlieren zu befreien. Hayley wollte, nein sie musste, ihre Mutter sehen, auch wenn es nur auf dem Foto war. Das schmale Gesicht mit der spitzen Nase, umrahmt von wilden Locken, das Hayleys in nichts glich. Ihr Gesicht war herzförmig und mit blassen Sommersprossen übersät. Die rötlichen Haare waren glatt und bei weitem nicht so widerspenstig, wie die ihrer Mutter es gewesen waren. Früher hatte sie der optische Unterschied nie gestört. Nun wünschte sich Hayley sehnlichst, mehr nach ihrer Mutter zu kommen, um ihre Züge in ihrem eigenen Spiegelbild betrachten zu können. Das hätte ihr die Möglichkeit gegeben, noch etwas mehr von ihrer Mutter bei sich zu behalten.

Sie saß im Schneidersitz auf dem ausgeblichenen Hochflorteppich im Schlafzimmer ihrer Mutter, umringt von Fotoalben und Andenken. Die sanften Strahlen der untergehenden Sonne tauchten das Zimmer in rötliches Licht und projizierten den Schatten des kleinen Windspiels, das vor dem Fenster angebracht war, an die gegenüberliegende Wand.

Hayley wischte sich ein letztes Mal übers Gesicht, als ihre Tränen endlich versiegten, und betrachtete still das Spiel aus Licht und Schatten. Da blitzte plötzlich etwas in der Dunkelheit des offenstehenden Wandschranks auf und forderte ihre Aufmerksamkeit. Zuerst glaubte Hayley, sich die Reflexion nur eingebildet zu haben, aber bereits Sekunden später sah sie es erneut – im obersten Fach des kleinen Wandschranks, aus dem sie tags zuvor Bettwäsche und Handtücher ausgeräumt hatte, schien sich noch etwas zu befinden. Schniefend rappelte sie sich hoch und trat vor den Schrank. Hayley tastete das oberste Regalbrett ab, soweit sie mit der Hand reichen konnte, stieß aber auf nichts außer Staubflusen. Was auch immer sich da oben verbarg, musste ganz nach hinten gerutscht sein. Erleichtert darüber, nun wenigstens etwas zu tun zu haben, das sie von ihrer Trauer und den trüben Gedanken ablenkte, zog sie den schweren Lesesessel, der neben dem Fenster stand, an den Schrank heran. Die dicken Holzbeine des Stuhls scharrten laut über den Parkettboden, als sich Hayley damit abmühte, das wuchtige Möbelstück quer durchs Zimmer zu schieben.

Erst als sie auf dem weichen, über die Jahre durchgesessenen Polster balancierte, schaffte Hayley es, das mysteriöse glänzende Etwas zu ertasten. Ihre Finger trafen auf kühles Metall, zogen das überraschend schwere Teil Stück für Stück weiter nach vorne, bis sie es schließlich mit beiden Händen fassen und aus dem Regal heben konnte. Für einen Moment verlor sie das Gleichgewicht und schwankte bedrohlich mit ihrem Fund auf dem Arm. Als sie den Gegenstand nun betrachtete, pochte ihr Herz kräftig gegen ihre Rippen und sie musste sich eingestehen, dass dies nicht nur ihrem Beinaheabsturz vom Lesesessel zuzuschreiben war. Tief in ihr machten sich Aufregung, Neugier und auch ein wenig Argwohn breit. Sie hatte diese, an manchen Stellen bereits angelaufene, silberne Box noch nie zuvor gesehen. In den letzten Tagen hatte sie die gesamte Wohnung ausgeräumt und es war ihr kein einziger Gegenstand in die Hände gefallen, der ihr unbekannt gewesen wäre – bis auf diese Schatulle. Ihre Mutter musste sie all die Jahre wie einen Schatz gehütet und vor ihr versteckt gehalten haben. Aber warum nur? Was war in dieser Kiste? Hayley überlegte angestrengt, während sie sich mitsamt dem Fund in die weichen Kissen auf dem Bett ihrer Mutter sinken ließ. Sofort stieg ihr der altbekannte Rosenduft in die Nase, der noch immer an den Kissen haftete. Ihre Mutter hatte Rosen geliebt, darum wunderte es Hayley nicht, dass eine Rose auch die metallene Schatulle auf ihrem Schoß zierte.

