Leseprobe Das dunkle Verlangen des Marquis

1

Somerset 1822

»Also aussehen tut das Weibstück nicht wie eine Hure.«

Der breite Yorkshire-Akzent des Mannes drang dumpf zu Grace, während sie quälend langsam wieder zu Bewusstsein kam. Ihr war, als würde sie durch den pochenden Schmerz in ihrem Kopf vertraute Geräusche vernehmen.

Wenn sie wieder zu Hause auf dem Hof in Ripon war, warum rumorte ihr Magen dann so fürchterlich? Warum konnte sie ihre Hände und Füße nicht bewegen? Angst ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren und schnürte ihr die Kehle zu.

Erinnere dich, Grace, erinnere dich.

Doch als sie es versuchte, stieß sie nur auf eine beängstigende pechschwarze Leere.

»Natürlich ist sie eine Hure!«, beharrte ein zweiter Mann auf der anderen Seite von ihr. »Was hat sie denn unten am Hafen gemacht, wenn sie keine verdammte Hure ist? Du hast gehört, wie sie nach dem Weg zum Cock and Crown gefragt hat. Was soll sie da anderes gewollt haben, als sich einen feinen Pinkel mit Zaster in den Taschen zu angeln?«

Eine Hure? Die beiden konnten doch unmöglich über sie sprechen. Verwirrung breitete sich in ihrem benebelten Verstand aus. Wie konnte jemand die hoch ehrbare Grace Paget irrtümlich für eine gemeine Dirne halten?

Doch ihr Instinkt hieß sie, ihre Empörung für sich zu behalten. Etwas sagte ihr, dass es überlebenswichtig war, dass diese Furcht einflößenden Unbekannten sie weiterhin bewusstlos wähnten. Sie hielt ihre Augen fest geschlossen, während sie gegen den hämmernden Kopfschmerz ankämpfte, und versuchte, ihren benommenen Verstand in Gang zu bringen.

Unzusammenhängende Einzelheiten, eine verwirrender als die andere, bahnten sich einen Weg in ihr Bewusstsein. Es war Tag. Licht drang durch ihre geschlossenen Lider. Sie war auf eine Art gepolsterten Tisch gefesselt, flach auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt neben dem Körper. Feste Gurte banden ihre Hand- und Fußgelenke, und ein breiterer Riemen spannte sich über ihre Brust und machte ihr das Atmen schwer.

Einen entsetzlichen Moment lang fühlte sich der Riemen erstickend eng an. Grace war ganz schwindelig von dem Mangel an Luft. Schweißperlen traten auf ihre Haut, und sie fröstelte bis ins Mark, obgleich es im Raum nicht kalt war.

Und dennoch blieb sie still und stumm, als wäre sie aus Stein.

Beklemmende Erinnerungsfetzen an Gewalt und Überwältigung trieben nach und nach durch die Übelkeit und die Benommenheit in ihr Bewusstsein. Chaos füllte ihren Kopf. Chaos und übermächtige, brennende Furcht.

Sie kämpfte ihre wachsende Panik nieder und zwang sich, durchzuatmen. Wo war sie? Ihrer Sicht beraubt, konnte sie nur wirre, vereinzelte Eindrücke sammeln. Kein Straßenlärm. Also befand sie sich auf dem Lande. Oder zumindest in einem ruhigen Stadtteil. Der Gestank von ungewaschenen Männern vermischte sich beißend mit einem Windhauch blütengeschwängerter Frühlingsluft.

Der erste Mann schnaubte zweifelnd. »Keine Dirne, die was auf sich gibt, würde in einem so hässlichen alten schwarzen Fetzen herumlaufen. Und sie trägt einen Ehering.«

Sein Kumpan lachte hämisch. »Vielleicht ist sie noch nicht lange im Gewerbe, Filey. Vielleicht ist der Ring Teil ihrer Masche, genau wie ihr affiges Geplapper. Die feinen Pinkel im Cock and Crown mögen so was. Und wenn sie noch frisch ist, umso besser. Lord John hat gesagt, wir sollen unbedingt darauf achten, ihm eine nette saubere Dirne zu besorgen, nicht irgendeine abgehalfterte alte Schlampe.«

Ungläubiges Entsetzen durchflutete Grace. Sie war eine Lady, ihren abgetragenen Kleidern und durchgelaufenen Schuhsohlen zum Trotz. Die Leute behandelten sie mit Respekt und Hochachtung. Kein Mann würde es wagen, der sittsamen Mrs. Paget Geld für ein flottes Schäferstündchen im Gebüsch anzubieten.

Doch wenn diese ungeschlachten Kerle sich die Mühe gemacht hatten, sie zu entführen, dann mussten sie mehr als eine kurze Vögelei im Schilde führen.

Hatten die beiden sie bereits während ihrer Ohnmacht geschändet?

O lieber Gott, ich könnte es nicht ertragen, wenn sie sich an mir vergangen hätten, während ich bewusstlos dalag.

Der schwere Stoff ihres Kleides schien sie in vertrauter Weise ganz zu bedecken. Es ließ sich natürlich nur schwer mit Gewissheit sagen, doch sie schien unversehrt zu sein. Bislang.

Doch was jetzt? Eine albtraumhafte Vision davon, wie diese Kerle wieder und wieder über sie herfielen, schoss ihr durch den Sinn. Augenblicklich stieg säuerliche Galle in ihrer Kehle hoch. Es kostete Grace all ihre Willenskraft, mucksmäuschenstill zu bleiben, obgleich sie mit jeder Faser ihres Wesens darauf brannte, zu schreien und zu kämpfen und sich zur Wehr zu setzen.

So wie sie gekämpft und sich zur Wehr gesetzt hatte, als die beiden sie in Bristol entführt hatten.

O ja, sie erinnerte sich jetzt wieder. An alles.

