Leseprobe Das dunkle Herz des Highlanders

Kapitel 1

Das Jahr des Herrn 1491 – St. Marys Abbey, England

Die Grabmarkierung war aus Bruchstein. Der Stein stand leicht schief, war am oberen Ende abgerundet und mit graugrünen Flechten überwachsen, die einen Schatten auf der Oberfläche hinterließen, wie der ungepflegte Bart im zerfurchten Gesicht eines Kriegers. 

Der Grabstein daneben unterschied sich kaum vom ersten. Obwohl Leith Forbes die Inschrift nicht lesen musste, tat er es trotzdem und fühlte den dumpfen Schmerz bei dem Wissen, dass das Kind gestorben war.

Er berührte kurz die eingeritzten Wörter, sein Kiefer spannte sich an, er stieß die Luft aus und ließ sich auf die Fersen sinken. Er hatte einen langen und verworrenen Weg hinter sich gebracht, um zu diesem Ort zu kommen, hatte seine Angehörigen verlassen und sein Zuhause, für eine Suche, die ihm nur den Anblick dieses verwitterten Grabsteins und die mitfühlenden Worte einer heiligen Frau gebracht hatten.

Leiths Hände umklammerten den kleinen Tartan, den die Äbtissin ihm gegeben hatte.

Für Sie“, hatte sie einfach gesagt. „Vielleicht kann er den Kummer Ihres alten Lords etwas lindern.

Aber das konnte er natürlich nicht. Nur das Mädchen hätte seine Qualen erleichtern können – nur das Mädchen, lebendig und unversehrt.

Leith grub seine Finger in die weiche Säuglingsdecke. Sie hatte ein rotblaues Schottenmuster und war kaum größer als Beinns Sattel. In der Decke lag die Brosche mit dem Amethysten, der zwischen dem unverkennbaren, doppelt verschlungenen Wappenband des MacAulay Clans eingelassen war.

Es war die Brosche, die der alte MacAulay seiner liebreizenden, englischen Braut gegeben hatten. Die Brosche, die sie mit sich genommen hatte, als sie mit ihrem Säugling aus Schottland geflohen war. 

Ein einzelnes Schimpfwort rutschte über Leiths Lippen. Er stand abrupt auf. Vielleicht war es ungehörig, auf dieser geheiligten Erde zu fluchen. Aber bei Gott, er hatte viel durchgemacht – nur um feststellen zu müssen, dass beide, Mutter und Kind, siebzehn Jahre zuvor gestorben waren, vor dem ersten Geburtstag des Mädchens. 

„Verdammt! Zur Hölle!“ Er ballte wieder die Fäuste. „Verflucht sei Elizabeth MacAulay,“ fluchte er leise, dann rieb er sich mit einer Hand über die Augen, die vor Ernüchterung schmerzhaft brannten.

Steif drehte er sich um und ging einige Schritte.

Blaublühende Glockenblumen wuchsen in verstreuten Grüppchen, er schritt zum nächstgelegenen, pflückte ein paar, hielt sie in den verhornten Händen, und starrte auf ihre unangebrachte Fröhlichkeit.

Verflucht sei Ian MacAulay, der gerissene, alte Bastard, der ihn auf diese Reise geschickt hatte und ihm sowohl die eigene Tochter zur Frau versprochen hatte als auch Frieden zwischen den Clans. Verdammtes heißes, schottisches Blut, das in den Adern seiner Leute floss.

Und verdammt sei er selbst, dass er sie alle im Stich gelassen hatte!

Er ging langsam zurück zum Grab des Kindes und kniete nieder. Behutsam legte er die Blumen auf den moosigen Stein.

„Ich kann dir nicht die Schuld für deinen Tod geben, Kleine“, murmelte er zerknirscht. „Aber ich wünschte, du hättest überlebt.“ Für einen Moment sanken seine Schultern unter dem schweren Gewicht der Verantwortung herab. „Unter uns“, fügte er hinzu und berührte den Grabstein ehrfürchtig, „wir hätten deinen Vater gut ärgern können.“

Er verweilte noch ein wenig, stand dann aber auf. Wem half es, wenn er um ein Kind trauerte, das vor langer Zeit gestorben war. Ein Kind, das er nie kennengelernt hatte. Und trotzdem schmerzte der Gedanke in seiner Seele, dass ein gebürtiger Schotte so fern von der Heimat gestorben war. Niemand sollte solch ein Schicksal erleiden.

Aber er sollte auch nicht länger hier verweilen. England hieß seine schottischen Nachbarn wahrlich nicht mit offenen Armen willkommen. Auch trotz der Bemühungen von König James IV um Frieden zwischen den zwei Ländern, war es nicht sicher. James war ein neuer König, ein besserer König, der darum bemüht war, das Leben seiner Landsleute zu verbessern – sogar das der Highlander. Er sprach Gälisch, eine Tatsache, die ihn von den vorherigen Monarchen unterschied, eine Tatsache, die Leith hoffen ließ, dass die Zeit gekommen war, den Frieden durchzusetzen, sich mit dem König zusammenzuschließen und selbst eine Veränderung im Highland-Clan herbeizuführen.

Als er den Blick vom Grab abwandte, bemerkte Leith den rosa gefleckten Himmel am westlichen Horizont. Es würde nur noch wenig Tageslicht für die Reise übrigbleiben. Sie sollten sofort losziehen, und trotzdem verspürte er das undefinierbare Verlangen, noch eine Weile zu bleiben, vielleicht um doch das Dahinscheiden des Kindes zu betrauern, das viel Blutvergießen hätte abwenden können.

Als er den sattgrünen Abhang hinabstieg, erlaubte Leith sich, seine Gedanken schweifen zu lassen und entspannte seine müden Muskeln. Es war warm und leise unter dem Schutz der Bäume und er atmete tief ein, wobei ihm zum ersten Mal der frische, grüne Frühling auffiel.

Vögel ließen ihre bekannten Rufe erklingen – das flötengleiche Pfeifen einer Goldamsel, der durchdringende Ruf eines Kleibers, der aus den dichten oberen Zweigen kam. Der Hang wurde steiler und schließlich tauchte ein Lochan auf. Das Wasser des kleinen Sees war dunkel und wellenlos im schwindenden Licht.

Hier ruhte er sich aus, ließ sich müde auf den verwitternden Blättern nieder und starrte auf den Lochan unter ihm. Es war ein schöner Platz, und er konnte sich gut vorstellen, noch in den Highlands zu sein, wo er den lieblichen Gesang seiner Schwester hörte. Vor ihrem Tod, vor der Fehde zwischen dem Clan der Forbes und dem der MacAulays.

Es hatte eine Zeit gegeben, als die beiden Stämme im Geiste vereint gewesen waren, als ein Forbes nicht um sein Leben hatte bangen müssen, wenn er den Boden der MacAulays betrat, aber dieser Frieden existierte nicht mehr. Er war mit Eleanors Tod zerbrochen.

Gütiger Gott! Leith ballte die Fäuste und schloss die Augen während er sich erinnerte. Er hatte so viele Hoffnungen in diese Suche gesteckt – hatte sich danach gesehnt, die Dinge richtigzustellen, den Schmerz auszulöschen. Aber nun gab es keine Hoffnung mehr.

Vor langer Zeit hatte er die Mutter des verlorenen Kindes getroffen. Sie war Engländerin, und die Art der Schotten und der MacAulays war ihr fremd. Schon als Junge hatte ihre Schönheit und ihr majestätisches Auftreten Leith sprachlos gemacht. Aber da war auch eine Traurigkeit in ihr gewesen, eine Melancholie, die er gespürt hatte und an die er sich immer noch erinnerte. 

Sie hatte Schottland gehasst, hatte die Einsamkeit gehasst, hatte ihre Ehe gehasst, die sie dorthin gebracht hatte. Und sie war geflohen und hatte hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. 

Hätte die Tochter ähnlich gefühlt? Hätte sie den Tod Schottland vorgezogen? Oder wäre sie die Verbindung gewesen, die es brauchte, um seine Leute vom Hass zu heilen?

Es war dunkel, als Leith erwachte, und die Luft war still, wie die gedämpfte Erinnerung an einen Traum. Er wurde sich bewusst, wo er war, und öffnete die Augen. Der Lochan unter ihm schwappte leise an das sandige Ufer, unaufhörlich und glitzernd im silbernen Mondlicht.

Es wirkte wie ein magischer Ort, irgendwie beruhigend, aber er hatte schon zu viel Zeit hier verbracht.

Eine Bewegung zog Leiths Aufmerksamkeit auf sich und er blickte sich um.

Es war eine Frau. Oder? Sie war in reines Weiß gekleidet und neben ihr war der geschmeidige, dunkle Schatten einer …

Er schüttelte ungläubig den Kopf, versuchte seinen Verstand zu schärfen, aber die Szene änderte sich nicht. Immer noch blieb die Frau auf dem Sand, und an ihrer Seite war eine Wildkatze.

