Leseprobe All die kleinen Dinge

Prolog

90.136.453,67

Akribisch hatte er die lange Zahlenreihe auf das Whiteboard geschrieben, um dem jungen Mann zu demonstrieren, über welche Summe sie hier eigentlich redeten. Die Zahl war beeindruckend. Und Elmar Häger liebte Zahlen. Nicht nur, wohlgemerkt. Es gab auch noch Monika, seine Frau, mit der er seit dreiundvierzig Jahren glücklich verheiratet war. Die liebte er auch. Kinder hatten sie keine, was weder gewünscht noch geplant gewesen war, es hatte sich nur einfach nicht ergeben.

»Lassen Sie uns lieber bei neunzig Millionen bleiben. Ist irgendwie ... griffiger«, befand der junge Mann und lehnte sich gelangweilt zurück in die Polster des Ecksofas, das den Besuchern in Elmars Büro vorbehalten war. Elmar Häger nickte wohlwollend.

»Natürlich. Wie Sie wünschen.« Warum sollte er sich jetzt noch über mangelndes Interesse ärgern? Nur noch wenige Wochen lagen vor ihm, dann begann sein wohlverdienter Ruhestand und seine Arbeit als einer von drei Kundenbetreuern bei der Berliner Lotteriegesellschaft wäre beendet. Dass ausgerechnet mit seiner letzten Ziehung der höchste Jackpot aller Zeiten zur Ausspielung kam, empfand er als durchaus positives Zeichen dafür, dass nun der goldene Herbst seines Lebens vor ihm lag. Und natürlich auch vor Monika.

Zwölf lange Wochen hatte niemand die richtigen Zahlen getippt, was bei einer Gewinnwahrscheinlichkeit von 1:140 Millionen nicht weiter verwunderlich war. Jetzt stand die Zwangsausschüttung bevor und die Medien fachten die Hysterie um den sagenhaften Jackpot mit Sondermeldungen und Schlagzeilen kräftig an.

Der gelangweilte Reporter des Privatsenders, der ihn gerade interviewte, gehörte ebenfalls zu dem Rummel. Ein junger Bursche mit teurer Funktionsjacke, sorgfältig verwuschelten Haaren, einer überdimensionierten Hornbrille und dem obligatorischen Vollbart. Er entsprach ganz dem Prototyp eines Berliner Medien-Hipsters und spielte garantiert nie Lotto. Zur besten Sendezeit würde er den Beitrag in den Abendnachrichten bringen, um auch noch die allerletzten Glückssucher zu animieren, mit einem Lottolos die Chance ihres Lebens zu ergreifen.

Obwohl es nur ein kurzer Beitrag werden sollte, nicht länger als eineinhalb Minuten, hatten die Dreharbeiten den ganzen Vormittag gedauert. Elmar Häger hatte geduldig die üblichen Fragen beantwortet. Nun sollte er ein paar interessante Anekdoten über frühere Gewinner preisgeben. Was ihm nicht weiter schwerfiel. Mehr als zwanzig Lottomillionäre hatten im Laufe von dreißig Dienstjahren auf seinem Sofa Platz genommen und er erinnerte sich an jeden Einzelnen von ihnen. Der junge Reporter war allerdings mehr an den tragischen Fällen interessiert.

»Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Sie kennen das ja. Wer hört schon gerne, dass so viel Kohle glücklich macht?« Er nahm die Hornbrille von der Nase und putzte die Gläser bedächtig mit einem weichen Tuch, während er sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen erwartungsvoll ansah. »Da gab’s doch bestimmt ein paar üble Storys, hab ich recht? Nur raus mit der Sprache, hm?«

Der kumpelhafte Ton, den der Reporter anschlug, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, ärgerte Elmar zwar, aber er hatte schon genug Zeit verloren und wollte diesen Termin so schnell es ging zu Ende bringen. So gab er die übliche Geschichte von dem armen Schlucker zum Besten, der von Hartz IV und Billig-Bier vom Späti lebte, bevor er plötzlich in Geld schwamm. Ein Umstand, der, man hatte es ahnen können, nicht lange anhielt. Der arme Kerl war schneller wieder pleite als man Altersvorsorge sagen konnte.