Mit dem Zeigefinger zog sie die erhabenen Blütenblätter der Prägung nach. Sofort begann ihre Kopfhaut zu prickeln, wie sie es immer tat, wenn Hayley angespannt oder nervös war. Sie scheute noch einen Augenblick davor zurück, die Box zu öffnen. Was, wenn ihre Mutter einen triftigen Grund gehabt hatte, den Inhalt vor ihr geheim zu halten? Womöglich würde ihr das, was es darin zu entdecken gab, nicht gefallen.

Ein ungutes Gefühl beschlich Hayley und gesellte sich zu der Trauer über den Verlust ihrer Mutter, sodass sich ihr ohnehin schon flauer Magen unangenehm zusammenzog. Letztendlich siegte jedoch die Neugierde. Hayley holte tief Luft und klappte den Deckel auf.

In der Kiste, die mit dunkelrotem Samt ausgekleidet war, befand sich ein Sammelsurium an Gegenständen. Ihr Blick huschte über die verschiedenen Dinge und blieb an einem dünnen Bündel kupferfarbenen Haares hängen. Die feine Strähne wurde durch ein glänzendes, hellrosa Satinband zusammengehalten. Hayley drehte das seidige Haarbündel vorsichtig und entdeckte einen in das Band eingestickten Schriftzug: Hayley Abigail Rose 24.11.1998.

Ihre Brust wurde mit einem Mal eng. Es war ihr Vorname. Ihr Geburtsdatum. Mit ziemlicher Sicherheit waren es ihre Haare. Aber wie konnte das sein? Hayley wusste nichts von einem zweiten Vornamen und ihr Nachname war Oakwood wie der ihrer Mutter. Sie hatte das Gefühl, von einer bleiernen Schwere tiefer in die Matratze gedrückt zu werden. Was hatte das bloß zu bedeuten?

Vorsichtig legte sie die Haarsträhne neben sich auf die Tagesdecke und langte nach dem nächsten Objekt in der Kiste. Es war ein Stein, der sich in ihrer verschwitzen Hand kühl anfühlte. Die Form des dunkelblauen, glatten Flusskiesels erinnerte an die eines Herzens. Als sie ihn umdrehte und die Namen sah, die mit silberner Farbe darauf gemalt waren, beschleunigte sich ihr Puls. Sarah & Dean stand da in geschwungener Schrift. Sarah war ihre Mutter, aber von einem Dean hatte sie noch nie gehört. War das etwa ihr Vater? Möglich war es. Hayley wusste so gut wie nichts über ihn. Ihre Mutter hatte sich was das anging immer äußerst bedeckt gehalten. Und jedes Mal, wenn sich Hayley nach ihm erkundigt hatte, war ihrer Mutter eine unendliche Traurigkeit anzusehen gewesen – darum hatte sie irgendwann aufgehört, Fragen zu stellen. Was aber nicht bedeutete, dass sie kein Interesse daran hatte, mehr über ihren Vater zu erfahren. Auch wenn Hayley mit ihren neunzehn Jahren erwachsen war, sehnte sich das kleine Mädchen in ihr stets danach, den unbekannten Elternteil kennenzulernen. In ihrer Vorstellung malte sie sich sein Gesicht aus, das ihrem, ihrer Mutter zufolge, sehr ähnlich war. Die hohen Wangenknochen, ihren hellen Teint und die roten Haare hatte sie von ihm geerbt. Aber wer dieser Mensch tatsächlich war und warum sich ihre Eltern getrennt hatten, warum er nie eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatte, wusste Hayley nicht.

Wie eine Kostbarkeit bettete sie den herzförmigen Stein neben ihre Haarsträhne und holte das nächste Objekt aus der Kiste, ein abgegriffenes Foto. Ihr Atem stockte, als sie die Frau in dem prinzessinnenhaften Brautkleid erkannte. Es war eine junge, freudestrahlende Ausgabe ihrer Mutter. Sie lag in den Armen eines stattlichen, gutaussehenden Mannes, der sie voller Liebe ansah. Auf der Rückseite des Fotos stand mit verblichener Tinte etwas geschrieben.