Gütiger Gott, das konnte nicht sein. Wildkatzen waren keine Haustiere, sondern unabhängige, wilde Biester, bekannt für ihre Stärke. Tatsächlich waren sie das Symbol der Forbes.

Ein Geräusch drang von unten zu ihm herauf, grollte in der geschmeidigen Wildkatze, als die Frau ihre Hand auf deren Kopf legte. Schnurren! Gott bewahre, sie schnurrte und strich nah um die in einen Rock gehüllten Beine ihrer Herrin.

Leith spürte die Magie wie das Knistern eines nahen Blitzes.

Noch nie hatte er eine Bean-sith gesehen, aber das hier musste sicher eine sein. In seiner Jugend hatte er viele Geschichten über das Feenvolk gehört. Lange war es her, dass er gehofft hatte, eine in Fleisch und Blut zu sehen.

Sie sprach.

Er konnte nicht hören, was sie sagte, weil sie sich an die Katze wandte. Ihre Stimme war weich und melodisch, wie der süße Ruf einer Taube durch den Morgennebel. Leith richtete sich ein wenig auf, ließ die Magie seine Sinne versengen und bemühte sich, besser durch das Laub vor ihm sehen zu können.

Der Mond war über die obersten Äste gestiegen und warf sein schmückendes Licht auf die überirdischen Gestalten am See. Er sah, wie die Fee ihr Gewand hob. Ihre Füße und Beine waren blass und nackt, wohlgeformt und betörend. Sie berührte das Wasser mit den Zehen.

Kalt! Es muss so kalt sein wie der Winter auf einem windgepeitschten Berg, mutmaßte Leith. Trotzdem schrak die Gestalt nicht zurück, sondern watete eine Weile durch das Wasser und hob dabei ihr Gewand hoch, was ihre Knie und ein kleines Stück ihrer liebreizenden Schenkel entblößte. Neben ihr schritt die Katze durch das glasige Wasser.

Eine Fee und ihr Schutzgeist. Unheimlich und beängstigend. Trotzdem hatte Leith keine Angst, da die Magie auch ihn zu umgeben schien. Er ballte die Fäuste und verspürte ein instinktives Verlangen aus alten Zeiten. Sie kam wirklich aus dem Feenreich, denn sie zog seine Sinne an sich, schien ihm den Willen zu entziehen.

Sein Verlangen bäumte sich auf. Zu lange hatte er an nichts anderes gedacht, als seine Leute, zu lange hatte er das vernachlässigt, was ihn zum Mann machte.

Seine Augen auf die Fee fixiert, saß er still und gerade da. Weniger als zehn Schritte trennten sie, aber zwischen ihnen wuchsen Blätter und Farnkraut und sie bemerkte ihn nicht. Sie sprach mit ihrem Schutzgeist und hob die Hand. Die Katze neigte den Kopf, horchte, sprang dann durch das Wasser und verschwand in der Dunkelheit.

Die Fee trat aus dem silbrigen See heraus und sah sich um. Mit einer fließenden Bewegung zog sie die Haube vom Kopf. Kupferrot glühendes Haares ergoss sich in wilder Fülle über ihren Rücken und fing die Mondstrahlen ein wie Licht, das sich in Rubinen bricht.

Leith stockte der Atem, in seinem Hals saß ein fester Knoten. Sie war ein himmlischer Anblick, ein Bild reiner Schönheit, und er erwartete halb, dass sich ein kraftvolles, elfenbeinfarbenes Einhorn zu ihr gesellte.

Die Kordel um ihre Taille fiel herab. Ihre Hände hoben sich. 

Gütiger Gott! Leiths Herz schien in seiner Brust zu verstummen. Nackt stand sie auf dem seidigen Sand – wie eine Göttin, die sich nur ihm zeigte.

Ein hartes Verlangen packte ihn mit plötzlicher Dringlichkeit. Eine primitive Sehnsucht wand sich wie ein gutplatzierter Dolch in seinem Magen.

Sie war so schlank wie ein Schilfrohr, so biegsam wie ein Sprössling, umspielt von hüftlangem Haar im Glanz der Mondstrahlen. Schatten und Licht bedeckten ihre zierliche Form, versteckten und betonten sie. Ihr Rücken war wie ein glattes Tal, das sich bis zur Kurve ihrer Zwillingshügel erstreckte, und als sie sich umdrehte, sah er die Gipfel ihrer straffen Brüste.

Sie war ein übernatürliches Wesen, aber sagten die Legenden nicht, dass die Highlander am Anbeginn der Zeit aus der Paarung mit solchen Kreaturen entstanden waren? Es ist eine alte Tradition, sagte sein gelähmter Verstand.

Sie streckte sich, hob die schlanken Arme zum Mond und genoss sein magisches Licht. Lud sie ihn ein, zu ihr zu kommen?

Ja. Natürlich. In seinen sechsundzwanzig Jahren war ihm nie der Blick auf eine Fee vergönnt gewesen. Aber jetzt, in seiner dunkelsten Stunde, zeigte sie sich ihm. Es war Schicksal. Tief in seinem Inneren fühlte er, wie sie ihn rief. Und sie darum flehte, dass er sie nahm. Wie in Trance erhob er sich. Sie hielt seine Zukunft in ihren magischen Händen, und er war hierhergeführt worden, um sich mit diesem mystischen Wesen zu vereinen – sie das Leid seines Clans heilen zu lassen, die Wunden, die er nicht schließen konnte.

Aye! Sie war die Antwort.

Er trat vor, angezogen von unsichtbaren Banden.

Ein Ast kratze über Leiths Wams und die Fee wandte ihm das Gesicht zu. Es leuchtete blass, wie das Mondlicht in der Dunkelheit; ihr erschrockener Aufschrei war spitz.

Hab keine Angst, wollte Leith ihr sagen, er würde ihr kein Leid zufügen. Das Schicksal trieb ihn an, zog ihn weiter, aber ein Fauchen hinter ihm verlangte nach seiner Aufmerksamkeit.

Er versuchte das Geräusch aus seinem Kopf zu verbannen, sich nur auf die Fee zu konzentrieren, aber das Fauchen erklang erneut, näher diesmal und tödlicher.

In einer fließenden Bewegung drehte er sich um, griff zum Knochengriff des Degens an seiner Seite.

Ein dunkler Schatten kauerte nicht unweit. Er fauchte erneut, seine Reißzähne blitzten durch die Dunkelheit. Leith festigte seinen Stand, zog seine Waffe, all seine Sinne konzentrierten sich auf den Kampf, den er für die Feengöttin führen würde.

Aber von unter ihm drang das raschelnde Geräusch laufende Füße vom Sand des Sees herauf. Sie trappelten schnell davon. Der dunkle Schatten der Katze erhob sich, zuckte, und war verschwunden, wie das unwirkliche, heimliche Flüstern eines Albtraums.

Leith atmete tief ein und zwang seine Muskeln, sich zu entspannen. Langsam drehte er sich um. Die Fee war nicht mehr da.

Am blassen, halbmondförmigen Ufer blieben nur Fußabdrücke im Sand zurück. Am Wasser fiel Leith ein metallisches Glitzern ins Auge. Er schlenderte hinüber und hockte sich hin. Es war eine grobe Kette. Sein Blick verfinsterte sich, als er sie langsam durch seine Finger gleiten ließ, bis er das kleine, hölzerne, mit Draht umwundene Kreuz spürte.

„Gott bewahre!“ Er flüsterte die Wörter und sein Blick hing an dem bescheidenen Symbol des Christentums. Es war unverkennbar das Kreuz, das er an den Damen der St. Marys Abbey gesehen hatte, das Kreuz, das jede von ihnen um den Hals trug.

Leiths Blick hob sich und folgte den glänzenden Fußabdrücken.

Also war die bezaubernde Frau doch keine Fee gewesen.

Sie war eine Nonne!

Kapitel 2

Bei Gott! Zur Hölle! Verdammt! Rose Gunther sank still auf ihre Knie. Nachdem sie eine halbe Nacht in panischem Zustand verbracht hatte, war der Tag nicht besser gewesen. Aus purer Erschöpfung hatte sie sich zum Morgengebet verspätet. Blankes Entsetzen zehrte an ihren Nerven.

Neben ihr beteten elf fromme Frauen in stiller Hingabe. Rose betete in elender Verzweiflung!

Wie hatte sie das Kreuz der St. Marys Abbey verlieren können? Und warum in Gottes Namen hatte sie es nicht sofort bemerkt? Sie hätte sowieso nicht zum See zurückkehren können. Was, wenn ihre Instinkte sie nicht getäuscht hatten? Was, wenn wirklich ein Fremder im dunklen Wald gelauert – sie in ihrer schamvollen Blöße gesehen hatte?

Und was bedeutete ihr Traum? Was war mit der dunklen, männlichen Gestalt, die sie im Schlaf verfolgte? Er hatte so echt gewirkt. So nah. So beunruhigend und doch anziehend, wie eine verbotene Frucht.

