Leseprobe Das eigensinnige Herz der Lady

1. Der neue Lord

Lady Lavinia stand aufgerichtet in ihrer schwarzen Trauerkleidung am Fenster. Sie sah mit verschleiertem Blick auf den Garten hinunter. Dieses Stückchen Erde war das Einzige, was sie vermissen würde. In drei unendlich langen Jahren war dieses Fleckchen Grün ihr Zufluchtsort gewesen. Hierhin war sie immer geeilt, wenn sie glaubte, ihr Leben nicht mehr ertragen zu können.

In dieser Situation war sie oft gewesen. Der vor einer Woche verstorbene Lord Ronan Westkay, Viscount Graywood, war kein angenehmer Zeitgenosse. Hätte man ihn mit drei Worten beschreiben müssen, dann würden sie reich, arrogant und unbeherrscht lauten. Letztere Eigenschaft hatte sich in den Jahren der arrangierten Ehe ständig verstärkt. Immerhin war es Lady Lavinia nicht vergönnt gewesen, schwanger zu werden und somit war Graywood der ersehnte Erbe verwehrt geblieben. Und das, obwohl er zum Anfang ihrer Ehe fast allabendlich in Lavinias Schlafgemach gestürmt war. Sobald die Tür herrisch aufgerissen wurde, war ihr klar gewesen, was nun folgen würde. Der Ablauf war immer der Gleiche ‒ ohne Zärtlichkeit, ohne Emotionen. Der edle Viscount hatte sich auf den reinen Zeugungsakt beschränkt. Schon in der Hochzeitsnacht hatte er seiner vor Aufregung zitternden Gemahlin klargemacht, dass er kein weiteres Interesse an ihr hätte. Ihre Aufgabe sei es, ihm einen Erben oder besser noch zwei zu schenken und sich ansonsten aus seinem Leben herauszuhalten. Dass diese sich nach vollzogenem Akt vor Scham und Enttäuschung stets in den Schlaf weinte, hatte ihn nie interessiert.

Überhaupt hatte ihn alles ziemlich wenig interessiert, wenn es um seine Gattin ging. Einmal im Monat hatte sie ihm berichten müssen, ob sie nun endlich schwanger war. Abgesehen von den nächtlichen Besuchen mied er den Kontakt zu ihr, indem er außer Haus speiste und die Abende in seinem Club, in der nahegelegenen Stadt oder immer öfter auch in London verbrachte. Lavinia war froh gewesen, ihn so wenig wie möglich zu Gesicht zu bekommen. Im Grunde genommen hätte sie sich mit diesem einsamen Leben sogar eingerichtet, wenn nicht seine ständig anwesende Mutter versucht hätte, ihr das Leben zur Hölle zu machen.

Ihre Schwiegermutter hatte die perfide Neigung, ständig an ihr herumzukritisieren. Nicht nur, dass sie ihrem vergötterten Sohn keinen Erben schenkte, sie sei auch unfähig, einen Haushalt zu leiten, sich geschmackvoll zu kleiden oder auch nur einigermaßen angemessene Konversation zu betreiben. Jeder Gast, der sich im Hause Graywood aufhielt, bekam schon nach kurzer Zeit den Eindruck, dass Lady Lavinia nichts anderes sei als eine leidlich ansprechende Hülle, die über keinen eigenen Willen und schon gar nicht über einen wie auch immer gearteten Charakter verfügte.

Im weitläufigen Anwesen der Graywoods schwang die verwitwete Schwiegermutter unnachgiebig das Zepter. Die rüstige Dowager Viscountess hatte sich geweigert, mit Hinweis auf ihren angeblich angeschlagenen Gesundheitszustand, in das dem Manor gegenüberliegende Gartenhaus, welches als Wittumssitz vorgesehen war, überzusiedeln. Allerdings erfreute sie sich besten Wohlbefindens und hinterließ den Eindruck, dass sie mit ihrer Konstitution selbst Methusalem Konkurrenz machen würde. Das Personal lebte in ständiger Furcht vor der hageren Frau mit den schmalen und harten Lippen, deren eisige Stimme bis in den hintersten Winkel der Gesinderäume drang, obwohl sie nie schrie. Es war eher ein Zischen, das aus ihrem Mund kam. Fast wie von einem Basilisken, der nur darauf wartete, sein Opfer zu verschlingen. Und so kam es, dass kaum einer der Bediensteten es lange im Hause Graywood aushielt. Sobald sie eine bessere Stelle gefunden hatten, wechselten die meisten der Angestellten in einen Haushalt, in dem die Stimmung weniger unfreundlich war. Eine Ausnahme bildeten der Butler, die Köchin und die Zofe der Mutter des Hausherrn, die alte Mary. Diese drei schon recht betagten Angestellten waren die einzigen, mit denen die Witwe einigermaßen freundlich umging, denn sie hatte sie bei ihrer Heirat aus ihrem Elternhaus mit nach Graywood Manor gebracht. Es gab noch eine weitere Bedienstete, die nicht ständig unter den Launen der selbstgerechten Herrin litt: Das war Lady Lavinias Zofe Mary. Nicht dass sich die junge Frau ihre Vertraute selbst ausgesucht hätte. Bei der Eheschließung war sie noch von ihrer alten Amme und der Zofe Anne, die sie schon seit Kindertagen kannte, begleitet worden. Graywood und seine Mutter hatten es aber unter fadenscheinigen Gründen schnell geschafft, beide zu entlassen und Lavinia damit weitgehend zu isolieren. Die neue Zofe, die ihre Schwiegermutter für sie ausgesucht hatte, stand ganz unter dem Einfluss derselben und war eher ein Bewacher als eine Vertraute. Der einzige Lichtblick in ihrem Leben war der Garten, auf dem ihr Blick jetzt ruhte. Und auch den könnte sie nun vielleicht verlieren. Sie hatte keine Vorstellung, was nach dem Tode ihres Gatten mit ihr geschehen würde.

Die Tür wurde so plötzlich aufgerissen, dass Lavinia aus ihren düsteren Gedanken schrak und zusammenfuhr. Dabei hätte sie sich doch schon längst an das ungehobelte Auftreten ihrer ungeliebten Zofe gewöhnen können.

„Lord Graywood ist eingetroffen“, polterte diese, ohne den respektvollen Begrüßungsknicks zu machen.

Lavinia erschrak. Graywood war doch tot. Dann erinnerte sie sich. Der Titel war auf seinen Cousin Aldon übergegangen. Der war jetzt der neue Herr über Graywood Manor, die zugehörigen Ländereien und ‒ ihr stockte bei dieser Vorstellung der Atem ‒ auch über sie. Immerhin fungierte er nun als eine Art Vormund. Auch wenn sie als Witwe mehr Freiheiten genoss als eine unverheiratete weibliche Verwandte, hatte der neue Lord Graywood das Sagen. Zumindest was ihre Finanzen betraf. Ihr verstorbener Gatte hatte keineswegs mit seinem Ableben gerechnet, als er sich auf ein wildes Rennen hoch zu Ross mit einigen seiner Freunde eingelassen hatte. Er hatte daher keinerlei finanzielle Vorsorge für den Fall getroffen, dass er, anstatt als Erster durch Ziel zu reiten, kalt und steif auf einer Bahre heimgetragen wurde. Lavinia war sich sicher, dass der selige Graywood aber auch sonst keinen Gedanken an ihren Unterhalt verschwendet hätte. Immerhin hatte sie ihm keinen Erben geboren. Ja, sie war nicht einmal schwanger geworden.

Die Zofe hüstelte ungehalten. „Sie sollten nach unten in den Salon gehen und Lord Graywood begrüßen.“ Wie immer ließ sie es an der passenden höflichen Anrede fehlen.

Lavinia nickte, raffte ihr schwarzes, unvorteilhaft geschnittenes Kleid, das ihre Schwiegermutter für sie hatte einfärben lassen, warf einen letzten Blick auf den Garten und fügte sich in das Unvermeidliche. Ihr Aussehen im Spiegel zu überprüfen, hatte sie schon längst aufgegeben. Den Anblick ihres schmalen, blassen Gesichts mit den großen, traurigen Augen, um die tiefe Schatten lagen, war ihr nach und nach unerträglich geworden. Wo war das lebenslustige Mädchen mit der wilden Lockenmähne hin, die in der Sonne bernsteinfarben schimmerte? Auf Geheiß ihrer Schwiegermutter trug sie ihr Haar inzwischen streng nach hinten gekämmt. Als ob es ein Spiegel ihres Seelenzustandes war, hatte es nach und nach jegliches Strahlen verloren. Matt und glanzlos lag es an ihrem Kopf an und schien ihre Hoffnungslosigkeit zu teilen.

 

Der frischgebackene Lord Graywood stand, lässig an den Kamin gelehnt, im Salon und wartete auf die Damen des Hauses. Er war modisch gekleidet, ohne jedoch wie ein Stutzer daherzukommen. Stoff und Schnitt seiner Bekleidung verrieten, dass er Kunde eines der besten Schneider in London war. Zum strahlend weißen Leinenhemd mit einem Kragen, der nicht ganz so hoch war, wie ihn die aktuelle Mode vorschrieb, hatte er gedeckte Farben für Hose und Rock gewählt. Sein Halstuch kam mit einem recht einfachen Knoten aus und verzichtete auf aufwendige Falten. Diese Garderobe ließ ihn jedoch keineswegs trist erscheinen. Alles an ihm verriet, dass er es nicht für nötig erachtete, Eindruck zu machen. Die glänzenden Hessenstiefel und die zweireihig geknöpfte Weste waren in einem matten Taubenblau gehalten und schienen die einzige Reminiszenz an seine neue Stellung zu sein. Er hatte weder einen der derzeit so beliebten Gehstöcke dabei, noch trug er ein scharlachrotes Uhrband. Seine Haltung war aufrecht, das braune Haar ein wenig zu lang und wellte sich leicht. Die typischen scharfen Gesichtszüge der männlichen Familienmitglieder traten bei ihm in abgemilderter Form auf. Die Graywood’sche Adlernase war nur angedeutet und nicht so dominant wie bei einigen der Porträts in der Ahnengalerie. So sah er weniger streng aus als sein verblichener Vetter. Allerdings schien er auf den ersten Eindruck, genau wie dieser, abweisend und hochmütig. Das war zuletzt nicht dem Blick aus seinen grau-grünen Augen zu verdanken. Er hatte viele Stunden damit verbracht, sich einen gelangweilten Ausdruck zuzulegen, der ihn wie eine Schutzmauer vor allzu vertraulichen Begegnungen umgab.

