Leseprobe Blutrot die Jagd

Sonntag, 3. März

Gare du Nord

Paris

14:07 Uhr

Sein Zielobjekt verhielt sich seit der Ankunft in Paris »konform«. Es wusste, dass es möglicherweise beschattet wurde. Jeden unnötigen Schritt vor die Tür des Hotelzimmers hatte es strikt vermieden. Im Freien schirmte es sich so ab, dass kein Zugriff erfolgen konnte, ohne ihn gleichzeitig zu enttarnen. Dabei hatte sein Zielobjekt keine Ahnung, wie nahe er ihm wirklich war.

Endlich wähnte es sich in Sicherheit. Er ging seine gedankliche Checkliste noch einmal durch. Personenobservation, Objektobservation, Standortobservation. Vorbereitung, technische Hilfsmittel, Koordinierung.

Vor dem Bahnhofsgebäude regnete es in Strömen. Das Stationsinnere war belebt. Ein Großteil der Reisenden kehrte an die Arbeitsplätze in Lille, Brüssel oder anderswo im Norden zurück. Hinaus aus der ungemütlichen Kälte, hinein ins Trockene, schnurstracks in die bereitstehenden Züge. In Gedanken hatten sie ihr wie immer viel zu kurzes Wochenende in der Hauptstadt längst abgehakt und die neue Arbeitswoche vor Augen. Kein Blick fürs Bahnhofsgeschehen, keine Aufmerksamkeit für Details.

Das Zielobjekt hatte sich bis eben beim Zeitungsstand aufgehalten und wandte sich zum Gehen. Die Observation führte zum Entschluss, der Entschluss zur Ausführung. Jetzt.

»Au! Passen Sie doch auf!« Sein Ziel fasste sich unwirsch an die linke Wade. Für nicht einmal einen winzigen Sekundenbruchteil blickte es ihm ins Gesicht. Die »Konformität« – durchbrochen.

»Pardon, Monsieur«, murmelte er kaum verständlich und entfernte sich.

Auftrag abgeschlossen.

Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit … Fast wäre er mit einer an ihm vorübereilenden jungen Frau zusammengestoßen. Nein! Sie? Was machte sie hier? Er kannte sie, nicht persönlich, aber das Gesicht, ihren Namen, ihre Akte. Den Zusammenstoß hatte er gerade noch abwenden können. Sie erkannte ihn nicht. Woher auch? Er ertappte sich dabei, wie er erleichtert durchatmete.

Keinerlei Gefühlsregung zeigen! Kaltblütigkeit.

Wo steckte sein Zielobjekt? Er hatte es aus den Augen verloren. Suchender Blick. Korrektur. Sichtkontakt zum Zielobjekt wieder aufgenommen. Zielobjekt besteigt Zug.

Eine spontane Änderung der Operationsparameter. Sie bestieg denselben Zug! Im Kopf ging er die Informationen durch, die er über sie hatte. Sein fotografisches Gedächtnis erlaubte es ihm, alle potenziellen Gegenspieler zu identifizieren, ihre Handlungen zu antizipieren. Routine. Als »Feuchtling« kannte man immer seine möglichen Gegenspieler. Dann berechnete er das Risiko neu. Wirkzeit, wahrscheinliche Destination, Fahrtdauer. Er kam nur zu einem Ergebnis: Das Risiko lag nunmehr bei hundert Prozent. Sollte er seinen Auftraggeber informieren? Er entschied sich dagegen. Sein Job war erledigt.

Auffällig unauffällig verließ er die Station Richtung Rue de Maubeuge. Der Kameraüberwachung war er sich sehr wohl bewusst. Bisher konnte er davon ausgehen, dass seine Visage niemandem auffallen würde. Ein ungemeiner Vorteil in seiner Profession. Von nun an kalkulierte er die staatlich angeordnete Vorratsdatenspeicherung mit ein. Für den Fall der Fälle. Eine Art Rückversicherung. Paranoid. Paranoia gehörte zum Handwerk.

Er griff zum Mobiltelefon, einem Einweggerät mit Prepaidkarte, und gab die Nummer ein, die man ihm nur für diesen Fall gegeben hatte.

»Ja?«

»Ihr Paket wurde ausgeliefert.«

»Jetzt erst?«

»Keine andere Möglichkeit. Lieferorte erwiesen sich allesamt als zu belebt. Ich weiß, was ich tue.«

»Das will ich hoffen. Wir tolerieren keine Fehler.«

Damit war das Gespräch beendet. Er löschte den Gesprächsverlauf und entsorgte das Telefon.

Wir tolerieren keine Fehler … Wo hatte er das schon einmal gehört? Er kramte in seinem Gedächtnis und wurde fündig. Herrgott! Ein kurzes Frösteln durchfuhr ihn. Keinerlei Gefühlsregung! Er realisierte sofort, dass er diesen Auftrag niemals hätte annehmen dürfen. Anonymer Auftraggeber, Kontakt nur über Dritte … Völlig entgegen seiner Gewohnheit! Er wurde nachlässig. Jetzt musste er seine Optionen abwägen und umgehend mit der Planung beginnen. Vorbereitung, technische Hilfsmittel, Koordinierung. Es gab nur zwei Optionen. Auf der einen Seite: der General. Auf der anderen Seite: sie. Chloé Lambert, Lieutenant der Pariser Polizeidirektion und neue Ermittlerin bei Europol.

Thalys 9351 Paris Nord – Amsterdam Centraal

Zwischen Antwerpen und Rotterdam

16:50 Uhr

Mütter … Ihre Mutter brachte Chloé Lambert langsam zur Weißglut.

