Leseprobe Dunkles Schweigen

Kapitel 1 – Der Tod und seine Helfer

Lescale

Der Donner krachte, als wäre da oben jemand mächtig sauer, dass sie diesen Weg gehen musste. Dunkle Wolken waren am Abend aufgezogen und verfinsterten das Kloster. Sie mochte es, wenn der Tag seine ewige Schlacht mit der Nacht verlor und ein dunkles Tuch über die spitzen Türme des Klosters warf. Doch heute war es anders.

Jeder Schritt in Richtung Büro der Mutter Oberin fiel Schwester Victoria Lescale schwerer. Ihre Füße schienen das Gewicht ihres schmalen Körpers nicht mehr tragen zu wollen, und ihr kam es so vor, als würde der Habit Tonnen wiegen. Während Blitze in der Nacht zuckten und ihren hellen Schein durch die ausladenden Fenster schickten, verharrte sie. Kein Schritt wollte ihr mehr gelingen, ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust, und kalter Schweiß lief ihr den Nacken hinunter.

Es war die richtige Entscheidung. Definitiv. Oder nicht? Hätte sie mehr kämpfen sollen? Sich gegen Oberin Marie wehren müssen?

„Schwester Victoria.“ Die Stimme kam aus einer anderen Welt und riss sie unbarmherzig aus ihren Gedanken. Nur ein Wispern während eines Unwetters, kaum vernehmbar und leicht zu überhören. „Vicky, warte. Bitte!“

Erst als Victoria eine Berührung an ihrer Schulter spürte, reagierte sie, und ihre Lider öffneten sich widerwillig. „Fayola? Was machst du denn hier?“

„Die Frage sollte ich dir stellen“, entgegnete die Frau und umfasste ihren Arm mit verzweifelter Stärke. „Gehst du wirklich? Verlässt du uns?“

„Ja“, hauchte Victoria. Sie wollte noch so viel mehr sagen, ihrer Zimmergenossin alles erklären, in Tränen ausbrechen oder schreien, aber es war nur dieses eine Wort, das ihre Lippen verließ.

„Bitte bleib hier.“ Panik eroberte den Blick von Schwester Fayola.

So hatte sie ihre Freundin nie zuvor erlebt. Als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Auch ihr Noviziat neigte sich dem Ende entgegen. Aus anfänglicher Abneigung war erst Sympathie und anschließend so etwas wie Freundschaft geworden. Nun würden sich ihre Wege jedoch trennen, und nichts konnte sie aufhalten.

Nichts. Gar nichts. Hoffentlich.

„Tut mir leid, Fayola.“ Victoria streichelte ihr über die Wange, während das Unwetter die schwarze Haut ihrer Zimmergenossin Kamerablitzlichtern gleich erhellte. Wäre sie nicht Nonne geworden, hätte sie sich die Schwester auch gut auf den Covern von Hochglanzmagazinen vorstellen können. Welche Ironie des Schicksals, dass jemand einen anderen Weg für sie bereithielt. „Ich muss gehen. Heute noch.“

Ein Hustenkrampf schüttelte Schwester Fayola, als sich ihre Finger in Victorias Habit krallten. „Ich muss mit dir reden. Es ist dringend … Bitte …“ Eine Träne löste sich, ihre Stimme versagte.

Victoria wollte gerade etwas erwidern, als sich ein Schatten zu ihrer Linken aufbaute.

„Schwester Victoria!“ Der scharfe Tonfall der Mutter Oberin durchschnitt den prasselnden Regen draußen. Wie eine der Steinfiguren, die den Gang flankierten, stand die groß gewachsene Frau vor der Tür ihres Büros und durchbohrte sie mit Blicken und schaute direkt in ihre Seelen.

Der Donner schleuderte erneut sein dunkles Lied durch die Gänge.

Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Victorias Lippen. „Ich bin nicht aus der Welt, Schwester Fayola. Wir reden später.“

Hastig wandte sie sich um und trat mit gesenktem Kopf in das Büro. Sie nahm nicht Platz, denn sie wusste, dass sie dazu hätte aufgefordert werden müssen. Galt außerhalb der dicken Mauern des Klosters auch Demokratie, innerhalb herrschte Mutter Oberin Marie mit eiserner Hand.

Wortlos umrundete die ältere Frau ihren Schreibtisch. Die Sekunden dehnten sich zu einer Unendlichkeit, bis sie sich endlich niederließ.

„Sie werden uns also endlich verlassen?“ Ihr Tonfall schnitt wie tausend Messer.