Auch wenn man es ihm nicht ansah, er fühlte sich momentan reichlich unbehaglich in seiner neuen Rolle. Sein Cousin hatte sich bester Gesundheit erfreut. Mit seinem Ableben war nicht zu rechnen gewesen. Die Ehe zwischen dem vorherigen Lord und seiner Gattin bestand erst seit drei Jahren, da war es nicht ungewöhnlich, dass es noch keinen unmittelbaren Erben gab. Er hatte fest damit gerechnet, dass sich dieser Umstand jedoch bald ändern würde. Hinter vorgehaltener Hand galt der fünfte Lord Graywood nicht als besonders häuslich. Vielleicht hatte er seine Gattin nicht besonders geschätzt und sein Vergnügen außerhalb des eigenen Ehebettes gesucht. Er hatte die Witwe seines Cousins nur ein einziges Mal gesehen und konnte sich kaum an das blasse, aufgeregte Kindchen erinnern. Aus gesellschaftlichen Gründen, dem guten Ton zuliebe, war man nicht umhingekommen, ihn zur Hochzeit einzuladen, obwohl zwischen ihm und dem Bräutigam sowie dessen Mutter kein gutes Verhältnis herrschte. Beide hatten dem Sohn des jüngeren Bruders seiner verblichenen Lordschaft keine Sympathie entgegengebracht. Schließlich war seine Mutter eine bürgerliche Krämertochter gewesen, deren Vater zwar viel Geld, aber keinen entsprechenden Stammbaum vorwies. Die Familie seiner Lordschaft hatte es Aldon immer spüren lassen, dass er weit unter den Verwandten stand. Da hatten ihm auch das viele Geld seiner Mutter und der Besuch der besten Schulen nichts genützt. Er war nicht standesgemäß und das rieb man ihm bei den wenigen Begegnungen mit der Familie seines Vaters schonungslos und mit unverhohlener Schadenfreude unter die Nase. Seine Tante tat sich dabei durch besondere Boshaftigkeit hervor und ließ keine Gelegenheit aus, um ihr Missfallen über die unerwünschte Verwandtschaft kundzutun. Bei der Hochzeit seines Cousins hatte sie es mal wieder besonders arg getrieben und Aldon hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Daran hatte er bis heute festgehalten.

Aber nun war er wieder hier. Und er war der neue Hausherr. Und schon begannen seine Sorgen. Was sollte er nur mit den weiblichen Wesen anfangen, die ihm sein Cousin gleichsam mit dem Erbe hinterlassen hatte? Viel Freude würde er sowieso nicht an seiner neuen Stellung haben. Die Ländereien seines Vetters waren schlecht geführt, mit Hypotheken belastet und wenig ertragreich. Er würde einen Teil seines zum Glück schier unerschöpflichen Vermögens opfern müssen, um Ordnung zu schaffen. Immerhin war er der Meinung, dass man als Lord seinen Untergebenen gegenüber eine gewisse Verpflichtung hatte. Er würde die Misswirtschaft, die allenthalben auf den zu Graywood gehörenden Gütern herrschte, beenden und das Land zu neuer Blüte führen.

Der neue Lord Graywood beugte sich nach unten, um der schwarzen Labradorhündin, die zu seinen Füßen lag, über den Kopf zu streicheln. „Ach Blacky, was soll ich nur mit den Weibsbildern anfangen? Die bringen doch nur Ärger.“

Das Tier hob seinen Kopf, wedelte mit dem Schwanz und schien zu grinsen.

„Ja, lach mich nur aus. Du bist das einzige weibliche Wesen in meinem Leben und weißt genau, dass ich keines dieser Geschöpfe in meiner Nähe haben will. Entweder sind sie bösartige Harpyien, falsche Schlangen oder hohlköpfige Puppen, deren Geschwätz mir den letzten Nerv raubt.“

„Ich habe nicht die Absicht, ihnen den letzten Nerv zu rauben!“ Lady Lavinias Stimme drang leise, aber bestimmt an sein Ohr.

Verflixt! Während er sich mit dem Hund beschäftigt hatte, war sie von ihm unbemerkt ins Zimmer getreten. Seine ohnehin schon miese Laune verschlechterte sich noch mehr. „Schleichen Sie sich immer so an?“, blaffte er.

„Bisher war es in diesem Haus nicht üblich, mit den Türen zu knallen, um auf sich aufmerksam zu machen“, konterte sie.

Graywood starrte sie wütend an. Was bildete sich diese kleine, unscheinbare Spitzmaus in ihrem sackartigen Trauerkleid ein? Wie kam ein so farbloses Persönchen dazu, ihm solche Widerworte zu geben? Und wie sie ihn danach ansah! So als hätte sie plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen. Er war ja kein Unmensch. Und jeder, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde verstehen, dass die Situation, in der er sich befand, nicht gerade erfreulich war. Kein Mann war glücklich darüber, wenn er plötzlich zwei wildfremde Frauen am Hals hatte, die er zutiefst verabscheute.

Lavinia zuckte erschrocken zusammen und ihre Augen weiteten sich vor Furcht. Wenn der neue Lord Graywood einen ähnlichen Charakter hatte wie ihr verblichener Mann, dann wäre eine schallende Ohrfeige das geringste Übel, das sie erwartete. Was war ihr nur eingefallen? Sie wusste doch aus eigenen schmerzhaften Erfahrungen, dass man in diesem Haus keine Widerworte geben durfte.

Zum Glück begnügte er sich damit, sie wütend anzustarren. Und da war noch etwas in seinem Blick zu lesen. War es Verachtung? Sie wurde sich plötzlich ihres unförmigen Trauerkleides bewusst. Nie und nimmer hätte sie sich freiwillig diese stoffliche Scheußlichkeit ausgesucht. Aber da ihr der selige Lord Graywood so gut wie kein Nadelgeld zugestanden hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als das zu tragen, was ihre boshafte Schwiegermutter für sie anfertigen oder meist einfach nur umarbeiten ließ. Sich in einem ihrer schlichten Sommerkleider, die sie noch von früher besaß und vor den sogenannten Verschönerungsarbeiten der Dowager Viscountess gerettet hatte, so kurz nach der Beisetzung auch nur vor dem Personal sehen zu lassen, wäre undenkbar gewesen. Die Moderegeln schrieben es vor, dass sie als Witwe ein Jahr und einen Tag nur schwarze Kleidung tragen sollte. Daran würde sie sich halten, hatte sie sich vorgenommen. Auch wenn sie hier auf dem Land weitab vom ton lebte, war es besser, nicht gegen die geltenden Moralvorstellungen zu verstoßen. Lavinia machte sich keine Illusionen darüber, dass die Angestellten auf Graywood Manor nicht wussten, wie es um ihre Ehe bestellt gewesen war. Aber sie wollte nicht den kleinsten Anschein nach außen dringen lassen, dass der Tod ihres Gatten in Wahrheit eine Erleichterung für sie war. Sie würde die Rolle der trauernden Gemahlin annehmen und niemand sollte daran zweifeln können. Immerhin trauerte sie wirklich. Um die Jahre, die sie in einer lieblosen Ehe gefangen gewesen war, die zunehmend von Gewalt geprägt gewesen war. Wenn sie wenigstens ein Kind gehabt hätte, an dem sie sich hätte erfreuen können. Aber dieser Trost war an ihr vorübergegangen. Graywood hatte seine ehelichen Pflichten zuletzt immer seltener eingefordert, denn sein ständiger Alkoholgenuss hatte ihn zunehmend daran gehindert, seinen Mann zu stehen. Allerdings hatte er ihr die Schuld daran zugeschoben, denn er hatte sie als reizlos und kalt wie einen Frosch bezeichnet. Sie war ohnehin nicht sonderlich auf seine plumpen Aufmerksamkeiten erpicht gewesen und hatte ihm das einmal kurz vor seinem Tod unmissverständlich zu verstehen gegeben. Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie er sie daraufhin grün und blau geschlagen hatte. Als sie wimmernd in der Ecke gelegen hatte, war er über sie hergefallen und hatte, berauscht von seiner Macht, endlich wieder einmal die Ehe vollziehen können. Lavinia versuchte, sich nicht vor Entsetzen zu schütteln, als sie daran dachte.

Der neue Lord Graywood bemerkte die Veränderung, die in seiner unscheinbaren Widersacherin vorgegangen war. Sie war zusammengezuckt. Recht so! Sie sollte sich bloß nicht einbilden, dass sie ihm auf der Nase herumtanzen könnte. Er würde sie irgendwo weit weg hin verbannen, sodass sie ihm nie wieder unter die Augen käme. Natürlich würde sie genug Nadelgeld erhalten, damit sie ein relativ sorgloses Leben führen könnte. Vielleicht widmete sie sich wohltätigen Aufgaben, engagierte sich für Waisenkinder oder im Tierschutz. Auch dafür würde er, wenn es sein musste, Geld bereitstellen. Hauptsache, er hatte nichts mehr mit ihr zu schaffen. Notfalls konnte er ihr auch eine kleine Mitgift aussetzen und irgendein trottliger Dorfpfarrer wäre so dumm, sie dann zur Gattin zu nehmen. Das erschien ihm als die idealste Lösung. Damit hätte er sie sich ein für alle Mal vom Hals geschafft. Während er überlegte, welches der ihm durch das Erbe zugefallenen Güter entfernt genug für diese Pläne schien, ging die Tür erneut auf. Diesmal wurde sie nicht lautlos bewegt, sondern öffnete sich mit Schwung und einem Geräusch, das keinen Zweifel daran ließ, dass die Hausherrin eintrat. Zumindest benahm sich die Dame so, als wäre sie das noch immer. Graywood konnte im letzten Moment verhindern, dass er missbilligend die Augenbrauen zusammenzog. Stattdessen verbeugte er sich leicht, gerade so, um es nicht als unhöflich gelten zu lassen. Er blickte die Eingetretene mit einem ausdruckslosen Gesichtsausdruck an, dem man nicht ablesen konnte, wie sehr er diese Frau verabscheute.

„Mein Beileid, verehrte Tante.“ Er sprach mit fester Stimme, der man keine Emotionen entnehmen konnte und war stolz auf sich. Immerhin schaffte er es, keine Verachtung in seinen Tonfall zu legen. Sein Cousin war im zuwider gewesen. Die Eskapaden des Verblichenen waren ein beliebtes Thema beim ton gewesen, der sich gern an den Skandalgeschichten labte. Das war ein Grund mehr für ihn gewesen, seine Gegenwart zu meiden.

Lady Amalia Westkay, die Witwe des vierten Viscount Graywood, schnaubte verächtlich. „Mein Unglück gereicht dir wahrlich zum Vorteil, lieber Neffe. Wer hätte gedacht, dass der Sohn einer Krämertochter einmal der neue Viscount Graywood wird.“

Aldon versteifte sich. „Ich habe meinem Cousin niemals etwas Schlechtes gewünscht. Es hat mich sehr erschüttert, als ich von seinem plötzlichen Ableben erfahren habe.“

„Plötzlich, aber nicht unerwünscht“, konterte sie mit steinernem Gesichtsausdruck.

Lavinia hatte dem kurzen Schlagabtausch mit unbeteiligter Mine gelauscht. Ihre Gedanken überschlugen sich. Tante und Neffe machten den Eindruck, als ob sie sich nur mit Mühe beherrschen konnten, um sich nicht gegenseitig an die Kehle zu gehen. Was würde das für ihre Zukunft bedeuten? Gab es Hoffnung, dass sie nicht mit ihrer Schwiegermutter zusammen in das Witwenhaus des Anwesens ziehen musste? Vielleicht konnte der neue Herr auf Graywood den Gedanken nicht ertragen, dass seine verhasste Tante sich im Umkreis von weniger als einhundert Meilen von ihm entfernt aufhielt? Wenn sie nur wüsste, was für Pläne er überhaupt für die zwei Frauen hatte, für die er so urplötzlich verantwortlich war … Lavinia wurde aus ihrer Grübelei gerissen, als die schneidende Stimme ihrer Schwiegermutter an ihr Ohr drang.

