Leseprobe Das Amulett der Highlands

1. Kapitel

Mary Hurst vor zwei Wochen an ihren Bruder Michael

Die männlichen Hursts sind in alle Winde zerstreut. Du wirst von einem scheußlichen Sufi gefangen gehalten, bis wir ihm die geheimnisvolle Onyxdose bringen, die du erworben hast und die er für sich haben möchte; William nimmt es bei dem Versuch, Dich zu befreien, mit dem Meer auf, und Robert ist … (Dieser Teil des Briefs ist von einem großen Tintenfleck entstellt.)

Um ehrlich zu sein, wissen wir nicht, wo Robert ist. Das Letzte, was wir von ihm hörten, war, dass er bei dem Versuch, das Geheimnis zu lösen, eine schöne Rothaarige durchs wilde Schottland jagte.

Merkwürdigerweise mache ich mir um Robert die größten Sorgen.

Bonnyrigg, Schottland

16. Juli 1822

 

Mr Bancroft trat auf die breite Steinterrasse und seufzte, als er die dichten Nebelschwaden sah, die zwischen den Bäumen und dem flachen See waberten. „Schottland!“, stieß er angewidert hervor und bückte sich, um sich mit einem längst feucht gewordenen Taschentuch erneut dicke Wassertropfen von den Schuhen zu wischen. „Wer würde freiwillig in so einem Klima leben wollen?“

Seufzend steckte er die Hand in die Tasche, um eine Zigarre herauszuholen, und stellte sich bereits vor, wie ihn die herrliche Wärme umhüllen würde. Er zog die Zigarre heraus und stellte stirnrunzelnd fest, dass sie sich nicht gut anfühlte. „Die ist ja feucht! Zum Kuckuck mit diesem nassen, nebligen, verregneten Wetter …“

„Immer mit der Ruhe, mein lieber Bancroft.“

Überrascht fuhr der Bankier herum. „Mr Hurst! Na aber … ich … ich …“ Er blickte zum Haus. „Sie sind ein wenig früh dran. Die Versteigerung fängt erst heute Nachmittag an, wir sind noch gar nicht fertig …“

„Lassen Sie mich raten. Die Gegenstände sind noch nicht aufgebaut, manche sind noch nicht mal ausgepackt, die Vitrinen stehen noch nicht und so weiter und so fort.“ Robert Hurst hakte sich einen Gehstock mit silbernem Griff über den Arm und streifte die Handschuhe ab. „Stimmt’s?“

Mr Bancroft nickte und bewunderte im Stillen Hursts makellos geschnittenen Rock. Daneben wurde er sich seines eigenen billigen, schlechtsitzenden Rocks nur noch bewusster.

Gemächlich holte Hurst sein Monokel aus der rechten Brusttasche hervor und betrachtete das Haus, das hinter ihnen aus dem Nebel aufragte. „Das also ist das berühmte Haus der MacDonalds. Schade, dass es nicht auch zum Verkauf steht.“

„Der neue Viscount hätte es verkauft, wenn es nicht so stark mit Hypotheken belastet wäre. So aber muss er sich mit dem Verkauf des Inhalts begnügen.“ Bancroft warf Hurst einen listigen Blick zu. „Sie hier anzutreffen überrascht mich nicht im Mindesten, Sir. Wir haben viele interessante Artefakte aus dem alten Griechenland, aus Ägypten, Mesopotamien …“

„Ich weiß genau, was zum Verkauf steht“, entgegnete Hurst trocken. In seinen dunkelblauen Augen blitzte es belustigt auf. „Ich habe Ihren Brief letzte Woche erhalten – worin Sie die Posten säuberlich auflisteten. Dafür bin ich Ihnen sehr verbunden.“

Bancroft lachte. „Ich hätte Ihnen keinen solchen Vorteil einräumen sollen, aber wir haben schon so oft zusammengearbeitet, dass ich das Gefühl hatte, es sei nur gerecht.“

„Ich fühle mich geehrt“, erwiderte Mr Hurst ernst. Das Monokel an seinem Finger schwang hin und her. „Der Earl of Erroll hat sich auch sehr geehrt gefühlt, als er von Ihnen genau denselben Brief erhielt.“

Bancrofts Lächeln erstarrte. „Oh, Sir, dass …“

„Und Lord Kildrew, Mr Bartholomew und Gott weiß, wer sonst noch.“

„Ich habe nicht … will sagen, ich wollte nie den Eindruck erwecken …“

„Bitte, es besteht keinerlei Grund, mir die Sache zu erklären“, sagte Hurst in beruhigendem Ton. „Sie wollten nur dafür sorgen, dass genügend Bieter erscheinen, was in diesem gottverlassenen Teil des Landes nicht so einfach ist. Schottland ist so … schottisch.“

Der Bankier lachte erleichtert. „Ja. Das ist es, genau!“ Angesichts der verständnisvollen Miene seines Besuchers wurde dem Bankier ganz warm ums Herz, und er legte Hurst die Hand auf den Arm. „Glauben Sie mir, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nur Sie verständigt, Sir.“

Hurst hob das Monokel und betrachtete die Hand auf seinem Arm.

Mit flammendem Gesicht zog Bancroft sie zurück.