Cousin Vere hatte angeboten, sie aufzunehmen, um sie vor Not und Elend zu bewahren, doch dann hatte er sie nicht von der Postkutsche abgeholt. Nach stundenlangem Warten hatte Grace sich auf die Suche nach ihm gemacht, denn inzwischen war es dunkel geworden. Sie hatte ihren Cousin nicht gefunden. Stattdessen war sie diesen beiden Teufeln in Menschengestalt über den Weg gelaufen.

Monks und Filey.

Sie waren unverfroren genug gewesen, sich vorzustellen.

Grace versuchte verzweifelt, sich an jene kurze, erschreckende Begegnung im Dunkeln zu erinnern. Sie hatte die beiden vierschrötigen Kerle nach dem Weg gefragt. Eingelullt von ihrem anheimelnden Yorkshire-Akzent hatte sie eingewilligt, sich von ihnen zurück zur Postkutschenstation begleiten zu lassen. Das unbekannte Straßengewirr des Hafenviertels hatte ihr solche Angst gemacht, dass ihr jede Hilfe willkommen war.

Dumm, dumm, dumm.

Sie hatten sich in einer schmalen dunklen Gasse auf sie gestürzt. Filey hatte sie festgehalten, während Monks ihr brutal Laudanum eingeflößt hatte. Fileys widerwärtiger Gestank hing ihr noch immer in der Nase. Und der ekelhafte Gestank wurde jetzt stärker, als der grobschlächtige Kerl näherkam.

»Nu ja, recht frisch sieht sie schon aus. Hübsch genug für den Geschmack des Marquis ist sie auch. Aber ich finde immer noch nicht, dass sie aussieht wie eine Hure.«

Monks schnaubte abfällig. »Egal, sie wird die Hure spielen, bis seine Lordschaft ihrer überdrüssig wird. Ich hoffe nur, dass sie den einen oder anderen Kniff kennt, um einen Mann zu beglücken. Sonst hat er sie schnell über.«

»Wir hätten sie vögeln sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten.« Fileys wehmütiges Bedauern drehte Grace den Magen um.

»Die Wache hätte uns erwischt. Du kommst schon noch an die Reihe, wenn seine Lordschaft mit ihr durch ist. Los jetzt. Die Wirkung des Laudanums wird bald nachlassen. Wenn sie zu sich kommt und deine hässliche Visage sieht, dann ist sie gar gleich in der richtigen Stimmung für den Marquis.«

»Mir egal«, entgegnete Filey. »Sie hat zwei prächtige Titten. Ich wette mit dir, untenrum ist sie sogar noch netter.«

Stinkender, Gin geschwängerter Atem blies Grace ins Gesicht. Raue Hände zerrten an dem züchtigen Ausschnitt ihres Kleides. Entsetzen lähmte sie, als Filey an den Kragenknöpfen riss. Eine fleischige Hand schob sich unter die Kante ihres Schnürleibchens, um grob eine ihrer Brüste zu kneten. In seiner Lüsternheit bemerkte er nicht einmal, dass sich jeder Muskel ihres Körpers vor Ekel verkrampfte.

Ihr Herz raste wie ein schlecht zugerittenes Pferd, dem man die Zügel schießen ließ. Nur mit allerletzter Mühe konnte sie einen Schrei zurückhalten.

Doch sie wagte noch immer nicht, Laut zu geben.

Das konnte alles nicht sein. Das konnte nicht wirklich passieren. Nicht ihr.

»Lass die Finger von der Schlampe, Filey«, knurrte Monks. »Wenn der Marquis dahinterkommt, dass du sie zuerst gevögelt hast, macht er einen Aufstand.«

»Er muss es ja nicht erfahren.« Die klamme Hand drückte ihre Brust brutal zusammen wie eine Schraubzwinge.

Monks schnaubte, offenkundig nicht überzeugt. »Er wird es erfahren, wenn sie es ausplappert. Und ich hab noch nie ein Weibstück gesehen, das die Klappe halten konnte.«

»Ja, ja, du hast schon recht«, gab Filey bedauernd nach. Er quetschte ihre Brust ein letztes Mal, dann nahm er seine Hand weg.

Er hatte sie nur einen Moment lang begrapscht, doch ihr kam es so vor, als hätte er sich stundenlang an ihr vergangen. Sie fühlte sich schmutzig, besudelt.

Es dauerte einen weiteren grauenhaft langen Moment, bis Filey schließlich davonschlurfte. Durch das Rauschen in ihren Ohren hörte Grace gedämpft, wie die Tür zuschlug.

Endlich war sie allein. Sie stieß einen tiefen, schluchzenden Seufzer aus und schlug die Augen auf.

Sie befand sich in einem recht ansprechenden Zimmer mit weißen Wänden und zwei Türen. Die eine davon war geschlossen, und die andere öffnete sich in einen sonnigen Garten. Das Gefühl von Unwirklichkeit, das sie gepackt hielt, verstärkte sich. Sie war doch wohl kaum auf offener Straße entführt und hierhergebracht worden, um irgendwelchen Unbekannten gefügig zu sein.

Die sinnesbetäubende Wirkung des Laudanums ließ langsam nach. Irgendein lasterhafter Aristokrat hatte vor, sie zu schänden, bevor er sie an seine abscheulichen Schergen weitergab.

Sie musste hier entfliehen. Sogleich. Bevor ihre Kerkermeister zurückkehrten. Bevor jener mysteriöse Lord John, der offenkundig eine »nette saubere Dirne« bestellt hatte, kam, um sich anzuschauen, was seine Handlanger ihm zu seinem Vergnügen beschafft hatten.

Das Laudanum benebelte noch immer ihre Sinne, und sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. Sie wünschte sich verzweifelt einen Schluck Wasser.

Nein, sie wünschte sich verzweifelt, sie wäre wieder im Cock and Crown und würde dort auf ihren Cousin Vere warten.

Keuchend und schluchzend begann sie, sich in den Lederfesseln zu winden.

»Das nützt nichts«, sagte eine Männerstimme von der Gartentür, so als wolle der Mann Graces Befürchtungen bestätigen. »Ich sollte es wissen. Ich habe oft genug versucht, diese Fesseln zu sprengen.«

Grace riss ihren Kopf zu ihm herum. Grelles Licht blendete sie. Sie konnte nur vage eine hochgewachsene Gestalt mit breiten Schultern ausmachen.