„Sei dir deiner neuen Rolle nur nicht zu sicher. Immerhin kann es sein, dass Lavinia den Erben meines Sohnes unter dem Herzen trägt. Wenn sie guter Hoffnung ist, dann wird mein Enkelsohn den Titel erben und du gehst leer aus. Dann kannst du dich wieder zu deiner Krämerverwandtschaft scheren, wo du hingehörst!“ Während dieser boshaft hervorgestoßenen Worte drehte sie sich zu Lavinia um und betrachtete sie mit einem missbilligenden Blick. „Bisher hast du es ja erfolgreich vermieden, einen Erben auszutragen. Ich hoffe doch, dass du am Ende nicht noch unfruchtbar bist! Aber vielleicht ist noch nicht alles verloren und du bist einmal in deinem Leben zu etwas nütze.“ Ihre Augen schienen ihre Schwiegertochter zu durchbohren. „Wann hat mein Sohn das letzte Mal bei dir gelegen?“

Lavinia schnappte empört nach Luft. Was war das für eine Frage? Wie konnte sie so etwas nur in aller Öffentlichkeit erörtern! Noch dazu vor einem Fremden! Eine plötzliche Röte überzog ihr Gesicht. Sie würde sich nicht die Blöße geben und auf diesen Affront antworten. Verzweifelt rang sie die Hände und tat in ihrer Not, als würde sie den Hund, der vor dem Kamin lag und den Kopf auf die Pfoten gelegt hatte, beobachten. Doch damit kam sie nicht durch.

Lord Graywood legte den Kopf schief und sah sie aus dunklen Augen an. „Dieser Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Verzeihen Sie, Mylady, aber es ist von ungeheurer Wichtigkeit für unser aller Zukunft. Wann hat mein verstorbener Cousin das letzte Mal ihr gemeinsames Schlafzimmer aufgesucht?“

Lavinia stockte der Atem. Was erdreistete sich dieser Kerl? Sie hatte in all der Zeit nicht viel über ihre angeheiratete Familie erfahren. Der Name des Emporkömmlings, Aldon, war indes mehr als einmal gefallen. Sie hatte damals gedacht, wenn ihr Gatte und seine Mutter so schlecht über diesen Mann sprachen, wäre er vielleicht nicht so übel. Das war wohl weitaus gefehlt. Wie konnte er nur! Aber richtig, seine Mutter war ja eine Bürgerliche. Da musste es ihm unausweichlich an einer entsprechenden Erziehung mangeln. Wütend starrte sie ihn an, ohne zu antworten.

„Mylady, haben Sie meine Frage nicht verstanden?" Aldon war sich bewusst, dass sie sich bei diesem Verhör unwohl fühlen würde, aber er musste darauf bestehen, dass sie ihm antwortete. Zu viel hing davon ab, ob sie guter Hoffnung war oder nicht.

„Ihr seht doch, dass das arme Ding von dem herben Verlust, den wir gerade erlitten haben, noch ganz geschockt ist. Sie hing mit so einer Liebe und Dankbarkeit an meinem Sohn, dass ich um ihre zarte Gesundheit fürchte, wenn Ihr weiter so in sie dringt", empörte sich seine Tante. „Ich weiß, dass mein Ronan mit großer Leidenschaft an seiner Gattin hing und sie fast jede Nacht aufgesucht hat. Warum sollte das also vor seinem tragischen Tod anders gewesen sein? Um die zarten Nerven der untröstlichen Witwe zu schonen, müsst ihr schon mindestens einen Monat warten, nein, besser noch zwei oder drei, ehe Ihr über unseren Verbleib entscheidet.“ Lady Amalia sah bei diesen Worten sehr zufrieden aus.

Aldon warf einen wütenden Blick auf die schweigsame Lavinia, deren Gesichtsfarbe abwechselnd rot und dann wieder blass wurde. Wahrscheinlich war dieses unscheinbare Ding bis über beide Ohren in seinen Cousin verliebt gewesen und vor Trauer fast von Sinnen. Immerhin waren die Männer in seiner Familie durchweg schlank, groß und gutaussehend. Sicher hatte Ronan dem armen Ding den Kopf verdreht und ihr eingeredet, dass er sie nicht wegen ihrer doch recht stattlichen Mitgift geheiratet hatte. So manches Mauerblümchen war schon auf einen feschen, mittellosen Lord hereingefallen. Warum sollte es hier anders gewesen sein? Der Zustand von Graywood Manor und den dazugehörigen Ländereien zeugte nicht gerade von einer sachkundigen Hand. Wahrscheinlich war nach drei Jahren Ehe auch nicht mehr viel von Lavinias Mitgift übrig. Obwohl ihr der Titel Lady zustand, mochte er ihn nicht einmal in Gedanken verwenden. Das Wesen da, welches so stocksteif in diesen unförmigen Kleidungsstücken vor ihm stand, war weit entfernt von dem, was er sich unter einer Lady vorstellte. Im Gegensatz zu seinen ungeliebten Familienangehörigen hier hatten die Töchter des verarmten Adels in London gern über seine bürgerliche Herkunft hinweggesehen. Es war allgemein bekannt, dass seine Bankkonten und auch die Truhen in seinem Stadthaus gut gefüllt waren. Zudem verfügte er nicht nur über ein ansprechendes Äußeres, sondern auch über gute Manieren. So kam es, dass er sich der Gunst potenzieller Schwiegermütter erfreute und oftmals Mühe hatte, den Fallstricken der heiratswütigen Damen zu entgehen. Das alles würde jetzt noch viel schlimmer werden, mutmaßte er. Immerhin würde seine zukünftige Gattin den Namen einer Viscountess Graywood tragen. Um sich eine Lady nennen zu können, sollte man auch so wie eine auftreten, dachte er stirnrunzelnd, während er sie finster anstarrte.

„Da Ihr nicht reden wollt, so obliegt es mir, die Entscheidung ohne Eure Antwort zu treffen. Bis zur endgültigen Feststellung, ob Ihr schwanger seid oder nicht, verbleibt Ihr hier im Hause und könnt Eure gewohnten Zimmer behalten.“ Lord Graywood verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann auf und ab zu marschieren. „In einem Monat werde ich dann festlegen, was mit Euch geschehen soll. Tragt Ihr ein Kind unter dem Herzen, dann werdet Ihr hier auf dem Grundstück verbleiben, bis es geboren ist. Als sein Vormund werde ich dann über alles Weitere entscheiden. Seid Ihr nicht guter Hoffnung, dann werde ich Euch den verbliebenen Anteil Eurer Mitgift auszahlen und eine passende Unterkunft für Euch suchen.“ Er schwieg einen Moment. „Falls Eure Mitgift nicht ausreichen sollte, so setze ich Euch eine kleine Leibrente aus, damit Ihr ein Auskommen habt. Viel scheint Ihr ja nicht zu benötigen.“ Den letzten Satz unterlegte er mit einem abschätzigen Zucken um die Mundwinkel. Dabei sah man ihm genau an, was er von Lavinia als Person hielt, denn seine Miene verriet eine Mischung von Mitleid und Verachtung.

„Nun gut, so werden wir denn abwarten“, warf seine Tante ein.

Graywood wandte sich ihr langsam und mit abschätzigem Blick zu. „Wir“, er machte absichtlich eine längere Pause, „Wir werden nichts abwarten. Du, liebe Tante, hast drei Tage Zeit, um deine Sachen zu packen und dich auf dein geliebtes Anwesen in der Nähe von Bath zu begeben. Ich weiß nur zu gut, dass dein dortiger Besitz in hervorragendem Zustand ist und du auf keine deiner gewohnten Annehmlichkeiten verzichten musst, wenn du dorthin umsiedelst.“

„Was fällt dir ein! Du elender Emporkömmling! Du wagst es, mir den nötigen Respekt zu verweigern und wirfst mich aus meinem Haus? Das wirst du bitter bereuen! Ich verfluche dich, du elender Kretin! Dich und deine unwürdige Mutter! Welch eine Schande ist über das Haus Graywood gekommen! Keinen Tag länger als nötig halte ich es hier aus. Ich reise aus freiem Willen ab! Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du dich mit mir anlegst!“ Zornig raffte sie ihre Röcke und stürmte mit hochrotem Kopf und wenig damenhaft davon.

Lavinia sah ihr entsetzt hinterher. Sie mochte ihre Schwiegermutter nicht besonders. Aber sie würde sie doch nicht mit diesem Monster allein lassen! Der Gedanke, einen ganzen Monat lang mit dem jetzigen Lord Graywood unter einem Dach leben zu müssen, entsetzte sie. Sicher war er ebenso übellaunig und bösartig wie ihr verblichener Gatte. Der Eindruck, den er bisher auf sie gemacht hatte, schien das zu belegen.

Ganz so, als wollte er ihre Gedanken bestätigen, blaffte der neue Lord sie an. „Was steht Ihr hier noch so herum? Ihr könnt euch entfernen! Es ist alles gesagt, was gesagt werden musste.“

Sie zuckte zusammen und brachte einen zittrigen Knicks zustande. Als sie zur Tür hinauseilte, rief er ihr hinterher: „Ihr braucht Euch nicht die Mühe zu machen und zu den Mahlzeiten herunterkommen. Die Köchin wird Euch sicher reichlich Verpflegung auf Euer Zimmer schicken.“

Entsetzt drehte Lavinia sich um: „Ihr sperrt mich ein?“

Er schüttelte den Kopf. „Ihr dürft jederzeit aus dem Haus und auch das Anwesen verlassen, wenn Ihr mir mitteilt, was Ihr vorhabt. Ich befreie Euch nur von der Verpflichtung, mir beim Speisen Gesellschaft zu leisten, was Euch sicher entgegenkommt. Solltet Ihr Euch jedoch langweilen, dann können wir die Mahlzeiten an den Tagen, an denen ich auf Graywood Manor weile, meinetwegen auch gemeinsam einnehmen.“ Er wollte noch hinzusetzen, dass es sicher für keinen von ihnen eine Freude sein würde, unterließ es aber im letzten Augenblick.

„So seid Ihr nicht ständig anwesend?“ Lavinia konnte die Hoffnung in ihrer Stimme nicht verbergen.

„Ich habe Geschäfte in London zu tätigen“, antwortete er mit eisiger Stimme und entließ sie mit einer Handbewegung.