„In der Tat.“ Hurst senkte das Monokel und tippte damit gegen seine Handfläche. „Schade, dass Ihr Brief an so viele Interessenten ging. Auch wenn mich ein derart unerhörter Fehlgriff nicht von meinem Besuch abhalten konnte, ließen andere sich durchaus beirren.“

Mr Bancroft versuchte sich seine Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen. „Ach ja, Sir?“

„Mein neuer Schwager, der Earl of Erroll, hat rundheraus erklärt, dass er Besseres zu tun habe, als herzukommen.“

„Oh. O nein.“

„In der Tat. Lord Yeltstome schwor, dass er ihren Auktionen nie wieder beiwohnen werde, es sei denn, zehn Pferde schleiften ihn dorthin, was ich ein wenig übertrieben fand.“

Mr Bancroft nestelte sein feuchtes Taschentuch hervor und wischte sich die noch feuchtere Stirn.

„Kildrew, Bartholomew, Childon, Maccomb, Southerland – sie alle äußerten sich ähnlich. Ich werde Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen.“

„Danke“, erklärte Bancroft schwach.

Mr Hurst spitzte die Lippen. „Wenn ich so darüber nachdenke, wäre es möglich, dass ich der einzige Interessent aus London bin.“

Mr Bancroft warf einen düsteren Blick auf den dichten Nebel, der kniehoch über den Rasen herangekrochen kam und inzwischen die Terrasse erreicht hatte. Zwei Wochen weilte er nun schon in diesem Haus, doch abgesehen von zwei Stunden an einem herrlichen Nachmittag hatte er die Sonne kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Er war sich nicht sicher, ob seine Lebensgeister dem neuerlichen Tiefschlag gewachsen wären, den ihm die Auktion am Nachmittag gewiss versetzen würde. „Der Viscount hat mich so unter Druck gesetzt, dass ich vorschnell gehandelt habe.“

„Genau das habe ich den anderen auch gesagt. ‚Verlassen Sie sich darauf‘, habe ich gesagt, ‚Bancroft war gezwungen, diese dummen Briefe zu schreiben. Er wäre doch nie so unaufrichtig, uns vorzumachen, dass wir alle seine Lieblingskunden sind.‘“

„Natürlich nicht. Zumindest Sie sind gekommen, Sir. Damit bin ich doch zufrieden.“

„Ich habe auch Gold mitgebracht.“

Bancrofts Miene hellte sich auf. Mr Hurst war einer der führenden Käufer und Verkäufer von Antiquitäten in ganz England. Es war schwer zu glauben, dass der attraktive, modisch gekleidete Mann Sohn eines einfachen Pfarrers war und nun für das Innenministerium arbeitete. Es war ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die Welt in den letzten zwanzig Jahren verändert hatte.

Früher vernachlässigten die Herren der Gesellschaft ihre staatsbürgerlichen Pflichten, man wusste, was man von ihnen zu erwarten hatte. Inzwischen war es beinahe obligatorisch, dass sich ein Gentleman irgendeinem wohltätigen Ziel verschrieb, was bedeutete, dass Herren aus gutem Haus oft mit Mitgliedern unterer Schichten zusammenkamen. Vor zwanzig Jahren wäre es höchst ungewöhnlich gewesen, wenn sich ein Pfarrerssohn in Sachen Mode als tonangebend erwiesen hätte, doch genau das traf auf Mr Robert Hurst zu.

Andererseits munkelte man seit Jahren, dass der große Beau Brummell Sohn eines Kammerdieners sein sollte. Seine wahre Herkunft war geheimnisumwittert, da er geschmackvollerweise nicht damit hausieren ging. Hurst und seine Geschwister schienen sich nichts daraus zu machen, zu ihrer einfachen Herkunft zu stehen. Erstaunlicherweise war es Hursts Schwestern gelungen, in die Aristokratie einzuheiraten, obwohl sie weder über Vermögen noch über Verbindungen zur vornehmen Gesellschaft verfügt hatten. Allerdings waren alle Hursts mit gutem Aussehen und scheinbar grenzenlos gutem Geschmack gesegnet, Eigenschaften, die ihren vornehm geborenen Mitmenschen oft abgingen.

Bancroft warf Hurst einen verstohlenen Blick zu. Hurst wirkte vielleicht etwas zugänglicher als manch anderer, was Männern wie Bancroft zum Vorteil gereichte, da Hurst eine wertvolle Bekanntschaft sein konnte.

„Mr Hurst, ich bin froh, dass sie zur Versteigerung angereist sind. Sie werden nicht enttäuscht sein.“

„Ich rechne damit, auf meine Kosten zu kommen.“

„Ausgezeichnet.“

„Allerdings bin ich nicht wegen der Versteigerung hier. Im Grunde stehe ich aus zwei Gründen vor Ihnen. Einer ist, dass ich nach einem bestimmten Objekt Ausschau halte.“

Bancroft wurde munter. „Ach ja? Was könnte das wohl sein?“

„Ich suche eine kleine, antike Onyxdose. Sie haben so etwas nicht zufällig in Ihrem Londoner Warendepot vorrätig?“

„Nicht dass ich wüsste, ich werde aber nachsehen, sobald ich zurückkehre. Haben Sie noch nähere Einzelheiten zu diesem Stück?“

„Ich habe eine hervorragende Zeichnung. Ich lasse Ihrem Büro eine Kopie davon zustellen. Sollten Sie die Dose finden, verspreche ich, dass ich mich Ihnen gegenüber äußerst großzügig zeigen werde.“

Der kalte, neblige Tag schien auf einmal viel freundlicher zu sein. „Ich werde den Markt wachsam beobachten, um das Objekt für Sie zu finden. Inzwischen hoffe ich, dass Sie bei dieser Versteigerung auch sehr interessante Stücke entdecken. Der verstorbene Viscount war ein großer Sammler.“

„Davon habe ich gehört. Ich habe ihn auf vielen Auktionen gesehen, war mir aber nicht sicher, was er eigentlich zu sammeln versuchte. Einmal kaufte er einen sehr langweiligen Gilpin, dann wieder ein silbernes französisches Teeservice. Es würde mich überraschen, wenn ich etwas sähe, das ich kaufen will.“