„Ja, Mutter Oberin.“

„Gut. Dann muss ich Sie nicht eigenhändig vor die Tür setzen.“ In Zeitlupe öffnete sie die Personalakte und tat so, als würde sie jedes Wort einzeln studieren. Sie fuhr sich über das eingefallene Gesicht und schüttelte schließlich den Kopf. „Mir war bewusst, dass Sie nicht genügen würden.“ Abscheu trat in ihre hellblauen Augen. „Interessiert es Sie, warum es mir so klar war wie das Quellwasser aus unserem Heilbrunnen?“

Victoria biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Hundert Dinge hätte sie ihr am liebsten an den Kopf geworfen. Keine schönen, versteht sich. Sah sie denn nicht, wie sehr sie mit sich rang? Wie schwer es ihr fiel, in diesem vollkommen mit Büchern überladenen Büro zu stehen und sich ihr eigenes Scheitern bewusst zu machen? Nach ihrem vergeigten Examen zur Krankenschwester hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als Gutes tun und Gott zu dienen. Sie hatte geglaubt, dass dies der richtige Weg gewesen wäre.

Vergebens.

Victoria füllte ihren Brustkorb mit Luft, doch ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ja, Mutter Oberin.“

„Sie haben nach dem Ende der Kandidatur ihren eigenen Namen gewählt, Fräulein Lescale. Sie hätten sich einen Schwesternnamen mit Bedeutung aussuchen können, wohlklingend und demütig, wie es sich gehört. Aber Sie haben sich für Ihren eigenen entschieden.“ Die Oberin schlug die Akte zu und kreuzte die Finger auf dem handbeschrifteten Einband.

Victoria schlug die Augen nieder. Fräulein, keine Schwester mehr. Nicht einmal eine Frau. Ein Tiefschlag, der saß und die letzte Hoffnung auf Versöhnung in Stücke riss. Das behütete Klosterleben wurde mit wenigen Worten und kalten Blicken voller Gift und Bosheit beendet.

„Ziehen Sie die Ordenskleidung aus, nehmen Sie Ihre Privatsachen und verlassen Sie das Kloster“, befahl die Oberin harsch. „Alles Weitere wird Ihnen an Ihre neue Adresse geschickt.“ Die hochgewachsene Frau schob die Akte zur Seite, als wäre sie eine Lästigkeit, der es sich zu entledigen galt. „Guten Abend.“

Victorias Lippen bebten, während sie das Büro verließ und das Unwetter vor den Fenstern zum unsichtbaren Begleiter ihrer Trauer wurde. Sie wollte flüchten, nur weg von hier. Endlich erreichte sie ihre Stube. Selbst der prasselnde Regen spielte ihr einen Streich und schien von herzzerreißenden Schreien begleitet zu sein.

Eilig packte sie ihre Sachen, faltete den Habit und zog eine Jeans, ein Top und einen dünnen Pullover über, dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen. Immer wieder verschwamm ihre Sicht, und selbst Fayola war nicht da, wie sonst immer, wenn eine der beiden in dunklen Stunden Mitgefühl brauchte.

Wahrscheinlich ist sie wütend, dachte Victoria und verstaute ihre Habseligkeiten in einem Koffer. Mit wenigen Handgriffen war ihr Teil des Zimmers so, wie sie ihn vor drei Jahren vorgefunden hatte. Nur die nigerianischen Flaggen und die Bibel auf Fayolas Seite zeugten jetzt noch davon, dass hier jemand lebte.

Es war ungewohnt, ihre langen blonden Locken zu spüren, wie sie in ihrem Nacken kitzelten und einem Schweif gleich um sie herum wirbelten. Das war nun ihr Leben.

Ein Neuanfang. Schon wieder. Und abermals war es nicht ihre Entscheidung gewesen.

Mehrfach zog sie die Nase hoch, straffte den Rücken und schluckte Trauer und Enttäuschung über sich selbst hinunter, bevor sie die dunklen Gänge des Klosters zum Haupteingang nahm. Sie würde das Gemäuer nicht verheult verlassen. Diesen Rest Würde wollte sie sich bewahren.

Jeder wütende Schritt vermischte sich mit dem tosenden Donner. Victoria riss die Tür so energisch auf, als wollte sie das Kloster absichtlich beschädigen.

Bei Gott, sie brauchte nur ein wenig Mut. Vielleicht war das Ordensgelübde nichts für sie, aber sie würde einen neuen Weg finden. Für sich und für …

Ihre Überlegungen endeten abrupt.

Bittere Kälte zog ihren Körper hoch. Sie nistete sich ein in ihr und verdrängte jeden klaren Gedanken. Die Vorahnung wurde so stark, dass ihr Kopf zu pochen begann und ihre Glieder taub wurden.