Lavinia knickste gerade so tief, dass es nicht unhöflich wirkte, drückte den Rücken durch und wandte sich zum Gehen. Was bildete dieser Kerl sich ein? Wenn sie auch selten mit ihrer Schwiegermutter einer Meinung war, diesmal hatte die wohl doch recht. Der neue Lord Graywood war ein ungehobelter, bürgerlicher Klotz! Durch seine Herkunft fehlte es ihm an Manieren und gesellschaftlichem Schliff. In ihrem Zorn über die unfreundliche Behandlung, gepaart mit der Sorge um die Zukunft, vergaß Lady Lavinia ganz, dass der verblichene Lord Graywood keineswegs ein Musterbeispiel für einen Viscount abgegeben hatte. Es gab nicht wenige Stimmen im ton, die ihn als ungehobelt, verschlagen und jähzornig beschrieben. Er hatte wohl gerade zur rechten Stunde das Zeitliche gesegnet. Weil man über Tote nichts Schlechtes sagen sollte, wurde auch nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert, dass es eigentlich sein Glück war, vom Pferd zu fallen und sich den Hals zu brechen. In wenigen Wochen wäre er ohnehin ruiniert gewesen. Man würde jetzt schauen, ob der neue Viscount ein besseres Händchen für die heruntergewirtschafteten Ländereien hatte. Falls die Gerüchte stimmten, war er ziemlich reich. Ebenso war man der Meinung, dass reich und ein Viscount zu sein, eine gewissermaßen gute Kombination war. Da spielte das Aussehen kaum eine Rolle und auch nicht die bürgerliche Herkunft. Allerdings flüsterten sich die Debütantinnen, die auf der Suche nach einem Ehemann waren, zu, dass Lord Graywood mit einem recht ansehnlichen Äußeren gesegnet sei. War er bisher nur für die Töchter des niederen Adels interessant, deren Väter kaum eine magere Mitgift aufbrachten, so änderte sich das jetzt schlagartig. Lord Graywood galt als einer der fettesten Karpfen im Teich der heiratsfähigen Junggesellen.

Von all den Gerüchten wussten weder der neue Viscount Graywood noch die verwitwete Lavinia etwas. Während beide an die vor ihnen liegenden Tage mit Schaudern dachten und überlegten, wie sie einander am besten aus dem Weg gehen könnten, malten in London die Mühlen ein ganz anderes Mehl. Man war dem bürgerlichen Aldon in der Vergangenheit zwar nicht unbedingt mit Verachtung begegnet, sondern hatte ihn eher nur am Rande wahrgenommen. Es gab ja kaum Berührungspunkte, da er zu vielen Veranstaltungen gar nicht eingeladen wurde. Diese Situation hatte sich jetzt aber grundlegend geändert. Einem Viscount standen viele Türen offen, ganz egal, woher er sein Geld hatte. Er war mit einem Schlag zu einem der begehrtesten Junggesellen des ton geworden und der Traum aller Mütter, die mindestens eine unverheiratete Tochter besaßen. Unglücklicherweise saß er aber nun weit draußen, auf dem Land, auf Graywood Manor. Irgendwie müsste man ihn nach London in die Ballsäle locken, darüber waren die Damen einhelliger Meinung. Wenn er erst einmal da wäre, würde sich sicher eine Gelegenheit ergeben, seine nähere Bekanntschaft zu machen.

Nicht wenige der Mütter von heiratswilligen Töchtern hatten auch Söhne, deren Interesse ebenfalls darin lag, ihre Schwestern dem neuen Viscount vorzustellen. Blieb eine Debütantin unverheiratet und endete als alte Jungfrau, dann oblag es nach dem Tode der Eltern den Brüdern, sich um ihre übriggebliebenen Anverwandten zu kümmern. Ein lediges Frauenzimmer in der Familie war immer ein Ärgernis. Meist musste sich der Älteste als Familienoberhaupt um sie kümmern. Das war nicht nur lästig, sondern auch finanziell unangenehm. Die Unverheiratete brauchte eine entsprechende Unterkunft und ein Auskommen. Das kostete Geld, welches man dann nicht für sich oder die eigene Gattin ausgeben konnte. Oft war so eine sitzengebliebene Schwägerin auch noch ein Dorn im Auge, wenn es um die Herrschaft im Hause ging. Alles in allem war eine ledige Schwester, die das übliche Heiratsalter überschritten hatte, eine Belastung, die man sich gern ersparen wollte. Das dumme Ding sollte gefälligst heiraten und dann dem Gatten Ärger machen, meinten nicht wenige der jungen Herren. Natürlich gab es auch andere Brüder, die mit Liebe und Zärtlichkeit an ihren Schwestern hingen. Aber verheiratet wollten sie diese jedoch auch gern sehen.

Offiziell war es im ton verpönt, sein Geld durch Arbeit zu erlangen. Ein opulenter Lebensstil, wie man ihn pflegte, kostete jedoch. Die Kassen leerten sich meist schneller, als sie durch die Einnahmen aus den Gütern nachgefüllt wurden. Vielleicht hatte Graywood ein paar Tipps, wie man der ständigen Geldsorgen Herr werden könnte, ohne gleich als Krämer oder Pfeffersack zu gelten. Und so ganz nebenbei konnte man ihm ja auch die heiratswilligen Schwestern vorstellen. Immerhin würde man so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Nun war es so, dass eine gute Idee selten geheim blieb. Hatte einer der Lords beim Kartenspiel halblaut über seinen Einfall sinniert oder eine der potenziellen Schwiegermütter ihre doch nicht so verschwiegene Freundin ins Vertrauen gezogen? Man würde es wohl nie erfahren. Die Überraschung des neuen Lord Graywood war jedoch keineswegs gespielt, als er schon am nächsten Tag mehr als ein Dutzend Briefe überreicht bekam, die alle einen ähnlichen Inhalt hatten. Man bat ihn zu einer dringenden geschäftlichen Unterredung, die einem persönlichen und vertraulichen Charakter entsprechen sollte. Unter normalen Umständen hätte er sicher abgelehnt, denn er kannte die Einstellung der meisten Adligen, wenn es um Geschäfte ging. In seiner Situation allerdings kamen ihm die Schreiben, die ihn nach London riefen, mehr als nur gelegen. So hatte er einen triftigen Grund, Graywood Manor am nächsten Tag zu verlassen. Er würde weder seiner Tante noch der Witwe seines Cousins begegnen müssen. Wenn er seinen Aufenthalt in der Hauptstadt auf vier Wochen ausdehnte, dann wäre die Frist für Lady Lavinia verstrichen. So weit kannte er sich mit den weiblichen Befindlichkeiten aus. Er würde zu diesem Zeitpunkt zurückkehren, ihr mitteilen, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen konnte, ihr eine kleine Leibrente aussetzen und sie wegschicken. Damit hätte er seine Pflicht getan und könnte sich mit gutem Gewissen zurücklehnen. Dass die Dame noch einmal heiraten würde, war wohl doch sehr unwahrscheinlich. Dazu war sie zu farblos und nichtssagend. So wie es aussah, neigte sie auch noch zu boshaften Wiederworten. Wer würde so eine Person wohl freiwillig in sein Leben lassen? Er hatte das zänkische Weib wohl für den Rest seines Lebens am Hals, denn er nahm seine Verpflichtungen, auch der ungeliebten Verwandtschaft gegenüber, sehr ernst. Das hieß jedoch nicht, dass sie oder gar seine Tante einen Platz in seinem Leben beanspruchen konnten. Er wollte beiden so wenig wie möglich begegnen. Die Einladungen nach London waren der perfekte Grund, abzureisen. Die Ländereien von Graywood Manor würden zwar noch einen Monat auf seine ordnende Hand warten müssen, aber das würde er in Kauf nehmen.

Tief im Inneren schalt er sich einen Feigling, aber er verspürte nicht das geringste Bedürfnis nach irgendeiner weiblichen Gesellschaft ‒ selbst wenn er die zwei Frauen, für die er nun als Familienoberhaupt verantwortlich war, nicht in der Tiefe seines Herzens verabscheuen würde. Keineswegs, nach seinen Erfahrungen mit Alicia. Das Beste wäre, so entschied er, so schnell wie möglich abzureisen. Er schritt voller Elan ins Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch, um zwei kurze Notizen zu verfassen. Dann klingelte er nach dem alten Butler, den er anwies, den Damen die Schreiben am nächsten Morgen zu überreichen.

Als sich dieser mit steifen Schritten entfernt hatte, warf Graywood noch einen schnellen Blick auf das Inventarverzeichnis des Anwesens. Das hatte ihm der Familienanwalt vor seiner Abreise aus London überreicht. Eigentlich hätte er die Angaben darauf überprüfen sollen. Aber er war in Gedanken schon bei seinen Reisevorbereitungen gewesen. Achtlos warf er die Blätter auf den Schreibtisch und rief nach seinem Kammerdiener. Es war Zeit zum Packen, damit sie bei Morgengrauen aufbrechen konnten.

Von all diesen Absichten ahnte Lady Lavinia nichts, als sie nach dem Gespräch mit dem neuen Viscount durch die Gärten von Graywood Manor streifte. Der Aufenthalt an der frischen Luft würde ihre aufgewühlten Nerven beruhigen. Zumindest hoffte sie das. Was bildete sich dieser Mensch nur ein? In Gedanken belegte sie ihn mit einigen sehr wenig damenhaften Schimpfworten, die sie bei den Stallknechten ihrer Großeltern aufgeschnappt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Schönheit der Gartenanlagen um sich herum wahrnahm. Das passierte ihr sonst nie. Wenn sie ihre Schritte sonst auf die kiesbestreuten Wege lenkte, dauerte es nur wenige Minuten, bis sie ganz in dem Anblick schwelgte, der sich ihren Augen bot.

Gleich an das Hauptgebäude schloss sich in südlicher Richtung eine weitläufige Terrassenanlage mit etlichen Springbrunnen an. Die lenkte den Blick auf ein hübsches Gartenhaus, welches früheren Generationen mal als Witumshaus und mal als Vergnügungsort gedient hatte. Zu ihm führten mehrere verschlungene Pfade, die sich um kunstvolle Blumenrabatten wanden, die malerisch auf einer Wiese angelegt waren. Rechts davon, in westlicher Richtung, führte ein kunstvolles schmiedeeisernes Tor in einen Bereich, der als formaler Garten angelegt war. Er wurde von mit Giebeln versehenen Steinmauern umschlossen, die den Nutz- und Küchengarten vor den Augen der Spaziergänger verbargen. Die Mauern wurden von einem großen kreisförmigen Taubenschlag überragt, der ihr ein Märchen ins Gedächtnis rief, welches ihre Nanny einst erzählt hatte. Sie wusste nicht mehr genau, wie die Handlung war, konnte sich aber erinnern, dass die Heldin in diesem Turm gefangen gewesen war. Das erinnerte sie ein bisschen an ihre eigene Situation. Allerdings hatten solche Geschichten immer einen glücklichen Ausgang. Ihr eigenes Leben war weit entfernt davon, ein Märchen zu sein. Seufzend wandte sie ihren Blick vom Turm ab, auf dessen Dach ein Taubenpärchen verliebt turtelte. Da sah sie doch lieber in eine andere Richtung. Obwohl das nur für den ersten Moment eine bessere Lösung zu sein schien.

Nach Osten hin hatte man ein Labyrinth angelegt, das noch vor einem Jahrhundert als Kulisse für das unterhaltsame Leben der Viscounts Graywood gedient hatte. Ihr Gatte hatte, sie wusste nicht, ob sie das wirklich bedauern sollte, keinerlei schwärmerische Ambitionen gehabt. So blieb ihr nur die Vorstellung, wie es damals gewesen war, als zwischen den Hecken heimliches Geflüster und lebhafte Flirts stattfanden. Manchmal seufzte sie bei dem Gedanken, was sich hier wohl alles abgespielt hatte. Denn obwohl ihr die Ehe mit dem fünften Viscount alle Illusionen hätte rauben sollen, hatte sie sich einen gewissen Sinn für Romantik erhalten. Sie wusste nicht, ob es an den Romanen lag, die sie sich aus der reichhaltigen Bibliothek heimlich auslieh oder an der Stimmung, in die sie der Garten versetzte, wann immer sie sich darin aufhielt.