Er erwähnte auch den Familienvater, der seiner Frau und seinen halbwüchsigen Kindern die Millionen verschwieg, um sich mit dem Geld nach Kanada abzusetzen. Dort begann er ein neues, sorgenfreies Leben ohne lästige familiäre Verpflichtungen. Er investierte seine Millionen lieber in teure Sportwagen und junge Frauen. Der Reporter war begeistert.

»Das sind die Storys, die unsere Zuschauer lieben.«

 Elmar lächelte höflich und schwieg. Er kannte noch andere Geschichten. Und besondere Momente, in denen er den Lottogöttern (oder wer auch immer dafür verantwortlich war) aus tiefstem Herzen dankte, genau die Richtigen getroffen zu haben.

Eine davon war Alice Krause, der er die Hand hielt, als sie völlig aufgelöst und vor Aufregung zitternd auf dem gleichen Sofa zusammengesunken war, auf dem nun der junge Medien-Hipster fläzte und ungeduldig darauf wartete, dass sein Kameramann die Ausrüstung wieder verstaute.

Mit 81 Jahren hatte Alice nicht nur ihren Mann überlebt, sondern auch die beiden Kinder und wartete einsam und allein in einem Seniorenstift auf den Tod. Lotto spielte sie nur noch aus reiner Gewohnheit, wie sie Elmar unter Tränen versicherte. Ihr Mann Burkhard hatte doch immer von einem Sechser geträumt, der ihm zu Lebzeiten leider verwehrt wurde. Nun hatte sie es mit seinen Zahlen geschafft. Elmar Häger hatte weiterhin ihre Hand getätschelt und ihr Mut zugesprochen. »Nur die Ruhe, Frau Krause, es ist doch nur Geld. Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt und überlegen Sie sich ganz entspannt, was Sie sie sich schon immer gewünscht haben. Und dann erfüllen Sie sich diesen Wunsch. Man ist doch nie zu alt für Herzenswünsche.«

Alice ging daraufhin ein wenig beruhigter heim, dachte eine Weile nach und, da es keine lebenden Verwandten mehr gab, die sie glücklich machen konnte, verbrachte sie die kommenden Jahre damit, durch die Stadt zu ziehen und all denen mit ihren Millionen unter die Arme zu greifen, die ihrer Meinung nach Hilfe benötigten.

Sie entschlief eines Nachts friedlich in ihrem Bett, hochbetagt, selig lächelnd und wieder arm wie eine Kirchenmaus. Elmar nahm sich extra Urlaub, um zu ihrer Beerdigung zu gehen. Und wenn er an diesen Tag zurückdachte, dann lief ihm noch immer ein leichter Schauer über den Rücken. Unzählige Menschen waren bei mildem Frühsommerwetter auf dem kleinen Friedhof im Norden Berlins erschienen, um ihrer Oma Krause die letzte Ehre zu erweisen. Es schien, als habe die alte Dame in ihren letzten Lebensjahren nicht nur sich, sondern die halbe Stadt glücklich gemacht.

Und mit einem letzten Blick auf die exorbitante Zahl, die da auf dem Whiteboard stand, schickte Elmar Häger ein stummes Stoßgebet an die Lottogötter (oder wer auch immer dafür verantwortlich war), es auch diesmal wieder richtig zu machen.

Kapitel 1

»Sieh's mal so – alles, was wir zu verlieren hatten, ist schon weg.«

Thelma & Louise

Ab einem gewissen Alter sollte man darauf verzichten, seinen Geburtstag zu feiern. Ganz im Ernst. Ansonsten ist man nur frustriert. Ich jedenfalls war es, als ich keuchend eine Umzugskiste hoch in den dritten Stock eines Weddinger Altbaus schleppte und darüber nachdachte, mit gerade mal dreißig Jahren nicht besonders weit auf der Karriereleiter und überhaupt in meinem Leben gekommen zu sein.