Auf den Stufen des Klosters lag reglos jemand in einer Nonnenkluft. Ein dunkler Schatten erhob sich über dem Körper und starrte sie aus blitzenden Augen an. Herzschläge später verschwand die Gestalt in der finsteren Nacht. Mit zittrigen Beinen näherte sich Victoria dem grotesk verdrehten Leib. Bevor sie die Person auf den nassen Stufen des Klosters erkannte, wusste Victoria, wen sie vor sich hatte.

Kapitel 2 – Die Nachthexe

Schwarz

Zufrieden blies Kriminalkommissarin Carmen Schwarz den Zigarettenqualm an die Decke ihrer Wohnung und beobachtete, wie die Rauchschwaden durch den Ventilator in Bewegung gerieten. Sie sahen aus wie durchsichtige Drachenleiber, die sich mühsam ihren Weg durch das von Hitze und Schweiß geschwängerte Apartment suchten. Das Unwetter hatte die Luft gereinigt, sodass sie für einen Moment nicht das Gefühl hatte, Saunahitze zu atmen. Carmen genoss die kühlende Luft, die der sanfte Sommerwind durch das offene Fenster trug und ihren Pulsschlag beruhigte.

In Momenten wie diesem mochte sie ihr Leben. Zumindest war es aushaltbar. Doch so sicher, wie der Typ neben ihr verschwinden würde, krochen die Erinnerungen zurück in ihren Verstand und brachten eine Schwermut mit sich, die sie beinahe lähmte.

Noch einmal zog sie an der Zigarette, dann wandte sie den Blick von der Decke auf den jungen Mann. Mit einem seligen Lächeln streichelte er ihre nackten Brüste.

Wie war sein Name gleich? Mark, Marcus oder ganz anders?

„Hey, das war echt wundervoll und toll und so. Aber ich müsste gleich arbeiten, also …“ Carmen drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und trank ein paar Schlucke Wasser. „Wie wäre es, wenn wir mal schreiben? Irgendwann.“

Der Typ blieb ruhig, richtete sich auf und nahm ihre Hand. „Ich muss nicht gehen, Frau Kommissarin.“ Woher wusste er das? Verdammt, sie redete einfach zu viel, wenn sie Wein getrunken hatte. „Wenn du möchtest, kann ich über Nacht bleiben.“ Er küsste ihre Schulter, dabei fielen ihm die Haare ins Gesicht, und die Bauchmuskeln unter seiner Haut spannten sich verführerisch. „Ich habe morgen Urlaub und würde dich zum Frühstück einladen. Vielleicht setzen wir uns an die Kö und beobachten, wie deine Kollegen die ganzen Porsche im Halteverbot aufschreiben.“

O fuck. Er wollte tatsächlich bleiben.

„Hör zu, das war echt ein schöner Abend. Lass es uns einfach dabei belassen.“

Die Miene des Mannes änderte sich schlagartig. Pure Enttäuschung sprang Carmen entgegen. Für einen Herzschlag ließ er sich zurück ins Kissen fallen, murmelte ein paar Schimpfworte und erhob sich. Sie lief zum Fenster, lehnte sich an den Rahmen und sog die kristallklare Nachtluft ein, während sie die Tür hinter sich zuschlagen hörte.

Endlich war sie allein.

Noch immer zuckte ihr Unterleib und löste ein Kribbeln aus, das ihren Körper in einer wundervollen Stasis hielt. Carmen wusste, dass der Zustand nicht lange anhalten und sie bald zu grübeln beginnen würde.

Der Unbekannte aus der Bar hatte sich verdammt viel Mühe gegeben, war Single, wenn man ihm Glauben schenken wollte, sah gut aus, hatte einen tollen Job, und trotzdem war er nur ein Zeitvertreib gewesen, eine Droge, die man sich beschaffen musste, um den Schmerz für eine Weile zu betäuben.

Sie hasste sich dafür und machte gleichzeitig eine Gedankennotiz, dass die Bar ein durchaus passables Jagdgebiet war.

Ihr Blick wanderte in die Ferne, wo die Glockenschläge der Pfarrei Heilige Dreifaltigkeit erklangen.

Nur wenige Sekunden der Ruhe waren ihr vergönnt, bis der Handywecker sie unbarmherzig in die Realität zurückriss. Ihr Dienst würde bald beginnen. Seufzend ging sie zum Nachttisch, schaltete den Wecker aus und bemerkte mit Schrecken, dass sie eine falsche Uhrzeit eingestellt hatte.

„Mist!“ Sie hatte sich zu viel Zeit gelassen und wurde schlampig.