Hinter dem Labyrinth lag ein großzügig gestalteter Landschaftsgarten, der scheinbar nahtlos in die Umgebung überging. Hier gab es Gruppen von Bäumen und Sträuchern, die anmuteten, als wären sie natürlich gewachsen. Künstliche Ruinen, verspielte Bachläufe mit entzückenden Brücken, mehrere Teiche, romantische Picknickplätze und kleine Pavillons versteckten sich dazwischen. Ihr absoluter Favorit war jedoch die chinesische Pagode. So ein Gebäude hatte sie bisher nur einmal gesehen ‒ in den Key Gardens südlich von London. Lavinia war noch recht klein gewesen, als sie ihre Großeltern dahin begleitet hatte. Sie konnte sich nicht mehr an den Anlass erinnern, wohl aber an den Eindruck, den das stufenartige Gebäude mit seinen Drachenfiguren auf sie gemacht hatte. Die Pagode im Park von Graywood Manor war zwar längst nicht so groß und imposant wie ihr Vorbild, aber das störte Lavinia nicht. Immerhin zierten mehrere bunt bemalte Drachen das fremdartig anmutende Gebäude. Da war stets genug Raum für ihre Phantasie geblieben, um dem tristen Ehealltag und dem demütigenden Benehmen ihrer Schwiegermutter zu entfliehen.

Der Garten verfehlte auch diesmal seine Wirkung nicht. Als sie die Stufen erreichte, die zur Pagode hinaufführten, fühlte sie sich schon auf seltsame Art getröstet. Irgendwie würde es schon weiter gehen. Vielleicht war sie ja tatsächlich guter Hoffnung und sie bräuchte sich keine Sorgen um ihre Zukunft zu machen. Und wenn nicht, dann würde es sicher schon irgendwie weitergehen. Auch wenn sie dann diese wundervollen Anlagen nie wieder durchstreifen könnte. „Wo immer etwas Grünes wachsen kann, da gibt es Hoffnung“, murmelte sie vor sich hin. Graywood würde sie doch nicht nach Schottland schicken? Aber selbst da sollte es ja Gras, Bäume und Blumen geben. Also könnte es ja nicht so schlimm werden.

2. Aufregung auf Graywood Manor

Als Lavinia am nächsten Tag erwachte, war die Sonne schon weit über den Horizont gezogen. Wieso hatte sie so lange geschlafen? Das war doch so gar nicht ihre Art. Außerdem schmerzte ihr Kopf, als wäre ihre Gesundheit angegriffen. Sie griff sich an die Stirn. Die war kalt. Es gab keinerlei Anzeichen von Fieber. Auch ihr Hals schmerzte nicht. Sie war wohl doch nicht krank. Aber irgendetwas stimmte nicht. Und das hatte nicht unbedingt mit ihrem Kopfweh zu tun. Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, was so ungewöhnlich war: Das ganze Anwesen summte wie ein Bienenstock. Entgegen den sonstigen Gepflogenheiten schien die Dienerschaft heute außer Rand und Band. Schritte hasteten treppauf und treppab. Türen wurden geräuschvoll geöffnet und flogen mit einem Knall wieder zu. So etwas hatte sie in den drei Jahren auf Graywood Manor noch nicht erlebt. Ihre Schwiegermutter führte doch sonst so ein strenges Regiment.

Verwundert schlüpfte sie aus dem Bett und klingelte nach ihrer Zofe. Doch diese erschien nicht. Erst nachdem Lavinia mehrmals energisch am Klingelzug gerissen hatte, tauchte sie mit einem mürrischen Gesichtsausdruck auf und ließ sich zu einem steifen Knicks herab, den man nur als unhöflich bezeichnen konnte.

Lavinia übersah die Frechheit und ließ sich von ihr ins Kleid helfen. Sie hätte sich liebend gern ohne die Hilfe der unwilligen Frau angezogen, aber allein konnte sie weder das Mieder zuschnüren, noch das hässliche Oberkleid zuknöpfen, da beides am Rücken geschlossen wurde. Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus und fragte: „Was ist denn heute los? Wieso ist es so laut im Haus?“

Die Zofe zog eine Schnute und ließ sich aber dann doch dazu herab, ihr zu antworten. „Lady Graywood packt, denn sie verlässt noch heute Abend das Anwesen.“

„Hat sie denn so viel mitzunehmen?“ Lavinia sprach mehr zu sich selbst, als zu der Dienerin.

Deren Loyalität hatte schon immer der Witwe gegolten und daher erfolgte die Antwort prompt und unwirsch. „Lady Graywood nimmt nur das mit, was ihr rechtmäßig gehört.“ Mit einem boshaften Unterton fuhr sie fort. „Ihr habt ja nicht viel mitgebracht, Lady Lavinia.“

Es war eine Frechheit, sie so anzusprechen, da ihr von Rechts wegen der Titel einer Lady Graywood gehörte, aber sie überhörte das, denn etwas anderes machte ihr viel mehr Sorgen. „Aber das Anwesen gehört jetzt dem neuen Lord Graywood.“

„Der ist nach London abgereist. Und so schnell wird er wohl nicht wiederkommen. Bis dahin sind wir weg. Dann soll er mal sehen, was ihm gehört.“ Die Frau sprach so selbstgefällig, als ob es um ihr Eigentum ging.

Lavinia überlegte blitzschnell. Wenn ihre Schwiegermutter alles Wertvolle einpackte und verschwand, dann würde Lord Graywood seinen Zorn darüber an ihr auslassen. Sie war ja aufgrund seines Befehls verpflichtet, hier auszuharren. Falls er vom Charakter her nur ein wenig ihrem verstorbenen Gatten glich, wollte sie sich nicht vorstellen, wie er reagieren würde. Zugegeben, es gab auf Graywood Manor nicht mehr vieles, was wertvoll war. Ihr Ehemann und seine Mutter hatten stets aus dem Vollen geschöpft, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wo das Geld herkam. Weil er keine Ahnung von der Bewirtschaftung eines Gutes hatte, hatte der Verstorbene, gleich nachdem er sein Erbe angetreten hatte, einen Verwalter eingestellt. Dabei hatte er ein wenig glückliches Händchen bewiesen, denn er wählte einen seiner Saufkumpane aus. Dieser hatte nichts Besseres zu tun, als kräftig in seine eigene Tasche zu wirtschaften. Waren die Ländereien von Graywood Manor schon vorher nicht besonders klug geleitet worden, so hatte es der ungetreue Verwalter geschafft, die wenigen Pächter an den Bettelstab zu bringen. Kurz vor Ankunft des neuen Besitzers hatte er sich mit den letzten Einnahmen aus dem Staub gemacht. Nicht ohne Grund hatte er vermutet, dass der neue Lord Graywood mehr von der Buchhaltung verstand als sein Vorgänger und schnell erkennen würde, wohin ein nicht unerheblicher Teil der mageren Einnahmen des Gutes geflossen war.

Lavinia hatte keinerlei Vorstellung über die finanzielle Situation des neuen Lords. Sicher würde er es so oder so nicht gutheißen, wenn er auf ein mehr oder weniger geplündertes Anwesen käme. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, aber sie musste versuchen, ihre Schwiegermutter davon abzubringen, auch noch den letzten Silberlöffel mitzunehmen. Sonst würde sie es am Ende ausbaden müssen.

Mit fliegenden Röcken eilte sie nach unten und erschrak. Die Türen zu den Salons standen weit offen und die Dienerschaft trug Kisten und Koffer nach draußen, wo alles auf einen großen Packwagen verstaut wurde. Aus dem Arbeitszimmer klang die keifende Stimme ihrer Schwiegermutter.

„Das Tafelsilber mit dem eingravierten Wappen?“

„Auf dem Wagen.“ Das war die Stimme von Butler Sevenson.

„Das Speiseservice mit den chinesischen Motiven aus Meißen?“

„Ebenfalls.“

„Was ist mit dem Wein?“ Das war jetzt die Haushälterin, Mrs Wind.

„Alles, was von Wert ist, wurde verstaut.“

Lavinia traute ihren Ohren kaum. Das durfte doch nicht wahr sein! Wütend eilte sie zu den drei Menschen, die sich in seltsamer Einigkeit grinsend über eine Liste beugten. Wer hätte gedacht, dass es zwischen Herrschaft und Personal einmal so eine Vertrautheit geben könnte? Als sie Lavinia bemerkten, veränderte sich ihre Mimik zu einer Art herablassender Verachtung. Butler und Haushälterin zogen sich ohne Höflichkeitsbezeugung ihr gegenüber zurück. Ihre Schwiegermutter, die hinter dem Schreibtisch gesessen hatte, stand auf. In der Hand hielt sie mehrere Bögen Papier, welche wahrscheinlich das Inventarverzeichnis von Graywood Manor darstellten. Sie wedelte damit vor Lavinias Nase herum.

„Tja, meine Liebe. Dieser Parvenü ist so ein Trottel. Hat er doch glatt die Auflistung der Wertsachen hier liegen lassen. Was für ein unglücklicher Zufall, dass gerade in dem Augenblick, als du hier hereinkamst, die Vordertür aufstand und ein heftiger Windstoß die Listen in den brennenden Kamin wehte. Ich habe mich so bemüht, sie zu retten und mir dabei sogar meine Handschuhe ruiniert. Aber wie du siehst, konnte ich nichts mehr machen.“ Sie warf die Papiere ins Feuer und tätschelte ihr tröstend den Arm. „Mach dir nichts draus. Du warst schon immer ein Tollpatsch. Dieser Emporkömmling, der sich jetzt Lord Graywood nennen darf, wird das sicher verstehen.“

Dann begab sie sich mit wiegenden Schritten in Richtung der wartenden Kutsche. „Ich hoffe, es geht dir jetzt besser. Immerhin habe ich mir Sorgen um deine Gesundheit gemacht. Darum brachte dir deine Zofe auch einen Schlaftrunk. Du musst ihn wohl gebraucht haben. Wenigstens hast du mehr als vierundzwanzig Stunden geschlafen. Die Zeit habe ich genutzt, meine persönlichen Sachen zu packen. Wie schön, dass du kommst, um mich zu verabschieden. Aber das wäre nicht notwendig gewesen.“

Lavinia erschrak. Darum fühlte sie sich so benommen. Dieses hinterhältige Weib hatte ihr einen Betäubungstrunk verabreichen lassen, damit sie nicht beim Plündern des Anwesens im Wege war. Falls sie, wie behauptet wurde, länger als einen Tag geschlafen hatte, hatte das ihrer Schwiegermutter genügend Zeit verschafft, um alles, was ihr wertvoll erschien, einzupacken. Wahrscheinlich gab es weder Silber noch Porzellan mehr in den ohnehin nicht besonders vollen Schränken. Sie starrte Lady Amalia Westkay an. Die Dame, die immer so viel Wert auf Etikette und Anstand gehalten hatte, war im Grunde genommen nichts weiter als eine dreiste Diebin, die sich jetzt gerade mit ihrer Beute aus dem Staub machen wollte.