„Ich bin sicher, dass Ihnen einige der Artefakte gefallen werden. Wenn Sie sich von der Qualität der Objekte überzeugen möchten, lasse ich Sie rasch einen Blick darauf werfen. Meine Assistentin baut sie gerade auf.“

Hursts Blick wurde wach. „Ah ja. Miss MacJames, nicht wahr?“

„Mrs MacJames“, erwiderte Bancroft und konnte dabei die Enttäuschung nicht aus seiner Stimme heraushalten. „Sie ist erst eine Woche bei mir, kennt sich aber sehr gut aus.“

„Ah. Ich werde einen Blick auf die Artefakte werfen, danke. Mrs MacJames kann mir helfen, falls ich Fragen habe, während Sie hier draußen bleiben und eine Zigarre genießen. Ich bestehe darauf, dass Sie eine von meinen probieren, aus Amerika. Es ist der beste Tabak, den es dort zu kaufen gibt.“ Hurst schüttelte die Spitzenmanschette seines Ärmels zurück und zog ein kleines silbernes Etui aus der Tasche. Er ließ es aufspringen, nahm das oben liegende Tabakblatt weg und reichte Bancroft eine perfekt gerollte Zigarre. Der Bankier sog den aromatischen Duft ein. „Das lose Blatt sorgt dafür, dass im Etui immer genügend Feuchtigkeit herrscht.“

Der Bankier rollte die Zigarre zwischen den Fingern und seufzte vor Wonne. „Normalerweise rauche ich während der Arbeit nicht, aber hier ist es so verflixt kalt.“

„Ich verstehe vollkommen.“ Hurst steckte das Etui wieder ein und tippte sich an den Hut. „Genießen Sie die Zigarre. Ich bin bald wieder da.“

„Bitte lassen Sie sich Zeit. Ich warte einfach hier und …“ Doch Hurst hatte bereits die Terrasse überquert und war ins Haus gegangen. Klickend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Erst als Bancroft die Zigarre beinahe aufgeraucht hatte, fiel ihm auf, dass Hurst es versäumt hatte, ihm den zweiten Grund zu nennen, warum er aus London angereist war.

2. Kapitel

Michael Hurst an seinen Bruder Robert, nachdem dieser vor mehr als einem Dutzend Jahren das erste antike Stück für ihn verkauft hatte

Robert, ich war sehr erstaunt darüber, wie viel Geld Du für diese kleine Statuette bekommen hast. Anscheinend hattest Du recht mit Deiner Annahme, dass ägyptische Artefakte sich bei den Wohlhabenden wachsender Beliebtheit erfreuen.

Deine Eloquenz hat Dir schon immer Zugang zu den Betten der Londoner Damenwelt verschafft. Nun sehe ich, dass es dafür noch weitaus lukrativere Anwendungsgebiete gibt.

Ich werde Dir noch mehr Objekte zum Verkauf schicken. Bitte setze bei Deinen Bemühungen, Mittel für meine weiteren Forschungsreisen aufzutreiben, Deine Überredungskünste mit derselben Energie und Begeisterung ein, wie Du sie bei den schönen Tänzerinnen, attraktiven Opernsängerinnen und verführerischen Schauspielerinnen verwandt hast.

 

Moira MacJames legte zwei Münzen auf ein schwarzes Stück Samt. Sie musterte die zweite mit zusammengekniffenen Augen, hielt sie ans Licht. „Athenisch, aber …“ Sie legte den Kopf schief. „Ah, habe ich es mir doch gedacht.“

„Eine Fälschung, hmm?“

Sie zuckte zusammen, als sie die tiefe, männliche Stimme hörte, und blickte in den vergoldeten Spiegel über dem Tisch. Im nächsten Augenblick sah sie in Robert Hursts dunkelblaue Augen.

Mit wild pochendem Herzen betrachtete sie ihn. Sein modischer Rock spannte sich über breiten Schultern und betonte eine schmale Taille, die gut sitzende Hose und die verzierten Reitstiefel offenbarten lange, kraftvolle Beine. Er trug sein schwarzes Haar nun länger, es fiel ihm in die Stirn und brachte seine blauen Augen zum Leuchten.

„Wie geht es Ihnen, Miss – ach nein, inzwischen ja wohl Mrs, nicht wahr?“ Seine Stimme und sein Blick verspotteten sie.

Ihre Wangen brannten, sie bemühte sich, ihre wirren Gedanken zu ordnen. Verdammt, er wusste, dass ich hier bin. Aber wie? Bis vor zwei Wochen wusste ich es doch noch nicht mal selbst.

Sie kämpfte gegen den Wunsch an, zu ihrem Pferd zu laufen. Wenn sie diesem Mann entkommen wollte, brauchte sie einen ordentlichen Vorsprung und jede Menge Glück.

Wenn es etwas gab, worauf Moira sich verstand, dann darauf, wie man sich am besten davonmachte. Darin war sie nicht nur begabt, sondern auch sehr erfahren.