Nackt hastete sie ins Badezimmer, wusch sich notdürftig mit einem Waschlappen und ordnete ihre brünetten Haare. Als sie den Wust endlich gebändigt und zu einem Zopf gebunden hatte, schaute sie in den Spiegel. Ihr Ebenbild war verschwommen. Wie viele Gläser hatte sie in der Bar gekippt? Drei, oder waren es mehr gewesen?

Der Griff in ihren Wandschrank war zu einem besorgniserregenden Automatismus geworden. Sie warf zwei Modafiniltabletten ein und benutzte Augentropfen. Während sie den Hosenanzug überstreifte, ihre Dienstwaffe aus dem Tresor holte und überprüfte und die Wohnung verließ, spürte sie, wie sich die Wirkung des Aufputschmittels entfaltete.

Auf der Autofahrt klingelte ihr Mobiltelefon zweimal.

Selbst schuld, dachte sie und drückte aufs Gaspedal ihres schicken Audi TT. Vom Frühdienst auf die Nachtschicht in nur wenigen Stunden – welcher Körper machte das über einen längeren Zeitraum mit? Die Antwort war so einleuchtend wie schmerzhaft. Ihr Chef und gleichzeitig ihre Ex-Affäre, Erster Hauptkommissar Ingo Falkner, wollte sie aus der Mordkommission drängen. Am besten ganz weit weg. Rügen zum Beispiel. Oder zum Mond, wenn die Polizei dort eine Dienststelle unterhalten würde. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Nur damit er seiner Ehefrau und den Kollegen weiterhin heile Welt vorspielen konnte.

Dabei war es nicht allzu lange her, dass er geschworen hatte, seine Frau zu verlassen. Den Himmel auf Erden hatte er Carmen versprochen, und für ein Jahr war es das auch gewesen. Sie könnte sich ohrfeigen, dass sie so dumm gewesen war, ihm zu glauben.

Mit quietschenden Reifen kam sie an der Haroldstraße zum Stehen kam, betrat das Düsseldorfer Polizeipräsidium. Auf dem Flur der Kriminalinspektion 1 hörte sie bereits das Gerede.

„Schon wieder zu spät, Schwarz? Vielleicht sollten wir mal zusammenlegen, damit du dir eine Uhr kaufen kannst.“

„Fick dich, Porowski.“

„Uh, die Nachthexe, wie sie leibt und lebt.“

Die beiden Kollegen lachten auf.

„Du wirst oben erwartet.“

Nachthexe.

Diesen Namen hatten sie ihr gegeben, seit Falkner sie vor einem halben Jahr nur noch in der Dunkelheit einsetzte, um sie loszuwerden. Dabei war er es gewesen, der verbreitet hatte, dass sie wie eine Klette an ihm hängen würde. Die Wahrheit war anders, doch es interessierte niemanden, wenn der übermächtige und allseits beliebte Chef etwas Gegenteiliges behauptete. Sein Wort war Gesetz, wehe dem, der sich mit ihm anlegte. Noch immer schmeckte sie seine leidenschaftlichen Küsse, roch das herbe Parfüm und spürte seine Bartstoppeln auf ihrer Haut. Das alles hatte sich grundlegend geändert und war zu infernalem Hass geworden, wie so oft, wenn das Happyend ausblieb.

Das Neonlicht unter der Decke blendete sie, während sie in den Konferenzraum trat, in dem die Abendbesprechung stattfand. Sofort waren alle Blicke auf sie gerichtet.

Ingo Falkner fuhr sich über den Dreitagebart und überlegte wahrscheinlich fieberhaft, mit welchen Äußerungen er sie in Grund und Boden stampfen konnte. Das Publikum hing an seinen Lippen und wartete gespannt auf den Auftakt zu einer seiner epischen Hasstiraden.

Carmen atmete noch einmal durch und fixierte ihn mit dunklen Augen. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun wegzusehen.

Spotlight on – die Show konnte beginnen. „Kollegin Schwarz, schön, dass Sie uns auch noch beehren.“ Er lächelte, obwohl jedes Wort wie Toxin in ihre Adern floss. „Nun, ich weiß, es klingt bescheuert, aber tatsächlich ist die Polizei dafür da, um Menschen zu schützen, wussten Sie das?“

„Sorry, ich war noch etwas kaputt von der Frühschicht und …“

„Dafür sollte man auch mal zur Arbeit kommen. Immerhin werden Sie genau dafür bezahlt.“ Er zog eine Braue nach oben. „Oder machen Sie das nur hobbymäßig? Das würde vieles erklären.“

Die letzten Silben gingen im zustimmenden Gesprächsgewirr unter. Carmen suchte sich einen Platz am hinteren Ende des Konferenztischs und ließ die Häme über sich ergehen. Dieses Arschloch hatte bekommen, was er wollte, und konnte nun seine Instruktionen fortsetzen.