»Müssen wir das wieder und wieder diskutieren?«

»Schatz, es liegt mir fern, dir Vorschriften zu machen. Ich will doch nur deine Entscheidung verstehen.«

»Meine Entscheidung verstehen? Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Paris ist eine Sackgasse!«

»Dein Vater hat seine Beziehungen spielen lassen. Du bräuchtest dich nur ein wenig zu gedulden. Aber bei dir muss ja immer alles sofort passieren.«

Unwillkürlich krallte sie sich mit der freien Hand an der Armlehne ihres Sitzes fest. »Das ist überhaupt nicht wahr! Drei Jahre lang war ich in diesem beschissenen Laden. Drei Jahre keine Beförderung, keine Belobigung und immer nur die Drecksarbeit.«

»So ist das eben. Man muss sich erst einmal bewähren.«

»Ich habe mich ›bewährt‹. Keinen Schwanz hat es interessiert! Aber anscheinend gibt’s anderswo Leute, die meinen Arbeitseifer zu würdigen wissen.«

»Europol … Du schadest nur deiner Karriere! Falls du eines Tages zurückwillst, wer nimmt dich dann noch? Kannst du seine Enttäuschung nicht verstehen?«

»Seine Enttäuschung? Wie ist es mit meiner Enttäuschung? Solange diese Punzenlecker von der ESSEC oder der ENA das Sagen haben, sind die Karriereaussichten eh düster. Niemand nimmt Rücksicht auf das aquitanische Landei aus Bordeaux.«

»Kind, du wirst ordinär!«

»Maman …«

»Ja, ja, ja. Du musst es wissen.«

»Lass gut sein. Wie geht es Papa?«

»Enttäuscht ist er schon. Du fehlst ihm.«

»Ach, wirklich?«

»Wenn du nicht so starrköpfig wärst. Da kommst du ganz nach ihm.«

»Wir wollen mal eines klarstellen: Er redet nicht mit mir

»Gib ihm Zeit.«

»Kann er haben.«

»Mein Schmetterling, lass uns nicht streiten. Wir machen uns eben Sorgen.«

»Unnötigerweise. Ich bin erwachsen und kann auf mich selbst aufpassen. Es ist Den Haag, nicht Mali.«

»Zieh dich wenigstens warm an. Das Klima dort ist so rau, du erkältest dich leicht.«

Chloé verdrehte die Augen. Gut, dass ihre Mutter sie in diesem Moment nur hören und nicht sehen konnte. Sie würde auf ewig der kleine »Schmetterling« bleiben, wie ihre Mutter sie mit Kosenamen nannte. Sie würde dann noch der kleine »Schmetterling« sein, wenn sie alt und klapprig war. Und unverheiratet, denn das war die heimliche Sorge ihrer Mutter.

Wie zur Erlösung kündigte die Durchsage aus den Zuglautsprechern den nächsten Halt an: Rotterdam Centraal.

»Wir sind gleich da. Ich muss auflegen.«

»Melde dich bald.«

»Mache ich. Gib Papa einen Kuss von mir.«

In einer Sache hatte ihre Mutter recht. Sie kam tatsächlich nach ihrem Vater, Geduld war ihre Stärke nicht. Dennoch hatte sie die richtige Entscheidung getroffen, und ihre Eltern würden sich damit abfinden müssen.

Eine weitere Eigenschaft, die Chloé von ihrem Vater geerbt hatte, war ihre Impulsivität. Sie war schnell genervt. Im Moment nervte sie, dass eine Zugbegleiterin – kaum älter als sie – seit einer geschlagenen Viertelstunde wenige Meter hinter ihr versuchte, mit regelmäßig wiederkehrendem Hämmern gegen die Tür einen Fahrgast aus der Toilettenkabine zu bekommen. Der zog sich bestimmt in Ruhe einen durch, oder er trieb andere Sachen. Es gab schließlich alle möglichen Leute …

Jetzt rauschte der Zugchef an ihr vorbei, der das Problem hoffentlich bald lösen würde. Chloé hoffte auf ein paar ruhige Minuten, ehe sie ihren neuen Job antreten würde.

Der Zugchef klopfte, keine Reaktion. »Monsieur, ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Er antwortet nicht.« Die junge Zugbegleiterin gab sich ratlos.

»Seit wann ist er da drin?«

»Seit über einer Stunde.«

Chloé stöhnte leise, drehte dennoch den Kopf und fragte den Zugchef: »Was ist hier los?«

»Madame, wir haben alles im Griff.«

»Ich kann vielleicht helfen.«

»Ich sagte doch, wir haben alles im Griff«, entfuhr es dem Bahnbeamten in schroffem Ton. Er schien ganz und gar nicht begeistert von der Einmischung.

Da half nur Autorität. Chloé zog ihren neuen Dienstausweis.

»Sieht aber nicht so aus«, sagte sie keck, um der Unfreundlichkeit des SNCF-Beamten etwas entgegenzusetzen.

Sofort änderte der Zugchef sein Auftreten.

Na also, geht doch!

»Wir sind etwas nervös. Offenbar hat sich ein Fahrgast auf der Toilette verbarrikadiert.«

»Und er reagiert nicht«, ergänzte die Zugbegleiterin.

Im Thalys auf der Toilette verbarrikadiert. Chloés Bulleninstinkt schlug Alarm.

»Wissen Sie, wie lange er ungefähr schon da drin ist?«

Die Zugbegleiterin überlegte einen Moment. »Kurz nach der Abfahrt aus Brüssel ist er aufgestanden. Der Mann sah nicht gut aus.«

»Er sah nicht gut aus?«

»Ziemlich grau, und er hat geschwitzt. Wahrscheinlich die Grippe, die gerade umgeht.«

Männliche Person, sah nicht gut aus. Im Thalys auf der Toilette verbarrikadiert.