Schweißgebadet stellte ich den Karton in dem winzigen Flur ab, der zu der ebenfalls recht kleinen Zweiraumwohnung meiner besten Freundin Bine gehörte. Sie ließ mich und meine Tochter Mia dankenswerterweise bei sich einziehen. Wir waren gerade obdachlos geworden. Ein solventer Investor hatte sich unser bescheidenes Zuhause und die dazugehörige Gründerzeitmietskaserne für einen Spottpreis unter den Nagel gerissen. Kurz darauf war er auf die grandiose Idee gekommen, aus den kleinen, schäbigen Altbauwohnungen mit Ofenheizung schicke Eigentumslofts zu machen, um damit noch mehr Millionen zu scheffeln. Von Mieterschutz hielt er ähnlich viel wie ein afrikanischer Warlord von der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Horde bulgarischer Entmieter, die er engagierte, sorgte dann auch sehr wirkungsvoll dafür, besagte Pläne zügig in die Tat umzusetzen.

Nachdem uns die muskelbepackten Herren mit dem Charme einer Abrissbirne sechs Monate lang das Leben zur Hölle gemacht hatten, gaben wir auf. Mein dreißigster Geburtstag war also alles andere als ein Tag der grenzenlosen Freude.

Erschöpft ließ ich mich auf eine der Kisten nieder, die bereits in dem kleinen Flur standen und dafür sorgten, dass man sich kaum noch bewegen konnte. Was, wie gesagt, weniger an den paar Kisten, als vielmehr an dem wirklich kleinen Flur lag. In der Küche hörte ich Bine mit Mia herumalbern.

»Nina? Bist du das?«

»Ja-a. War die letzte Kiste.«

»Wir sind auch gleich fertig. Und komm’ bloß nicht in die Küche.«

»Kein Problem«, die ist sowieso zu klein, fügte ich in Gedanken hinzu. Sie bereiteten eine streng geheime Geburtstagsüberraschung für mich vor und durften nicht gestört werden. Unsere Freunde Carlos und Tomas waren unten damit beschäftigt, eine der begehrten Parklücken für den kleinen Lieferwagen zu finden, den ich für den Umzug gemietet hatte. Was erfahrungsgemäß Stunden dauern konnte. Parkplätze waren in der Gegend ähnlich selten zu finden, wie eine Wasserstelle in der Wüste Gobi. Ich hatte also genügend Zeit, in aller Ruhe ein Fazit meiner bisherigen dreißig Lebensjahre zu ziehen.

Besonders viel gab es da nicht auf meiner Haben-Seite, wenn ich mir unseren bescheidenen Besitz so ansah. Die großen Möbel aus unserer Wohnung hatten wir in einer Halle eingelagert, die zur Autowerkstatt von Tomas bestem Kumpel Janos gehörte. Es würde vermutlich Monate dauern, bis ich auf dem heißumkämpften Wohnungsmarkt in Berlin eine passende Bleibe für uns finden würde, da machte ich mir keine Illusionen. Das alberne Kichern meiner Tochter drang gedämpft aus der Küche zu mir und erinnerte mich daran, dass nicht alles deprimierend war. Mia war nämlich das dicke Plus in meinem Leben.

Sie war alles andere als ein Wunschkind gewesen, muss ich gestehen. Mit 18 Jahren hatte ich eine Menge Wünsche auf meiner Liste; ein dicker Bauch, Schwangerschaftsstreifen und Wasser in den Beinen gehörten allerdings nicht dazu.