„Wir müssen uns um den toten Pinguin kümmern.“

„Bitte was?“ Carmen konnte ihren Mund einfach nicht halten.

„Eine Nonne ist auf den Treppen des Klosters Marienburg gestorben, die Schutzpolizei hat den Fall an uns übergeben. Wir kümmern uns um den Ersten Angriff“, antwortete er und kreuzte die muskulösen Arme vor der Brust. „Wären Sie pünktlich gewesen, hätten Sie das gewusst.“ Seine Lippen zogen sich nach oben, bis die strahlend weißen Zähne zu sehen waren.

Sie überkam ein bizarrer Drang zu lachen, den sie nur mühsam unterdrücken konnte. „Ich weiß, was der Erste Angriff ist.“ Carmens Stimme war wie junges Eis, kalt und zerbrechlich.

Sie hatte vergessen, wie sehr manche Menschen in diesem Job abstumpften, vielleicht sogar mussten. Diese Pietätlosigkeit kotzte sie jedoch an. Bei Falkner war ihr der Fehler unterlaufen, es mit Coolness zu verwechseln. Zu spät war sie darauf gekommen, dass ihm die Menschen tatsächlich scheißegal waren.

Er räusperte sich bedeutungsschwanger. „Poldner und Matusch, euer Fall. Also, ab ins Kloster mit euch!“

Zum Teufel, hörte sie gerade richtig?

Unzählige Male hatten sie hier auf der Dienststelle gevögelt, bis sie schweißnass zu Boden gesunken waren. Und jetzt behandelte er sie, als wäre sie Luft.

Sie wusste, dass es dumm war, doch Wut und Ehrgeiz übernahmen die Kontrolle. „Das ist mein Fall“, protestierte Carmen und erhob sich. „Ich bin im Dienst und habe keine Akte. Laut Protokoll bin ich an der Reihe.“

„Ich korrigiere: Sie haben sogar eine ganze Menge Akten.“ Falkner setzte sich genüsslich hin und trank seinen Kaffee. „Auf dem Schreibtisch neben dem Kopierer warten Dutzende Cold Cases, die digitalisiert werden sollen.“

Jahrzehntealte Akten einscannen? Sollte das ihre Beschäftigung sein? „Ich bin bei der Mordkommission“, entfuhr es ihr viel zu laut. „Ich sollte aktuelle Fälle bearbeiten.“

Großartig! Mach nur weiter so, dann halten dich wirklich bald alle für eine Hexe.

Wenn Männer laut wurden, waren sie energisch, bei Frauen hingegen war es Hysterie. Dabei entging ihr nicht, dass die Kollegen schon wieder etwas von der zickigen Nachthexe faselten.

Falkner atmete genervt aus, als wäre sie ein Kleinkind, das es zu beschäftigten galt. „Das wäre dann alles.“ Die versammelten Polizisten erhoben sich vom Konferenztisch. „Und was Sie angeht, Kommissarin Schwarz – machen Sie, was Sie wollen. Es ist mir gleichgültig.“ Mit federnden Schritten verließ er den Raum.

Zurück blieb Carmen. Ihre Augen brannten vor Wut, am liebsten hätte sie Gift und Galle gespuckt. Wenn die Kollegen sie unbedingt in die Rolle der Hexe drängen wollten, vielleicht sollte sie ihnen geben, wonach sie verlangten.

Sollte sie ihm eine Szene machen? Laut herumschreien, seine perfekte Frau mit den drei perfekten Kindern anrufen und ihr jedes Detail ihrer monatelangen Affäre aufzählen?

Carmen fuhr sich übers Gesicht. Das würde ihm nur gefallen. So könnte er sie endgültig als verrückt abstempeln und versetzen lassen. Diese Genugtuung dufte Carmen ihm nicht geben. Sie musste durchhalten, koste es, was es wolle. Der erste Schritt war es, sich diesen Fall zu krallen. Und zu lösen.

Kapitel 3 – Die Beichte

Lescale

Einige waren der Ansicht, dass Tote wie Schlafende aussahen.

Nichts könnte einem Trugschluss mehr entsprechen.

Obwohl Victoria bereits etliche Leichen gesehen hatte, brannte sich ihr das Gesicht ihrer Zimmergenossin in den Verstand. Während ihrer Ausbildung im Krankenhaus waren die Menschen alt gewesen, der Tod eine süße Erlösung, sodass sie manchmal gedacht hatte, ein Lächeln auf den faltigen Lippen ihrer Patienten sehen zu können, wenn sie dahingeschieden waren. Doch hier war der Sensenmann nicht gütig gewesen, sondern hatte voller Zorn und Gewalt ein junges Leben an sich gerissen.