Doch seine Stimme hörte sie klar und deutlich.

Es war eine tiefe Stimme, voll und geschmeidig wie die Sahne, die sie auf ihrem Bauernhof in Yorkshire von der frisch gemolkenen Milch schöpfte. Jener sonore Bariton ängstigte sie mehr als Monks’ und Fileys zotige Bemerkungen.

Dann wurde ihr bewusst, was er gesagt hatte. »Die haben Sie ebenfalls auf diesen Tisch gebunden?«

Der Mann betrat den Raum. »Selbstverständlich«, sagte er
gleichmütig, so als hätte dieses Eingeständnis keinerlei Bedeutung.

Die goldumrandete Silhouette verwandelte sich in einen Gentleman Mitte zwanzig in einem lose herabhängenden weißen Hemd und einer hellbraunen Hose. Er war über eins achtzig groß und zu hager für seine Größe, obgleich Grace seine körperliche Kraft nicht unterschätzte. Er mochte hager sein, doch er war auch sehnig.

Er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Trotz der Todesangst, die sie empfand, ertappte sie sich dabei, dass sie sich an jeder Einzelheit seiner Erscheinung weidete.

Feines dunkles Haar, das aus einer hohen Stirn zurückgekämmt war. Eine lange, gerade Nase. Scharf geschnittene Wangenknochen, die durch seine Hagerkeit noch mehr vorstanden. Der Blick seiner Augen unter seinen schön geschwungenen dunklen Brauen blieb gesenkt. Er mutete an wie ein Engel, der demütig auf Anweisung von seinem Gott wartete.

Nur dass wohl kein Engel ihren ausgestreckten Leib derart neugierig betrachtet hätte. Sein glühender Blick wanderte ohne Eile an ihrem Körper hinauf, um diesen einer eingehenden Musterung zu unterziehen.

Er hielt bei ihren Brüsten inne, und das Wissen um ihren weit offenstehenden Ausschnitt trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Jeder Muskel verkrampfte sich vor Angst und Ablehnung.

Grace hatte lange genug in Angst gelebt, um zu wissen, dass ihre einzige Chance darin bestand, ihm die Stirn zu bieten. Wütend blitzte sie den Mann an. »Sind Sie Lord John?«

Sein Mund kräuselte sich zu einem humorlosen Lächeln. »Nein. Lord John ist mein Onkel.«

»Wenn Sie nicht Lord John sind, helfen Sie mir dann, bitte? Ihr Onkel hat mich hierherbringen lassen, um …« Ihr fehlten die Worte, obgleich sie bezweifelte, dass irgendeine Beschreibung, die sie wählte, diesen bildschönen, lüsternen Engel bestürzen könnte.

Abermals spielte der Hauch eines Lächelns um seine Lippen. Wie alles an ihm war auch sein Mund perfekt. Breit genug, um ausdrucksvoll zu sein. Eine scharf gezogene Oberlippe. Eine volle, anmutig geschwungene Unterlippe.

»Um sich mit Ihnen zu vergnügen?« Ironie färbte seine Stimme dunkler, als er diese harmlose Beschreibung für etwas wählte, das keineswegs unschuldig war, wie sie beide nur zu gut wussten. Er trat näher, und sein Schatten fiel auf sie. Grace kämpfte gegen eine weitere Woge der Panik an.

Ihre Finger ballten sich unter den engen Riemen zu Fäusten. »Ja. Sie müssen mir helfen, hier zu entfliehen.«

»Muss ich das?« Der junge Mann streckte seine feingliedrige Hand aus und streichelte ihre Wange. Seine Finger waren kühl, doch Grace riss ihren Kopf zurück, als hätte sie sich verbrüht. Er ergriff ihr Kinn und hielt es fest, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. »Hmmm. Hübsch.«

Er versetzte sie in Todesangst, doch er war ihre einzige Hoffnung auf Flucht, bevor der unbekannte Lord John kam.

Sie zwang sich, ihren Tonfall unterwürfig zu halten. »Bitte, Sir. Bitte helfen Sie mir.«

Sie hatte ihre Augen geschlossen. Dennoch wusste sie genau, dass abermals jenes flüchtige Lächeln um seine Mundwinkel spielte und dann verschwand.

»Besser. Viel besser.«

Das Ungeheuer spielte mit ihr. Er hatte von Anfang an mit ihr gespielt. Sie schluckte nervös. »Ich appelliere an Ihre Ehre, Sir. Sie können nicht …« Nein, hartnäckiges Beharren hatte nicht gewirkt. »Ich flehe Sie um Ihre Hilfe an.«

»Ah, ich wusste, dass Sie den richtigen Ton treffen würden. Ich bin gerührt, Madam. Das leichte Brechen der Stimme war eine Glanzleistung. Wirklich ausgezeichnet.«

Sie riss ihre Augen auf. Wie seltsam, gleichzeitig so wütend und so verängstigt zu sein. »Ich verwehre mich gegen Ihren Ton, Sir. Sie reden, als wäre ich eine … eine Schauspielerin, die für eine Rolle vorspricht.«

»Tue ich das?«, entgegnete er schroff. Er ließ ruckartig ihr Kinn los, so als wäre es ihm zuwider, sie zu berühren. »Wie nachlässig von mir, wo es doch offensichtlich ist, dass Ihnen die Rolle längst zugesprochen ist.«

Er kehrte ihr mit einer solchen Abruptheit den Rücken, dass es Grace trotz ihrer Angst nicht entging. Obgleich sie noch während sie die Worte aussprach wusste, dass diese auf taube Ohren stoßen würden, wagte Grace doch einen letzten Versuch, diesen sonderbaren jungen Mann zu bewegen, ihr zu helfen. »Ihr Onkel beabsichtigt, mich zu schänden. Sie können mich nicht einfach diesem Schicksal überlassen.«

Er drehte sich wieder zu ihr um, doch sein Gesicht war eine Maske vornehmer Verachtung. »Ihre Verwirrung ist charmant, Madam. Und beinahe überzeugend. Aber wir wissen beide, dass Sie zu meinem Pläsier hier sind, nicht zu dem meines Onkels. Wenn man einmal davon absieht, dass Sie ihm als Handlangerin dienen.«

Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. »Sie müssen verrückt sein.«

Er stieß ein kurzes, grimmiges Lachen aus und sah ihr zum ersten Mal ins Gesicht. Er hatte tiefbraune Augen, die von strahlendem Gold durchzogen waren. Wunderschöne, ungewöhnliche Augen, kälter als alles, was Grace je gesehen hatte.