Zunächst einmal durfte sie sich nicht anmerken lassen, wie gern sie vor ihm geflüchtet wäre. Sie drehte sich um und lächelte ihn routiniert an. „Was für eine Überraschung, dich hier zu sehen.“ Sie wies auf die Artefakte, die vor ihr aufgereiht standen. „Inmitten staubiger Schätze, wie in alten Zeiten.“

„Keineswegs wie in alten Zeiten. Zum einen weiß ich nun, wer – und was – du bist.“

Sie hob die Augenbrauen. „Verbittert?“

„Nein, nein. Nur realistisch geworden, meine Liebe.“ Lässig stützte er sich auf seinen silberbeschlagenen Stock, seine Miene war kühl. „Dass ich hier bin, kann für dich doch keine Überraschung sein, ich wurde schließlich zur Versteigerung eingeladen.“

Ohne Grund hätte Robert doch keinen Stock dabei. Vielleicht war es ein Stockdegen? „Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass du vor Beginn der Veranstaltung eintreffen würdest.“ Zu dem Zeitpunkt hatte sie längst über alle Berge sein wollen, in den Taschen ein paar besonders gut verkäufliche Stücke. Nachdem sie das Objekt nicht gefunden hatte, das sie eigentlich suchte, würde sie sich eben mit etwas anderem begnügen müssen, damit sich ihr Einsatz auch gelohnt hatte.

„Dem entnehme ich, dass du vor meiner Ankunft verschwinden wolltest. Gut, dass ich so früh gekommen bin.“

Zum Teufel mit dir, Robert. Wieso scheinst du meine Absichten nur immer zu durchschauen? Ich hasse das. „Wenn ich vorgehabt hätte zu verschwinden, könnte mir das niemand verübeln – schließlich warst du beim letzten Mal sehr unangenehm.“

„Ich?“

„Du hast mich verhaften lassen.“

„Du warst eine Spionin und hast dich als russische Prinzessin ausgegeben. Was hätte ich denn sonst tun sollen?“

„Ich habe nicht spioniert. Ich habe lediglich für einen ausländischen Investor Informationen über ein paar Geschäftsvorhaben gesammelt.“

„Der diese Informationen brauchte, um den Markt zu manipulieren und unsere Währung zu entwerten. Außerdem hast du die Informationen, die du weitergegeben hast, direkt im Innenministerium vom Schreibtisch geklaut. Wenn du nicht entkommen wärst, wärst du ins Gefängnis gewandert, das weißt du genau.“

„Aber ich bin entkommen, und so gibt es nichts mehr dazu zu sagen.“ Doch sie dachte oft daran – vor allem an die Art, wie Robert sie eiskalt den Behörden übergeben hatte, als wäre sie ihm völlig gleichgültig gewesen.

Sie griff nach der kleinen samtgefütterten Schatulle auf dem Tisch. „Möchtest du dir ein paar Objekte ansehen? Diese Münzen sind ziemlich selten. Sie sind aus Athen.“

„Und gefälscht.“

„Nur eine.“ Sie nahm die fragliche Münze in die Hand. „Es ist eine antike Fälschung, genauso alt wie das Original. Das verleiht ihr einen eigenen Wert.“ Sie sah eine Spur Interesse in seiner Miene.

„Das ist allerdings selten. Durchaus nicht unüblich, aber doch sehr ungewöhnlich.“

Sie hielt ihm die Münze auf der ausgestreckten Hand hin. „Ihr Zustand ist erstaunlich.“

Er schlenderte zu ihr, holte sein Monokel heraus und betrachtete die Münze.

Er stand ihr so nahe, dass sie den Duft seiner Seife riechen konnte. Der Geruch war wie er: elegant, maskulin und schwer zu fassen. Er erinnerte sie an eine Zeit, als sie diese breiten Schultern umklammerte und sich rittlings auf seine kraftvollen Schenkel …

„Faszinierend.“ Beim Klang seiner tiefen Stimme überlief sie ein Zittern. Er wandte den Kopf, sodass sich ihre Blicke begegneten. „Wie hoch ist das Eröffnungsgebot?“

Sie schloss die Finger um die Münze, war sich bewusst, dass sie sich beinahe verraten hätte. Wie kann er immer noch so eine Wirkung auf mich haben? Das alles liegt Jahre zurück. So geht das nicht.

Sie legte die Münze zurück und trat dann zur Seite, um etwas Raum zwischen ihnen zu schaffen. „Wenn du darauf bieten möchtest, solltest du niedrig anfangen. Die meisten Sammler wissen nicht, wie wertvoll eine so alte Fälschung sein kann.“

„Glaub mir, ich kenne den Wert einer guten Fälschung“, erwiderte er trocken. „Besser als die meisten.“

Ihre Wangen wurden heiß, und sie zwang sich, den Blick von seinen Augen zu wenden. Stattdessen betrachtete sie seine französischen Manschetten und die sauberen Nähte seines Rocks. Viele Männer nutzten ein Korsett, um in ihre Kleidung zu passen, doch Robert war mit einem durchtrainierten Körper gesegnet und hatte derartige Maßnahmen nicht nötig. Sie kannte diesen Körper viel zu gut.

Sie strich den schwarzen Samt um die Münzen glatt und sagte leichthin: „Ich nehme nicht an, dass du uns beiden Zeit sparen und mir einfach sagen würdest, was du von mir willst?“

Seine Miene verhärtete sich. „Du weißt genau, was ich will.“

„Nein, weiß ich nicht“, entgegnete sie schärfer, als sie eigentlich gewollt hatte.

„Es hat mit der Onyxdose zu tun.“ Robert umfasste mit der Hand, an der ein reich verzierter Smaragdring steckte, den Stock fester, als stünde er kurz davor, ihn herumzuwirbeln. Er mochte sich als gelangweilter Dandy geben, doch seine Hände verrieten ihn. Sie waren stark, kräftig, etwas schwielig vom vielen Schreiben und Reiten.