Ich sah dich im Rosengarten,
Da war’s um mich geschehen.
Ich will nicht länger warten,
Dir meine Liebe zu gestehen.
Mag sein, dass Rosen welken,
Ihre Schönheit wird vergehen.
D’rum will ich dir mein Leben schenken
Und immer an deiner Seite stehen.
 
In ewiger Liebe,
Dein Dean Rose, 19. Juni 1996

Dean Rose und ihre Mutter waren also verheiratet gewesen. Zumindest nahm Hayley an, dass sie es an irgendeinem Punkt in der Vergangenheit nicht mehr gewesen waren, denn ihre Mutter hatte, seit Hayley denken konnte, Oakwood geheißen. Aber vielleicht hatte sie auch einfach ihren Namen behalten. Oder es war tatsächlich zur Scheidung gekommen. Tausend Fragen und abertausende mögliche Antworten schwirrten Hayley durch den Kopf. Dabei konnte sie nur das Bild anstarren. Den Mann. Dean.

Nach einer gefühlten Ewigkeit manifestierte sich ein Gedanke in ihrem Geist. Das … war ihr Vater. Er musste es einfach sein. Aber warum sah sie ihn heute zum ersten Mal? Und das nur auf einem alten Foto. Warum hatte ihre Mutter ihn und ihr altes Leben vor ihr geheim gehalten? Wie hatte sie das nur tun können?

Hayley hatte so lange verkrampft und in Gedanken versunken stillgehalten, dass ihre Arme und Beine nun vor Taubheit kribbelten. Als sie das Foto ebenfalls beiseitelegte und ihre eingeschlafenen Glieder vorsichtig streckte, klimperte es leise in der Kiste, die auf ihrem Schoß in Bewegung gekommen war.

Hayley griff in die Schatulle und beförderte einen weiteren Beweis für die Ehe ihrer Mutter zutage, von der sie nie etwas gewusst hatte. Es handelte sich um einen schmalen Goldring, in dessen Wölbung ein einzelner, weiß glitzernder Stein eingelassen war. Die Gravur in der Innenseite lautete: 19.06.96. Das musste der Ehering ihrer Mutter gewesen sein.

Mit steifen Fingern fasste sich Hayley in den Nacken und löste den Verschluss ihrer Halskette, an der ein kleiner silberner Herzanhänger baumelte. Sie ließ den Ring auf die Kette gleiten, legte sie wieder an und steckte ihn unter den Ausschnittsaum ihres Shirts. Das anfangs kühle Metall erwärmte sich rasch auf ihrer Haut und schmiegte sich in die Kuhle zwischen ihren Brüsten, als gehöre der Ring ihrer Mutter genau dorthin, ganz nah an ihr Herz.

Hayley atmete tief durch und drückte sich tiefer in die Kissen, um sich für die letzten beiden Dinge in der Schatulle zu wappnen. Dieser Fund wirbelte ihr Leben, das durch den Tod ihrer Mutter ohnehin schon auf dem Kopf stand, gehörig durcheinander.

Beherzt griff sie nach einer kleinen Kartonrolle und entfernte den Plastikdeckel am Ende. Als Hayley die Öffnung nach unten drehte und vorsichtig schüttelte, glitt ein Papierbogen daraus hervor. Achtsam entrollte sie das Blatt und die Annahmen der letzten Minuten bestätigten sich auf einen Schlag. Es war eine Heiratsurkunde. Dieses Dokument besiegelte die Ehe zwischen ihrer Mutter und Sir Dean James Cameron Rose. Sir. An diesem Wort blieb ihr Blick einige Sekunden lang hängen, bevor die Adresse neben dem Stempel des Standesamtes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Rose Castle, Corbridge, Northumberland, England.