Sie zitterte und wunderte sich über das unheimliche Gefühl, das ihren Frieden gestört hatte. Waren diese beängstigenden Momente am Ufer nur ein Produkt ihrer zu lebhaften Fantasie? Nein – Samthaut hatte gefaucht, wie er es nur tat, wenn sich ein Fremder näherte. Die Wildkatze hatte am See gewartet, fast als hätte sie gewusst, dass Rose kommen würde. Aber natürlich hatte sie das nicht wissen können. Sie hatte es ja selbst nicht gewusst. Wahrscheinlich verbrachte Samthaut viele seiner Nächte am See und es war reiner Zufall, der sie zusammengeführt hatte. Was auch immer der Grund war, es war so schön gewesen, den Kater wiederzusehen und ein großes Glück für sie, dass er sie vor der Gegenwart des Fremden gewarnt hatte. 

Aber was nun? Selbst wenn die Äbtissin durch irgendein Wunder den Verlust nicht bemerkte, würde irgendjemand das Kreuz finden. Was würde passieren, wenn die Gänsemagd am Ufer entlangschlenderte, wie sie es oft tat, und ein fetter Gänserich respektlos an dem Holzkreuz mit Messingdraht herumpicken würde? Was dann?

Es war ein einfaches Ausschlussverfahren. Welche Dame von St. Mary vermisste ihr Kreuz? Und warum hatte man es gefunden, als man ein Bad in dem kalten Wasser des nahegelegenen Sees nehmen wollte?

Ja, warum nur?

Sie hätte innerhalb der sicheren Steinmauern bleiben sollen, hätte die Zeit mit Fasten und Gebeten verbringen sollen. Rose öffnete die Augen ein wenig und sah sich Mary Katherine genau an, die die seltsame Angewohnheit hatte, sich beim Beten vor und zurück zu wiegen. Ihr Rosenkranz hing an ihrer Hüfte und an ihrer kräftigen Brust ruhte das Kreuz des Ordens.

Rose biss sich auf die Lippen, erinnerte sich an Onkel Peters verblüffende Fingerfertigkeit. Er hätte die Kette von Mary Katherines Hals stibitzen können, ohne …

Gott steh mir bei! Rose bekreuzigte sich verzweifelt. Sie war das Luder des Teufels. Das war sie. Hier saß sie und überlegte das Kreuz einer Schwester zu stibitzen! Es war skandalös. Dennoch … Sie schielte wieder hinüber, beobachtete, wie das kleine Kreuz verführerisch mit jeder von Mary Katherines Bewegungen mitschwang.

Aber sicherlich würde man den Diebstahl eines Kreuzes missbilligen, sowohl im Himmel, als auch hier in dem bescheidenen Kloster. Die Äbtissin musste Rose immerhin noch für ihren Aufenthalt auf dem Dach vergeben. Es war nur ein harmloser, kleiner Ausflug gewesen, wirklich. Aber vielleicht hätte sie nicht versuchen sollen, die Wand des Klosters zu erklimmen, auch wenn das Eichhörnchen diesen Weg genommen hatte. Das Tier hatte eine ganz eigenartige Farbe gehabt – fast weiß, mit nur einem roten Flecken mitten auf der Brust. Es hatte ihre Neugierde geweckt, und sie hatte geglaubt, dass es niemandem schaden würde, der einzigartigen Kreatur nachzugehen. 

Sie war nur eine Armeslänge von dem blassen Eichhörnchen entfernt gewesen, als sie den Halt an einem brüchigen Stein verloren hatte und gefallen war – Klatsch, mitten in den schattigen Küchengarten. Schwester Ruth hatte mit dem spitzesten Schrei aufgeschrien, den man sich nur vorstellen konnte. Schwester Frances war sofort in Ohnmacht gefallen.

Es war in der Tat das Aufregendste, das sie in den letzten Jahren erlebt hatten. Sie hätten ihr für diese Abwechslung danken sollen. Stattdessen wurde sie ohne Abendessen in ihre Kammer geschickt. 

Roses Magen knurrte bei dem Gedanken. Sie biss sich wieder auf die Lippe. Falls ihr Kreuz am See gefunden wurde, konnte sie sich glücklich schätzen, wenn sie bis zur Wiederkunft des Herrn auch nur einen Krümel zu essen bekam.

Sie musste das Kreuz finden und für ihr beschämendes Verhalten Buße tun. Schließlich hatte sie ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen, dass sie eine Nonne werden würde. Und verdammt nochmal – wenn Gott ihr verzieh – würde sie das auch werden.

Sie würde ein Vorbild des Anstands sein, sie würde sich zurückhalten und hoffen, dass der Herr ihr barmherzig gesinnt war, einer erbärmlichen Sünderin wie ihr. Aber warum hatte die Äbtissin sie nicht bestraft für ihre Unpünktlichkeit beim Gebet? Und wie hatte ihr entgehen können, dass sie das Kreuz nicht trug?

Im Dorf waren Besucher eingetroffen, das wusste Rose – zwei große Männer mit vornehmen, starken Rössern. Sie hatten mit der Äbtissin gesprochen. Vielleicht beschäftigten die Fremden immer noch die Gedanken der Äbtissin, sodass sie sich nicht auch noch um Roses wenig vorbildhaftes Verhalten kümmern konnte. Vielleicht war es göttliche Vorsehung.

Das musste es sein. Der barmherzige Herr hatte ihre aufrichtigen Versuche der frommen Ehrerbietung bemerkt und wollte ihr die Gelegenheit geben das Kreuz wiederzufinden, ohne dass die Äbtissin von ihrem Fehlverhalten erfuhr.

Rose sprach ein aufrichtiges Gebet der Dankbarkeit. 

Es wäre ein Leichtes, aus dem Fenster zu klettern, nachdem man sie in die Einsamkeit ihrer Kammer geschickt hätte. Es würde sie nur einen kurzen Augenblick kosten, die Wand hinunterzuklettern und nicht viel länger, die äußere Einfriedung zu überspringen. Sie würde dieses Mal nicht am See verweilen, wie sie es so gerne tat, sondern sofort zurückkehren.

Ihr Blick verdunkelte sich wieder, und sie kaute auf ihrer Unterlippe. Eigentlich hatte sie dem Herrn versprochen, sich nie wieder aus dem Kloster zu schleichen. Aber war es nicht auch so, dass der Allmächtige um ihre Schwächen wusste? Deshalb musste er wissen, dass sie solch ein Gelöbnis nicht einhalten konnte – schließlich wusste er alles. 

Rose nickte kurz, zufrieden mit ihren Schlussfolgerungen. Der Herr wusste um ihre Schwächen und deshalb betrachtete er ihre kläglichen Versuche, fromm zu sein, viel wohlwollender als die vermeintlich größere Frömmigkeit ihrer Schwestern.

Genauso musste ihr auch die Äbtissin vergeben.

Die Glocke schlug. Rose bekreuzigte sich und richtete sich schnell auf, hungrig vom fieberhaften Überlegen – und prallte in ihrer Unaufmerksamkeit mit Lady Sophie, der Äbtissin, zusammen. 

„Oh! Mutter!“, keuchte Rose und griff nach der Äbtissin, damit die gebrechliche Gestalt nicht umfiel. „Ich habe Sie nicht gesehen … Ich bitte um …“ Sie schluckte und wunderte sich über die unerwartete Anwesenheit der Frau. „… Entschuldigung.“ Ihre Fingerknöchel waren weiß, wo sie die Robe der älteren Frau festhielten, auf eine wenig ehrerbietige Art und Weise, wie Rose feststellte. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, wiederholte sie und überlegte bedrückt, ob sie den Verlust gestehen und ein Alibi für das seltsame Verschwinden des Kreuzes ersinnen sollte. Oder ob sie so tun sollte, als wäre nichts, und Gott anflehen würde, dass die Äbtissin nichts merkte. 

„Ich möchte mit dir im Empfangssaal sprechen“, sagte Lady Sophie ruhig.

„Sprechen …“ Rose wusste, dass ihre Stimme brach, als sie das Wort aussprach, was noch durch das tiefe Grummeln in ihrem Magen verstärkt wurde. Sie musste fürchten nun eine weitere Mahlzeit zu verpassen. „Sprechen …“

Die Äbtissin nickte und drehte sich um.

„Ja.“ Rose schluckte erneut, versuchte, die angemessene stoische Haltung einzunehmen. „Ja, Frau Äbtissin.“

Der Empfangssaal war ein ansehnlicher Raum. Er wurde von schweren, eisernen Gittern unterteilt, die von der Decke bis zum Boden reichten und die Schwestern von jeglichen Besuchern abgrenzte, die sie empfingen. Hier hatte Rose mit Onkel Peter gesprochen, bevor er beschuldigt worden war, die Kuh des Nachbarn gestohlen zu haben, und es für besser befunden hatte, sich aus der näheren Umgebung fernzuhalten. 

Sie wünschte sich, dass sie ihn jetzt hier sehen würde, sein rundes, fröhliches Gesicht, das sie durch die Gitterstäbe ansah. Aber die andere Seite des Raums war bis auf eine flackernde Kerze in Dunkelheit gehüllt.