„Ich habe deine Onyxdose nicht mehr, und das weißt du auch. Dein Bruder William hat sie mir bei unserer letzten Begegnung abgeknöpft. Warum fragst du nach der Dose?“

Verärgert presste Robert die Lippen zusammen. „Es gibt mehr als eine Dose, das weißt du ganz genau. Warum arbeitest du diesem Schurken George Aniston zu?“

Ihr Magen krampfte sich zusammen, doch sie erwiderte gleichmütig: „Ich kenne keinen George Aniston.“

„Doch, natürlich kennst du ihn.“ Robert bewegte sich so schnell, dass sie ihm nicht mehr ausweichen konnte. Er packte ihr Handgelenk, beugte sich über sie und warf ihr einen zornglühenden Blick zu. „Hör mit deinen Spielchen auf. Du wusstest, dass ich und meine Familie die Onyxdose brauchten, um meinen Bruder Michael zu befreien, und du hast sie trotzdem genommen. Und du hast das auf Aufforderung von George Aniston getan. Ich kann nur dankbar sein, dass es meinem Bruder und mir gelungen ist, sie dir wieder abzuluchsen.“

Was ein bitterer Verlust gewesen war. Betont lässig zuckte sie mit den Schultern. „Du hast die Dose, was willst du noch?“

„Nichts, wenn es die einzige Dose ihrer Art wäre.“

Moira versuchte, gelangweilt zu klingen. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„O doch. Denn ich treffe dich hier an, wo angeblich eine weitere Onyxdose zum Verkauf stehen soll, eine genaue Kopie der anderen Dose. Meine Liebe, das kann kein Zufall sein.“

„Siehst du hier unter den Objekten eine derartige Dose? Ich jedenfalls nicht.“

Er runzelte die Stirn. „Nein, aber ich habe Gerüchte gehört, dass sie hier sein würde. Und du hast sicher auch davon gehört. Und nun erzähl mir, warum du George Aniston in dieser Sache hilfst. Ich will die Wahrheit wissen.“

Sie ballte die Hände zu Fäusten, damit er nicht sah, wie feucht ihre Handflächen waren. „Meine Verbindung zu George Aniston geht dich nichts an.“

„O doch, denn er und ich sind hinter demselben Objekt her. Ich habe bereits zwei Onyxdosen. Jetzt will ich dasselbe wie er, dasselbe, was dich hierhergeführt hat – die dritte und letzte Dose.“

Sie hätte all ihre Besitztümer dafür gegeben, wenn sie dafür George Aniston hätte besiegen können. Niemand hasste ihn mehr als sie, niemand hatte mehr Grund, den ekelhaften Aniston mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

Doch zuerst musste sie sich aus ihrer jetzigen Situation herauswinden. Sie blickte auf ihr Handgelenk, das Robert immer noch eisern umklammerte, und sah ihn dann durch ihre Wimpern an. „Du tust mir weh.“

„Das bezweifle ich.“ Doch er lockerte seinen Griff.

Beinahe hätte sie das Gesicht verzogen. Nicht weil er ihr wehgetan hatte, sondern weil sie den grundlegenden Anstand erkannte, der ihm innewohnte. Dieser Anstand war auch der Grund, warum sie ihn verlassen hatte; ein Mann wie er würde immer das Richtige tun, komme, was da wolle. Leider hatte sie nicht gewollt, dass er das Richtige tat. Nein, dazu war ihr Leben zu kompliziert.

Sie räusperte sich, um sich gegen den unerwarteten Anflug von Traurigkeit über das Schicksal zu wehren, das für sie offenbar nichts Gutes bereithielt. „Du kannst mich jetzt loslassen.“

Er hob die Brauen in ungläubigem Staunen, worauf sie die Stirn furchte.

„Habe ich versucht, zu fliehen oder überhaupt irgendwelchen Widerstand zu leisten?“

Er kniff die Augen zusammen. „Noch nicht.“

„Ich habe erstaunlich wenig Information für dich, aber ich sage dir, was ich weiß. Kurze Zeit war ich Anistons Botin, was Miss Beauchamp betraf.“

„Er hat sie erpresst.“

Allerdings. Und er hatte Moira benutzt, um seine üblen Ziele zu erreichen, verdammt sei sein schwarzes Herz. Sie hatte es gehasst, die Erpresserbriefe an Marcail Beauchamp weiterzugeben, eine berühmte und begabte Schauspielerin. Miss Beauchamp war nicht ordinär, wie man es von Damen am Theater gemeinhin erwartete, sondern eine sehr ruhige und gelassene Dame. Es hatte Moira zutiefst widerstrebt, Anistons giftige Botschaften zu übermitteln, doch zu dem Zeitpunkt war sie schon zu sehr in Anistons Machenschaften verstrickt gewesen und hatte nicht mehr tun können, als unausgesprochenes Mitgefühl zu spenden.

Aber das wollte sie vor Robert nicht zugeben, daher zuckte sie nur mit den Schultern, als spürte sie seine heftige Missbilligung nicht. „Ich wusste nicht, was er da trieb, ich sollte nur verschiedene Umschläge abgeben und abholen, und das habe ich getan.“

„Marcail glaubte, du habest Angst vor ihm.“

Man hat es mir angemerkt? Das erschütterte Moira so sehr, dass sie einen Augenblick gar nichts sagen konnte. Wie hatte Marcail nur hinter ihre so sorgfältig errichtete Fassade blicken können? War es so, wie sie befürchtete? Waren ihre Gefühle so stark an dieser Unternehmung beteiligt, dass sie ein paar ihrer Fähigkeiten verloren hatte? Wenn das stimmte, würde sie sich dann je endgültig aus Anistons Klauen befreien können?