»Wie sind die Vorschriften in so einem Fall?«

»Sollte es sich um einen Notfall handeln, müssen wir öffnen«, antwortete der Beamte.

Da gab es nichts zu überlegen. »Dann ist es ein Notfall.«

»Aber, Madame …«

»Los, öffnen!«, befahl sie.

Er fackelte nicht lange, zog den Generalschlüssel und öffnete die Zugtoilette.

»O Gott!« Die junge Zugbegleiterin hielt sich die Hand vor den Mund und drehte sich weg.

Wohnung Tinus Geving

Oranjebuitensingel 10

Den Haag

17:42 Uhr

»Um Himmels willen, wie lange wohnst du hier jetzt schon? Mal an Inneneinrichtung gedacht? Dir fehlt die Frau im Haushalt, ganz eindeutig«, stellte Piet Veenstra völlig entgeistert fest.

Tinus Geving, seines Zeichens deutscher Kriminalhauptkommissar, mochte seinen niederländischen Kollegen. Beide waren vor etwa zwei Jahren zu Europol gestoßen und bildeten seitdem ein Dream-Team. Besonders schätzte Geving an seinem Kollegen dessen unendliche Gelassenheit sowie seinen Humor. In einem Punkt jedoch verstand Piet keinen Spaß. Niederländer bevorzugten eine moderne, geschmackvolle Inneneinrichtung.

Geving bewohnte eine Dreizimmerwohnung in Voorhout, einem Viertel, gelegen im traditionellen, äußerst angesagten Haager Stadtzentrum. Es war nur einen kurzen Fußmarsch vom Bahnhof, dafür fünf Kilometer vom neuen Hauptquartier entfernt.

Noch etwas störte Piet scheinbar. Er betrachtete es mit einem Anflug von Abscheu. »Trotzdem hast du es geschafft, diese scheußlichen Staubfänger aufzuhängen.«

»›Gardinen‹ nennt man das«, konterte Geving.

»Gardinen.« Piet schüttelte verständnislos den Kopf. »Was habt ihr Deutschen nur mit euren … Gardinen?«

»Ohne fühle ich mich beobachtet, irgendwie nackt.«

»Möchtest du wissen, warum wir so etwas nicht haben?«

»Eigentlich nicht, aber das hat dich noch nie davon abgehalten.«

»Ein guter Calvinist hat nichts zu verbergen.«

»Ich bin Deutscher, kein guter Calvinist.«

Geving schaute sich in seiner Wohnung um und seufzte. Er lebte aus Umzugskartons. Für mehr als ein Bett, einen Schreibtisch und eine Couch hatte es bisher nicht gereicht. Nicht mal eine Kaffeemaschine besaß er. Wozu auch? Geving hasste Kaffee, davon bekam er Magenbeschwerden und schlechte Laune. Er trank lieber Tee.

Geving würde über die Einrichtung nachdenken. Eines Tages. Aber sicher nicht heute. Und ganz bestimmt brauchte er keine Frau, dafür nahm ihn seine Arbeit zu sehr ein. Wobei es in letzter Zeit für die Abteilung O4: Counter Terrorism – Terrorismusabwehr und Finanzermittlungen nicht sonderlich viel zu tun gab. Es war ruhig. Zu ruhig für Gevings Geschmack. Allerdings rechtfertigte die Ruhe einen Tag fernab des Büros. So erledigten sie den spärlichen Papierkram in lockerer Atmosphäre.

»Apropos Frauen«, nahm Piet den Faden wieder auf. »Sollte unsere neue Kollegin nicht bald eintreffen?«

Die Abteilung bekam Nachwuchs. Chloé Lambert wechselte von der Pariser Kriminalpolizei zu Europol. Laurits Pedersen, Deputy Director des Operation Department, hatte Geving und Piet dazu verdonnert, das Empfangskomitee zu spielen.

»Ja, so langsam sollte sie sich melden.«

Wie aufs Stichwort läutete sein Telefon. Es war tatsächlich Chloé Lambert. Er hörte eine ganze Weile lang zu, ohne zu unterbrechen. Piet runzelte schon die Stirn.

Schließlich bestätigte Geving: »Gut, wir kommen. Bleiben Sie, wo Sie sind.«

»Franzosen und Pünktlichkeit«, lästerte Piet.

Geving holte seinen Wagenschlüssel. »Wir fahren.«

»Tinus, bis zum Bahnhof sind es nur ein paar Minuten Fußweg.«

»Wir fahren nach Rotterdam.«

»Rotterdam?«

»Eine Leiche im Zug, Großalarm. Unsere neue Kollegin ist mittendrin statt nur dabei.«

Rotterdam Centraal Station

18:37 Uhr

Die Fahrt von Den Haag nach Rotterdam dauerte trotz gebotener Eile etwa vierzig Minuten. Tinus Geving und Piet Veenstra erreichten den Bahnhof bei Anbruch der Dunkelheit. In Anbetracht des sich ihnen darbietenden Bildes spiegelte Piets Miene eine Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit wider. Das gesamte Gelände war weiträumig abgesperrt.

Sie parkten den Wagen direkt auf dem Stationsplein – im absoluten Halteverbot. Wen sollte es stören? Schließlich war Großeinsatz.

Sie wollten sich dem Haupteingang nähern, als sie von einem streng dreinblickenden Polizisten mit abweisender Geste am Weitergehen gehindert wurden. Geving und Piet zeigten ihre Europol-Dienstausweise vor, was den uniformierten Beamten nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Erst sah er kritisch auf die Ausweise, danach noch kritischer in die Gesichter der Ausweisträger. Sie wurden von ihm in das neue Stationsgebäude eskortiert. Draußen sperrten Polizeikräfte ab, hier drinnen hatte die Armee das Sagen. Sanitäter in Schutzanzügen kümmerten sich um die unfreiwillig gestrandeten Passagiere des evakuierten Zugs in einer provisorischen Quarantänestation.