Ich hatte gerade mein zweites Ausbildungsjahr als Hotelfachfrau im Mirage, der luxuriösesten Luxusherberge Berlins, als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Meine Lehrer und Kollegen schlossen bereits Wetten darauf ab, welches unserer um den ganzen Erdball verteilten Nobel-Hotels ich in zehn Jahren leiten würde. Schließlich war ich nicht nur dafür bekannt ziemlich gut, sondern auch wahnsinnig ehrgeizig zu sein. Während ich mich in meinen Träumen schon als neuer Shootingstar am internationalen Hotelhimmel sah, lief mir Patrick Reimann über den Weg. Er war wie ich in seinem letzten Ausbildungsjahr und kam aus unserem Hamburger Hotel nach Berlin. Gerüchten zufolge war dies nicht ganz freiwillig geschehen und hatte wohl mit der Tochter des Küchenchefs zu tun, mit der Patrick ein etwas zu enges Verhältnis pflegte. Jedenfalls aus Sicht des Küchenchefs. Patrick sah aus wie ein jüngerer Zwillingsbruder von Keanu Reeves, war ähnlich charmant und sexy, hatte Humor und das schönste Paar samtbrauner Augen, das ich jemals gesehen hatte. Was den Gerüchten über den unglücklichen Küchenchef durchaus Substanz verlieh. Wessen Tochter würde sich nicht in solch ein Prachtexemplar von Mann verlieben?! Was das Fachwissen anbelangte, war Patrick die totale Niete.

Ich half ihm den Unterrichtsstoff aufzuholen, gab ihm Tipps und Tricks für seine Prüfungen und er schaffte es im Laufe des Jahres tatsächlich bis ins oberste Leistungsdrittel unseres Jahrgangs. Ganz nebenbei wurden wir ein Paar. Heimlich. Liebeleien unter den Angestellten sah man im Mirage nicht gerne und einen weiteren Ausrutscher konnte Patrick sich nun wirklich nicht leisten. Am Ende des Jahres war ich im fünften Monat schwanger, während mein Freund mit meiner Hilfe seine Prüfungen mit Auszeichnung bestand.

Am Abend seiner Abschlussfeier machte er mit mir Schluss. Den Hinweis, dass wir ein Kind erwarteten, kommentierte er reichlich abgeklärt.

»Du erwartest ein Kind. Nicht ich. Also ist es dein Problem.« Seine männliche Logik war herzerfrischend.

Am nächsten Tag verschwand er in Richtung London und ließ mich sitzen. Wegen der Schwangerschaft musste ich meine Ausbildung unterbrechen und stand nun völlig mittellos da. Ich zog wieder bei meiner Mutter ein – eine wirklich deprimierende Erfahrung – und das lag nicht nur am Plattenbau, den ich noch aus den trüben Jahren meiner Kindheit in Marzahn kannte und den ich doch unbedingt hinter mir lassen wollte.

Statt eines spektakulären Ausblicks auf das Brandenburger Tor, die Skyline New Yorks oder eines karibischen Traumstrandes, starrte ich wieder auf das öde Umland des Berliner Ostens und fragte mich, wie ich das alles hinbekommen sollte. Ohne Ausbildung. Ohne Job. Ohne Freund.

Meine Mutter war in dieser Situation keine große Hilfe. Mal abgesehen davon, dass ich umsonst in meinem alten Kinderzimmer wohnen durfte. Dummerweise hatte sie dies zu einer Art Außenstelle der Berliner Wertstoffsammlung verwandelt. Nachdem ich damals ausgezogen war, ertränkte sie ihre Einsamkeit nämlich gern in ein, zwei Flaschen Rotwein der Marke »Pennerglück« und nahm es mit der Altglasentsorgung nicht so genau.

Bei Fragen und Ängsten, die einer knapp 19 Jahre alten Schwangeren sonst so durch den Kopf gingen, war sie eine Katastrophe. Meist jammerte sie mir mit Blick auf meinen immer dicker werdenden Bauch vor, dass ich a) eine große Enttäuschung für sie sei, dass sie sich b) so viel mehr von mir versprochen hatte und dass ich c) nun die gleichen, idiotischen Fehler machen musste, wie sie. Ihr Mann – mein Vater – hatte sich nämlich ähnlich mies verhalten wie Patrick. Den Hang, sich mit den falschen Männern abzugeben, hatte ich demnach von ihr. Ansonsten gab es kaum Gemeinsamkeiten.