Er sprach ganz leise, während er sie mit jenen seltsam gesprenkelten Augen durchdringend anstarrte. »Aber natürlich bin ich das. Unwiderlegbar und unheilbar verrückt.«

2

Der Teufel sollte seinen Onkel holen. Zur Hölle mit ihm, fluchte Matthew im Stillen.

Verzweiflung durchflutete sein Herz, während er auf die junge Frau schaute, die wie ein verdammtes heidnisches Opfer auf den Tisch gefesselt war. Irgendwie war es Lord John gelungen, in die geheimsten Winkel seiner Seele einzudringen und die dort verborgenen Sehnsüchte ausfindig zu machen. Aus diesen Sehnsüchten hatte er eine Frau aus Mondschein und Dunkelheit geschaffen. Eine Frau, die die Erfüllung jedes einsamen Traums war, der Matthew je heimgesucht hatte.

Wie zum Teufel hatte sein Onkel das gewusst?

Und wenn er so viel wusste, hatte Matthew dann auch nur den Hauch einer Chance, ihn zu besiegen?

Der verängstigte Blick des Weibsbilds, dunkelblau hinter einem dichten Fächer schwarzer Wimpern, war starr auf ihn gerichtet. Was immer sie ihm vorspielen mochte, er war bereit, gutes Geld – wenn er denn welches hätte – darauf zu verwetten, dass ihre Angst echt war.

Er wollte, dass sie Angst hatte. Angst würde sie aus der Fassung bringen. Wenn sie aus der Fassung war, würde sie eher Fehler begehen. Zu viele Fehler, und Lord John würde sich ihrer entledigen.

Wenn Matthew sich auf irgendetwas verlassen konnte, dann auf die grenzenlose Gewissenlosigkeit seines Onkels.

Die Frau schluckte, und unwillkürlich wurde seine Aufmerksamkeit von der Bewegung jenes schlanken weißen Halses gebannt: Dann wanderte sein Blick tiefer. Der Kragen ihres Kleides war gekonnt aufgeknöpft, so dass er die Wölbung ihres Busens und die weiße Kante ihres Unterkleides entblößte. Seine Hände ballten sich neben seinem Körper zu Fäusten.

O ja, er musste sie loswerden. Und zwar schnell.

»Sie …« Ihre heisere Stimme versagte. Ihr seltsam gebieterisches Gehabe war verflogen. »Sie machen Scherze, Sir.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Mitnichten, Madam.«

Das Lächeln vermochte nicht, sie zu beruhigen. Es war auch nicht dazu gedacht.

»Ich nehme an, es würde mir nichts nützen zu schreien.« Wie so vieles an ihr, war auch der Klang ihrer Stimme unerwartet. Ihre Stimme war tief und weich genug, um ihren geschliffenen Oberklassenakzent in Musik zu verwandeln.

»Nun, Sie können es gern versuchen«, erwiderte er gelassen. »Ich persönlich fand es nie sonderlich hilfreich. Sie haben bereits meine Aufmerksamkeit, und Monks und Filey werden Anweisung haben, dafür zu sorgen, dass wir ungestört bleiben. Ich vermute, wenn überhaupt, würde den beiden Geschrei von Ihnen nur eine gewisse flüchtige Befriedigung verschaffen.«

»In dem Fall verzichte ich darauf.« Der letzte Hauch von Farbe, der noch auf ihren Wangen verblieben war, wich nun auch, so dass ihre Haut weiß wie Elfenbein schimmerte.

»Eine kluge Entscheidung.« Er neigte leicht den Kopf, so als würde er einen Treffer bei einem Fechtkampf anerkennen.

Sie war Welten entfernt von dem, was er sich vorgestellt hatte, als sein Onkel zum ersten Mal diesen abscheulichen Plan zur Sprache brachte. Lord John hatte angeboten, ihm eine Dirne zu beschaffen, mit der er sich die Zeit vertreiben konnte. Matthew hatte sich eine altgediente, hartgesottene Hure vorgestellt. So verzweifelt er auch sein mochte – und die Verzweiflung drang ihm förmlich aus allen Poren –, war er doch gewiss gewesen, selbst den abgeschmacktesten Umgarnungsversuchen einer gemeinen Dirne widerstehen zu können.

Sein Hochmut war verfehlt gewesen: Lord John war ein gerissener Mann und hatte sich nicht zu derartigen Plumpheiten verleiten lassen.

Stattdessen hatte sein Onkel … Perfektion gefunden. O Gott, er konnte nicht bleiben, festgehalten von der Macht flehender kobaltblauer Augen. Er stürzte zur Tür.

»Bleiben Sie! Bitte.« Die Panik in ihrer Stimme war unmissverständlich. »Lassen Sie mich hier nicht allein. Binden Sie mich wenigstens los, ich flehe Sie an.«

Er riss den Kopf zu ihr herum. »Ich glaube, es ist zu meinem Vorteil, dass Sie gefesselt bleiben.«

Um sie loszubinden, müsste er sie berühren. Die Erinnerung an ihre seidige Wange unter seinen Fingern brannte noch immer wie Säure, so flüchtig die spöttische Berührung auch gewesen war.

»Bitte, ich … ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Sie holte stockend Luft, und der Atemzug hob ihre prallrunden, verlockenden Brüste und drückte sie gegen den aufgeknöpften Ausschnitt ihres ausgeblichenen schwarzen Kleides. Es ärgerte ihn, dass er es bemerkte.