Hayley runzelte irritiert die Stirn. Rose Castle? Was sollte das denn bitteschön sein? England? Ihre Mutter hatte nie ein Wort darüber verloren, je in England gewesen zu sein. Darüber hinaus konnte sich Hayley ihre hippe, Flip-Flops-tragende, Starbucks-Kaffee-schlürfende Mutter so gar nicht in einem biederen, englischen … ja, was war dieses Rose Castle überhaupt? Ein Schloss? Ein Herrenhaus? Ein Anwesen? Egal, was es auch sein mochte, Hayley konnte sich Sarah Oakwood in keinem Fall als die Lady von Rose Castle vorstellen. Anscheinend hatte sie ihre Mutter nie richtig gekannt. Zumindest nicht den Teil von ihr, dessen Überreste jahrelang verborgen in dieser Kiste geschlummert hatten.

Gedankenverloren griff sie nach dem letzten Gegenstand in der Schatulle, einer herausgerissenen Buchseite. Es handelte sich dabei um die Titelseite eines alten Gedichtbands von keinem Geringeren als John Keats. Hayley überflog den Titel und staunte nicht schlecht, da es eine Erstausgabe zu sein schien. Warum hatte ihre Mutter gerade dieses Buch gewählt? Soweit Hayley wusste, war sie nie ein besonders großer Fan von Poesie und Prosa gewesen. Andererseits saß Hayley hier inmitten von Dingen, die eine Heirat ihrer Mutter mit einem englischen Adligen bezeugten. Also sollte sie sich wohl weniger Gedanken über eine Seite aus einem literarischen Werk machen – auch wenn sie nur zu gern gewusst hätte, warum ihre Mutter sie den anderen Gegenständen beigelegt hatte …

Amelia

20. März 1938

Mit starrem Gesicht musterte Amelia die fadendünnen Rinnsale, die sich vom grauen Himmel ausgehend auf den gepflegten Garten von Rose Castle ergossen. Der weiße Stoff des Zeltes, das speziell für diesen Tag neben den Fliederbüschen, in der Nähe des kleinen, sechseckigen Pavillons aufgestellt worden war, troff vor Nässe und wehte nur träge im Wind. Die hageren Tulpen und Primeln, die den Kiesweg zum Haus säumten, hatten erst vor wenigen Tagen ihre bunten Köpfe aus der kalten Erde gestreckt und wurden nun vom Regen unerbittlich niedergedrückt.

Amelia konnte es ihnen nachfühlen. Auch sie hatte sich diesen Tag anders vorgestellt. Mit Sonnenschein, Tanz und Musik im Kreise ihrer Verwandtschaft und Freundinnen, die voller Neid zu ihr in ihrem wunderschönen Brautkleid aufschauten. Hätte ihr zukünftiger Gatte, der Baronet von Rose Castle, das Hochzeitsfest doch nur nach ihren Wünschen im Frühsommer angesetzt, dann hätten sie sich inmitten von strahlenden Rosen ihr Jawort geben können. So aber hatten sich die wenigen geladenen Gäste im finsteren Bankettsaal versammelt und warteten mit Wein und Eclairs auf den Beginn der Zeremonie.

„Miss Campbell, es ist Zeit“, erinnerte sie die hohe Stimme des Zimmermädchens. Widerstrebend löste Amelia ihren Blick von der mit Tropfen behafteten Fensterscheibe und wandte sich um. Ihr Zimmer war groß, mit gleich drei doppelflügeligen Fenstern, die knapp über dem Boden in breiten Fensterbänken endeten und gen Süden zeigten. Trotzdem waren es Kerzen, die den Raum erhellten. Das Damenzimmer, in dem ihre Vorgängerin, die erste Lady von Rose Castle, verstorben war. Unwillkürlich wanderte Amelias Blick zum Bett, in dem die junge Frau des Nachts verblutet war, nachdem sie eine Fehlgeburt erlitten hatte.

Ein Schauer lief ihr beim Gedanken an diese Tragödie über den Rücken. Natürlich war die Matratze ausgetauscht worden. Die Tatsache, hier wohnen zu müssen, machte das aber keinen Deut besser. Amelia wäre es tausendmal lieber gewesen, hätte sie eines der zahlreichen anderen Zimmer im Haus beziehen dürfen.