Die Äbtissin saß im einzigen Stuhl. Der Kaplan war auch da, lächelte nicht und schwieg, als Rose den Raum betrat. Für einen Moment verließ sie der Mut und sie war versucht zu fliehen, aber sie schluckte trocken, betete und zog die quietschende Tür hinter sich ins Schloss.

Warum war der Kaplan hier? Es war nicht so, dass er ihr Angst machte. Tatsächlich hatte er die Schwestern immer wieder um Geduld und Verständnis für sie gebeten, trotz der zahlreichen Missgeschicke während ihrer Jahre hier in der Abbey. Schließlich, so argumentierte er, war Rose noch jung und voller Leben. Natürlich würde sie da manchmal den Erwartungen nicht entsprechen.

Hatte sie dieses Mal so weit gefehlt, dass man sie hinauswerfen würde? 

Panik erfasste sie. Egal, wie es auf die Schwestern wirkte, sie war wirklich darum bemüht, deren Verhalten nachzueifern, sich ihr Wohlwollen zu verdienen, aber außerhalb der Mauern gab es so viel Leben. Es gab so viel zu sehen und zu tun, dass sie sich manchmal so fühlte, als würde sie platzen, wenn sie nicht für eine kurze Zeit entfliehen konnte. 

Im Allgemeinen war sie hier aber zufrieden, sagte Rose sich schnell. Es stimmte, dass die Stunden des Gebets lang und mühsam waren, aber sie hatte in den letzten fünf Jahren eine Menge über die Heilkunst gelernt. Vieles davon hätte sie nicht gelernt, wenn sie auf dem kleinen Stück Land bei ihren Eltern hätte bleiben können. Aber der Herr hatte ihre Eltern früh zu sich geholt, hatte es dem Fieber erlaubt, ihnen das Leben auszubrennen und Rose unbeschadet zurückzulassen.

„Sie wünschen … mich zu sprechen?“, fragte Rose. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und spürte den kühlen Angstschweiß auf ihren Handflächen.

 „Ja, mein Kind.“ Es war der Kaplan, der sprach, seine sanfte und ruhige Stimme klang besorgt und ein wenig traurig.

Rose machte sich innerlich bereit und presste ihre Hände noch fester zusammen. Sie wussten es! Oder? Es war sicher besser das kleinere Übel zuerst zu beichten.

„Es tut mir leid, dass ich zu spät zum Morgengebet gekommen bin. Bitte verzeihen Sie mir“, begann sie hastig, aber die Äbtissin hob eine gebrechliche Hand und unterbrach sie. 

„Darum geht es uns gerade nicht“, sagte sie und stand langsam auf. Ihr Gesichtsausdruck war ernst.

Lieber Gott! Sie wussten es. Natürlich wussten sie es. „Oh!“ Rose trat einen Schritt zurück und knallte mich einem dumpfen Knall gegen die Wand. Ihr Gesicht wurde blass. „Das! Also …“, murmelte sie nervös. „Das kann ich erklären. Es ist eigentlich sehr einfach. Es war so heiß, wissen Sie, und …“ Rose holte ihre Hände nach vorne, um sie in ihrem einfachen Gewand zu vergraben. „Ich weiß, dass es falsch war. Und ich verspreche auch, es nicht mehr zu tun, wenn Sie mir nur diesen einen Ausrutscher verzeihen. Ich wollte nicht …“

Sie verstummte, als sie Erstaunen und die Unsicherheit in den Gesichtern ihrer Obrigkeiten sah. 

„Ich wollte nicht – ähm, Schande auf …“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe, ihre Augen weiteten sich und ihr Blick jagte von einem gealterten Gesicht zum anderen. Na, verdammt. Erleichtert erkannte sie, dass die beiden nicht die geringste Ahnung hatten, wovon sie sprach.

„Vielleicht solltest du das mit dem Herrn selbst besprechen, mein Kind“, sagte die Äbtissin. Ihre blassen Augen schienen Rose leicht für den Verstoß zu schelten, den sie dieses Mal begangen hatte, was auch immer es war. „Jetzt müssen wir eine andere Angelegenheit mit dir besprechen.“

„Ei… eine andere?“, stotterte Rose. Ihre Gefühle wirbelten wild um her, mit jedem Wort, das sie sprach. Hatte sie etwas noch Schlimmeres getan, als das Kreuz zu verlieren? Es war möglich, überlegte sie, denn es schien, dass sie immer neue, kreative Wege zu sündigen fand, Wege, von denen sie nicht einmal geglaubt hatte, dass sie sündhaft waren. So zum Beispiel das eine Mal, als sie ihren Rosenkranz benutzt hatte, um das Scheunentor zuzubinden. Aber das Seil war nicht da gewesen und …

„Vielleicht weißt du, dass Besucher hier in der Abbey waren?“, begann Lady Sophie.

„Nun …“, wand Rose sich, nicht sicher, ob sie ihr Wissen eingestehen sollte. Schließlich war es eine Sünde, sich zu sehr in die Belange anderer einzumischen. War es doch, oder?

„Nun, es ist tatsächlich so, dass wir Besuch hatten“, fuhr die Äbtissin fort. „Zwei Männer aus Schottland.“

„Schottland?“ Roses Augen wurden noch größer, und sie ließ ihre Hände sinken. „Barbaren?“

„Vielleicht sind wir alle Barbaren in den Augen des Herrn“, sagte der Kaplan schnell.

„Sie sind gekommen, weil sie ihre Verwandten suchen“, erklärte die Äbtissin mit ihrer gewohnt leisen Stimme. 

„Hier? In England? Aber warum …“

„Es scheint, dass sie einen langen, harten Weg hinter sich gebracht haben, um eine englische Lady und ihr Kind mit schottischer Abstammung zu finden.“

Rose runzelte die Stirn, ihr Verstand arbeitete schnell. „Ich weiß nichts von …“

„Die Lady kam vor langer Zeit hierher, Rose. Und starb kurz darauf an dem gleichen Fieber, das auch deine Eltern getötet hat.“

„Oh.“ Dieses schreckliche Fieber war so gierig und kannte kein Erbarmen. Schon spürte Rose, wie sich ihre Augen bei dieser unvergesslichen Erinnerung mit Tränen füllten. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Und das Kind?“

Für einen angespannten Moment herrschte Stille. „Auch tot, bedauerlicherweise“, sagte die Äbtissin und wrang selbst die Hände, als wäre Roses Sorge eine ansteckende Angelegenheit. „Beide sind auf unserem Friedhof begraben.“

Rose räusperte sich, unterdrückte den Schmerz der Erinnerung und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Sie hatte die Inschriften aller Grabsteine des kleinen Friedhofs gelesen und fühlte sich oft dort hingezogen, als riefe sie ein schwer zu fassender Friede zu den stillen Steinen.

„Es scheint so, als wären die Schotten auf Geheiß eines sterbenden Lords gekommen“, fuhr die Äbtissin fort. „Es waren seine Ehefrau und sein Kind, die vor so vielen Jahren herkamen. Ohne zu wissen, dass die zwei gestorben sind, sind die schottischen Männer hierhergereist, um sie zu suchen. Aber …“ Lady Sophie zuckte mit den Schultern und sah alt und ermattet aus. „Ich habe ihnen von dem Grabmal erzählt und …“

„Wie hießen sie?“, unterbrach Rose sie abwesend. Ein unheimliches Gefühl hatte sich in ihre Brust geschlichen und die Haare auf ihren Armen stellten sich auf.

Die Äbtissin beobachtete sie schweigend, genauso wie der Kaplan.

„Sie waren aus der Familie der MacAulays, wurde mir gesagt“, sagte die Äbtissin schließlich. „Die Mutter hieß Elizabeth. Das Kind – Fiona.“

„Fiona“, flüsterte Rose. Sie fühlte sich erstaunlich atemlos und vermutete, dass es an ihrer sonderbaren Art lag, die ihr Vater manchmal erwähnt hatte, woraufhin ihre Mutter ihn immer zum Schweigen ermahnt hatte. Die seltsame Art, die ihr auf den Armen die Haare zu Berge stehen ließ und schattenhafte, unerklärliche Bilder in ihrem Kopf erzeugte. Die seltsame Art, von der Rose versprochen hatte, sie niemals einer Menschenseele gegenüber zu erwähnen.

Die Äbtissin räusperte sich und kam näher. „Vom Tod der beiden zu hören, verstörte die Schotten sehr. Ich glaube, das Herz des alten Lords hing daran, das Kind wiederzusehen.“

„Nach all den Jahren?“, fragte Rose schwach und versuchte nicht an das sonderbare Gefühl zu denken, dass sie verfolgte. 

„Manchmal sieht ein Mann erst, was im Leben wirklich wichtig ist, wenn er den größten Teil davon schon hinter sich hat“, sann der Kaplan weise.

Die Äbtissin nickte. „Der alte Mann ist schwer krank.“

„Und hat große Schmerzen“, fügte der Kaplan hinzu.