Fayolas leere Augen starrten in die Ferne, verkrustetes Blut befleckte ihre ebenmäßige schwarze Haut, während die Polizisten mit einschläfernder Routine ihrer Arbeit nachgingen.

Der Pappbecher mit Tee, den man ihr gereicht hatte, zitterte gewaltig. Wieso, in Herrgotts Namen, wurde Fayola nicht an einen schöneren Ort gebracht? Warum musste sie diese unwürdige Fotografiererei über sich ergehen lassen? Jemand sollte ihr trockene Kleidung bringen oder zumindest ein Tuch übers Gesicht legen. Stattdessen wurde mit sterilen Handschuhen ausgemessen, untersucht, angehoben, notiert und beschriftet.

„Verzeihen Sie, Schwester Lescale, möchten Sie Ihre Aussage ergänzen?“

„Wie bitte?“ Victoria fröstelte, obwohl sich die Hitze in der Stadt eingenistet hatte. Sie musste sich zwingen, sich von Fayola abzuwenden.

„Ihre Aussage.“ Der dickliche Oberkommissar blätterte in seinen Unterlagen. „Der Verdächtige ist schwarz, etwa ein Meter fünfundachtzig groß, hat dunkle Augen, keine Tattoos, trägt durchnässte Jeans und ein blaues Hemd. Kurz vor der Tat haben Sie womöglich Schreie gehört, ist das richtig?“

„Blau oder grün“, korrigierte Victoria und spürte, wie die Blicke der anderen Schwestern auf ihr ruhten. „Das konnte ich nicht genau erkennen.“

„Aber er hat definitiv eine schwarze Hautfarbe?“

Sie sah den Beamten an, als würde er Altaramäisch sprechen. „Ja, hatte er. Definitiv.“

„Beziehungstat“, murmelte er zu seinem Kollegen, der beflissen nickte. „Bei den Brüdern weiß man nie so genau.“

Die letzten Worte bekam sie nur am Rand mit. Immer wieder fragte sie sich, ob es etwas geändert hätte, wenn sie innegehalten und ihrer angsterfüllten Zimmergenossin ein wenig mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Sie schaute sich um.

Die Ordensschwestern waren in stillem Gedenken in ein Gebet vertieft, viele weinten, nur eine fixierte sie die ganze Zeit. Der Blick von Oberin Marie schmerzte wie das Höllenfeuer selbst.

„Sie wollte mit mir reden“, flüsterte Victoria, während sich die Polizisten bereits umdrehten und ihre Mobiltelefone zückten. „Vielleicht hatte sie Angst. Außerdem war sie kein einfacher Charakter, ihre Vergangenheit …“

„Machen Sie sich deswegen keine Gedanken“, erwiderte der dickliche Beamte schnell und unterstrich seine Worte mit einer ausladenden Geste. „Diese Ehrenmorde passieren nun einmal. War bestimmt ein Bruder oder ein Cousin. Sie wissen schon, anderer Kulturkreis.“

„Aber sie ist – war keine Muslima.“ Victoria schüttelte den Kopf, ihre Stimme nahm an Intensität zu. „Sie sehen doch, welche Kleidung sie trägt.“

„Um die Details kümmert sich unsere Kollegin.“ Der Tonfall war schneidend. „Viel Vergnügen mit der Nachthexe.“

Die Worte drangen zwar an Victorias Ohren, schienen jedoch keinen Sinn zu ergeben. „Nachthexe?“

„Damit bin ich wohl gemeint.“ Als sich die junge Frau mit den brünetten Haaren und den tiefdunklen Augen zu ihnen gesellte, wandten sich die beiden Polizisten ab, als hätte die Kollegin eine ansteckende Krankheit. „Hi, ich bin Kriminaloberkommissarin Carmen Schwarz. Mordkommission.“

„Schwester Victoria Lescale.“ Nein, das war falsch. Sie war keine Schwester mehr, sondern nur jemand, der wieder einmal gescheitert war. „Ihre Kollegen haben wohl kein Interesse, den Mörder zu finden.“

„Poldner und Matusch?“ Sie gähnte herzhaft. „Das sind ziemliche Idioten, die so viele Stereotypen in sich vereinen, dass sie selbst wandelnde Klischees sind.“ Die Frau rieb sich die Augen. „Trinken Sie das noch?“

„Bitte?“

„Den Tee. Ich könnte einen vertragen.“

So langsam konnte Victoria verstehen, warum die Kommissare sie so nannten. Das dunkle Outfit und ihre Art erinnerten sie an eine aufreizende Hexe an Karneval. Aber etwas war anders: Diese Frau wirkte kraftlos, als hätte sie viele Kämpfe geschlagen und zu oft verloren. Obwohl ihr Haar glänzte, das Make-up ins Frivole glitt und ihre Attraktivität den Männern bestimmt den Kopf verdrehte, besaß sie die Augen einer alten Frau. Sie brauchte den Tee bestimmt dringender. Wortlos reichte Victoria ihr die lauwarme Flüssigkeit.