Eisige Zweifel breiteten sich in ihrem Magen aus. Ihr wurde bewusst, dass Robert sie aufmerksam beobachtete, und so zwang sie ihre Lippen zu einem kleinen, gelangweilten, fast höhnisch wirkenden Lächeln. „Er ist kein netter Mann.“

„Nein, allerdings nicht. Warum arbeitest du dann für ihn?“

„Er zahlt gut.“

„Nein, das ist es nicht.“ Robert lockerte seinen Griff noch ein wenig. Obwohl er ihr Handgelenk immer noch mit kraftvollen Fingern umschloss, rieb er ihr fast zärtlich mit dem Daumen über die zarte Haut. „Du hast Talent und Ideen und könntest überall Arbeit finden. Du könntest alles sein, was du willst. Erpresst Aniston dich vielleicht auch?“

Jetzt war es ausgesprochen. Es klang genauso hässlich, wie es in Wirklichkeit war.

Sie schluckte. „Schade, dass du und deine Brüder Aniston nicht hinter Gitter gebracht habt.“

„Wenn wir ihn erwischt hätten, wäre er vor Gericht gestellt worden. Aber was ist mit dir, Moira?“ Robert beugte sich vor. „Du hast mir noch keine Antwort gegeben. Erpresst er dich auch?“

Die sanften Worte erfüllten Moira mit so großer Sehnsucht, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Wenn sie ihm nur alles erzählen, ihm alles erklären könnte, sich auf ihn stützen, ihm vertrauen könnte. Aber sie wusste, was Vertrauen sie kosten konnte – sie konnte das Risiko nicht eingehen.

Dennoch stellte sie sich einen himmlischen Augenblick lang vor, wie schön es wäre, wenn sie es könnte. In letzter Zeit musste sie oft gegen die Verzweiflung ankämpfen. Ich bin so allein. Wenn ich mich nur darauf verlassen könnte, dass er nicht versuchen würde, sich in mein Leben einzumischen, wenn er die Wahrheit erfährt. Aber das kann ich nicht. Robert wird von seinem Gewissen und seinem Stolz angetrieben.

Ich muss das allein erledigen.

Sie entzog ihm ihr Handgelenk und wandte sich ab, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. „Sei doch nicht albern. Womit sollte George Aniston mich wohl erpressen können? Ich habe schließlich keinen Ruf, den ich wahren müsste, und ich habe nichts Wertvolles, was Aniston oder sonst irgendwen interessieren könnte. Hör also bitte auf anzudeuten, dass dieser schreckliche Mann irgendetwas gegen mich in der Hand hat. Wie gesagt, ich arbeite für ihn, und er bezahlt mich gut. Sehr gut. Mehr ist nicht dran an der Sache.“ Sie sah, wie Robert skeptisch den Kopf schüttelte. „Mehr gibt es nicht zu sagen. Mehr weiß ich auch nicht. Und von deiner kostbaren Onyxdose habe ich erst recht keine Ahnung.“

„Dann erlaube, dass ich dein Gedächtnis auffrische. Es gibt drei Dosen. Die letzte scheint verschollen zu sein … im Moment. Eine hast du Miss Beauchamp abgenommen, die hat mein Bruder wiederbeschafft. Die andere habe ich aus deiner Wohnung in London geholt.“

„Du warst also derjenige …“ Hastig unterbrach sie sich.

Sein Lächeln hätte man nicht als freundlich bezeichnen können. „O ja, ich war derjenige, der die Dose aus deiner Wohnung gestohlen hat. Aber erst, nachdem du sie einem anderen entwendet hattest, einem sehr verwirrten Professor der Altertumskunde mit einer Vorliebe für ägyptische Artefakte, der glaubte, du wärst wahnsinnig in ihn verliebt, ehe du dich bei Nacht und Nebel mit diesem speziellen Exemplar seiner Sammlung davongemacht hast.“

Verdammt, sie hätte wissen sollen, dass Robert derjenige gewesen war, der ihr die Dose gestohlen hatte. Aber sie durfte sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie das aufregte. Statt lauthals zu fluchen, hob sie das Kinn und sagte kühl: „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Ihr blieb keine andere Möglichkeit, als alles abzustreiten. Die Andeutung eines Gefühls huschte über sein Gesicht – war es Enttäuschung?

„Das glaube ich dir nicht.“

„Auch gut.“

Sein Gesichtsausdruck wurde hart. „Nein, es ist nicht gut, Mrs MacJames.“ Den Namen spuckte er beinahe aus. „Vermutlich hast du deinen richtigen Namen vergessen, aber ich kenne ihn. Er lautet Moira MacAllister … Hurst.“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Den Namen kenne ich nicht.“

Um seinen Mund zeigten sich weiße Falten; sie wusste, dass er seinen Zorn nur mühsam zügeln konnte. „Bedauerlicherweise ist das dein wahrer Name. Dank deiner Betrügerei von damals sind wir nun verheiratet.“

Moira senkte den Blick. Im Stall stand ein Pferd bereit, sie hatte es dort gelassen für den Fall, dass irgendetwas nicht nach Plan verlief. Ihr Blick wanderte zu den Kisten, die sie noch nicht ausgepackt hatte. Sie war deren Inhalt schon zweimal auf der Liste durchgegangen und war sich ziemlich sicher, dass die Onyxdose nicht dabei war, doch sie hatte gehofft, selbst nachsehen zu können. Dieser Luxus war ihr nun nicht mehr vergönnt.

Sie blickte zu Robert. „Es überrascht mich, dass du unsere Ehe nicht hast annullieren lassen.“

„Das hätte ich tun können, wenn ich gewollt hätte, dass alle Welt von meiner Dummheit erfährt. Es erschien mir vernünftiger, erst nach dir zu suchen und dann mit meiner Geschichte zu den Behörden zu gehen. Es wird sicher amüsant, dir zuzuschauen, wie du deine Tricks erklärst.“

„Die Welt wird es dennoch erfahren“, erklärte sie.