Beklommen sah sie nun in das runde Gesicht ihres Zimmermädchens und überlegte fieberhaft, ob sie ihr wohl vertrauen und die düsteren Gedanken mit ihr teilen konnte. Amelia wusste, wie viel unter den Bediensteten getratscht wurde – das war vermutlich in jedem größeren Hausstand der Fall. Und sie wollte es tunlichst vermeiden, als feige, unerzogen oder gar undankbar dazustehen, sei es auch nur vor den Angestellten. Sollte gar ihrer Mutter zu Ohren kommen, dass sie zu viel plapperte, dann gnade ihr Gott. Sofort hatte sie ihre strenge Stimme im Kopf, die sie zum hundertsten Mal um Ruhe anhielt. Es steht jungen Damen nicht, ständig und ohne Unterlass zu gackern. Du musst lernen, still und sittlich zu sein, sonst wird dich nie ein Mann zur Frau nehmen.

Amelia hatte stets ihr Bestes gegeben und auf ihre Mutter gehört und nun würde sie schon bald die Lady von Rose Castle sein. Ihr Gesichtsausdruck musste verkniffen und nachdenklich ausgesehen haben, während ihre Überlegungen von der verstorbenen Frau des Baronets zu ihrer herrischen Mutter gewandert waren. Celia, das Zimmermädchen, räusperte sich und zeigte auf den leeren Stuhl vor dem Frisiertisch. Mit einem leisen Seufzen ließ sich Amelia auf das weiche Samtpolster sinken.

„Ist alles in Ordnung, Miss? Fühlen Sie sich nicht wohl?“, fragte Celia, lächelte sie durch den Spiegel freundlich an und griff nach der Rosshaarbürste. Andächtig und mit viel Gefühl bürstete sie Amelias lange, rote Mähne durch, bis sie ihr geschmeidig über den Rücken fiel. Sogleich machte sich die junge Bedienstete dann daran, einen dicken Zopf zu flechten und diesen an Amelias Hinterkopf zusammenzudrehen.

„Warum nur muss ich ihr Zimmer haben?“, platzte es plötzlich doch aus Amelia heraus. Der Gedanke an die verstorbene Lady Rose wollte sie einfach nicht loslassen und obwohl sie eigentlich entschieden hatte, ihren Mund zu halten, waren ihr die Worte einfach entschlüpft.

Celia warf ihr durch den Spiegel einen Blick zu, den Amelia nicht recht zu deuten wusste, bevor sie vorsichtig eine Haarklammer nach der anderen in den geflochtenen Dutt schob.

Es war falsch gewesen, dieses Thema anzusprechen. „Entschuldige die Frage. Bitte vergiss einfach, was ich gesagt habe“, versuchte Amelia darum hastig, ihren Fehler zu korrigieren. Die Hände des Zimmermädchens hielten in ihrer Bewegung inne. Celia trat einen Schritt zur Seite und sah Amelia direkt ins Gesicht, ein nunmehr nachsichtiges Lächeln auf den Lippen. Sie sah sehr jung aus, war wahrscheinlich drei oder vielleicht auch vier Jahre nach Amelia geboren worden, und trotzdem wirkte sie in diesem Moment um einiges erwachsener. Beinah schwesterlich griff sie nach Amelias Hand und drückte diese leicht.

„Es ist das Damenzimmer, Miss. Alle Ladys von Rose Castle bewohnten es. Egal, was in diesen vier Wänden geschehen sein mag, es ist Vergangenheit. Ihnen gehört die Zukunft.“ Amelia ließ sich die Worte durch den Kopf gehen und dabei wurde es ihr stetig leichter ums Herz. Zaghaft erwiderte sie Celias Lächeln. Die lieb gemeinte Geste und die bedachten Worte ihrer Bediensteten waren Balsam für Amelias Seele. Sie schwor sich, immer ein Auge auf Celia zu haben und sie stets gut zu behandeln, um ihr diesen Gefallen zu vergelten. „Du hast recht, meine Liebe. So wird es sein.“

Celia machte sich nach einem Nicken wieder daran, Amelias Haar zu festzustecken und half ihr anschließend in das bodenlange weiße Kleid. An die Ärmel war feine Spitze gesetzt und der schmale Rock aus Seide floss um Amelias Beine wie ein schimmernder Wasserfall.