»Versuchen Sie nicht, mich mit Ihren Listen zu übertölpeln«, fauchte er.

»Nein. Ich meine es ernst«, presste sie hervor und schluckte schwer.

Um ehrlich zu sein, die Alabasterhaut des Weibsbilds hatte tatsächlich eine erschreckend grüne Färbung angenommen. Sie hatte ihre Augen fest zugekniffen, und die Haut darunter war dunkel geädert.

Matthew stockte. Vielleicht war es keine List.

Widerstrebend ging er zu dem verfluchten Tisch, auf dem er so viele grausame Stunden zugebracht hatte, auch wenn er sich dabei für seine weichherzige Leichtgläubigkeit schalt. Diese Metze war sein Feind und steckte mit all seinen anderen Feinden unter einer Decke.

Doch selbst während ihm diese Litanei im Kopf herumging, löste er flink die Riemen, mit denen sie gefesselt war. Sobald sie befreit war, setzte sie sich auf.

»Sir, ich fürchte, ich …«

Ja, ihre aschfahle Haut schimmerte eindeutig grünlich; ihre Übelkeit war echt. Er schaute sich im Zimmer um, bis er fand, wonach er suchte, zum Glück nur eine Armeslänge entfernt.

»Hier.« Er drückte eine große blau-weiße Schüssel in ihre zitternden Hände.

Sie murmelte etwas, das ein Dankeschön sein mochte, doch dann beugte sie auch schon ihren Kopf über die Schüssel und übergab sich würgend. Ihr körperliches Elend weckte widerwilliges Mitgefühl in ihm, auch wenn er genau wusste, was sie war. Als sich ihr Magen endlich wieder beruhigte, setzte er sich neben sie und legte seinen Arm um sie, um sie aufrecht zu halten.

Er versuchte, die Wärme und Weichheit ihres weiblichen Körpers zu ignorieren, doch es war unmöglich. Sie lehnte wie angegossen an seiner Seite. Seine Hand schmiegte sich instinktiv an ihre Rundungen, die so ganz anders als die harte, männliche Kantigkeit seines eigenen Körpers waren. Das tief offenstehende V ihres aufgeknöpften Mieders offenbarte einen flüchtigen Einblick auf ihre Brüste. Ein schlauer Einfall, dachte er verdrossen, und versuchte, den Drang, mehr sehen zu wollen, zu unterdrücken.

Sie zitterte am ganzen Leib und legte in einer Geste tiefster Erschöpfung ihren Kopf an seine Schulter. Ihre aufgesteckten Zöpfe waren im Begriff, sich aufzulösen, und seidige Strähnen kitzelten seine Wange.

»Ruhen Sie sich einen Moment aus«, murmelte er in ihr zerzaustes schwarzes Haar.

Er nahm ihr behutsam die Schüssel aus der Hand und stellte sie neben sich auf den Tisch. Sie hatte nicht viel erbrochen. Vermutlich hatte sie einen leeren Magen. Der Körper, den er so widerwillig in seinem Arm hielt, war jedenfalls so mager, dass es schon an Auszehrung grenzte. Sie mutete zart und verletzlich an, so als könnte der leiseste Druck sie zerbrechen.

»Es muss von dem Laudanum kommen, das sie mir gestern Abend eingeflößt haben«, hauchte sie. »Das ist mir noch nie bekommen.«

Laudanum? Das Wort, mit seiner Andeutung von Zwang, setzte sich als Frage in seinem Hinterkopf fest. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit wieder zu der jungen Frau zurück, die schlaff in seinem Arm lag. Er wandte den Kopf so, dass er ihre glatte, anmutige Stirn und ihre gerade, bemerkenswert aristokratische Nase sehen konnte. Die Frau war wunderschön. Das hatte er auf den ersten Blick erkannt.

Erkannt und vehement verschmäht.

Das ovale Antlitz mit den reizvoll hohen Wangenknochen erinnerte ihn an Radierungen von italienischen Madonnen, die er gesehen hatte. Sein Onkel hatte ihn großzügig mit Büchern versorgt, um ihn für die grand tour zu entschädigen, jene traditionelle Bildungsreise aller jungen Männer von Stand durch die europäischen Metropolen, die er nie unternehmen würde.

Sein Blick blieb wie gebannt an ihrem sinnlichen Mund hängen, der inzwischen wieder leichte Farbe angenommen hatte. Die vollen Lippen straften den Eindruck reiner Unschuld Lügen. Dieser Mund weckte selbst in einem armseligen Hampelmann wie Matthew sündige Träume.

Oh, sie verstand sich wahrlich auf das Becircen. Binnen weniger Augenblicke hatte sie ihn um den Finger gewickelt. Sein Onkel hatte sie wirklich gut instruiert. Obgleich es Matthew ein Rätsel war, warum eine Frau mit ihrem Aussehen und schauspielerischen Talent sich als Hure für einen Wahnsinnigen verdingen sollte.

Wenn er es nicht besser wüsste, wäre er auf ihre vorgebliche Verletzlichkeit und schwer erkämpfte Tapferkeit im Angesicht übermächtiger Angst hereingefallen. Die Spielleitung jedes Theaters würde gutes Geld für jemanden mit ihrer Begabung zahlen. Jeder lüsterne Adelige würde gutes Geld für ihre anderen Talente zahlen.

Schlagartig fühlte er sich von seinem Mitleid beschmutzt.

Sie nestelte unbeholfen in ihren Röcken – auf der Suche nach einem Taschentuch, vermutete er. Er unterdrückte einen weiteren Fluch und hielt ihr sein eigenes hin. »Hier.«

»Danke schön.« Sie wischte sich mit zitternder Hand den Mund,

»Können Sie jetzt ohne Hilfe aufrecht sitzen?«, fragte er bitter, und diesmal war es ihm egal, ob seine wahren Gefühle unverhohlen zutage traten. Er war entschlossen, kühl und distanziert zu bleiben, doch manches überstieg die Kraft eines bloßen Sterblichen. Er lebte seit Jahren in Zorn, doch diese grausame Farce brachte seine Rage zum Überkochen.