Der Polizist brachte sie direkt zu Gleis 1, an dem der Thalys in seinem eleganten bordeauxrot-grauen Farbkleid stand.

Sie wurden von einem jungen Inspektor der niederländischen Polizei in gelber Schutzbekleidung in Empfang genommen. Überhaupt konnte man die Zugehörigkeit aller Beteiligten an der Farbe ihrer Schutzausrüstung ausmachen: olivgrün für das Militär, gelb für Polizisten und Zivilbeamte.

»Sie sind die Herren von Europol, nehme ich an.«

»Sie nehmen richtig an«, bestätigte Geving.

»Ich bringe Sie zu Agent de Groot und Ihrer Kollegin.«

Tinus Geving benötigte nur einen kurzen Moment, um die Neue zu erkennen. Es gab Menschen, die ihre Umgebung durch schiere Präsenz in den Bann zogen. Zu ihnen gehörte Chloé Lambert, die angespannt neben dem Zug wartete. Die schulterlange Mähne war streng zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Haare schwarz wie Ebenholz, Haut weiß wie Schnee, Lippen rot wie Blut. Stupsnase, elegant und natürlich geschwungene Brauen, noch eleganter geschwungene Wimpern. Schlank von Gestalt, nicht klein. La blanche neige – Schneewittchen, dachte Geving. Ein Blick in ihre mandelfarbenen Augen verriet, dass in dieser jungen Frau eine Menge ungebändigter Energie steckte. Ein durch und durch bemerkenswerter Auftritt, dabei hatte sie noch keinen Ton gesagt.

Sie kam ihm entgegen, reichte ihm die Rechte zur Begrüßung. Ihr Händedruck zeugte von Charakter.

»Lieutenant Chloé Lambert«, stellte sie sich in einer tiefen und tragenden Stimmlage vor, die Geving sofort aufhorchen ließ.

Rang und Name, mehr war nicht nötig gewesen. Geving besaß durchaus feine Antennen für Klang und Charakteristik der menschlichen Stimme. Lieutenant Lambert legte sehr viel Wert auf Betonung, was von Selbstbewusstsein zeugte. Und dennoch … Ein leichtes Zittern bei der Erwähnung ihres Vornamens. Unsicherheit. Woher die wohl rühren mochte? Wie passte Unsicherheit zu ihrem ansonsten umwerfenden Erscheinungsbild? Nicht nur eine hübsche Französin, ein Mysterium noch dazu.

Er brauchte drei Sekunden, um sich wieder zu fangen.

»Kriminalhauptkommissar Tinus Geving und mein Kollege Agent Piet Veenstra.«

Piet reichte ihr die Hand und sagte anerkennend: »Mann, Mann, Mann! Sie legen ja einen ganz schönen Start hin.«

Zu dritt betraten sie den Waggon Nummer 27. Geving kannte das rote Interieur der Züge von einigen Dienstreisen.

»Was haben wir?«, fragte er an Chloé Lambert gewandt.

Sie hob zu einer Antwort an, wurde jedoch jäh unterbrochen. »Sieh einer an, die Kollegen von Europol! Sehr schön. Sammeln Sie Ihre hyperaktive Kollegin ein und schönen Abend noch.«

Neben Chloé Lambert war ein in die Jahre gekommener, etwas verwahrloster feister Kerl aufgetaucht. Er hatte eine deutlich angegraute ungeschnittene Lockenfrisur, fettiges Haar. Wie er da so neben der neuen Kollegin stand, wurde er in jeder Hinsicht von ihr deklassiert, fand Geving.

»Ich bin nicht hyperaktiv!«, verteidigte sich die Neue.

Geving blieb gelassen, reichte dem Mann die Hand. »Und Sie sind?«

Schlaffer Händedruck. »Nicht begeistert jedenfalls. Das ist unser Fall!«

»Demnach sind Sie Agent de Groot.«

»Sehr richtig«, blaffte er. »Thijs de Groot, Polizeibezirk Rotterdam.«

Geving setzte sein unterkühltes Lächeln auf – wie immer wenn ihm daran gelegen war, eine Situation nicht unnötig eskalieren zu lassen.

»Vielleicht hätten Sie trotzdem die Güte, uns ins Bild zu setzen.« Er wies auf die neue Kollegin. »Immerhin war Lieutenant Lambert unfreiwillig als Erste vor Ort.«

Sie grinste den unliebsamen Kollegen der Rotterdamer Polizei frech an. Er gab nach.

»Mitkommen«, grummelte er.

Sie folgten de Groot ans andere Ende des Waggons. Die Spurensicherung packte bereits zusammen. Vor einer Zugtoilette blieben sie stehen. Geving und Piet warfen einen Blick hinein: Mann mit sportlicher Statur, der Kopf war nach hinten gekippt, die Augen standen offen. Er hatte sich von oben bis unten vollgekotzt, Erbrochenes hing noch in den Mundwinkeln. Säuerlicher Gestank, der einem den Atem verschlug, erfüllte die enge Zugtoilette.

»Der hat es hinter sich«, stellte Piet in seiner üblichen sarkastischen Manier fest. Anderen mochte das unpassend erscheinen, aber Geving verstand, dass sein Kollege nur so mit dem Anblick von Leichen fertigwurde. »Was weiß man schon?«

Chloé Lambert wollte erneut antworten. Wieder kam ihr Agent de Groot zuvor. Sie schüttelte amüsiert den Kopf, er beachtete sie gar nicht.

»Männlich, dreiundvierzig Jahre alt, offensichtlich tot.«

»Wirklich?«, entfuhr es Geving zynisch.