Anstatt vor Scham in den Boden zu versinken, winkte sie nonchalant mit der Hand und wollte mit Hilfe des Butlers gerade in die Kutsche einsteigen, als sie es sich noch einmal zu überlegen schien. Mit einem höhnischen Grinsen drehte sie sich noch einmal um. „Beinahe hätte ich es vergessen: Ich habe der Dienerschaft freigestellt, ob sie das Anwesen verlassen will oder nicht. Jeder, der sich eine andere Anstellung suchen wollte, bekam ein hervorragendes Zeugnis von mir ausgestellt und etwas Kleingeld, um die nächste Zeit zu überbrücken. Es könnte also sein, dass es in nächster Zeit etwas ruhig auf Graywood Manor werden wird.“

Sie drehte sich um und stieg zu ihrer wartenden Zofe in die Kutsche. Als Sevenson die Tür schließen wollte, hielt sie ihn mit einer Handbewegung auf und wandte sich nochmals an Lavinia. „Ich wünsche dir viel Glück bei der Suche nach neuem Personal. Ich befürchte, es wird nicht ganz einfach werden. Die Dienstboten, die Graywood Manor verlassen haben, werden leider überall herumerzählen, dass es hier spukt. Deine arme Zofe hat fast einen Herzinfarkt bekommen, als sie den Geist meines verstorbenen Sohnes in der Galerie entdeckte. Sie hat das ganze Haus zusammengeschrien. Einige der Bediensteten sind vor Schreck fast aus den Betten gefallen. Nur du hast das Ganze verschlafen. Es war fürchterlich! Wie gut du das doch hast. Aber sicher wirst du verstehen, dass niemand mehr in diesem Spukhaus bleiben will.“

Sie gab dem Butler ein Zeichen. Der schloss die Tür der Kutsche mit dem Graywood-Wappen und begab sich eilig zu einer weiteren, die hinter dem Gepäckwagen stand, sodass Lavinia sie erst entdeckte, als sie einen Schritt aus dem Haus trat. Wie auf ein geheimes Kommando setzte sich der Treck in Bewegung. Vornweg die herrschaftliche Kutsche, danach der Transportwagen, der zum Brechen voll mit Kisten und Koffern beladen war und anschließend die leichte Reisekutsche des Anwesens, aus der sie die Gesichter von Butler und Hausdame angrinsten.

Lavinia verspürte keinen noch so winzigen Schimmer von Bedauern, als sie dem Tross hinterhersah. Ein Gefühl von Erleichterung überkam sie, als sie sich umwandte, um ins Haus zu gehen. Weil niemand in der Nähe war, schloss sie die große Eingangstür selbst. Das hatte sonst immer der Butler oder jemand vom Hauspersonal gemacht. Wer weiß, wo die alle steckten? Das Beste wäre wohl, wenn sie zuerst einmal eine Bestandsaufnahme machen würde, wer von der Dienerschaft ihr noch zur Verfügung stand. Sie warf einen Blick in die Zimmer des Erdgeschosses und stellte fest, dass die Bibliothek und das Arbeitszimmer die Räume waren, die ihre diebische Schwiegermutter wohl am wenigsten geplündert hatte. Von Büchern hatte die Dowager Viscountess noch nie viel gehalten und daher kein einziges Exemplar mitgenommen.

Wie es aussah, war sie in der nächsten Zeit die alleinige Herrin auf Graywood Manor. Etwas von dem alten Kampfgeist, den sie einmal vor ihrer Ehe besessen hatte, schien sich zu regen. Scheinbar hatte ihr Gatte doch nicht alles aus ihr herausgeprügelt. Wenn sie jetzt hier das Sagen hatte, dann würde sie auch das Arbeitszimmer nutzen. Sie ging in den Raum, den sie zu Lebzeiten ihres Mannes nur nach Aufforderung hatte betreten dürfen, und warf einen Blick auf das verlöschende Feuer. Es hatte ganze Arbeit geleistet. Von dem Inventarverzeichnis kündeten nur noch einige weiße Flocken. Lavinia holte tief Luft. Sie konnte an dem, was passiert war, nichts mehr ändern. Irgendwie würde sie dem neuen Viscount das schon erklären, so hoffte sie zumindest. Immerhin war er nach London abgereist und sie hatte Zeit, um sich etwas zu überlegen. Wenn er zurückkam, würde ihr schon etwas einfallen. Sie holte noch einmal tief Luft und zog an der Klingelschnur, um jemanden vom Personal herbeizurufen. Nichts tat sich. Sie zog mehrmals so kräftig, dass sie für einen Moment befürchtete, die Schnur könnte reißen. Dann begriff sie: Es würde niemand kommen.

Die Gefühle, die in ihr tobten, waren zwiespältig. Einerseits war sie froh, der Fuchtel ihrer Schwiegermutter entkommen zu sein und erleichtert über deren Abreise. Anderseits konnte sie sich nicht vorstellen, dass alle Bediensteten auf einmal schlagartig das Anwesen verlassen hatten. Dieser Gedanke ängstigte sie. Lavinia warf einen Blick in die angrenzenden Räume. Weder im Empfangssalon noch im Gartenzimmer war eine Menschenseele zu finden. Das hatte allerdings nichts weiter zu sagen, immerhin hatte sich das Personal möglichst unsichtbar zu machen und die Herrschaft so wenig wie möglich mit seiner Anwesenheit zu belästigen. Diese Meinung herrschte nicht nur auf Graywood Manor, sondern in vielen adligen Häusern. Lavinia dachte an ihr Elternhaus. Ihr Verhältnis zu ihrer alten Amme, zur Köchin und den Mädchen, die im Dienst ihrer Mutter standen, war stets gut gewesen. Bis zu der Zeit, als sie ein Backfisch wurde, hatte sie sich in deren Gesellschaft oft besser aufgehoben gefühlt als bei den meist unnahbaren Gouvernanten. Natürlich war sie dafür gescholten worden, wenn man sie wieder einmal in der Küche oder im Dienstbotentrakt erwischt hatte. Aber das hatte sie nie davon abgehalten, so oft wie möglich der Gesellschaft ihrer wechselnden Aufsichtspersonen zu entwischen. Hier auf Graywood hatte ihr Gatte Lavinia schnell klargemacht, was er von einem allzu freundlichen Umgang mit dem Personal hielt. Sobald er bemerkte, dass seine Frau auch nur die kleinste Sympathie zu einer Angestellten entwickelte, hatte sich diese ohne Papiere auf der Straße wiedergefunden. Eine neue Anstellung, ohne ein entsprechendes Schreiben zu bekommen, war fast aussichtslos. Lavinia musste schnell erkennen, dass sie den Mädchen keinen Gefallen tat, wenn sie diese als Menschen wahrnahm und sie auch so behandelte. Also hatte sie die Versuche, freundlich zu sein, schnell aufgegeben. Die ständig wechselnde Schar an Dienstboten hatte es ihr zudem leichtgemacht, einen entsprechenden Abstand zu wahren. Wer eine bessere Anstellung in einem anderen Haus fand, verließ Graywood Manor ohnehin so schnell wie möglich. Fast überall war die Bezahlung besser und auch die Herrschaft weniger unfreundlich.

Zusammen mit ihrer Schwiegermutter hatten deren Zofe, der Butler und die Hausdame das Anwesen verlassen. Davon hatte Lavinia sich bei der Abreise mit eigenen Augen überzeugen können. Aber was war mit ihrer eigenen Zofe? Nicht dass sie diese besonders mochte. Immerhin war sie ihr von ihrer Schwiegermutter geradezu aufgedrängt worden. Sie war sich im Klaren darüber, dass Mary nur dazu da war, um jeden ihrer Schritte zu überwachen. Sicher hatte die Dowager Countess jedes noch so unwichtige Detail aus ihrem Leben erfahren.

Lavinia wollte so schnell wie möglich wissen, ob ihre Zofe auch mit abgereist war oder ob sie sich irgendwo im Haus aufhielt. Das Beste wäre, sie würde sich erst einmal davon überzeugen, ob sie noch länger unter Marys unerwünschter Aufsicht stand oder ob sie eines der Hausmädchen bitten könnte, ihr zu Hand zu gehen. Daher machte sie sich auf den Weg in den Westflügel, wo sich neben ihrem Schlafzimmer die Kammer der Zofe befand. Man hatte diese Anordnung damit begründet, dass es praktisch für sie war. Aber im Grunde genommen diente dieses Arrangement nur dazu, um sie besser überwachen zu können.

Lavinia klopfte an die Tür und ärgerte sich gleich darauf über sich selbst. Wer war sie denn, dass sie an die Tür einer Zofe klopfte? Da ihr niemand antwortete, drückte sie die Klinke herunter und trat ein. Das Zimmer war verlassen. Die Schubladen der Kommode standen auf. Mit einem Blick konnte sie sehen, dass sie leer waren. Alles deutete darauf hin, dass Mary in höchster Eile ihre Sachen gepackt haben musste. Wahrscheinlich saß sie gemeinsam mit dem Butler und der Hausdame in der geschlossenen Kutsche. Irgendwie erfreute Lavinia diese Vorstellung. Ein leichtes Lächeln überzog ihr Gesicht, als sie daran dachte, dass sie die verkniffene Miene der Frau nun nicht mehr jeden Morgen ansehen musste. Sie hatte einmal in einem Nachschlagewerk geblättert und entdeckt, dass Mary so viel wie „die Widerspenstige“ bedeutete. Was für ein passender Name! Sicher war eines der anderen Mädchen mehr als nur bereit, ihr als Zofe zur Hand zu gehen. Immerhin war es ein sagenhafter Aufstieg, vom Zimmermädchen zur persönlichen Bediensteten einer Lady befördert zu werden. Allerdings war auf ihr Klingeln bisher niemand aufgetaucht.

Es blieb Lavinia wohl nichts anderes übrig, als sich selbst auf die Suche nach einem dienstbaren Geist zu machen. Sie verließ ihre Räume im oberen Geschoss des Westflügels und eilte den langen Gang entlang zum Haupttreppenhaus. Ihr Weg führte sie an zahlreichen Gemälden längst verblichener Graywoods vorbei, deren verkniffene Mienen Missbilligung auszudrücken schienen. Immerhin hatte sie es nicht geschafft, sich ihre Stellung unter ihnen durch einen Erben zu sichern. Jetzt würde sie sehen, was sie davon hatte. Ihre Zukunft war mehr als unsicher. Sie war einzig und allein auf die Mildtätigkeit des neuen Hausherrn angewiesen. Zu ihren Eltern konnte sie keineswegs zurück. Lavinia schauderte bei dem Gedanken an ihr liebloses Elternhaus. Weder die Mutter noch der Vater hatten sich groß um sie oder um ihre Schwester gekümmert. Einzig und allein ihr Bruder Reginald war von ihnen wahrgenommen worden. Die Mädchen waren für den Fortbestand der Linie nicht von Bedeutung. So kam es, dass Lavinia in ihrer ersten Saison schon mit einem akzeptablen Gentleman, wie ihre Eltern sich ausdrückten, verheiratet wurde. Dass der damalige Lord Graywood als Mitgiftjäger galt, war ihnen egal gewesen. Hauptsache, Lavinia war aus dem Haus. Als sie bei diesen Gedanken angekommen war, schien es ihr, als würden die Porträts zu beiden Seiten des Ganges hämisch grinsen.