„Die Schotten fürchten, dass er sterben, oder unter Schmerzen fortleben wird, wenn sich niemand seiner annimmt.“

Rose verstand langsam, aber sie sagte nichts und wartete.

„Sie haben darum gebeten, dass wir jemanden schicken, der sich auf die Kunst des Heilens versteht“, gestand der Kaplan schließlich.

Für einen Moment herrschte Stille.

„Ich?“ Dieses einzelne, erschreckte Wort überraschte selbst Rose.

„Es wäre eine lange Reise“, sagte die Äbtissin sanft. „Voller Gefahren.“

„Aber ich …“ Rose hob flehentlich die Hände. „Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich mein restliches Leben hier verbringen werde. Ich habe mich der Arbeit des Herrn verschrieben.“

„Auch dies hier ist die Arbeit des Herrn“, ermahnte sie die Äbtissin. „Sich um die zu kümmern, die leiden.“

„Es gibt andere Heilerinnen“, sagte Rose, plötzlich von Gesichtsausdruck und Absicht der beiden verängstigt. Sie wollten sie fortschicken. Wegen ihres schlechten Verhaltens? „Erfahrenere Heilerinnen als ich“, platze es ihr heraus. „Sicher …“

Der Kaplan schüttelte langsam den Kopf. „Es gibt keine, die so begabt ist, wie du, mein Kind.“ Er zog lange und erschöpft die Luft ein. „Nicht einmal Lady Mary war so begabt wie du, möge ihre Seele in Frieden ruhen. Und du bist stark – diese Kraft braucht es für eine solche Reise.“

Rose schwieg für einen Moment, erinnerte sich, wie heiß die Hand ihrer Mutter gewesen war, als sie mit der Kraft der Verzweiflung nach ihr gegriffen hatte, sie um das Versprechen angefleht hatte. „Ist es wegen meiner Sündhaftigkeit …“, setzte Rose an. „Ich werde es wiedergutmachen. Ich werde mich bessern.“ Sie kam einen Schritt näher. Sie hatte es ihrer Mutter und dem Herrn versprochen, dass sie ihr Leben in dieser Abbey verbringen würde. „Ich kann wie die anderen sein. Wirklich …“

Die Äbtissin hob eine blau geaderte Hand. „Es ist nicht aufgrund von Unzulänglichkeiten deinerseits, Kind. Obwohl …“ Sie lächelte sanft, ihre blassen, geduldigen Augen waren unnachgiebig. „Manchmal zweifle ich daran, dass der Herr wünscht, dass du … wie die anderen bist. Nichtsdestotrotz obliegt es nicht mir, zu entscheiden, ob du gehst. Die Entscheidung liegt bei dir.“

„Dann muss ich bleiben.“ Rose trat näher und griff nach der Hand der Äbtissin. „Ich habe ein Gelöbnis abgelegt.“

„Ich glaube, der Herr würde es verstehen, wenn du dich gezwungen siehst, zu gehen“, sagte die Äbtissin.

Aber das Gelöbnis hatte sie auch ihrer Mutter gegeben. „Versprich mir, dass du den Frieden und die Sicherheit des Klosters suchst“, hatte sie gefleht. „Versprich mir, dass du nie von den Dingen erzählst, die du in deinem Kopf siehst.“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern gewesen. „Beschäftige dich nicht mit ihnen. Denk nicht an sie. Die Leute würden es nicht verstehen, würden es nicht akzeptieren. Geh zur Abbey, Rose“, hatte sie gefleht. „Tu die Arbeit des Herrn. Du wirst dort sicher sein.

Manchmal, in der Stille des Gebets oder in der Dunkelheit der Nacht, dachte Rose darüber nach. Sicher wovor? Waren die Bilder böse, die manchmal in ihrem Kopf erschienen?

„Ich muss bleiben, Äbtissin“, sagte sie und fühlte sich beiden Seiten gegenüber schuldig. Sorge machte ihre Stimme schwer. „Ich muss halten …“

„Und meinen Auld Laird sterben lassen?“ Rose erschrak, ließ die Hand von Lady Sophie fallen, um herauszufinden, woher die Stimme hinter dem eisernen Gitter kam.

„Das ist einer der Schotten. Er ist gekommen, um noch einmal seine Bitte vorzutragen“, erklärte die Äbtissin. Aber Rose hörte ihre Worte nicht, da ihre ganze Aufmerksamkeit der großen, dunklen Gestalt des Barbaren hinter den schmiedeeisernen Stäben galt.

Um Himmels willen! Es war das dunkle Bild ihrer Träume! Ihr stockte der Atem, während ihr Herz so kalt wie ein Stein geworden zu sein schien. „Wer sind Sie?“, flüsterte sie und wusste dabei, dass ihre Worte unhöflich und ohne Anteilnahme waren.

Es war ganz still.

„Man nennt mich Leith. Vom Clan der Forbes.“

Seine Stimme war so dicht wie der Morgennebel – und genauso kalt. Rose fühlte, wie sie ein Schauer erfasste, dessen Intensität sie ängstigte. „Ich kann nicht mit Ihnen gehen.“ Sie flüsterte die Worte, als ob sie laut auszusprechen einen bösen Dämon wecken könnte.

„Nicht können?“ Der Schotte griff nach dem Gitter, seine breiten Fingernägel schimmerten blass im Licht der einsamen Kerze. „Oder nicht wollen?“

„Bitte.“ Sie wich schnell zurück, wusste nicht warum, aber sie spürte seine verängstigende Kraft, das verschreckende Wissen, dass er ihr in ihren Träumen erschienen war. Er war ein großer Mann, vielleicht der größte, dem sie je begegnet war. Oder erlaubte sie es den Schatten und ihrer eignen, allzu lebhaften Fantasie, sie zu ängstigen?

Rose hob leicht das Kinn, verschränkte die Hände vor der Brust und versuchte auf die innere Kraft zurückzugreifen, die sie angeblich besitzen sollte. „Zwingen Sie mich nicht, meinen Schwur zu Gott zu brechen“, bat sie ihn schwach. Aber innerlich suchte sie nach den wahren Gründen, aus denen sie ablehnte. Angst?

„Dein Gelübde hält dich nicht dazu an, einem Mann in Not zu helfen?“

Der Tonfall des Schotten war etwas spöttisch, dachte sie und sie hob ihr Kinn noch höher. „Meine Gelübde halten mich dazu an, meinem Gewissen zu folgen und nicht der ungeschliffenen Beharrlichkeit eines Mannes ohne Verständnis für meinen Glauben.“

Er schwieg, aber seine Augen verfolgten sie kalt. „Und ich dachte, wir teilen den christlichen Glauben. Aber nein. Mein Gott verlangt Mut des Geistes.“

Er hatte sie einen Feigling genannt, dachte sie in stillem Entsetzen. Der Mann wagte es, die heiligen Wände der Abbey zu betreten und ihr zu unterstellen, dass sie sich nicht an ihren Glauben hielt! Er hatte die Manieren eines brünstigen Ebers! Eigentlich hatte sie schon brünstige Eber getroffen, die netter waren. Sie weigerte sich entschlossen die Tatsache einzugestehen, dass ihre eigenen Manieren und Gedanken gerade auch kein Vorbild von Reinheit waren.

„Obwohl Sie mich für geistlos halten“, sagte sie schwer atmend und hob verächtlich die linke Augenbraue, „werde ich nicht mit Ihnen gehen.“ Sie drehte sich steif um, fühlte seinen heißen Blick in ihrem Rücken und versuchte das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken.

„Nicht einmal, wenn ich das zurückgebe, was dir gehört?“, fragte er so heiser und leise, dass nur Rose ihn hören konnte.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Herz hämmerte so stark, dass es drohte auszusetzen. „Was mir gehört?“, hauchte sie und zwang sich, ihn wieder anzusehen. 

„Aye.“ Er nickte.

Sie beobachtete ihn in atemloser Panik, sah, wie sich einer seiner Mundwinkel zu einem teuflischen Lächeln hob.

„Das habe ich am kleinen Lochan unten gefunden“, raunte er.

Kapitel 3

Ihr Kreuz! Rose griff nach der Stelle, wo es normalerweise an ihrer Brust hing. Sie spürte, wie ihre Lungen sich füllten, als sie nach Luft schnappte. Gott bewahre! Der Barbar hatte es gefunden!

Hinter ihr schwiegen die Äbtissin und der Kaplan. Wussten sie davon?

„Wenn du die Güte hättest, mitzukommen …“ Der Schotte ließ eine Hand in die Tasche seines dunklen Wamses gleiten. Seine Stimme war immer noch leise. „Gäbe es keinen Grund, die letzte Nacht – anzusprechen.“

Nun schnappte sie hörbar nach Luft. Ihre Hand griff an ihren Hals, der von ihrer rauen Nonnentracht bedeckt war, als wolle sie ihren Körper vor seinen Augen verstecken. Hatte er ihre Blöße gesehen oder nur das Kreuz gefunden?