Die Gerichtsmedizinerin – eine etwa fünfzig Jahre alte Frau – rettete die Situation.

»Lieke Brouwer«, stellte sie sich vor. »Der Mann ist an einem Herzinfarkt gestorben.«

»Wozu dann der Aufriss?«, fragte Piet, wobei er auf die Umstehenden in Schutzkleidung verwies.

»Wir konnten eine ernsthafte pandemische Erkrankung des Toten nicht von vornherein ausschließen …«

»… oder einen Anschlag mit biologischen Kampfstoffen«, beendete Geving den Satz.

»Standardvorkehrung«, erklärte de Groot selbstzufrieden.

»Die Zugbegleiterin beschrieb die gräulich fahle Gesichtsfärbung des Mannes und starkes Schwitzen.« Diesmal war Chloé Lambert schneller als der lästige Niederländer.

De Groot ignorierte sie weiter und erzählte noch einmal genau das Gleiche, als änderte sich dadurch irgendetwas am Wahrheitsgehalt.

»Ich kann Entwarnung geben«, beschied die Gerichtsmedizinerin. »Ein simpler Myokardinfarkt. Der Mann ist allerhöchstens seit vier Stunden tot, die Totenstarre ist noch nicht besonders weit fortgeschritten. Lediglich Lider und Kaumuskel.«

»Warum …?« Geving zeigte auf das Erbrochene.

»Übelkeit ist durchaus ein Symptom.«

De Groot schob sich in den Weg und sah die Unterhaltung offenbar als beendet an. »Wenn das alles ist, können Sie jetzt verschwinden.«

Ein weiterer Mann trat hinzu, ebenfalls ohne Schutzbekleidung. Dafür gedeckte Garderobe, kurzes graues Haar. »Was denn, noch mehr Polizei?«

»Die Herren wollten gerade gehen«, sagte de Groot.

Der Mann, der sich als Esteban Arguetellier, Repräsentant der Bahngesellschaft in Rotterdam, vorstellte, wagte keinen Blick in Richtung des Toten. »Der dritte schwerwiegende Zwischenfall innerhalb eines Jahres. Ein gefundenes Fressen für die Presse.«

»Wo sind denn Ihre Zugbegleiter?«, fragte Geving möglichst sensibel.

»In Behandlung, die stehen total unter Schock.«

Chloé Lambert schaltete sich wieder ein. »Was der Kollege verschweigt …« Sie reichte Geving Ausweispapiere, wobei sie de Groot vernichtende Blicke zuwarf.

Er studierte das Dokument. »Erik-Sondre Bondevik …«

»… war norwegischer Staatsanwalt«, bestätigte sie.

Piet pfiff leise.

»Also Ihr Fall, wie?« Geving betrachtete de Groot eisig. Er bemühte sich nicht länger um Freundlichkeit.

De Groot winkte ab. »Mensch, der Typ ist auf dem Klo verreckt. Nichts weiter!«

Geving interessierte sich nicht für de Groots Ausflüchte. Seine Aufmerksamkeit galt dem Thalys-Repräsentanten. »Monsieur Arguetellier, wo saß der Tote zuvor?«

Arguetellier führte ihn zu einem nahe gelegenen Platz, Chloé Lambert und Piet folgten ihnen. »Nummer fünfundachtzig, Fensterplatz.«

»Und der Platz neben ihm?«

»Unbesetzt. Der Zug war nicht voll ausgebucht.«

»Wohin wollte er?«, fragte Geving weiter.

»Er hatte bis Amsterdam gebucht.«

»Von Paris?«

»Ja.«

»Hm«, Geving strich sich nachdenklich übers Kinn, »merkwürdig.«

Piet beugte sich zu ihm. »Vermuten wir da was?«, fragte er gedämpft.

Geving und Chloé Lambert sahen sich kurz an, er antwortete: »Nur ein Bauchgefühl. Norwegischer Staatsanwalt, sportliches Aussehen, was auf gesunden Lebenswandel schließen lässt.«

»So einer stirbt nicht einfach an einem Herzinfarkt«, schloss die junge Französin.

»So ein Blödsinn!« Thijs de Groot war sichtlich genervt.

Geving hatte ihn schon ganz vergessen.

»Ausschließen können Sie es zum jetzigen Zeitpunkt nicht«, sagte er knapp. Er wandte sich an die Gerichtsmedizinerin: »Ist es möglich, dass der Herzinfarkt durch Fremdeinwirkung herbeigeführt wurde?«

»Eine Vergiftung? Möglich«, bejahte Lieke Brouwer. »Das Essen vielleicht.«

Chloé Lambert kam ein weiterer Gedanke. »Oder ein Kontaktgift.«

»Herrschaften, es reicht!«, meldete sich de Groot wieder zu Wort, doch alle ignorierten ihn.

»Auch eine Möglichkeit«, gestand Geving. »Ab wann ging es Bondevik nicht gut?«

»Laut Zugbegleiterin ab Brüssel«, informierte ihn die neue Kollegin.

»Hält der Zug zwischen Brüssel und Rotterdam?«

»Ja, in Antwerpen«, bestätigte Esteban Arguetellier. »Der Zug wird zuvor in Brüssel geteilt. Der erste Zugteil fährt nach Deutschland, Essen via Köln. Und dieser Zugteil über Antwerpen und Rotterdam nach Amsterdam.«

»Der mutmaßliche Täter – so es einen gibt – könnte also in Brüssel oder Deutschland sein«, sagte Piet.

Die Diskussion wuchs sich langsam zu einem kollektiven Brainstorming aus, wie Geving mit Gefallen feststellte. Dennoch war er von der These seines Kollegen nicht ganz überzeugt.