Er biss die Zähne zusammen, und zum ersten Mal empfand Moira eine Spur Angst. Natürlich würde er sich niemals körperlich an einer Frau vergreifen, doch er war sich nicht zu schade, sie anderweitig bezahlen zu lassen.

Sie drehte sich zu der Kiste um, die offen vor ihr auf dem Tisch stand, und holte ein flaches Elfenbeinkästchen heraus. „Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich weiter auspacke, während du all die dunklen Punkte meiner Vergangenheit ans Licht bringst. Mr Bancroft liegt sehr daran, dass wir pünktlich eröffnen.“ Sie legte das Kästchen auf den Tisch und öffnete es, worauf ein paar kleine Alabastergefäße zum Vorschein kamen.

Moira ließ die Finger über die glatte Oberfläche eines Gefäßes gleiten; ihr Herzschlag beruhigte sich, während sie die vollendete Kunstfertigkeit in sich aufnahm. Sie strich über den makellos geschwungenen Hals, folgte der zarten Kannelierung mit einem Finger. Alles andere verblasste daneben, ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Gefäßen. Ihre Form war exquisit und raubte ihr buchstäblich den Atem. „Wunderschön.“ Sie bemerkte, dass Robert ihr nun über die Schulter sah.

„Erstaunlich.“

Sie nahm die Ehrfurcht in seiner tiefen Stimme wahr. Sie beide hatten Antiquitäten immer geliebt, neben der körperlichen Leidenschaft, die sie füreinander gehegt hatten, war das eines der wenigen Dinge gewesen, die sie miteinander geteilt hatten. „Ich habe die Beschreibung gelesen, aber sie zu sehen …“ Sie schüttelte den Kopf.

Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen, und er streckte den Arm aus, um ein kleines Gefäß vorsichtig mithilfe eines Taschentuchs hochzuheben und mit Expertenauge zu untersuchen. „Was meinst du, was darin wohl gewesen ist?“

„So klein, wie sie sind, würde ich sagen, Parfüm oder irgendeine andere kostbare Flüssigkeit.“

„Ja, für Olivenöl sind sie zu klein.“

„Und auch zu wertvoll – damals gab es Olivenöl ja im Überfluss.“

Er nahm sein Monokel zu Hilfe und untersuchte ein weiteres Gefäß, seine Schulter warm an Moiras gedrückt. „Hm. Ich würde sagen, um 1200.“

„Nein, ich glaube, dass sie älter sind.“ Sie merkte das Zittern in ihrer Stimme und trat einen Schritt weg von Robert. „Schau dir das dritte an“, sagte sie rasch. „Dort ist etwas eingeritzt.“

Er hielt das Gefäß ins Licht.

Im Haus ging eine Tür, Schritte hallten über einen Gang und verklangen. Moira hörte es kaum, als sie das Eingeritzte genauer betrachtete.

Robert wandte sich bei ihrer Bewegung um und begegnete ihrem Blick. Ihre Gesichter waren auf derselben Höhe, ihre Augen nur wenige Zoll voneinander entfernt. Wie hatte sie nur vergessen können, wie bezwingend sein Blick sein konnte? Seine Augen waren von dichten Wimpern gesäumt und von einem tiefen, geheimnisvollen Saphirblau. Sie brachten sie so durcheinander, dass sie sich am liebsten vorgebeugt hätte und …

Ihr Blick fiel auf seine Lippen. Fest und maskulin wie bei einer griechischen Statue und ebenso anziehend wie glitzernde Diamanten. Ihr Atem ging schwerer, sie beugte sich immer näher zu ihm, ihre Lippen kamen den seinen immer näher …

Er drehte sich um und legte das Gefäß zurück. „Es ist nahezu perfekt, so reinen Alabaster bekommt man selten zu sehen.“ Er hob das Monokel und inspizierte das Gefäß. „Du könntest recht haben, die Inschrift legt eine frühere Zeit nahe.“

Robert war überrascht, dass seine Stimme so normal klang, denn das Herz donnerte ihm gegen die Rippen, und seine Männlichkeit stand stramm. Aber so war es ja immer mit Moira. Sie irritierte, verwirrte und verführte ihn, und das alles zugleich.

Er wusste nicht, was sie an sich hatte, doch er würde sich sehr im Zaum halten müssen, um nicht auf sie hereinzufallen. Beinahe hätte er sich dazu hinreißen lassen, sie zu küssen, es hatte ihn alle Kraft gekostet, sich abzuwenden. Selbst jetzt noch verzehrte er sich vor Begierde und war sich ihrer Nähe viel zu bewusst.

Sie beugte sich vor, das rote, seidige Haar löste sich bereits aus den Haarklammern, eine dicke Locke fiel ihr auf die Schulter. „Hast du die Inschrift auf dem Kästchen gesehen, in dem die Gefäße aufbewahrt sind?“

Selbst wenn sie sich auf diese nüchterne Weise äußerte, klang es verführerisch. Er zwang sich, den Blick auf das Elfenbeinkästchen und seinen Inhalt zu richten. „Ich sehe keine Inschrift … ah. Moment mal.“ Er trat zur Seite, damit das Licht auf die undeutlichen Zeichen fiel. „Ich dachte zuerst, das Kästchen könnte römisch sein, aber jetzt erkenne ich, es ist griechisch.“ Er betrachtete die Inschrift durch sein Monokel und drehte sich schließlich zu Moira um. „Es ist ungewöhnlich …“

Der Raum war leer.