»Ja, ich denke schon.« Vorsichtig richtete sie sich auf.

Augenblicklich vermisste er ihre Wärme und ihren lockenden weiblichen Duft. Sie roch nach Sonnenschein und Staub und einem Hauch von Lavendelseife. Ein weiterer gekonnter Zug. Diese Hure hüllte sich nicht in die berauschenden Düfte des Orients, um die Männer zu betören. Stattdessen roch sie frisch und natürlich und echt. Welche Ironie, wenn man bedachte, dass sie die Falschheit in Person war.

Sie klammerte haltsuchend die Finger an die Tischkante. Er war ihr nah genug, um zu sehen, dass sie am ganzen Leib wie Espenlaub zitterte, und musste mit aller Kraft den Drang bezähmen, ihr seine helfende Hand hinzustrecken.

Wieder einmal verfluchte er im Stillen seinen Onkel, vergeblich, wie immer.

Selbst als Knabe hatte Matthew kein krankes oder verletztes Tier sehen können, ohne ihm sofort helfen zu wollen. Lord John musste beschlossen haben, diese Schwäche seines Neffen auszunutzen, um ihn damit zu vernichten. Jenes verhängnisvolle Mitgefühl für die Tapferen, die Verletzten, die Sanftmütigen sollte sein Untergang werden.

Zum ersten Mal, seit er sie befreit hatte, blickte ihm die junge Frau ins Gesicht. Das Laudanum hatte ihre Pupillen zu schwarzen Punkten zusammenschrumpfen lassen, was ihre Iris in einem unglaublichen Blau erstrahlen ließ.

Ein gelungener Einfall, Onkel, dachte er grimmig. Sie zu betäuben, verstärkte die Illusion des hilflosen Opfers. Er durfte nie vergessen, dass die verletzliche Tapferkeit dieser
Frau nur gespielt war.

»Bitte verzeihen Sie mir, Sir. Ich habe Ihnen Ungelegenheiten bereitet und mich zutiefst blamiert.«

Und wieder dieses seltsam manierliche Benehmen. Ihre Verlegenheit über den Verlust ihrer Contenance geziemte einer feinen Lady. Er hätte ihr sagen können, dass sie nur ihre Zeit verschwendete, er wusste genau, was sie war. Sein Onkel hatte ihm eine Dirne versprochen. Und eine Dirne war sie, ohne jeden Zweifel.

Er zuckte die Achseln, ungerührt von ihrer Übelkeit. »Es macht nichts.«

Welches Recht hatte er, zimperlich zu sein? Während seiner Anfälle hatte auch er die Kontrolle über seine Körperfunktionen verloren. Weshalb sonst stand jene Schüssel direkt neben dem Tisch, auf den sie ihn so oft gefesselt hatten? Obgleich er, Gott sei Dank, dieser speziellen Behandlung schon seit Langem nicht mehr bedurft hatte.

Sie warf ihm einen verunsicherten Blick zu, die Augen halb verborgen unter jenen sündhaft dichten Wimpern. »Nun, Sie waren sehr liebenswürdig zu mir. Dafür danke ich Ihnen.«

Er musste den vermaledeiten Zauber brechen, mit dem sie ihn becircte. Sie im Arm zu halten, war zu süß gewesen. Natürlich konnte er zu seiner Entschuldigung anführen, dass es schon Jahre her war, seit er Trost empfangen oder gespendet hatte. Dieser perfide Genuss war nichts weiter als ein rein animalischer Trieb und hatte nichts mit der tatsächlichen Frau neben ihm zu tun.

Oder zumindest versuchte er, sich das einzureden.

»Ich bin vieles, Madam«, erklärte er kühl und stand auf. »Liebenswürdig bin ich jedoch nicht.«

Er sah, wie ihre Züge entgleisten. Ihre körperlichen Beschwerden hatten kurzfristig ihre Furcht verdrängt, doch jetzt brach sich die Angst von neuem Bahn, als die Frau sich daran erinnerte, dass sie mit einem selbst erklärten Wahnsinnigen allein war. Ihre zitternden Hände fuhren an ihren Hals und hielten ihren auseinanderklaffenden Ausschnitt zusammen.

Was für eine Bravourleistung. Was hatte eine begnadete Schauspielerin wie sie im dunkelsten Somerset verloren? Sie sollte vor ausverkauftem Haus im Drury-Lane-Theater auftreten.

»Ich muss hier weg«, murmelte sie, mehr zu sich selbst denn an ihn gerichtet, wie es ihm vorkam. Sie erhob sich und wich auf wackeligen Beinen Richtung Tür zurück. Matthews Taschentuch flatterte zu Boden und lag dort wie eine verlorene weiße Fahne der Kapitulation.

»Es gibt kein Entkommen«, erklärte er sanft. Oh, sie war wirklich gut, aber ihn konnte sie nicht an der Nase herumführen. »Das Anwesen ist von einer Mauer umschlossen. Filey und Monks bewachen das einzige Tor. Und ich bezweifle, dass mein Onkel bereit wäre, Ihr Engagement so früh in der Spielzeit zu beenden.«

Sie runzelte die Stirn, als würde sie seine Worte nicht verstehen. Ihre wunderschönen Augen waren glasig. Ihr unsicherer Gang wurde zu einem deutlichen Schwanken. Einem beunruhigenden Schwanken.

»Himmelherrgott!«, entfuhr es ihm, als sie zusammenbrach.

Er stürzte zu ihr und fing sie auf, bevor sie zu Boden fiel. Sogleich umhüllte der betörende und so unpassend unschuldige Duft von Sonnenschein und Seife von Neuem seine Sinne.

»Sir, würden Sie sich bitte mit Ihrer Ausdrucksweise zurückhalten?«, hauchte sie. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, sodass ihr Atem über die Haut seines Halses strich und sein Blut derart in Wallung brachte, dass er einen Moment
brauchte, bis ihm bewusst wurde, was sie gesagt hatte.