»Lambert, wenn Sie der Täter wären, was würden Sie tun?«, fragte er.

»Ich wäre wahrscheinlich gar nicht in den Zug gestiegen, sondern in Paris geblieben. Schließlich vermutet mich dort niemand.«

Sie wurden abermals von Thijs de Groot unterbrochen. »Ich sage es zum allerletzten Mal: Raus hier! Mit Ihren Hirngespinsten behindern Sie unsere Ermittlungen.«

Geving lachte. »Ihre Ermittlungen?«

De Groot lief rot an.

Vorsichtig schob sich Piet dazwischen. »Tinus, ist das so klug, den Kollegen hier die Butter vom Brot zu nehmen?«

Geving beantwortete die mahnenden Worte mit einer weiteren Frage an Chloé Lambert. »Lieutenant, wie lange war unser Staatsanwalt Ihrer Meinung nach schon tot?«

»Etwa eine Stunde. Der Zug erreichte Rotterdam um fünf Uhr zwei nachmittags, pünktlich auf die Minute.«

»Antwerpen hat er um halb vier verlassen«, ergänzte Arguetellier.

»Er wurde seit Brüssel nicht mehr gesehen?«, fragte Geving weiter.

»Das hat zumindest die Zugbegleiterin gesagt. Dort war Abfahrt um drei Uhr zweiundfünfzig.«

»Dann ist Bondevik eindeutig auf belgischem Staatsgebiet verstorben. Veranlassen Sie umgehend die Obduktion«, ordnete Geving an, bestätigt durch ein Kopfnicken von Lieke Brouwer.

Thijs de Groot schnaufte. »Woher nehmen Sie das Recht, jetzt hier die Anweisungen zu erteilen?«

»Ich fasse es mal für Sie zusammen: Norwegischer Staatsanwalt stirbt auf belgischem Boden an Bord eines internationalen Schnellzugs einen plötzlichen Herztod. Der Tod wurde in den Niederlanden festgestellt. Ich weiß nicht, wie Sie persönlich es handhaben. Bevor man den natürlichen Tod bestätigt, schließt man den unnatürlichen Tod aus. Wir nehmen uns nicht das Recht, wir haben es.«

»Ich werde meine Vorgesetzten informieren, das ist frech!«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, und blamieren Sie sich. Währenddessen gehen wir an die Arbeit.« An seine beiden Kollegen gewandt sagte er: »Wollen wir?«

Piet machte eine ironisch unterwürfige Geste. »Nach Ihnen, Herr Kriminalhauptkommissar.«

Auf dem Bahnsteig atmete Geving tief durch. »Lieutenant, Sie sollen bei uns arbeiten. Niemand hat verlangt, dass Sie sich Arbeit mitbringen.«

Chloé Lambert zuckte mit den Schultern. »Da ist es wieder, das verdammte Berufsrisiko.«

Europol-Hauptquartier

Eisenhowerlaan 73

Den Haag

20:53 Uhr

Der Tag hatte einen anderen Verlauf genommen als geplant. Immerhin hatte man sich gemeinsam mit Thijs de Groot darauf verständigen können, den Vorfall in der Öffentlichkeit herunterzuspielen. Die Medien würden nun von einer »groß angelegten Antiterrorübung, die einen Angriff mit biochemischen Kampfstoffen fingierte«, sprechen. Aus ermittlungstaktischen Gründen schien es nicht sinnvoll, den toten norwegischen Staatsanwalt zu erwähnen. Wer wusste, was noch kommen mochte? Die gestrandeten Passagiere mussten durch das Militär von dieser Version der Geschichte nicht lange überzeugt werden. Man ließ sie nicht eher gehen, bis sie eine Schweigevereinbarung unterzeichnet hatten.

Dennoch war der Revierkampf mit der niederländischen Polizei um Zuständigkeiten nicht von der Hand zu weisen. Ein Revierkampf, der Folgen haben sollte. Geving und Piet wollten ihre neue Kollegin gerade im Hauptquartier herumführen, da bekam er auch schon den befürchteten Anruf. Geving musste hoch zum Chef.

»Na, dann werde ich mal die Länge, Breite und Tiefe des Dolchs messen, den man mir in den Rücken jagen wird«, sagte er stöhnend an seine Kollegen gewandt.

»Wir verfassen schon mal deinen Nachruf«, scherzte Piet.

 

Laurits Pedersen war in den späten Vierzigern. Hohe Stirn, Geheimratsecken. In das Blond seines sauber zurückgekämmten gescheitelten Haars mischte sich das erste Grau. Schmale Lippen, kantiges Kinn, sehniger Hals, von hünenhafter Statur. Der Deputy Director strahlte eine natürliche Autorität aus, sodass er den Chef nicht besonders oft raushängen lassen musste. Pedersen ließ seinen Mitarbeitern freie Hand, mischte sich selten ein. Er führte so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Als ehemaliger Leiter der dänischen Kriminalpolizei und Chef des dänischen Inlandsgeheimdienstes PET verfügte er über eine eindrucksvolle Biografie, gepaart mit enormer Sachkenntnis. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm der Direktorenposten angeboten würde.

Geving schätzte seinen Chef, obwohl er ihn kaum kannte. Denn Pedersen war erst seit drei Monaten stellvertretender Direktor bei Europol. Noch konnte er nicht sagen, ob die Wertschätzung auf Gegenseitigkeit beruhte. Heute würde Pedersen ihn seine Autorität spüren lassen, das hatte er im Gefühl.

Geving wurde von Pedersens mitleidig dreinblickender Büroleiterin Pernille Holst aus seinen Gedanken gerissen. »Gehen Sie rein, man wartet schon auf Sie.«

Er klopfte an und öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.