„Also, sie hatte Angst, wollte reden und war ein schwieriger Charakter.“ Gierig trank die Kommissarin den Tee. „Begleiten Sie mich auf ihr Zimmer?“

„Ich zeige Ihnen alles.“ Victoria nickte, senkte den Kopf und ging voran, vorbei an Oberin Marie. Geflüsterte, nicht verständliche Worte fanden den Weg zu ihr. Bat sie um Vergebung für ihre Sünden? Oder verfluchte die Schwester Oberin sie?

Verübeln konnte Victoria es ihr nicht. Immerhin hatte sie eine tonnenschwere Schuld auf ihre Schultern geladen. Vielleicht war das der Grund, warum Gott sie bestrafen wollte. Die Überlegung biss sich wie eine Schlange in ihrem Herzen fest.

„Mir wurde gesagt, dass Sie gerade Reißaus nehmen und das Klosterleben in dieser Nacht beenden wollten. Keine Lust mehr, ohne Alkohol und Sex auskommen zu müssen?“

„Ist das Ihr Ernst?“

Ihre Blicke trafen sich.

„Ich habe mich dazu entschlossen, dem Herrn auf anderen Wegen zu dienen“, fuhr Victoria fort.

Kommissarin Schwarz schaute sich um, als sie durch die langen Gänge liefen und der modrige Geruch des uralten Gemäuers sie umgab. „Kann ich Ihnen nicht verübeln. Hier würde ich keine drei Tage bleiben wollen.“

„Es ist eine Erleichterung.“ Victoria hatte die Worte so voller Inbrunst gesprochen, als müsste sie sich selbst überzeugen. „Wenn Gott jemandem die Nachricht sendet und einen auf den Weg schickt, sollte man ihn gehen.“

„Bei Ihnen waren es wohl Fake News“, feixte die Polizistin. Sekundenbruchteile später biss sie sich auf die Unterlippe. „Entschuldigung, ich schieße manchmal übers Ziel hinaus.“

Bei Gott, was war das nur für ein schrecklicher Mensch! Victoria faltete die Hände und schickte ein stummes Gebet gen Himmel. Diese Nacht konnte nicht schlimmer werden.

Als sie den Raum betraten, wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie sich geirrt hatte. Wohin sie sah – Unordnung. Das hätte ihrer Zimmergenossin nicht gefallen. Überall lagen Fayolas Sachen verstreut, alles war mit Tatortmarkierungen versehen. Die nigerianischen Flaggen und sogar das Kreuz lagen auf dem durchwühlten Bett, direkt neben Fayolas Unterwäsche.

„Oh, die Kollegen waren schon da“, erklärte Kommissarin Schwarz und legte sich auf das unbezogene Bett, in dem Victoria vor nicht allzu langer Zeit noch geschlafen hatte. „Die Beweismittel wurden gesichtet, ab jetzt kann wieder aufgeräumt werden.“ Sie legte die Füße hoch und schloss die Augen. „Also, was war sie für ein Mensch, diese Fayola Dingsbums?“

„Fayola Bakare.“ Victoria schluckte trocken. Wollte die Frau sie mit ihrem Verhalten provozieren und zu Fehlern verleiten? Mit Schwung packte Victoria die Beine der Polizistin und schwang sie vom Bett. „Sie war ein respektvoller Mensch, der das Leben geachtet hat, obwohl selbiges es nie gut mit ihr meinte.“

Carmen Schwarz nickte herausfordernd. Ein Blitzen in den dunklen Augen verriet, dass die Konfrontation ein Feuer in ihr entfacht hatte. „Bedeutet?“

„Viel hat sie nicht über sich erzählt, ich meine, über die Zeit vor dem Kloster Marienburg …“

„Es scheint, dass Sie keinen guten Draht zueinander gehabt haben.“ Sie legte die Ellenbogen auf die Knie und tippte die Fingerspitzen aneinander.

„Doch. Unser Verhältnis war gut.“ Victoria hielt den Atem an.

Die Polizistin nickte verstehend. „Aber nicht so gut, dass Sie viel miteinander geredet hätten.“

Es schmerzte sie fast körperlich, sich mit dieser unangenehmen Person zu unterhalten, während Fayola völlig durchnässt und des Lebens beraubt auf den kalten Treppen der Abtei lag.