Er stieß ein ungläubiges Lachen aus. Herrgott noch mal, sie hatte wirklich dringendere Sorgen als sein Benehmen. Nichtsdestotrotz hielt er sie sehr behutsam, als er sie auf seine Arme nahm und in den Salon trug.

»Ich bestehe darauf, dass Sie mich auf der Stelle loslassen«, verlangte sie in erbärmlich hilflosem Ton.

»Wenn ich Sie losließe, würden Sie nur hinfallen.«

Er erwartete Widerspruch, doch es kam keiner. Offenbar war sie am Ende Ihrer Kräfte.

Das vergangene Jahr hatte sehr an ihm gezehrt, und er war nicht mehr so kräftig wie zuvor, doch ihr Federgewicht bereitete ihm keine Mühe. Abermals bemerkte er die unverkennbaren Anzeichen von Entbehrung. Das altmodische Kleid. Die Magerkeit. Selbst ihre Schuhe waren abgewetzt und das Leder spröde.

Er rückte sie bequemer auf seinem Arm zurecht und ignorierte dabei stoisch den sanften Druck ihres Busens gegen seine Brust. Sie mochte so zart und leicht wie ein Geist sein, doch ihm war nicht entgangen, dass sie ein weiblicher Geist war.

Er schubste das aufgeschlagene Buch, das er dort zurückgelassen hatte, von dem Sofa neben dem ausgefegten Kamin und legte die Frau auf die Polster. »Lehnen Sie sich zurück«, wies er sie mit sanfter Stimme an und schob ein rotes Samtkissen unter ihren zerzausten schwarzen Haarschopf.

Sie versuchte, vor ihm zurückzuweichen, war jedoch zu schwach dafür. Ihr makelloses Profil zeichnete sich asketisch scharf geschnitten vor dem kostbaren Bezug des Sofas ab. Ihre Schönheit ließ ihm den Atem stocken.

»Rühren Sie mich nicht an.« Sie kniff ihre Augen fest zu, und eine Träne kullerte über ihre Wange.

Ihr Grauen und ihr Kummer rührten sein Mitleid so stark, dass es ihn große Mühe kostete, mit Verachtung zu ihr zu sprechen. »Keine Sorge, für den Moment sind Sie sicher.« Dann wurde sein Ton schärfer, denn sie war sein Feind, so lieblich und verletzlich sie auch wirken mochte, und er fügte hinzu: »Sie könnten sich nicht gegen mich wehren, selbst wenn Sie es wollten.«

Ihre kobaltblauen Augen sahen ihn erschreckt an. Er hielt sein Gesicht ausdruckslos, während er sich zur Anrichte wandte, um ihr einen Brandy einzuschenken.

Er kehrte zum Sofa zurück und hielt ihr das kleine Kristallglas hin. Die junge Frau hatte kaum genug Kraft, um ihren Kopf zu heben. Sie zitterte am ganzen Leib, und er konnte jeden ihrer gepressten Atemzüge hören.

»Gütiger Gott«, entfuhr es ihm, und er beugte sich vor, um sie zu stützen, während sie trank.

Sie bedachte ihn mit einem tadelnden Blick, verzichtete aber darauf, ihn abermals zu rügen. Stattdessen nippte sie an dem Brandy und verschluckte sich sogleich prustend.

Er fluchte und zog sie an sich, damit sie wieder zu Atem kommen konnte. Sein Onkel wäre stolz wie ein Pfau, wäre er jetzt hier. Matthew hatte geschworen, dass er niemals Hand an irgendeine Frau legen würde, die Lord John für ihn fand, und doch umhegte und pflegte er dieses hinterhältige Luder, als wäre sie eine sieche Prinzessin. Es hatte das Weibstück bloße Minuten gekostet, ihn zu umgarnen.

Ihre Durchtriebenheit war wahrlich bewundernswert.

Ach, sei ehrlich, schalt er sich höhnisch. Bis jetzt hast du alles an ihr bewundert, abgesehen von der Tatsache, dass sie auf Lord Johns Seite ist und nicht auf deiner.

»Trinken Sie, verdammt noch mal«, knurrte er. Er griff nach dem Glas, das ihr jeden Moment aus den Fingern zu gleiten drohte, und hielt es an ihre blutleeren Lippen.

»Wie könnte ich mich einer solch höflichen Bitte widersetzen?«, gab sie atemlos zurück, dann trank sie mehrere kleine Schlucke.

Er musste ein Schmunzeln unterdrücken, während er der wachsenden Liste der Dinge, die er an ihr bewunderte, Courage hinzufügte. »Ganz wie Madam wünschen. Ich bin Ihr untertänigster Diener.«

Ihre angespannten Züge erhellten sich nicht. Matthew wurde unvermittelt von dem brennenden Bedürfnis gepackt, sie lächeln zu sehen, ein Drang, den er im Keim erstickte.

Was kümmerte ihn das Lächeln einer Hure? Sie hatte ihm schon genug zu schaffen gemacht, als sie am Rande des Zusammenbruchs stand. Er stellte das Brandyglas wieder zurück auf die Anrichte und füllte ein weiteres Glas mit Wasser aus einem Krug.

»Danke schön«, sagte sie auf ihre so seltsam vornehme Art.

Er stand auf und musterte sie, während sie trank. Einer ihrer Gönner musste den Dünkel gehabt haben, zu Höherem geboren zu sein. Oder vielleicht war sie eine zügellose Tochter aus gutem Hause. Ihre Stimme besaß den geschliffenen Akzent der gehobenen Klassen, und sie wusste sich sehr manierlich zu benehmen.

Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück. Die Versuchung, sie abermals in seine Arme zu schließen, war schier überwältigend. Nur um sie zu trösten und zu stützen, versicherte er sich verzweifelt. Obgleich ihm, als er sie zuvor im Arm gehalten hatte, keineswegs ihre entzückend schmale Taille, die anmutige Rundung ihrer Hüfte oder ihre festen, runden Brüste entgangen waren. Und ihr vermaledeiter betörender Duft, der ihn einhüllte und verlockte.