Seine Vorahnungen bestätigten sich. Adriaen Mulder, Korpschef der niederländischen Polizei, ging in Pedersens Büro auf und ab und veranstaltete ein Himmeldonnerwetter. Thijs de Groot hatte seiner Drohung Taten folgen lassen.

»Ah, Geving, schön, dass Sie da sind«, begrüßte ihn der Deputy Director betont leutselig.

»Der Mann der Stunde«, bemerkte Mulder nicht ganz so leutselig. Zu Pedersen sagte er: »Jetzt legen Sie Ihren Mann gefälligst an die Kette!«

Der Däne verschränkte die Hände und lehnte sich in seinem Bürosessel entspannt zurück. »Das werde ich nicht tun. Sie kennen die europäischen Kooperationsvereinbarungen genauso gut wie ich. Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass unsere Behörde in Fällen mit grenzüberschreitender Dimension federführend ist. Der Fall Bondevik hat grenzüberschreitende Dimension.«

»Was zu beweisen wäre«, brummte Mulder.

»In der Tat. Bis zum Beweis des Gegenteils ist es unser Fall. Seien Sie froh, dass wir Ihnen die öffentliche Blamage erspart haben.«

»Das entschuldigt nicht das Auftreten Ihrer Leute!« Mulder funkelte Geving böse an.

Pedersen lächelte. »Ich meine, es war Ihr Agent de Groot, der sich unangemessen gegenüber unserer neuen Kollegin verhalten hat. Wenn jemand eine Entschuldigung verdient hat, dann sie.«

Geving nickte. Er konnte das so bestätigen.

Der Korpschef wollte schon aus dem Raum stürmen, blieb jedoch an der Tür stehen und drehte sich zum Deputy Director um. »Vermasseln Sie es nicht. Wäre schade, wenn es an Ihrer Karriere hängen bliebe.« Damit schlug er die Tür hinter sich zu.

Laurits Pedersen war von Mulders Abgang nicht sonderlich beeindruckt, zumindest zeigte er keine Emotion. »Der Gute hat nicht verkraftet, dass ich auf dem Stuhl sitze, den er sich in Gedanken schon angewärmt hatte. Jetzt wird er bald zwangspensioniert, sollte es zu einem Regierungswechsel kommen.«

Tinus Geving interessierte sich nicht für Politik. Eines aber wusste er. »Veenstra hält das für unwahrscheinlich.«

»Man wird ja wohl noch hoffen dürfen.« Pedersen lachte trocken. »Doch das ist es nicht, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte.« Er wies Geving, der immer noch stand, einen Platz vor seinem Schreibtisch zu und überflog den Zwischenbericht, bevor er fortfuhr. »Sie haben ziemlich viel Staub aufgewirbelt, mein Lieber.«

»Sie haben es selbst gesagt: Wie de Groot mit Lieutenant Lambert umgesprungen ist …«

Laurits Pedersen ließ ihn nicht ausreden. »Verstecken Sie sich nicht hinter Ihrer Kollegin, Geving. Sie hätten das besser managen müssen. Natürlich waren Sie im Recht, dieser Fall gehört erst mal uns. Sie persönlich haben ihn sich jedoch unter den Nagel gerissen.«

»Was hätte ich sonst tun sollen?«

»Haben Sie auch nur einen Moment darüber nachgedacht, Ihre Kollegen in der Abteilung Wirtschaftskriminalität und organisiertes Verbrechen ins Boot zu holen? Da gehört er nach allem, was ich erfahren habe, nämlich hin.« Pedersen musste nicht die Stimme erheben, um dem Ernst der Lage Nachdruck zu verleihen, er blieb betont sachlich. Vom Gemüt unterschieden sich der Däne und der Westfale nicht so sehr. »Allerdings kann ich Sie nicht tadeln, ohne Sie gleichzeitig zu loben. Ihr Umgang mit der Presse war ein Meisterstück! Es besteht kein Anlass, die Bevölkerung unnötig zu beunruhigen. Nicht vor den Wahlen.«

Da war es wieder. Politik … Was er als ermittlungstaktische Notwendigkeit betrachtete, betrachtete der Deputy Director als geschickten Schachzug. Tinus Geving pflegte seine Ermittlungen stets so direkt, zielgerichtet und deutlich zu führen, wie er es für notwendig erachtete. Als Beamter nahm er keine Rücksicht auf irgendwelche Befindlichkeiten. Er gestand sich jedoch ein, dass von einem Mann in Pedersens Position deutlich mehr Geschmeidigkeit erwartet wurde.

Geving überging die kleine Standpauke erst einmal.

»Was haben Sie noch in Erfahrung bringen können?«, fragte er.

»Erik-Sondre Bondevik war nur noch auf dem Papier bei der norwegischen Anklagebehörde beschäftigt. Tatsächlich arbeitete er als Sonderermittler für Økokrim. Das ist die zentrale Behörde Norwegens zur Ermittlung und Strafverfolgung von Wirtschafts- und Umweltdelikten, falls Sie sich fragen. Und das macht hoffentlich auch Ihnen deutlich, warum der Fall bei den Kollegen besser aufgehoben wäre.«

»Hm, ja, da könnten Sie recht haben.« Geving gab sich zerknirscht. »Aber was nun? Die Abteilung Wirtschaftskriminalität und organisiertes Verbrechen wird um ein Problem nicht herumkommen – Norwegen liegt außerhalb unserer Zuständigkeit.«

»Die Verbindungsbeamten wurden informiert. Ich habe mich darum gekümmert.«

»Wie haben Sie das in so kurzer Zeit geschafft?« Geving war verblüfft.