Mit gezielter Anstrengung sammelte Rose die zerbrochenen Reste ihrer Würde zusammen. Aber ihre Hände zitterten an ihrem Hals und sie fragte sich, ob er es sah. Wenn die Äbtissin von ihrem schandhaften Verhalten der vergangenen Nacht erfuhr, würde sie Rose sicher aus der Abbey verbannen – oder Schlimmeres. Sie schluckte einmal, dachte schnell und angestrengt nach. Aber es schien nur wenige Möglichkeiten zu geben. Sie war sich sicher, dass sie durch den Stoff der Tasche des Barbaren die verräterischen Umrisse des treulosen Kreuzes sehen konnte. „Ihr …“, sie räusperte sich, versuchte besorgt und mitfühlend zu klingen, aber ihre Stimme war heiser, sodass sie sich erneut räuspern musste. 

„Ihr Lord ist also sehr … krank?“, hauchte sie.

„Sehr krank.“ Sein Lächeln war jetzt verschwunden und durch einen Gesichtsausdruck abgelöst worden, den sie in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte.

„Und er hat eine … christliche Seele?“, fragte sie schwach.

Er zögerte nur einen Moment. „Aye. Hat er.“

„Dann …“ Ihre Finger griffen an ihre leere Brust und sie hob ihr Kinn ein wenig. „Ist es meine Pflicht zu gehen.“ Sie hatte die Worte steif ausgesprochen, ohne einen Funken Mitgefühl und Leith hob schweigend die Augenbrauen.

„Du hast ein goldenes Herz, Mädchen“, raunte er, aber sein Tonfall war nicht aufrichtiger, als der Ihre. 

„Sie werden eine Begleiterin finden, die mit ihr reist“, befahl die Äbtissin leise. „Jemand aus dem Dorf vielleicht.“

Der Schotte nickte, sein Blick richtete sich auf Lady Sophie.

„Und Sie werden schwören, sie zu beschützen“, fügte die Äbtissin hinzu. 

„Aye, Herrin“, schwor er feierlich. „Mit meinem Leben.“

Rose fiel mit einiger Verärgerung auf, dass sein Tonfall gegenüber der Äbtissin ganz anders war, als ihr gegenüber. Der Sarkasmus war verschwunden, die Lippen verzogen sich nicht auf eine Art, für die man ihn am liebsten geohrfeigt hätte. Nur nüchterner, zurückhaltender Respekt war zu sehen, als er mit der Lady sprach.

„Und Ihr bringt sie wieder hierher – wenn sie es wünscht – wenn Ihr ihr Können nicht mehr benötigt.“

„Aye“, versprach Leith und blickte mit seinen dunklen Augen plötzlich wieder in die von Rose. „Ich werde sie zurückbringen, wenn ich sie nicht mehr brauche.“

 

***

 

Rose wäre am liebsten in ihrer Kammer auf und ab gegangen, aber dafür war hier kein Platz. Stattdessen saugte sie an ihrer Lippe und wrang die Hände. 

Der Mann war Satan persönlich. Da war sie sich sicher. Wer sonst würde im Wald herumschleichen, mitten in der Nacht? fragte sie sich und dachte dabei nicht daran, dass sie das Gleiche getan hatte. Wer sonst hätte das Kreuz dazu benutzt, eine arme Novizin des Herrn zu erpressen und seine eigenen Ziele durchzusetzen?

Und was genau waren diese Ziele? Woher sollte sie denn wissen, dass es diesen Lord, der im Sterben lag, wirklich gab?

Die Zeit des Gebets kam und sie betete – mit Rachegedanken. 

In zwei Tagen würden sie aufbrechen. Genug Zeit, hatte er gesagt, damit sie ihre Habseligkeiten zusammensuchen und sich verabschieden konnte.

 

***

 

Leith hatte letzte Nacht nicht geschlafen. Visionen einer Feenprinzessin hatten ihn wachgehalten. Eine Feenprinzessin mit rotbraunem Haar und den Augen eines Rehkitzes. Eine Fee, die nicht wirklich eine Fee war, sondern die Antwort auf seine Gebete. Eine Frau aus Fleisch und Blut, die leicht für die Tochter des alten Lairds der MacAulays gehalten werden könnte. Sie war bezaubernd, genauso wie Lady Elizabeth es gewesen war. Und mit der amethystbesetzten Brosche und dem kleinen Plaid, den die Äbtissin ihm gegeben hatte, konnte der alte Laird nicht mehr daran zweifeln, dass sie seine Tochter war. Aye, Ian MacAulay würde sie als Seinesgleichen akzeptieren, weil er es für wahr halten wollte. Und so krank wie er war, war es auch seine letzte Gelegenheit, sie zu finden.

„Sie ist eine feine, hübsche Stute, Bruder“, sagte Colin, der lässig an einem Pfosten in der Nähe einer kleinen Herde von Pferden lehnte und Leiths Gedanken unterbrach. 

Leith grunzte irritiert und wollte weitergrübeln, aber Colin konnte er nicht ignorieren.

Er schob den Grashalm zwischen seinen Zähnen von einer Seite auf die andere und schaute zu dem nahegelegenen Schuppen. Colin zog eine Augenbraue hoch und fügte hinzu: „Sie ist sogar die Hübscheste von allen.“

Noch ein Grunzen.

„Sie wird die lange Reise nach Hause gut verkraften.“

Schweigen. 

Colin verengte die Augen zu Schlitzen. „Aber warum, frage ich mich, warum die beste Stute von Auld Harold, wenn die anderen auch gut sind?“

Leith richtete sich auf, ging zum linken Hinterbein der Stute und kniete sich wieder hin. Seine Hand folgte dem schlanken Röhrbein. „Sie wird sich gut mit Beinn Fionn kreuzen lassen.“

„Aye. Das wird sie.“ Colin knabberte eine Weile an seinem Halm, sah dem anderen bei seiner vorsichtigen Begutachtung zu, bevor er wieder die Stille unterbrach. „Aber dein Hengst hat einen ganzen Haufen schöner Mädchen, die auf seine Rückkehr warten. Während du …“ Er hielt inne und überlegte, grinste schief, solange sein Bruder es nicht sehen konnte. „Erzähl mir von dieser kleinen Nonne, die mit uns reisen wird.“

„Du wirst sie früh genug kennenlernen“, antwortete Leith flach.

„Ist sie jung?“

„Nicht so jung wie du“, sagte Leith, stand auf und streichelte die glänzende Kruppe der Stute. 

„Hübsch?“

Leith antwortet nicht. Er ging um die Stute herum, um sich die Zähne anzuschauen.

„Ist sie nicht hübsch?“, wiederholte Colin und setzte ein ernstes Gesicht auf, als er den gereizten Blick seines Bruders sah.

„Sie wird dir nicht deinen empfindlichen Pelz versengen, wenn sie in deine Richtung schaut, falls das deine Sorge ist, Junge“, knurrte Leith. 

„Ah.“ Colin nickte weise, was den Grashalm zwischen seinen Zähnen dazu brachte, mit der Bewegung mit zu wippen. „Die knappe Antwort meines Herrn ist wie der höchste Lobgesang eines anderen. Also ist sie ein hübsches Mädchen.“ Er trat ein paar forsche Schritte vor. „Dunkles Haar? Schlank? Und die Augen?“

„Kannst du nicht was zu tun finden?“, grollte Leith. „Gibt es nichts, womit du deine Zeit verbringen könntest.“

„Nay, Bruder“, sagte Colin und zuckte mit den Achseln. „Nichts. Die Suche ist zu Ende. Vergebens – das Kind lange von dieser Welt verschwunden.“

Leith drehte sich um, duckte sich unter dem grazilen Kiefer der Stute durch, auf die andere Seite.

„Und trotzdem scheint dich das nicht sonderlich zu sorgen“, fuhr Colin nachdenklich fort. „Und das nach all dem Ärger, den es gemacht hat, herzukommen. Wenn ich nicht so ein gutgläubiger Mensch wäre und dich nicht so gut kennen würde, müsste ich denken, du verschweigst mir was. Warum, frage ich mich, sollten wir diese kleine Nonne mit in unsere Heimat nehmen? Um MacAulay zu heilen?“ Er grunzte laut. „Ich glaube kaum. Besser wäre es einen Dolch durch sein schwarzes Herz zu stoßen und all dem ein Ende zu setzen. Also warum …“

„Geh und finde eine Begleiterin für das Mädchen“, befahl Leith plötzlich, stand abrupt auf und blickte verärgert über den glänzenden Rücken des Rappens. 