»Heutzutage kriegt man doch kein Baby mehr. In deinem Alter, also wirklich. Da treibt man ab!«

Ich schob ihre wenig mitfühlende Sicht der Dinge auf den Genuss von zu viel Rotwein und der Verbitterung, es niemals raus aus Marzahn geschafft zu haben.

»Ist jetzt eh zu spät«, fügte sie mit Blick auf meinen dicken Bauch hinzu und nahm einen großen Schluck aus ihrem Weinglas. »Zur Not gibt’s die Babyklappe.« Wenigstens war sie pragmatisch und ließ in den Monaten danach der Natur ihren Lauf.

Als mir nach einer endlos scheinenden Schwangerschaft und einer vierzehnstündigen Wehenzeit im Krankenhaus das winzige zerknautschte Bündel auf den Bauch gelegt wurde, wusste ich, dass ich mit Mia die richtige Entscheidung getroffen hatte. Nur das Timing war echt blöd.

Etwas mehr als elf Jahre waren seit diesem Tag vergangen und vom ersten Augenblick an besaß Mia die seltene Gabe, jeden, der ihr begegnete, zu verzaubern. Selbst meine Mutter liebte sie von der ersten Sekunde an abgöttisch, schwor von einem Tag zum anderen dem Rotwein ab und kümmerte sich liebevoll um Mia, als ich endlich wieder anfangen konnte zu arbeiten. Sie gab sogar das Rauchen in der Wohnung auf und gönnte sich ihre Selbstgestopften nur noch auf dem winzigen Balkon unserer Wohnung hoch oben im elften Stock. Ich durfte meine Ausbildung fortsetzen, musste allerdings das ganze letzte Jahr wiederholen. Meine Mutter und ich erlebten ein wunderbares erstes Jahr mit Mia und kurz bevor die Abschlussprüfungen anstanden, ging meine Mutter morgens in den Supermarkt und kam nicht mehr wieder.

Ich sah sie zum letzten Mal in der Notaufnahme des Krankenhauses, in das sie eingeliefert worden war, als sie vor dem Spirituosenregal zusammenbrach und man sie mehr als eine halbe Stunde dort liegenließ, bevor eine Angestellte auf die glorreiche Idee kam, vielleicht doch mal den Notarzt zu rufen. Meine Mutter hatte keine Chance.

Die Abschlussprüfungen konnte ich erneut vergessen und nahm stattdessen einen Job als Zimmermädchen und Reinigungskraft in einem der vielen Businesshotels an, die in Berlin wie Pilze aus dem Boden schossen. Schließlich musste ich fortan allein für mich und Mia sorgen. Ich zog in eine kleine Altbauwohnung mit Ofenheizung, deren Miete ich mir gerade eben leisten konnte, und ergatterte sogar einen Kita-Platz für Mia. Wenn man ihr erstmal in ihre braunen Augen sah, die hatte Patrick ihr vererbt, konnte man einfach nicht nein sagen. Zum Glück war es das Einzige, was sie aus dem Genpool der Hölle mit auf den Weg bekam. Die kupferroten Locken, die ihren Rehblick zuckersüß unterstrichen, stammten eindeutig von mir.

So richtig weit konnte ich es auf der Karriereleiter nicht bringen. Mal bekam Mia die Masern und ich musste in der Hauptsaison Urlaub nehmen. Drei Monate später hatte ich statt eines besseren Jobs an der Rezeption die Kündigung. Wieder fing ich beim nächsten Hotel ganz unten an. An ihrem sechsten Geburtstag brach Mia sich beim Spielen das Bein und mein Arbeitgeber legte mir nahe, mir doch einen neuen Job zu suchen, der besser zu meiner Lebenssituation als alleinerziehende Mutter passte. Unnötig zu erwähnen, dass es ein Familienvater war, der mir diesen Rat und die anschließende Kündigung gab. Seine Frau kümmerte sich derweil daheim um den Nachwuchs.