Pedersen schmunzelte. »Sie vergessen meine Position. Aber genug davon. Die sind zur Zusammenarbeit mit uns bereit, wenn – und ich betone wenn – wir ihnen nicht auf die Füße treten.«

»Sie glauben also auch, dass da was dran sein könnte?«

Wieder lachte der Deputy Director sein trockenes Lachen. »Ich glaube, dass Sie und Ihre Kollegin Lambert den gleichen Hang zur Deduktion haben. Wie sagen Sie doch immer …? Ich werde es nie lernen.«

Geving zuckte zusammen. Hatte ihn sein Vorgesetzter derart schnell durchschauen können? Dennoch half er bereitwillig aus.

»Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.«

»Wie schön.« Laurits Pedersen richtete sich auf. »Da Sie nun schon mit dieser Sache befasst sind, sehe ich kaum eine andere Möglichkeit, als Sie weitermachen zu lassen. Mal sehen, wie ich das begründe, ohne dass Ihre Kollegen mir an die Gurgel springen. Sie werden jedenfalls morgen bei der Leichenschau zugegen sein. Und nehmen Sie Frau Lambert mit. Das sollte Ihnen die Gelegenheit geben, Ihre Differenzen mit Agent de Groot ad acta zu legen.«

»Wir werden unser Bestes geben«, versicherte Geving.

»Nicht weniger als das erwarte ich von Ihnen. Ich hoffe, dass Sie um den diplomatischen Porzellanladen einen großen Bogen machen.«

Tinus Geving verabschiedete sich mit einem angedeuteten Kopfnicken und wollte Pedersens Büro verlassen.

»Ach, und Geving«, sagte er völlig ruhig, »diesmal lasse ich Ihnen Ihre Eigenmächtigkeit durchgehen. Verlassen Sie sich nicht darauf, dass ich noch einmal den menschlichen Schutzschild für Sie spielen werde. Anderenfalls muss ich darüber nachdenken, Adriaen Mulder Ihren Kopf als Trophäe zu präsentieren. Das wäre alles.«

Sichere Wohnung des DGSE

Aubervilliers

22:15 Uhr

Ein Agent war gut beraten, sich bei der Wahl konspirativer Wohnungen davon leiten zu lassen, dass sie im Fall von Enttarnung oder feindlicher Attacke mehrfache Rückzugsmöglichkeiten boten. Vorzugsweise in anonym wirkenden Häusern mit vielen Mietparteien und regem Publikumsverkehr. Die richtige Wahl entsprang aber ebenso psychologischer Notwendigkeit. Der Agent musste sich sicher fühlen, nur so konnte er seine operativen Aufgaben effizient erledigen.

Hier fühlte er sich sicher. Er, den man in informierten Kreisen mit Furcht nur den »Kuckuck« nannte. Hier, in einer Sozialwohnung mit Blick auf den Tour La Villette. Auf der anderen Seite.

Jenseits des Peripherie, dem Autobahnring, der die Grenze zwischen den Lebenslügen der Republik – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und der elenden Realität bildete. So sah er es.

Jenseits des Périph, auf der anderen Seite der Armutsgrenze. Hier, inmitten von hoher Arbeitslosigkeit, städtischer Verwahrlosung, chronischen Unruhen und kollektiver Gewalt herrschte nur ein Gesetz: das des Stärkeren. Das Gesetz von Drogen, Gangs und Getto. Es erinnerte ihn an seine eigene Herkunft, seine spätere Radikalisierung. Hier hatte der DGSE, die Direction Générale de la Sécurité Extérieure, ihn rekrutiert, eher zur Mitarbeit erpresst. Hier herrschte ehrliche Klarheit. Hier konnte er klar denken, befreit aufatmen von der erdrückenden Lebenslüge, die er endlos lange zu vertreten gehabt hatte.

Und er musste Klarheit gewinnen. Der Kuckuck hatte die Berichte aus Rotterdam gesehen. Er wusste, dass seine Aktion nicht unentdeckt bleiben würde. Einer der wenigen Fehlschläge in seiner Karriere, seiner Profession. Der größte Fehlschlag nach jenem, der sein doppeltes Spiel damals offenbart und ihn in die Illegalität gezwungen hatte.

Europol war an ihm dran, ob er wollte oder nicht. Sie mochten es noch nicht realisiert haben, er hingegen schon. Denn sie steckten hinter der gezielten Desinformation. Die Berichte verrieten ihm dennoch, was er dringend wissen musste. Chloé Lambert agierte nicht länger allein, sie hatte einen mächtigen Verbündeten. Dieser konnte sich den Kameraobjektiven zu entziehen suchen, wie er wollte, es gelang ihm nicht. Tinus Geving.

Sein fotografisches Gedächtnis erlaubte ihm, auch diese Informationen schnell aufzurufen. Informationen über den Kriminalhauptkommissar mit dem merkwürdig deutschen Pflichtbewusstsein. Ein würdiger Gegner, sollte es darauf ankommen. Geving war für seine Rücksichtslosigkeit bekannt. Davor hatte der Kuckuck Respekt.

Noch etwas hätte er als Agent gelernt, wenn er diese schmerzhafte Lektion nicht vorher bereits beherrscht hätte: Vertraue niemandem! Natürlich traute er Geving nicht. Noch weniger traute er allerdings dem General und dessen Handlangern, die Positionen vertraten, die er nie hätte unterstützen können. Nie hätte unterstützen dürfen. Für diese Nachlässigkeit – er ging so weit, es als Pflichtvergessenheit zu brandmarken – würde er einen Preis zahlen. Dem General konnte der Ausgang der Operation nicht entgangen sein. Der Untergang eines Profis, sein Untergang, war besiegelt.

Hier, in dieser ihm wohlvertrauten Umgebung, musste er Klarheit gewinnen. Der Kuckuck musste sich absichern.