„Sie sehen wunderschön aus, Miss“, verlautete Celia und strahlte sie an. Obwohl sie das Mädchen erst wenige Tage lang kannte, fühlte Amelia Zuneigung für sie und hoffte insgeheim, dass sie beide eine echte Freundschaft entwickeln würden. Natürlich war es nicht üblich und auch nicht gern gesehen, als Angehörige des Adels, und eine solche würde sie in wenigen Stunden sein, Beziehungen zu Bediensteten zu unterhalten, seien es auch nur profane Freundschaften. Aber wer würde sie schon davon abhalten? Morgen bereits würde ihre Mutter mit den Schwestern abreisen und dann war Amelia alleine in diesem fremden Haus und mit ihrem fremden Ehemann. Da konnte eine Vertraute sicher nicht schaden.

„Ich danke dir, Celia. Für alles“, erwiderte Amelia und meinte jedes Wort aus tiefstem Herzen ernst.

„Nichts zu danken, Miss. Ich freue mich sehr, für Sie da sein zu dürfen“, gab das Mädchen mit geröteten Wangen zurück. „Und nun werde ich Ihre Frau Mutter holen.“ Mit einem Knicks verabschiedete sich Celia und schloss leise die Tür.

Amelia trat wieder zum Fenster und blickte in den verregneten Garten hinaus, bemüht, die Reste ihrer Anspannung abzuschütteln. Sie musste all ihre Zweifel hinter sich lassen, ebenso wie das Mädchen, das sie war. Heute Nacht würde sie zur Frau, zur Lady von Rose Castle werden. Und auch wenn ihr zukünftiger Ehemann einige Jahre älter war als sie selbst, sah er doch gut aus. Er war recht schweigsam und zurückhaltend, konnte aber mit einem stattlichen Vermögen aufwarten. Vielleicht hätte sie ihn sich nicht ausgesucht, wenn sie eine Wahl gehabt hätte. Aber ungeachtet dessen war Amelia der Überzeugung, dass es einen Grund haben musste, warum das Schicksal gerade ihn an ihre Seite gestellt hatte. Es mochte zwar sein, dass sie im Moment noch keine Liebe füreinander empfanden, doch sie hatten Zeit, diese erblühen zu lassen. So, wie die wundervollen Rosen im Garten des Herrenhauses bald schon erblühen würden.

Hayley

21. Mai 2018

„Du willst was?“, fragte Sienna zum wiederholten Mal. Ihre Augen waren bei jedem von Hayleys Worten größer geworden. Ihre Stimme jedes Mal, wenn sie die Frage erneut gestellt hatte, schriller. Nun saß Sienna, Hayleys beste Freundin und Arbeitskollegin, mit offenstehendem Mund und einem entgeisterten Gesichtsausdruck vor ihr im Salon.

„Ich will nach England reisen, um meinen Vater kennenzulernen und mehr über die Vergangenheit meiner Mutter zu erfahren“, antwortete Hayley ein weiteres Mal. Sanft griff sie nach Siennas Arm. Natürlich war Hayley bewusst, dass es ein drastischer, wenn nicht sogar verrückter Schritt war. Sie lebte seit ihrer Geburt in Queens und hätte niemals daran gedacht, die vertraute Umgebung Long Islands je zu verlassen. Aber die Dinge hatten sich geändert. Ihre Mutter war tot. Der Verlust schmerzte unglaublich und hatte zur Folge, dass sich Hayley in ihrer Heimat plötzlich nicht mehr richtig zuhause fühlte. Und seit sie vor zwei Tagen auf die Schatulle gestoßen war, deren Inhalt so unendlich viele Fragen aufgeworfen hatte, zog es sie fort von hier. Fort von dem Leben, das mit ihrer Mutter verschwunden war.