Vor drei Jahren begann ich bei Hostel One zu arbeiten, eine der großen internationalen Hotelketten, die auf Städtetouristen und Geschäftsreisende spezialisiert war. Und da blieb ich. Die Arbeit als Zimmermädchen und Reinigungskraft war zwar immer gleich und ziemlich zermürbend, und an Beförderung war auch nicht zu denken, doch ich fand unter meinen Kollegen etwas, was ich viele Jahre lang vermisst hatte. Eine Familie. Nun ja, Wahlfamilie, um genau zu sein.

 Bine, die mit mir als Zimmermädchen arbeitete, kam mit berlintypischer Schnodderschnauze daher und war der liebenswerteste Mensch, den ich kannte. Sie war etwas älter als ich, hatte ebenfalls keine richtige Ausbildung und ihre Eltern waren früh an Krebs gestorben. Sie war aus ihrem uckermärkischen Dorf in die Großstadt gezogen, um einen Mann fürs Leben zu finden. Bislang war die Suche nicht sehr erfolgreich. Ihr größtes Talent bestand darin, ein Problem einfach so lange zu ignorieren, bis es sich in Luft auflöste. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, aber sie hatte damit tatsächlich Erfolg. Meistens jedenfalls.

»Na, haste dich schon eingelebt?«

Bine kam aus der Küche und wischte sich ihre Hände, die mit lindgrün eingefärbter Sahne bekleckert waren, an einem Geschirrtuch ab. Offensichtlich bastelte sie mit Mia an meiner Geburtstagstorte. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

»Das wird super mit uns Dreien – ’ne richtige Mädels-WG.«

Hatte ich erwähnt, dass Bine in wirklich jeder Situation nur das Beste sah?

»Hier gibt’s Zentralheizung, Mama! Ist das nicht cool – ich muss keine Kohlen mehr schleppen.«

Meine Tochter, die den Sahnespuren in ihrem Gesicht nach zu urteilen reichlich von der Torte genascht hatte, ließ sich ebenfalls nicht von dem Umstand die gute Laune verderben, dass wir mehr oder weniger obdachlos waren.

»Bine, wenn wir dir auf die Nerven gehen, dann musst du mir das sofort sagen. Und ich gebe was zur Miete dazu.« Ich sah mich in der kleinen Wohnung um, die in den nächsten Wochen unser neues Zuhause werden würde. Es war gemütlich, hell und freundlich und entsprach somit hundertprozentig Bines Wesen. Aber es war auch verdammt eng. Für drei Personen viel zu eng.

»Ich glaub, ich spinne! Du sparst die Kohle für ’ne neue Wohnung. Ich nehm doch kein Geld von dir. So weit kommt’s noch!«

Wie gesagt, Bines Herz war mindestens genauso groß wie ihre Berliner Schnauze.

»So, das war die letzte Kiste.« Mit einem Stöhnen setzte Tomas den Bücherkarton ab, in den Mia ihre Lieblingscomics gepackt hatte. »Können wir jetzt mal anfangen zu feiern?«

Er wischte sich die verschwitzen, blonden Strähnen aus der Stirn und sah uns unbekümmert aus seinen wasserblauen Babyaugen an. Tomas war technischer Mitarbeiter unseres Hotels und so etwas wie der polnische McGyver unter den Angestellten. Mit den irrwitzigsten Hilfsmitteln schaffte er es, jeder Maschine, die den Geist aufgegeben hatte, wieder Leben einzuhauchen. Niemals war mir jemand begegnet, der auch nur annähernd so großes handwerkliches Geschick besaß wie er. Auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Begegnungen war er weniger begabt. Gleich zu Beginn verknallte er sich hoffnungslos in Bine. Nachdem sie sich ein paarmal gedatet hatten und schließlich im Bett landeten, war klar, dass es besser für sie sein würde, nur gute Freunde zu bleiben. Dies war zumindest Bines Sicht der Dinge, die dazu führte, dass Tomas sich ein paar Wochen lang mit heftigem Liebeskummer quälen musste. Sie schafften es dann doch noch Freunde zu bleiben und seitdem fühlte Bine sich berufen, die passende Traumfrau für Tomas zu finden. Bei mir hatte sie es auch schon versucht. Obwohl ich Tomas wirklich sehr mochte, lehnte ich dankend ab.