„Eine Begleiterin?“, fragte Colin ungläubig. „Vielleicht kann ich auch eine Federmatratze für sie finden. Wir könnten alles in einer feinen Kutsche hinter uns herziehen, damit sie sich keine blauen Flecke am Hintern holt, auf dem harten Boden in der Nacht.“

„Ich habe der alten Äbtissin versprochen, dass sie eine Begleiterin haben wird“, sagte Leith. „Du wirst eine angemessene Frau finden.“

„Angemessen?“, fragte Colin spitz. „Angemessen wofür?“

„Angemessen den Anstand zu wahren!“, herrschte Leith ihn plötzlich an. Seine Geduld war am Ende. „Mit Beinen, die stark genug sind, dass sie sich auf der langen Reise nach Hause im Sattel halten kann. Sicherlich kannst du die Stärke von Frauenbeinen mittlerweile gut einschätzen, Bruder.“

„Aye.“ Colin lachte. „Das kann ich, mein Herr. Aber die kleine Nonne, die du ausgesucht hast, interessiert mich viel mehr. 

“Gott bewahre!“, fluchte Leith wütend. „Sie ist eine Frau Gottes. Das vergisst du besser nicht.“

„Ich?“ Schnell hob Colin die Hand zur Brust. Sein Gesichtsausdruck war schockiert. „Ich werde es nicht vergessen, Bruder. Ich kann mir jedes Mädchen aussuchen“, beteuerte er und blickte für einen Moment missmutig drein. „Das heißt, wenn Roderic nicht in der Nähe ist“, verbesserte er sich. „Aber man kann nicht erwarten, mit seinem Ebenbild zu konkurrieren.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist schwer zu glauben, dass wir drei wirklich Brüder sind. Der hübsche Roderic und ich werden ständig von weiblicher Aufmerksamkeit bedrängt, während du …“ Er zeigte auf Leith. „Du dich zurückziehst wie ein Mönch.“

„Ich danke dem Herrn, dass ich deinen teuflischen Bruder zuhause gelassen habe“, beteuerte Leith. „Jetzt hau ab, bevor ich dir die Einsicht in den flohzerbissenen Kopf prügele“, fügte er hinzu und griff über die Stute nach dem Wams des jüngeren Bruders.

Lachend hob Colin die Hände, als wolle er die Gewalt abwehren. „Es ist nicht meine Schuld, dass dich die Mädchen nicht anziehend finden, Bruder. Vielleicht wenn du aufhörst immer so finster dreinzublicken, dann wären sie beim Anblick deines vernarbten Gesichts nicht so verängstigt …“

Das Geräusch einer zufallenden Tür unterbrach seine Worte und zog die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich. Leith ließ die Hand sinken und Colin hob die Augenbrauen beim Anblick der dunklen Schönheit, die aus dem nahegelegenen Haus schritt. „Ah, da“, murmelte er anerkennend. „Eine Frau. Eine Engländerin, die sich sicher nach einem richtigen Mann sehnt. Hör auf, so missmutig dreinzublicken, Bruder, und schau sie dir genau an.“

„Hör auf zu jammern und zeig etwas mehr Respekt“, erwiderte Leith und stand auf.

„Für die Dame?“, scherzte Colin.

„Mir gegenüber, du Depp“, knurrte Leith bevor er um die Stute herumging, um den Neuankömmling zu begrüßen.

Sie war eine schöne Frau, trotz ihres Alters.

„Ich bin gekommen, um Ihnen etwas zu trinken zu bringen“, sagte sie und hob ein Tablett mit Zinnbechern über den grobgehauenen Zaun. „Es ist warm so früh im Jahr.“ Ihr Blick ruhte kurz auf Leiths ernstem Gesicht, bevor er wieder zu den Bechern herabsank.

„Aye“, sagte Leith kurz und Colin grinste. Wieder einmal fehlte seinem Bruder jede Fähigkeit zu scherzen.

„Sogar heiß“, steuerte Colin bei. „Und es ist sehr nett von Ihnen, an uns zu denken, verehrtes Fräulein …“

„Witwe“, sagte die Frau leise und erwiderte schließlich Colins Blick. „Die Witwe Devona Millet.“ Ihre Augen waren bernsteinfarben, fiel Colin auf, ihre Gesichtszüge zierlich und ihr Mund lud zum Küssen ein. „Ich hörte, dass Sie Schotten sind.“

Leith wandte sich wieder der Stute zu und forderte damit die Frau zum Gehen auf.

„Wir sind tatsächlich Schotten“, sagte Colin, seine Augenbrauen hoben sich, und er bemerkte, den tiefen Ausschnitt der Witwe, für den sein Bruder sich überhaupt nicht interessierte. „Und reisen bald in das Land unserer Clansmänner zurück.“ Leith war schon zu lange der Laird der Forbes, dachte Colin, wenn er so eine schöne Darbietung eines Busens nicht mehr wertschätzte. Aber vielleicht war die Witwe gerade richtig dafür, die Eintönigkeit der Heimreise aufzulockern und Leith gleichzeitig von seinen ständigen Sorgen abzulenken.

Genau. Colins Lächeln wurde breiter, als er sich zwang, den Blick von der Brust der Witwe heben. „Aber wir haben ein großes Bedürfnis …“ Er ließ die Aussage im Raum stehen, dachte für einen Moment an seine eigenen Bedürfnisse, bevor er sich an die seines Bruders erinnerte. „Wir brauchen eine Begleiterin für eine Dame, die mit uns reist.“

„Eine Dame?“, fragte die Witwe.

„Eine Nonne“, erklärte Colin und überlegte kurz, ob er Enttäuschung in der Stimme der Frau hörte.

„Von der Abbey drüben?“

„Aye“, fügte Colin hinzu. Sich an Leith wendend, fragte er: „Wie findest du sie, Bruder? Sie scheint kräftige Beine zu haben – denkst du nicht auch, me Laird?“

„Ich denke, du redest zu viel“, sagte Leith, als er aufstand, um seinen Bruder böse anzustarren.

Colin lachte nur. „Dürften wir Sie bitten, uns zur Verfügung stehen, um mit uns zu reisen, als die Begleiterin dieser Dame?“, fragte er.

„Den ganzen Weg bis nach Schottland?“

„Sogar ein ganzes Stück weiter. Bis Glen Creag in den Highlands. Aber wir würden Sie gut für Ihre Mühen bezahlen, und sie würden gut …“ Sein Blick sank wieder zu ihren Brüsten, nur für einen kurzen Augenblick, und der Atem stockte in seiner Kehle. „… gut … bewacht“, sagte er spitzbübisch.

Ihre Wangen röteten sich liebreizend, und sie schlug die Augen nieder. „Ich werde im Haus der Familie meines Mannes nicht gebraucht“, sagte sie leise.

„Dann kommen Sie mit?“, fragte Colin, überrascht von seinem Glück und sich des erregenden Effekts bewusst, den sie auf ihn hatte.

„Warum nehmen Sie die Nonne mit in Ihr Land?“, fragte sie. „Und was würde von mir am Ende der Reise erwartet?“

Es war das, was er während der Reise erwartete, was Colin am meisten interessierte. Wenn Leith die Möglichkeiten nicht interessant fand, dann er umso mehr.

„Sie ist noch keine Nonne“, verbesserte Leith gleichmütig. „Sondern eine Novizin, und sie soll eine geschulte Heilerin sein. Wir werden sie zu MacAulay bringen, der schwer krank ist. Sie würden sie nur begleiten und nach unserer Ankunft wieder hierhin zurückkehren.“

„Oh.“ Für einen Moment wechselte Devonas Blick zwischen Leith und Colin hin und her. „Und Sie würden mir eine sichere Reise garantieren?“

„Nichts kann garantiert werden“, sagte Leith trocken. „Aber wir werden alles tun, was in unserer Macht steht.“ Seine Hand berührte den Dolch an seiner Seite. „Und das ist eine Menge.“

Sie schwieg, sah ihn genau an, als versuche sie, ihn einzuschätzen. „Ich werde mitkommen“, sagte sie plötzlich.

Colin grinste.

Leith nickte, gab der Stute einen letzten Klaps, bevor er wegging, sich zwischen den Latten des Zauns hindurchbückte und die Zügel seines weißen Pferdes vom Pfosten löste. „Kauf die schwarze Stute“, sagte er zu seinem Bruder. „Triff eine Vereinbarung mit der Witwe.“

„Vereinbarung?“, fragte Colin und kam auf Beinn zu. „Heißt das, du bist interessiert?“

Leith war blitzschnell im Sattel, beugte sich aber nun tief herunter, direkt zu Colins Gesicht. „Ich bin keine alte Milchfrau, die der Hilfe ihres einfallslosen Bruders bedarf, um verkuppelt zu werden. Die Witwe kommt als Begleiterin mit und mehr nicht.“

„Und wenn sie mehr wünscht?“, fragte Colin gelassen.

„Dann hast du meinen Segen“, sagte Leith und drehte seinen Hengst um.

„Gut …“ Colin wandte sich mit einem Grinsen wieder der Witwe zu. „Es scheint, dass wir einiges zu tun haben.“

Devona ließ das Tablett ein Stück tiefer sinken, als Colin sich durch die Zaunlatten bückte und sich gerade vor ihr aufrichtete. 