„Wenn Sie Ihre Eltern verloren hätten und entführt worden wären, würden Sie den Teil Ihres Lebens auch gerne vergessen“, platzte es aus ihr heraus.

„So?“

Die Bilder der Vergangenheit tauchten vor ihrem geistigen Auge auf und verschmolzen zu einem traurigen Film. „Sie hat einmal erzählt, dass sie Heimweh nach Nigeria hat, obwohl sie dort ihre Eltern verloren hat. Eine Schlepperbande hat sie und ihren kleinen Bruder entführt. Daraufhin sind sie in die Fänge einer Sekte geraten.“ Sie musste die Tränen zurückhalten und sämtliche Kraft aufwenden, damit ihre Stimme nicht brach. „Über die Geschehnisse danach hat Fayola eisern geschwiegen. Sie hat immer gesagt, dass dies nicht zu ihrem Leben gehören würde und nur ein böser Traum gewesen sei, den sie einmal in finsterer Nacht gehabt hatte.“

„Und Sie haben ihr geglaubt?“

„Es gab keinen Grund, es nicht zu tun. Die Menschen gehen aus den unterschiedlichsten Gründen ins Kloster. Ihren habe ich am besten verstanden.“ Victoria setzte sich der Frau gegenüber auf Fayolas durchwühltes Bett. „Die Striemen auf ihrer Haut, jede der unzähligen Narben und ein Brandzeichen waren Beweis genug.“

„Also schreckliche Kindheit, Flucht ins Kloster und jetzt tot. Klingt nicht nach einem erfüllten Leben.“ Schwungvoll erhob sich die Kommissarin. „Dieser Mann, war das ihr Bruder?“

„Ich habe ihn nie kennengelernt. Sie hatten über Jahre keinen Kontakt. Wenn Sie Genaueres wissen wollen, ihr Tagebuch werden Sie bestimmt gefunden haben.“

Mit gespielter Empörung sah sich die Polizistin nach allen Seiten um. „Ein Tagebuch ist nicht gefunden worden“, erwiderte sie herausfordernd und legte einen Finger auf ihre Lippen. „Um ehrlich zu sein, haben wir das Zimmer genauso vorgefunden. Können Sie sich das erklären?“

Konnte das wahr sein? Victoria riss die Augen auf. „Bitte was?“

„Sie sind die Letzte, die Fayola Bakare lebend gesehen hat, und wollten heute das Kloster verlassen. Außerdem gibt es keine Personalakte, und das angebliche Tagebuch wurde nicht sichergestellt, obwohl das Zimmer untersucht worden ist.“ Sie beugte sich zu ihr herab, berührte ihre Hände mit eiskalten Fingern und schob Victoria eine blonde Locke hinter die Ohren. „Sie sind nicht zufällig im Testament als Alleinerbin hinterlegt?“

„Was? Nein. Natürlich nicht!“ Ihre Stimme überschlug sich und zitterte wie das letzte Blatt eines Baums in einer stürmischen Nacht. „Verhören Sie mich gerade?“

Carmen Schwarz wiegte den Kopf. „Wir werden überprüfen, ob es nicht zufällig eine Testamentsänderung gegeben hat. Bleiben Sie bitte in der Stadt, und halten Sie sich für weitere Befragungen bereit.“ Sie erhob sich und griff in ihre Jacketttasche. „Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte und Sie … beichten möchten, hier ist meine Karte.“

Wortlos ging sie aus dem Raum und ließ Victoria allein zurück. Das Zimmer, in dem sie jahrelang geschlafen, gebetet, geredet und gelacht hatten, war ihr mit einem Mal so fremd, dass ein kalter Schauer ihr über den Rücken kroch.

Gehörte das zum Plan dieser schrecklichen Person? Sie zu separieren und in Sicherheit zu wiegen? Nein, das konnte nicht sein. Sie musste darauf vertrauen, dass die Polizei ihrer Arbeit nachging. Sie hatte nichts zu befürchten. Zumindest nichts von weltlichen Gerichten.

„Fräulein Lescale?“

Ihr Kopf fuhr herum, als die schneidende Stimme von Oberin Marie erklang. Der Raum war plötzlich so kalt, als hätte der Frost eine dünne Schicht über das Mobiliar gelegt. „Ja, Mutter Oberin?“

„Sie müssen uns jetzt verlassen.“

Victoria fühlte Wut in sich aufsteigen. Waren ihre Vergehen so schwer, dass Gott sie quälen wollte? Jemand spielte sein Spiel mit ihr, und, zum Teufel, sie würde herausfinden, was hier passiert war. Das war sie Fayola schuldig.