Carlos kam wie üblich als Letzter hinzu und zwängte seine untersetzte Gestalt zu uns in den viel zu kleinen Flur.

»Warum müsst ihr eigentlich immer ganz oben wohnen? Könnt ihr euch nicht mal eine Parterrewohnung besorgen?« Keuchend balancierte er ein Tablett mit selbstgemachten Tapas in einer Hand. Unter dem anderen Arm klemmte ein großer Karton mit spanischem Sekt. Bine nahm ihm kurzerhand die Tapas ab.

»Genau darauf hab’ ich gewartet. Mach schon mal den Sekt auf, ich hol’ die Gläser.«

Mit einem Stöhnen stellte Carlos den Karton ab und fischte eine Flasche hervor. Er war eigentlich Koch und kam aus Spanien. Sein Alter konnte man schwer schätzen und seine dunklen Augen besaßen den traurigen Ausdruck eines Hundewelpen, den man einsam und allein an einer Raststätte ausgesetzt hatte. An der Costa Brava hatte er eine kleine Tapasbar besessen, bevor die Finanzkrise zuschlug. Im Zuge dessen verlor Carlos erst sein Restaurant und dann seine Frau. Sie war mit einem Hotelgast aus Schweden durchgebrannt. Auf der Suche nach seiner großen Liebe, die ihn so schnöde verlassen hatte, war Carlos in Berlin gestrandet. Jetzt schmiss er mit zwei Aushilfen die Küche und war verantwortlich für das Frühstück und die kleinen Snacks, die in unserem Hostel One angeboten wurden. Wer jemals Carlos eigenwillige Tapaskreationen probiert hatte, ahnte jedoch, dass er sich mit dem Aufwärmen von Mikrowellenessen weit unter Wert verkaufte.

Mit einem lauten Knall flog der Korken aus der Flasche, während Bine mit den Gläsern zurückkam.

»Auf das Geburtstagskind!«

»Auf ein neues Jahr. Möge es dir Gesundheit, Glück und Freude bringen.« Tomas wurde bei Feierlichkeiten immer schrecklich förmlich. Zumindest, bis der Wodka auf den Tisch kam.

»Auf ein geiles Jahr, Süße.« Bine stieß mit mir an, dass die Gläser klirrten, und gab mir einen dicken Schmatz auf die Wange.

»Auf dich, meine Schöne.« Carlos umarmte und küsste mich dreimal auf die Wange, wie es in Spanien üblich war. Ich drehte mich um und suchte Mia. Die kam nun mit dem Kuchen aus der Küche. Dreißig Kerzen brannten auf der Torte und Mia war sichtlich stolz, dass man ihr die Ehre überlassen hatte, mir meinen Geburtstagskuchen zu überreichen.

»Grün? Ist nicht euer Ernst.«

Es war meine Lieblingsfarbe und Mia und Bine hatten sich wirklich große Mühe mit der Verzierung gegeben. Geholfen hatte es nicht. Sie sah recht gewöhnungsbedürftig aus, doch das tat meiner Freude darüber keinen Abbruch.

»Du musst die Kerzen auspusten und dir was wünschen.«

Mia stellte die Torte vorsichtig ab.

»Dann mal los.« Ich holte tief Luft und pustete, was meine Lungen hergaben. Mit zwanzig war das wesentlich einfacher gewesen. Schließlich erlosch auch die letzte Kerze und meine Freunde klatschten vor Begeisterung.