„Ich entschuldige mich für meinen Bruder“, sagte er ruhig. „Er ist der Laird des Forbes-Clans und nimmt sich nicht die Zeit für Nettigkeiten.“

„Sicher hat er vieles, was seine Gedanken beschäftigt.“

„Aye.“ Colin lächelte. Sie war wirklich eine hübsche Frau. Eine Frau, die nicht vergeben war, eine Frau, die sein Bruder offensichtlich nicht begehrte. Es wäre eine Schande, so eine Gelegenheit nicht zu nutzen, besonders, da sie eine Witwe war, eine Frau, in der der Funke der sexuellen Begierde schon einmal entzündet worden war und nun leer und unerfüllt blieb. „Wir schätzen Ihr Angebot sehr, mit uns zu reisen“, sagte er. „Das ist wirklich großzügig.“

Devona errötete und senkte den Blick. „Vielleicht nicht so großzügig, wie Sie denken. Ich fürchte, dass ich meine eigenen Gründe habe, von hier verschwinden zu wollen.“

„Tatsächlich?“

„Meine Anwesenheit hier hat keinen Sinn“, erklärte sie und ließ dabei den Blick auf den Bechern ruhen. „Seit dem Tod meines Mannes, fühle ich mich …“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Nicht gewollt?“ Die Worte schlüpften ungebeten von Colins Lippen.

„Ja.“ Sie nickte langsam. „Nicht gewollt.“

Reiner Instinkt ließ Colin die ohnehin schon kurze Distanz zwischen ihnen noch verringern. „Ich will dich.“ Die Aussage war eine heisere Liebkosung. 

Devonas Mund öffnete sich leicht.

Plötzlich griff er nach dem hölzernen Tablett, das sie noch voneinander trennte.

„Aber ich … ich kenne Sie nicht.“

„Lernen Sie mich kennen“, hauchte er. „Dort im Schuppen.“

Die Augen der Witwe weiteten sich. „Dem Schuppen?“, keuchte sie.

„Aye, Mädchen. Ich verzehre mich nach dir. Lass mich dich mit in den Schuppen nehmen. Dort entzünde …“

Ihre Hand traf sein Gesicht mit solch einer Kraft, dass die Tassen auf dem Tablett in seiner Hand schepperten. „Wie können Sie es wagen?“, fauchte sie.

Colin blieb der Mund offen stehen. Anscheinend hatte er die falsche Methode angewandt. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich wollte nur mit Ihnen …“

„Wie können Sie es wagen?“, wiederholte sie und klang noch erboster. 

Colins Gesichtsausdruck erschlaffte, und der Anflug des ungestillten Verlangens erlosch. „Es gibt einige, die mein Angebot nicht als Beleidigung empfinden.“

„Und es gibt einige, die mit Schweinen schlafen“, zischte sie. „Aber ich bin nicht so eine.“

„Schweine“, rief Colin, aber sie ging schon steifen Schrittes auf das Haus zu und ließ ihn mit dem Tablett in elender Verwirrung zurück.

„Sie werden auf sie achtgeben?“, fragte der Kaplan ernst. 

„Werde ich“, sagte Leith und sah hinab in die besorgten Augen seines Gegenübers.

Das Morgengrauen war gekommen und wieder verschwunden. Es war schon längst Zeit zu gehen. Neben ihm stand Colin und schwieg, hielt sein eigenes Reittier, den neu erworbenen Rappen und das Pferd, das mit ihrem Gepäck beladen war. Hinter ihm saß die Witwe Millet schweigend auf einer mausbraunen Stute mit schweren Knochen und schmalen Augen. Leith sah den Kaplan an und fragte sich wieder einmal, warum Colin sich für das Reittier der Witwe entschieden hatte. Es war ein starkes Ross aber schlicht und eigenwillig.

„Und Sie werden Geduld mit ihr haben?“, fragte der Kaplan.

„Geduld?“ Leith war kurz irritiert von der Frage. Abgesehen von der Tatsache, dass das Mädchen noch nicht hier erschienen war, warum sollte er geduldig mit ihr sein?“

„Rose …“, setzte der Kaplan langsam an und schüttelte den Kopf. „Rose Gunther ist ein … besonderes Kind.“

Leith blickte Richtung Norden. Er wollte los. „Besonders?“

„Begabt.“

Leith verengte die Augen und blickte nach unten. „Begabt in welcher Hinsicht?“

„Sie wurde von Gott mit gewissen Gaben beschenkt.“

„Können Sie etwas deutlicher werden, Pater?“, fragte Leith ungeduldig. 

Aber der Kaplan zuckte nur mit den Schultern. „Sie werden ihren Wert früh genug kennenlernen, glaube ich.“

Leith verzog das Gesicht. Auf seine Nachfrage hatten ihm die Leute von Millshire von den Fähigkeiten der Heilerin erzählt und ihm damit den perfekten Vorwand gegeben, sie mit nach Schottland zu nehmen. Aber er glaubte nicht, dass der Kaplan jetzt von ihrer Begabung als Heilerin sprach. 

Das Tor der Abbey öffnete sich. Leith hob den Blick. 

So, wie sie dastand, sah sie klein und jung aus, versunken in ihrem blassen, voluminösen Gewand und verborgen unter der Haube. Und trotzdem hatte sie etwas an sich, das seinen Blick auf sie zog – oder war es die Erinnerung an sie am kleinen See, die ihn faszinierte?

„Gebt auf sie acht“, sagte der Kaplan leise mit traurigem Gesichtsausdruck. „Es wird keine leichte Aufgabe.“

Leith sah dem Kaplan stumm nach, als der sich umdrehte und ging. Er schritt an dem Mädchen vorbei, das im Torbogen stand, und richtete noch einige Worte an sie, bevor er im Kloster verschwand. 

Endlich kam sie näher, ihre Schritte waren langsam und unsicher, ihre Hände steckten fromm in ihren Ärmeln, ihre Augen waren rot. Von Tränen? Für einen Moment fragte Leith sich, ob er sich geirrt hatte. Dieses kleine, unschuldige Wesen konnte sicher nicht die mutige, bezaubernde Feenprinzessin sein, die er am See gesehen hatte. 

Seine Finger glitten unbewusst zu der Tasche in seinem Wams. Er fühlte die ungleichmäßige Form des entwendeten Kreuzes durch den Stoff, als sie vor ihm zum Stehen kam.

Stille stand unangenehm zwischen ihnen. Leith griff fester nach Beinns Zügeln. Sie war eigentlich noch ein Kind, sagte er sich mit einem gewissen Unbehagen. Und er war ein betrügerischer Bastard.

Töte mich, Forbes, und bring es zu Ende.“ Das waren die gequälten Worte, die immer noch in seinem Kopf widerhallten, obwohl er versucht hatte, sie zu unterdrücken. 

Betrügerischer Bastard hin oder her, er würde tun, was getan werden musste. Er würde Rose Gunther dazu benutzen, die Wunden zu heilen, die er nicht alleine schließen konnte.

„Komm, Mädchen“, sagte er und schob die düsteren Gedanken beiseite. „Die schwarze Stute nenne ich Maise. Große Schönheit“, übersetzte er. „Sie gehört dir. Ein Geschenk für deine Mühen.“

Rose blickte zur Stute und schien die weit auseinanderstehenden Augen und die vollkommenen Beine zu bemerken. Aber sofort ließ sie ihren Blick wieder auf den Boden vor ihren Füßen fallen. „Ich kann sie nicht annehmen.“

Leith verzog das Gesicht. Er hatte alles sorgfältig geplant und konnte es sich nicht leisten, Zeit zu verschwenden. Er war kein geduldiger Mensch aber entschlossen, und er würde charmant sein, denn er wollte sie für seine Art des Denkens gewinnen. 

„Du kannst die lange Reise bis in mein Heimatland nicht zu Fuß bewältigen“, sagte er und versuchte sanft zu klingen. „Nimm die Stute. Ich gebe sie dir gerne.“

„Ich kann nicht.“

Leith fluchte schweigend, ballte die Fäuste und spürte, wie sein Kiefer sich spannte. Er mochte keine Verzögerungen. Er mochte kein Gezänk, und er mochte Frauen nicht, die seinen Anweisungen nicht folgten. 

Sei charmant, sagte er sich verärgert. Er musste charmant sein. 

„Ich habe das Pferd selbst ausgesucht. Es wird dir einen weichen Ritt garantieren. Willst du nicht …“

„Nein!“

Die Kraft ihrer Stimme überraschte ihn. Aber es waren ihre Augen, die ihn am Boden festnagelten. Heiliger Himmel! Bei ihrem vorherigen Treffen hatte er die Farbe nicht ausmachen können, aber jetzt sah er, dass sie einen violetten Schimmer hatten – so hell und scharf wie wertvolle Juwelen. Also war es nicht nur ihr volles, kastanienbraunes Haar und ihre schöne Gestalt, die an die verstorbene Frau des alten Lairds erinnerten. Es waren auch ihre Augen, die einen verhexten.

Aber Leith Forbes ließ sich nicht verhexen. Nein. Er würde einen kühlen Kopf bewahren. Und er würde sie zur Frau nehmen.