Er betrachtete sie mit einer Mischung aus hilflosem Staunen und glühender Ablehnung. Er wollte sie verfluchen und beschimpfen. Er wollte zetern und wüten und alles im Zimmer in Stücke schlagen, wie es dem Wahnsinnigen, der er angeblich war, anstand.

Stattdessen fragte er sie: »Haben Sie Hunger?«

Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein, als würde die Luft selbst ihr Nahrung spenden. Das Heben und Senken ihrer Brüste lenkte das Augenmerk noch mehr darauf, wie wohlgeformt diese waren. Ihr Busen war zwar nicht groß, doch an einer so extrem mageren Frau wie ihr wirkte er erstaunlich üppig. Matthews Finger ballten sich unwillkürlich, als würde er bereits ihre Formen erkunden.

»Madam, wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?«, fragte
er nachdrücklicher.

Sie erwachte aus ihrem ruhelosen Dämmerzustand. »Ich hatte Käse und einen Kanten Brot zum Frühstück gestern«, antwortete sie matt.

»Ich hole Ihnen etwas«, sagte er. Er war erleichterter, als er sich eingestehen mochte, dass er nun einen triftigen Vorwand hatte, ihre Gegenwart zu fliehen. Diese beschämende Erleichterung war ein anschaulicher Beweis, wie gefährlich sie war.

Er war ein Mann von unbeugsamer Willenskraft. Seine Willenskraft war das Einzige, was ihn am Leben erhielt. Doch eine bloße halbe Stunde in ihrer Gesellschaft drohte, ihn zu ihrem Schoßhund zu machen. Und sie hatte noch nicht einmal begonnen, ihre Verführungskünste einzusetzen. Ihre Unpässlichkeit hatte sie davon abgehalten.

Gott stehe ihm bei, wenn sie wieder bei Kräften war. Sie würde ihn binnen fünf Minuten in die Knie zwingen.

Nein, verdammt noch mal, sie würde nicht gewinnen.

Er hatte all diese Jahre gegen seinen Onkel gekämpft und nicht aufgegeben. Ein zartes Frauenzimmer würde ihn erst recht nicht besiegen.

Doch erst als er in die Küche ging, konnte er wieder frei atmen. Es war der erste entspannte Atemzug, seit er sie entdeckt hatte.

 

»Es ist wieder Brot und Käse. Die Speisekammer hatte nicht viel zu bieten.« Er manövrierte das schwer beladene Tablett durch die Tür. Die junge Frau antwortete nicht. Er nahm an, dass sie schlief. Sie hatte völlig erschöpft gewirkt. Leise kam er um das Ende des Sofas herum.

Seine Rücksicht war umsonst. Das Sofa war leer.

Wütend stellte er das Tablett auf der Anrichte ab. Die Metze war also davongelaufen. Das Anwesen bot kein Entkommen, das wusste er nach seinen jahrelangen Fluchtversuchen nur zu gut.

Sie hatte offensichtlich entschieden, dass keine noch so hohe Summe sie dafür entschädigte, das Bett mit einem Irren zu teilen.

Er konnte es ihr nicht übelnehmen. Der Auftrag hatte wahrscheinlich verlockend geklungen, als sein Onkel ihn ihr unterbreitet hatte. Matthew wusste, wie überzeugend sein Vormund sein konnte, wenn er seinen Charme spielen ließ, um jemanden für sich einzunehmen oder auszunutzen. Für sich einnehmen und ausnutzen, dachte Matthew mit einem bitteren Lachen. Für John Lansdowne war es ein und dasselbe.

Nun, sollte sie ruhig versuchen, fortzulaufen. Sie würde schon bald müde werden und zurückkommen. Selbst wenn nicht, bedeutete es ihm nichts. Er war fest entschlossen, sich ihrer lästigen Gegenwart zu entledigen. Er sollte froh sein, dass er sein Ziel so leicht erreicht hatte.

Froh? Er sollte Halleluja singen, verdammt noch mal.

Sie war zu Monks und Filey geflüchtet; die beiden würden sie dorthin zurückbringen, wo sie sie gefunden hatten, und diese geschmacklose Farce hätte endlich ein Ende.

Nur dass Monks und Filey sich große Mühe gemacht hatten, die Dirne zu beschaffen. Es würde ihnen nicht gefallen, wenn sie erführen, dass sie es sich anders überlegt hatte. Und wenn ihnen etwas nicht gefiel, dann waren sie sehr einfallsreich darin, ihrem Missmut Ausdruck zu verleihen. Matthew trug die Narben von den Gelegenheiten, wenn ihr Einfallsreichtum selbst das übliche haltlose Maß überschritten hatte.

Die Frau war ihnen schutzlos ausgeliefert.

Die Frau war hier, um ihn auszuspionieren.

Er bückte sich und hob sein Buch auf. Sie hatte sich in die Ränke seines Onkels verwickeln lassen. Was immer mit ihr geschah, sie hatte es verdient.

Doch während er sich hinsetzte und die Stelle im Buch wiederfand, an der er aufgehört hatte zu lesen, war er mit seinen Gedanken nicht bei der wissenschaftlichen Abhandlung in hochgelehrtem Latein, sondern bei großen dunkelblauen Augen, die ihn stumm um Hilfe anflehten.

Er sollte sie ihrem Schicksal überlassen, doch sie wäre den Schergen seines Onkels schutzlos ausgeliefert.

»Himmelherrgott noch eins«, entfuhr es ihm, und er schlug das Buch mit einem Knall zu.

Unvermittelt übermannte ihn die gallige Erinnerung an ihre Missbilligung seiner unflätigen Ausdrucksweise.

Das Frauenzimmer hatte Mut, aber Mut würde sie nicht vor ihren Kerkermeistern retten. Matthew war sich bewusst, dass er sich zum Narren machte, doch er konnte nicht anders. Er sprang auf und machte sich auf die Suche nach seiner merkwürdigen Hure.