„Aber du kannst doch nicht einfach abhauen? Was ist mit der Wohnung und mit deinem Job? Und was ist mit mir?“, fiepte Sienna. Beim Gedanken daran, ihre Freundin nicht mehr jeden Tag sehen zu können, wurde Hayleys Herz schwer. Darüber hinaus hielt sie allerdings nichts und niemand in Queens, und ihr Beschluss, so überstürzt er auch getroffen worden sein mochte, stand fest. Felsenfest.

„Ich könnte mir die Wohnung alleine ohnehin nicht mehr leisten. Von daher trifft sich ein Ortswechsel zu diesem Zeitpunkt gut. Mit Jeff habe ich bereits gesprochen. Aylin kommt in zwei Monaten aus dem Mutterschutz zurück und übernimmt dann meine Kunden. Bis dahin kommt ihr auch ohne mich zurecht, da bin ich mir sicher.“ Hayley hielt kurz inne und blickte in Siennas dunkle Augen, die sich langsam aber unaufhaltsam mit Tränen füllten.

„Und dich, mein Herzensmensch, werde ich unglaublich vermissen! Aber Sienna, ich muss das einfach tun. Ich hatte mich schon damit abgefunden, meinen Vater nie kennenzulernen, und jetzt habe ich doch die Möglichkeit dazu. Ich …“

„Glaubst du nicht, dass deine Mum einen triftigen Grund hatte, ihn zu verlassen? Was, wenn er ein fürchterlicher Mann ist, der sie betrogen oder gar geschlagen hat?“, unterbrach Sienna sie mit rauer Stimme. Hayley versteifte sich und schüttelte vehement den Kopf, sprach aber ehrlich aus, was sie auf dem Herzen hatte. „Natürlich kann das alles sein. Ich habe selbst schon über diese und hundert andere Möglichkeiten nachgedacht. Aber ich werde es erst wissen, wenn ich dort bin. Sienna, es wird mir keine Ruhe lassen. Du weißt das. Du kennst mich so gut wie kaum jemand sonst. Ich muss einfach gehen. Kannst du das bitte verstehen und mich unterstützen?“ Nun brannten auch in Hayleys Augen heiße Tränen. Rasch blinzelte sie diese fort. Es war nicht der Moment, um zu weinen. Tränen brachten ihr nichts.

Beweine nicht das, was war, sondern blicke dem, was sein kann, entgegen. Das hatte ihre Mutter stets gesagt. Wie recht sie damit gehabt hatte, auch wenn es wohl das Schwerste war, das Hayley je tun würde, ihre Mutter und ihr gewohntes Leben hinter sich zu lassen. In Wahrheit ließ sie ihre Mutter jedoch nicht wirklich hinter sich. Ein großer Aspekt dieser Reise sollte sogar genau das Gegenteil bewirken. Hayley wollte mehr über ihre Mutter erfahren. Dinge aus einer Zeit, in der sie selbst noch nicht auf der Welt gewesen war. Eine Zeit, über die ihre Mutter nie gesprochen hatte. Als hätte es sie nie gegeben. Gestern noch hatte sie ihr Grab besucht. Hatte fast zwei Stunden vor dem glatten, hellgrauen Grabstein gestanden und überlegt, was sie mit den neuen Erkenntnissen anfangen sollte. Am liebsten hätte sie den Kopf zum Himmel gehoben und nach oben geschrien, in der unsinnigen Hoffnung, ihre Mutter würde ihr wenigstens eine der unzähligen Fragen beantworten, welche die Schatulle aufgeworfen hatte. Wie hatte sie nur sterben können und ihr dieses Erbe hinterlassen? War überhaupt irgendetwas, das ihre Mutter Hayley jemals über ihre Vergangenheit erzählt hatte, wahr gewesen? Oder hatte sie eine Lüge gelebt?

Hayleys Blick klärte sich und sie sah, wie Sienna langsam ihre hochgezogenen Schultern sinken ließ. Sie wusste, dass das bedeutete, dass ihre Freundin ihre Beweggründe endlich verstand. Sie hatte begriffen, dass jedes Widerwort zwecklos war. Hayley würde nach Corbridge fahren und dort hoffentlich Antworten finden. Antworten und ihren Vater.