Entschlossen raffte sie die Röcke und eilte die große Treppe ins Erdgeschoss hinab. Sie hätte ihre Schwester gern zu sich genommen, um ihr das freudlose Leben im Elternhaus zu ersparen. Allerdings hatte ihr Gatte schon kurz nach der Hochzeit sein wahres Gesicht gezeigt und so hatte Lavinia niemals von diesen Plänen gesprochen. Es war für ein junges Mädchen immer noch besser, in einem lieblosen Haushalt aufzuwachsen, als in ständiger Gefahr vor den Wutausbrüchen des Hausherrn zu leben. Sie war sich sicher, dass ihr verstorbener Gatte keineswegs Rücksicht auf seine junge Schwägerin genommen hätte. Bei diesem Gedanken schüttelte sie energisch den Kopf. Das hier wäre kein Ort für ein junges, unschuldiges Mädchen gewesen.

Unten angekommen sah sie sich in der großen Eingangshalle suchend um. Wo sollte sie jemanden vom Personal finden? Sie warf zuerst einen Blick in das Frühstückszimmer und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Auf der Anrichte türmten sich noch Teller mit Speisen, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten. Wurst und Schinken sahen grau aus und wellten sich. Das Brot bog sich und der Tee in einer Tasse schimmerte leicht ölig. Kalter Porridge, den man mit Sahne serviert hatte, war in einer Schüssel zu einer undefinierbaren Masse aufgequollen. Auf einer ovalen Platte dümpelte ein Rest gebratener Nierchen vor sich hin. Ein einsamer Klecks, der einmal Ei mit Speck gewesen war, lag auf dem Fußboden.

Was war hier los? Warum hatte niemand das Frühstücksbuffet abgeräumt? Der Raum wurde morgens immer gut geheizt, was angenehm für die Bewohner war, aber den Speisen nicht unbedingt gut bekam. Inzwischen war das Feuer im Kamin erloschen und es war kalt im Frühstückszimmer. Die Reste des Buffets waren allerdings kaum noch zu retten. Wo war nur das Personal? Lavinia fiel die Rede ihrer Schwiegermutter ein. Hatte sie tatsächlich alle entlassen? Das durfte doch nicht wahr sein! Irgendwer musste doch wohl noch anwesend sein!

Ganz gleich, in welche Räume sie auch schaute, sie konnte niemanden entdecken. Mit bangem Herzen machte sie sich auf den Weg in das Untergeschoss, wo sich die Küche und die Hauswirtschaftsräume befanden. Als sie die Treppe nach unten schritt, lauschte sie angestrengt. Normalerweise war es in diesen Räumen selten still. Auch wenn die Angestellten nicht gerade viel Zeit zum Plaudern hatten, sollte sie die Geräusche hören, die bei den verschiedenen Arbeiten entstehen. Aber da war nichts. Nur Stille. Verwirrt eilte Lavinia durch das Gewirr der Gänge, in denen es eigentlich von Bediensteten wimmeln sollte. Endlich stand sie in der leeren Küche.

Auf dem großen Tisch in der Mitte, der zum Zubereiten der Speisen diente, stand, wild durcheinander, sauberes und schmutziges Geschirr. Der riesige gemauerte Herd verströmte keine Wärme und stand wie ein dickes, vorwurfsvolles Ungetüm an der Wand. Der steinerne Fußboden starrte vor Schmutz, in dem Lavinia verschüttete Lebensmittel erkennen konnte. Auf dem Hackstock war ein Turm aus Töpfen, Pfannen und Backformen aufgestapelt. In dem Waschbecken, das zum Säubern von Wurzelwerk und Fisch diente, stand ein Korb mit ungewaschenen Kartoffeln. Die Behälter für die Gewürze, die in einer herrschaftlichen Küche immer ordentlich in Reih und Glied zu stehen hatten, waren teilweise umgekippt und wild über die Regale und Ablageflächen für das Geschirr verteilt. Vom Geschirr selbst war auf den ersten Blick nicht viel zu entdecken. Es waren weder einfache Tonwaren, die man hier täglich in Gebrauch hatte, noch das einfache Porzellan für die gehobene Dienerschaft zu sehen. Auf dem Boden lagen allerdings nicht wenige Scherben. Nur ein einzelner angeschlagener Teller thronte gefährlich nah am Rand des Gesindetisches. Die ganze Küche machte den Eindruck, als ob eine Horde Vandalen hindurchgezogen war. Was war hier passiert? Seufzend sank Lavinia auf einen der mitten im Zimmer stehenden Stühle, um gleich darauf erschrocken aufzuspringen.

„Mylady?“, klang es schüchtern aus der angrenzenden Vorratskammer.

„Wer ist da?“

„Ich bin es.“ Das Mädchen, das zögernd zum Vorschein kam, schien genau so dünn wie ihre Stimme. Das verschlissene Oberkleid, das es trug, war an vielen Stellen geflickt und ihr viel zu groß. Früher einmal musste es blau gewesen sein. Jetzt hatte es einen grauen Farbton angenommen, der sich nur wenig von dem der schmuddeligen Schürze unterschied. Die mausbraunen, struppigen Haare waren zu Zöpfen geflochten und wurden von einem Kopftuch bedeckt, dessen Muster verriet, dass es irgendwann einmal ein Teil eines geblümten Kleides gewesen war. Die Kleine schlug die Augen nieder und versuchte einen unbeholfenen Knicks.

„Hab keine Angst und komm ruhig näher. Ich möchte dir einige Fragen stellen.“

Sie knickste wieder, schlug die Augen auf und sah Lavinia an. Wenn sie nicht so schmutzig gewesen wäre, dann hätte man sie ansprechend nennen können. Ihre Augen waren wach und klar. Sie zeugten von raschen Verstand und das vorsichtige Lächeln, das sich auf ihr Gesicht schlich, ließ sie sympathisch erscheinen.

„Wie heißt du?“

„Milly.“

„Wo sind denn alle?“

„Weg.“

„Was bedeutet weg, Milly?“

„Sie sind nicht mehr hier."

Lavinia wurde langsam ungeduldig. „Das sehe ich. Wo sind sie hin?“

Das Mädchen zuckte zusammen und ihr zaghaftes Lächeln verschwand. Sie senkte den Kopf und trat einen Schritt zurück. „Es tut mir leid, Mylady. Lady Graywood hat alle entlassen und weggeschickt.“

Lavinia schluckte. Das Personal hatte sich nie daran gewöhnt, dass sie eigentlich den Titel der Lady Graywood trug. „Warum bist du nicht gegangen?“

„Ich habe es meiner Mutter versprochen.“

„Wo ist deine Mutter?“

„Sie ist tot.“

„Das tut mir leid.“

„Vielen Dank, Mylady. Aber sie ist schon vor einiger Zeit gestorben.“

„Wie alt bist du?“

„Fünfzehn.“

Lavinia runzelte die Stirn. Milly sah aus wie zwölf. Sie war viel zu klein und zu mager für ihr Alter.

„Was hast du deiner Mutter genau versprochen?“

„Ich versprach ihr, niemals ohne den Schutz einer gütigen Herrschaft in die Stadt zu gehen.“

Das Mädchen drückte sich erstaunlich gewählt aus. So sprach keine einfache Spülmagd. „Deine Mutter war eine kluge Frau. Die Stadt ist kein guter Ort für ein weibliches Wesen ohne Schutz.“

Milly nickte nur.

Hinter dem Mädchen verbarg sich sicher eine interessante Geschichte, aber dafür war jetzt keine Zeit. „Sind wirklich alle weg?“

Sie nickte erneut.

„So sind wir beide allein. Dann sollten wir uns zusammentun.“

Milly verzog das Gesicht zu einem leichten Lächeln und knickste. „Ganz wie Mylady belieben.“

„Hast du Hunger?“ Lavinia ärgerte sich sogleich über ihre Frage. Das Mädchen sah aus, als hätte sie sich noch nie in ihrem Leben sattgegessen. „Zuerst einmal sollten wir uns etwas zu essen suchen. Du kennst dich hier sicher aus und findest etwas, was wir zu uns nehmen können. Im schlimmsten Fall schauen wir im Frühstückszimmer nach, was von den Speisen dort noch zu verwerten ist.“

Die beiden ungleichen Frauen machten sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Zuerst war es Milly unangenehm, gemeinsam mit Mylady durch das Haus zu streifen. Noch unangenehmer war es für das Mädchen, um Rat gefragt zu werden, wo es denn Sinn ergeben würde, nachzusehen, um etwas Entsprechendes zu finden. Lavinia war noch nie zuvor im Untergeschoss von Graywood Manor gewesen und musste sich in den verwinkelten Gängen auf die Führung des jungen Mädchens verlassen. Sie fanden Eier und Speck, etwas Brot und einige Äpfel. Besonders groß war ihre Ausbeute nicht. Aber immerhin waren da noch die Kartoffeln im Spülstein und die Hinterlassenschaften im Frühstückszimmer. Milly wollte zuerst nicht, dass sich ihre Herrin nach oben begab, um die kläglichen Überreste des Frühstücks zu holen, da sich das für eine Lady nicht schickte. Lavinia konnte sie aber mit vielen Argumenten davon überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn sie auch einen Teil der anstehenden Aufgaben übernehmen würde, falls sie beide nicht noch stundenlang mit knurrendem Magen ausharren wollten. Es schien so, als wären von dem ganzen großen Haushalt tatsächlich nur sie beide hiergeblieben. Was blieb Milly also anderes übrig, als sich zu fügen.

Während Milly das Feuer im Herd schürte und versuchte, dem Chaos in der Küche zu Leibe zu rücken, stieg Lavinia die Treppen nach oben und begab sich in das Frühstückszimmer. „Hier sieht es aus, als hätte Napoleons Reiterei einen Zwischenstopp eingelegt“, murmelte sie vor sich hin, als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Seufzend stapelte sie das schmutzige Geschirr aufeinander und schüttete die Reste der Speisen, die nicht mehr zu verwerten waren, auf eine der größeren Platten. Hinter dem Pferdestall gab es einen Hühnerstall, dessen Bewohner sich sicher darüber freuen würden. Alles, was ihr noch genießbar erschien, legte sie auf zwei weitere Platten und balancierte mit ihrer kostbaren Fracht ins Untergeschoss. Während sie sich Schritt für Schritt die Stufen heruntertastete, fragte sie sich, wie die Bediensteten das tagein tagaus in schnellem Tempo geschafft hatten, ohne dabei die Treppe hinabzustürzen.

In der Küche angekommen sah Lavinia, dass Milly ganze Arbeit geleistet hatte. Das gröbste Durcheinander war beseitigt, der Tisch war sauber geschrubbt und im Herd brannte ein lustiges Feuer. Das Mädchen hatte sogar schon Wasser für den Tee aufgesetzt. Als sie ihre Herrin mit den beiden Platten hereinkommen sah, stürzte sie auf sie zu und nahm ihr die Last ab. Dabei murmelte Milly empört, dass es nicht statthaft sei, dass Mylady hier die Arbeit einer Bediensteten verrichtete. Sie war auch nur schwer davon zu überzeugen, sich gemeinsam mit Lavinia an den großen Tisch zu setzen. Als Milly dann noch zusammen mit ihr Tee trinken und zu Abend essen sollte, weigerte sich das Mädchen zuerst standhaft. Lavinia blieb nichts anderes übrig, als es ihr zu befehlen. Und selbst dann gehorchte sie mit sichtbarem Widerwillen.