„Verdammt!“ Er lief zur Tür und wäre dort beinahe mit Mr Bancroft zusammengestoßen, der eben hereinkam.

„Ah, Mr Hurst!“ Der Bankier blickte zu dem Tisch hinter Robert. „Wie ich sehe, hat Mrs MacJames Ihnen das Kästchen und die Gefäße gezeigt. Erstaunlich, nicht wah…“

„Wo ist sie?“

Mr Bancroft blinzelte und schaute sich dann um. „Ist sie nicht hier? Ich dachte …“

„Sie ist gegangen. Haben Sie sie gesehen?“

„Nein. Ich bin gerade von der Terrasse ins Haus gekommen, und auf dem Flur war alles leer.“

Robert fluchte. Er drehte sich zu den hohen Fenstern um. Hätte sie den Raum auf diesem Weg verlassen können? Nein, er hätte gehört, wenn sie eines geöffnet hätte. Wo zum Teufel ist sie? Sie kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Sie musste … Sein Blick fiel auf eine schwache Linie auf der gemusterten Tapete. Im nächsten Augenblick stand er an der Geheimtür und suchte nach der Verriegelung. „Wie macht man die auf?“

Bancroft war ihm durch den Raum gefolgt und schüttelte nun den Kopf. „Ich weiß nicht. Bisher ist mir die Tür nicht aufgefallen, und …“

Klick. Robert hatte die verborgene Verrieglung gefunden, und die Tür schwang auf, ein geheimer Eingang für das Personal, das seine Herrschaft auf diese Weise unauffällig bedienen konnte.

Robert bückte sich und rannte in den schmalen, rasch dunkler werdenden Gang. Die Fliesen waren glatt vom Gebrauch, und der schwache Duft nach frisch gebackenem Brot verriet ihm, wohin ihn der Gang führen würde. Er musste den Kopf einziehen, um nicht gegen die Balken zu stoßen, die hin und wieder über ihm auftauchten. Eilig rannte er durch den Gang. Als er um eine Ecke bog, wurde es völlig dunkel. Doch Robert hielt seine Geschwindigkeit aufrecht und tastete sich einfach an den Wänden entlang.

Die Dringlichkeit trieb ihn voran. Er durfte sie nicht entkommen lassen.

„Mr Hurst!“, rief Bancroft ihm nach. „Wenn Sie Mrs MacJames sehen, erinnern Sie sie bitte daran, dass die Objekte bald aufgebaut …“ Die Stimme verklang, als Robert um die nächste Ecke bog.

Der Dummkopf. Moira MacAllister war weg und würde nicht mehr auftauchen. Sie musste etwas über die Onyxdose wissen, er hatte es in ihrem Blick gesehen.

Robert stolperte über eine Stufe und fluchte, als er sich den Kopf an einem besonders niedrigen Balken stieß. Schließlich endete der Gang an einer kleinen Tür, die in die Küche führte.

Bei seinem Eintritt drehten sich mehrere Küchenhilfen zu ihm um und starrten ihn erstaunt an.

Einer trat auf ihn zu. „Pardon, Monsieur, Sie sich haben verlaufen, non?“

Robert streifte sich eine Spinnwebe von der Schulter. „Haben Sie eine Frau aus dieser Tür kommen sehen?“

„Oui“, stieß der Mann hervor. „Sie rannte durch die Küche und hinaus zu den Ställen.“

„Woher wissen Sie, dass sie zu den Ställen wollte?“

„Weil Sie nahm einen Apfel mit für ihr Pferd.“

Robert bedankte sich und lief zur Tür hinaus. Die Ställe lagen jenseits des kleinen gepflasterten Hofs, und er stürzte hinein und packte sich den erstbesten Stallburschen. „Haben Sie Mrs MacJames gesehen?“

Als der Mann ihn nur ausdruckslos anstarrte, fügte Robert hinzu: „Eine attraktive Rothaarige.“

Die Miene des Stallburschen hellte sich auf, und er erklärte mit schwerem schottischen Akzent: „Och, die. Die hatte schon ein Pferd hier stehen und ritt davon, als wären alle Höllenhunde hinter ihr her.“

„Zum Henker!“ Robert sah hinaus auf die lange Auffahrt, über die man zum Haus gelangte. „Lassen Sie meine Kutsche vorfahren. Mein Bursche wartet bei den Pferden in der Auffahrt, und …“

„Ja du liebe Zeit, Sir, mit einer Kutsche holen Sie die aber nicht ein. Sie ist gar nicht die Auffahrt runter, sondern da rüber.“ Der Mann deutete mit dem Kinn über Roberts Schulter.

Robert drehte sich um und sah mit sinkendem Mut auf die weiten Felder, hinter denen ein dichtes Wäldchen begann.

„Aye“, fuhr der Stallbursche fort, und seine Stimme war voll Bewunderung. „Die ist mit ihrem Pferd gleich über den Zaun gesprungen und dann übers Feld. Das Mädel reitet wie der Wind. Ist ’ne prima Reiterin.“

„Sie ist eine höllische Furie.“

Der Mann lachte. „Och, das sind die Frauen doch meist.“

Robert ging auf den hohen Zaun zu, der das Feld abgrenzte, und blickte zu dem Wäldchen hinüber. Die Blätter bewegten sich im Wind, doch ansonsten regte sich dort nichts. Er ballte die Hände, bemühte sich, den Zorn zu unterdrücken, der ihn zu ersticken drohte.

Wieder einmal war sie ihm entkommen.

Leise vor sich hin schimpfend machte er auf dem Absatz kehrt und ging zu seiner Kutsche.