»Den Vierzigsten feiern wir ohne Kerzen, damit das klar ist!«

Atemlos nahm ich einen Schluck von meinem Sekt.

»Und? Hast du dir was gewünscht?« Mia sah mich mit großen Augen an.

»Klar hab ich mir was gewünscht.«

»Und was?«

»Stop! Stop! Stop!« Bine unterbrach resolut. »Wünsche werden nicht verraten. Die gehen sonst nicht in Erfüllung.«

Kurzerhand schob sie Mia und mich in Richtung Küche. »Jetzt wird gefeiert und gegessen und gelacht und getrunken. Viel getrunken.«

Damit leitete Bine zum unterhaltsamen Teil des Abends über. Vielleicht war mein 30. Geburtstag doch nicht ganz so deprimierend, wie ich befürchtet hatte.

Mia fiel plötzlich etwas Wichtiges ein.

»Dein Geschenk. Du kriegst doch noch dein Geschenk.«

Ich sah sie abwehrend an.

»Mia. Wir waren uns doch einig, dass du mir dieses Jahr nichts schenkst.«

»Das hab ich nur gesagt, damit du endlich Ruhe gibst«, verteidigte sich meine Tochter, während sie in den Umzugskartons kramte.

»Wer Geburtstag hat, bekommt auch Geschenke.«

Der Logik meiner elfjährigen Tochter hatte ich nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Mit einem Aufschrei entdeckte sie schließlich in einer Kiste, wonach sie gesucht hatte.

»Alles Liebe zum Geburtstag, Mama.« Feierlich übergab sie mir ihr Geschenk und ich musste erneut schlucken.

»Ich hab’ dich lieb, Schnecke.« Ich küsste und umarmte sie so lange und so doll, dass sie nach einigen Momenten an meiner Schulter zu protestieren begann.

»Ich krieg’ keine Luft und du musst das Geschenk aufmachen.«

»Wo sie Recht hat, hat sie Recht«, nuschelte Bine mit vollem Mund. Sie hatte sich bereits mit Carlos und Tomas über die Tapas hergemacht. »Jetzt mach schon auf, bevor ich vor Neugier kollabier’.«

Lachend riss ich das Geschenkpapier auf und blickte auf eine wunderschöne, alte Messingschatulle. Das Metall war blankpoliert, hatte einige Dellen und Schrammen, aber man konnte die feinen Linien zweier kleiner Drachen erkennen, die auf dem Deckel eingraviert waren und die den Inhalt zu bewachen schienen.

»Wow ...« Ich war sprachlos.

»Ich hab’ sie im Sperrmüll gefunden und Tomas hat mir geholfen, sie zu restaurieren. Da können wir prima unseren Schmuck aufbewahren, hab ich gedacht.«

»Sie ist wunderschön.«

»Du musst sie aufmachen. Da ist noch was drin, von uns allen.«

Bine zwinkerte mir zu und deutete auf den kleinen Schlüssel, der auf der Schatztruhe mit einem Klebestreifen festgemacht war. Ich öffnete das Schloss und hob den Deckel. In dem mit feinem, grünem Samt ausgelegten Innern lag – ein Lottoschein.

»War meine Idee. Der ist für den Mega-Jackpot am Wochenende.« Carlos war ganz aufgeregt. »Ein Cousin dritten Grades hat nämlich mal mit seinem Dorf die spanische Winterlotterie geknackt. Die sind super durch die Finanzkrise gekommen, das kann ich dir sagen.«

»Ich hätte dir ja lieber ’nen Gutschein von Primark geschenkt. Sie haben mich überstimmt.«

Bine schüttelte den Kopf und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Neunzig Millionen! Was will man denn mit so viel Kohle anfangen?«

Nun, wenn ich damals gewusst hätte, was in den kommenden Wochen noch so alles auf mich zukommen würde, ich hätte an diesem wundervollen Abend schon mal angefangen, über eine Antwort nachzudenken.