„Nun sei doch nicht so störrisch, Milly! Ich will nicht allein essen. Allein schmeckt es nicht.“

„Aber es schickt sich nicht für eine Spülmagd, mit der Herrin an einem Tisch zu sitzen! Und schon gar nicht, mit ihr zusammen zu essen!“ Leise grummelnd fügte sie hinzu: „Und es schickt sich nicht für eine Lady, in der Küche zu speisen.“

„Als ich noch ein Kind war, und selbst noch als junges Mädchen, war mein liebster Aufenthalt in der Küche unseres Hauses. Die Köchin war eine Meisterin ihrer Zunft und ich konnte nicht genug von ihren Zitronenküchlein, Baisers und Kuchen bekommen. Ich habe sie so lange genervt, bis sie mir gezeigt hat, wie man all die Köstlichkeiten herstellt.“

„Mylady können backen?“

Lavinia hörte die Bewunderung in Millys Stimme. „Nun, zumindest konnte ich es mal. Meine Eltern waren, wie du dir sicher vorstellen kannst, nicht gerade erbaut über meine Freundschaft mit der Köchin. Aber weil sie wirklich perfekt in ihrer Arbeit war, hat man sie nicht entlassen, sondern mir verboten, die Räume des Untergeschosses jemals wieder zu betreten.“

Lavinia erinnerte sich noch deutlich an die Strafpredigt ihrer Mutter. Die hatte sich umso tiefer in ihr Gedächtnis gegraben, weil sie an diesem Tag das erste Mal das Gefühl gehabt hatte, dass ihre Frau Mama sich um sie kümmerte. Bis dato schien es ihr vollkommen egal gewesen zu sein, womit sich ihre Tochter beschäftigte und bei wem sie sich aufhielt. Den Grund für das plötzlich erwachte Interesse der Eltern an ihrer Person hatte sie zwei Abende später erfahren. Beim Dinner stellte der Vater ihr den anwesenden unbekannten Gast als ihren Verlobten Lord Graywood vor. Wie sie zu der ganzen Geschichte stand, wurde sie niemals gefragt.

Lavinia schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben. „Du meinst also, dass es sich nicht gehört, wenn eine Spülmagd mit der Herrin zusammen isst?“

Milly, die, weil sie wirklich sehr hungrig war, gerade ein großes Stück Brot abgebissen hatte, errötete mit vollem Mund und nickte beschämt.

„Ich glaube, du hast recht, Milly. Daher ernenne ich dich zu meiner Kammerzofe.“

Das Mädchen verschluckte sich und musste husten. Nach Luft ringend griff sie nach der Tasse mit dem Tee, trank einen Schluck und versuchte sich zu beruhigen.

„Ich? Kammerzofe?“

„Siehst du hier noch jemand anderen?“

Milly schüttelte den Kopf und sah erschrocken auf ihren Teller. Der Rest der Mahlzeit verlief schweigend. Sowohl Lavinia als auch Milly hingen ihren Gedanken nach. Im Laufe der Zeit wandelte sich der Gesichtsausdruck des Mädchens jedoch von einem fassungslosen Staunen in ein beseeltes Lächeln. Niemals in ihrem bisherigen Leben hätte sie zu hoffen gewagt, dass sie einmal zur Kammerzofe aufsteigen würde. Und wenn sie auch tief in ihrem Inneren befürchtete, dass sie dieser Aufgabe nicht gewachsen war, so würde sie doch ihr Möglichstes tun, um ihre Lady nicht zu enttäuschen. Niemand hatte ihr, der mageren und unscheinbaren Milly, in diesem Haus jemals etwas Freundlichkeit entgegengebracht. Sie war stets nur herumgeschubst und für jedes kleine Missgeschick gescholten worden. Und jetzt saß sie an einem Tisch mit der Lady des Hauses! Sie war sich im Klaren darüber, dass sich das eigentlich nicht schickte. Aber wenn die Herrin es befahl, dann würde sie den Teufel tun und sich diese Gelegenheit entgehen lassen. Zumal sie sich endlich einmal sattessen konnte. Ganz egal, was das Leben noch mit ihr vorhaben würde, davon könnte sie noch Jahre zehren, dachte sie sich, als sie vergnügt in einen Apfel biss.

Nach dem Abendessen begaben sich Lady Lavinia und Milly auf einen Rundgang durch das Haus, um alle Türen und Fenster im Gebäude zu verschließen. Immerhin waren die zwei Frauen mutterseeelenallein in dem nicht gerade kleinen Anwesen. Während Lavinia tapfer versuchte, ihr Unbehagen über diese Situation zu verbergen, sah man Milly deutlich an, dass sie sich nicht wohlfühlte.

„Was hast du, Milly? Du schaust so unglücklich drein.“

„Nichts, Mylady. Alles ist in Ordnung.“

„Du weißt, dass du eine furchtbar schlechte Lügnerin bist …“

Das Mädchen nickte und machte ein betretenes Gesicht. „Ich grusele mich ein bisschen, wenn ich daran denke, dass niemand weiter im Haus ist. Ich habe noch nie ganz allein im Untergeschoss geschlafen, sondern mir die Kammer mit Netti und Betti, zwei anderen Küchenmägden geteilt. Wir haben in einem Raum hinter der Küche geschlafen, damit jemand zur Stelle war, wenn die Herrschaft mitten in der Nacht einen Wunsch haben sollte. Ich hatte Glück. Mein Strohsack lag an der Wand, die dem Ofen am nächsten war. Im Sommer war das zwar lästig, aber im Winter war das der wärmste Platz.“

„Du wirst nie wieder in dieser Kammer schlafen, Milly. Als meine Kammerzofe hast du ein Zimmer gleich neben dem meinen zu beziehen.“

Milly bekam große Augen. Die wurden allerdings noch größer, als sie das ihr zugedachte Domizil betrachtete. „Da steht ja ein Bett!“ Erschrocken schlug sie sich mit der Hand auf den Mund. „Das ist ja sicher Euer Bett, verzeiht Mylady.“

Lavinia lachte leise. „Nein, Milly. Das ist dein Bett. Meines steht nebenan. Und es ist mindestens dreimal so breit wie dieses hier. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Das ist wirklich die Schlafstatt meiner Kammerzofe. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich sie nicht gerade luxuriös.“

Milly versank in einem tiefen Knicks. „Vergebt mir, wenn ich Euch schon wieder widerspreche. Ich habe noch nie ein schöneres Zimmer gesehen.“

„Warst du denn nie in den oberen Stockwerken?“

„Den Spül- und Küchenmägden ist es untersagt, die untere Etage zu verlassen.“

Darauf wusste Lavinia nichts zu sagen. Bisher hatte sie keine Gelegenheit bekommen, sich um die Haushaltsführung von Graywood Manor zu kümmern. Ihre Schwiegermutter hatte sich nicht in die Karten schauen lassen. Aber sie bezweifelte auch, dass in ihrem Elternhaus andere Gepflogenheiten geherrscht hatten. Allenfalls hatte sie die Köchin im Keller besucht. Lavinia konnte sich aber nicht erinnern, diese jemals im Obergeschoss gesehen zu haben, außer auf ausdrücklichen Befehl ihrer Mutter. In dem Fall ging es immer um die Absprache bezüglich irgendwelcher Speisenabfolgen und die Köchin hatte die Anweisungen ihrer Herrin stets mit gesenktem Kopf entgegengenommen, um dann so schnell wie möglich über die Treppe im Untergeschoss zu verschwinden.

Das Personal in den Häusern der besseren Gesellschaft galt in jeder Hinsicht als untergeordnet. Seine Anwesenheit bei den Verrichtungen des täglichen Lebens war notwendig und wurde als selbstverständlich angesehen. Dabei übersahen die Lords und Ladys gern, dass es sich dabei um Menschen aus Fleisch und Blut handelte, die nahezu alles, was im Hause gesagt und getan wurde, bemerkten. Wer das vergaß, der hatte nicht selten schlechte Karten, wenn es um Geheimnisse und Skandale ging, die man tunlichst vor der Öffentlichkeit verbergen wollte. Unter den Dienstboten herrschte ein ziemlich gutes Netz, wenn es darum ging, Informationen zu verbreiten und Wissenswertes über die einzelnen Häuser in Erfahrung zu bringen. Allerdings gab es auch unter der Dienerschaft eine festgefügte Hierarchie, an deren Spitze der Butler und die Hausdame standen. Danach folgten die persönlichen Bediensteten der Herrschaften. Eine Zofe war die engste Vertraute der Hausherrin und ihre Aufgabe bestand darin, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Das sollte möglichst noch geschehen, bevor dieser ausgesprochen wurde und erforderte im Allgemeinen eine jahrelange Lehrzeit. Im Leben einer Spülmagd kam so ein Aufstieg normalerweise nicht vor. Sie schaffte es, wenn sie Glück hatte, vielleicht einmal einen besseren Posten innerhalb des Küchenpersonals zu ergattern. Es war also durchaus verständlich, dass die Kleine ihr Glück kaum fassen konnte und nicht immer so reagierte, wie man es von einer Zofe erwarten konnte.

Lavinia warf einen Blick auf Milly, die verzückt das Bett anstarrte. „Na los, setz dich doch wenigstens einmal drauf und probiere, ob es weich genug ist.“

Das Mädchen machte einen Schritt nach vorn, hielt dann inne und schüttelte beschämt den Kopf. „Ich kann nicht.“

„Warum nicht?“

Die frischgebackene Kammerzofe sah an sich herunter. „Ich werde es schmutzig machen.“

Lavinia schlug sich wenig damenhaft mit der Hand vor die Stirn. Da ließ sie das arme Mädchen in ihrer schmutzigen Kleidung herumlaufen und wunderte sich, weshalb es sich scheute, sich auf das Bett zu setzen. Mit raschen Schritten ging sie zur Truhe, die neben dem Bett stand, und öffnete sie. Ihr entfuhr ein enttäuschtes Schnauben, als sie feststellte, dass sie leer war. Das hatte sie doch vorher schon bemerkt. Was hatte sie sich denn nur gedacht? Selbst eine Kammerzofe war nicht so reich, dass sie einen Teil ihrer Kleidung einfach zurücklassen würde.

„Komm mit, Milly. Wir suchen dir aus meinen alten Kleidern etwas zum Anziehen. Und morgen schauen wir dann weiter.“

So kam es, dass die ehemalige Spülmagd Milly in einem viel zu großen Nachthemd ihrer Herrin das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, satt und glücklich in einem Bett schlief. Nebenan aber warf sich Lady Lavinia schlaflos von einer Seite auf die andere und fragte sich, was sie nun tun sollte. Laut Graywoods Befehl sollte sie hier ausharren. Sie war zwar kein Angsthase, fand es aber doch ziemlich gruselig, allein mit einem halben Kind in einem so großen Haus zu schlafen. Am liebsten wäre sie abgereist. Aber wohin? Zu ihren Eltern konnte sie nicht. Die würden sie postwendend mit der nächsten Kutsche zurückschicken, wenn sie hörten, was vorgefallen war. Und überhaupt hatte sie kein Geld, um irgendwohin zu reisen. Mit ihren wenigen Ersparnissen, die sie heimlich im Absatz einer ihrer Winterstiefel verborgen hatte, würde sie nicht einmal einen Platz oben auf der Postkutsche bezahlen können. Und für Milly reichte das Geld schon gar nicht. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als hier durchzuhalten und das Beste daraus zu machen.