Leseprobe Die Stimme des Todes

Eins

Ein Monat später

Alex Duggins hockte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken an die hintere Wand der St. Aldwyn’s Kirche. Die Stille, abgesehen von einer kühlen Brise, die die Blätter einer riesigen Buche zum Rascheln brachte, erlaubte ihr, sich aus ihren viel zu geschäftigen Gedanken an einen ruhigeren Ort zurückzuziehen.

Das dichte Moos in sämtlichen Ritzen des Gebäudes und in den Spalten des Wegs verströmte einen intensiven, feuchten Geruch. Der Duft vermischte sich mit dem Geruch der Erde und des Mulchs aus etlichen Jahren. Sie atmete tief ein. Der Kreislauf des Lebens war selbst bei Moos vorhersehbar und nirgends mehr als zwischen den ewigen Ruhestätten der Toten. Die Inschriften auf den uralten, schrägstehenden Grabsteinen verschwanden unter einer grüngrauen Schicht.

Ein wunderschöner Sommer hatte in den Cotswold Hills Einzug gehalten. Von ihrem Platz im Schatten der Buche aus beobachtete sie, wie die frühe Morgensonne Schatten aufs Gras warf, und betrachtete die Grüppchen winziger Gänseblümchen im Schatten der dunklen Grabsteine.

Bogie, ihr grauer Hund, größtenteils Terrier, rannte mit der Schnauze am Boden hin und her und schnüffelte mit schlackernden Ohren. Sie ließ sich auf den Boden sinken. Diese Stelle war noch immer feucht vom Morgentau, doch sie trug eine lange Segeltuchjacke, die ihre Jeans weitgehend trockenhalten würde.

In der Kirche spielte jemand auf dem alten Klavier, das für die Chorproben benutzt wurde. Sie schaute in Richtung der hohen Buntglasfenster, konnte sie aber von ihrer Position aus nicht sehen. Sie waren nicht außergewöhnlich, doch sie gefielen ihr. Die Musik wurde lauter und eine Frauenstimme erhob sich zu einem Lied. Die wunderschöne, rauchige Stimme schien nicht an diesen Ort zu passen, doch sie war immer wieder in kurzen Intervallen in Harmonie mit dem Klavier zu hören. Es klang, als wäre es ein neues Stück für die Sängerin, an dem sie noch arbeitete. Immer wieder brach sie ab, setzte dann aber erneut an.

Die Stimme erinnerte sie an Madeleine Peyroux. Als Alex Madeleine zum ersten Mal gehört hatte, hatte sie an Billie Holiday gedacht. Alex liebte diese Musik. Die Frau in St. Aldwyn’s teilte die tiefe, schleppende Stimmfärbung einiger Bluessängerinnen, besaß jedoch zudem einen großen Stimmbereich, der sie selbst hohe Lagen erreichen ließ, die Alex ein verzücktes Grinsen entlockten, wenngleich sich ihr der Hals zuschnürte. „Loving you drives me crazy. But I ain’t got no choice.“ Es folgte wieder ein Klavierzwischenspiel und sie übte dieselbe Tonfolge wieder und wieder. Alex konnte hören, dass sie beim Zwischenspiel summte: ein voller, natürlicher Klang. Das Summen verstummte. Jede folgende Pause wurde länger, bis die Musik ganz verstummte.

Alex zog die Knie an die Brust, legte den Kopf darauf, schlang die Arme um die Beine und wartete auf mehr.

Im Moment tat ihr jede Ablenkung gut. Sie lebte in einem Kuddelmuddel von Entscheidungen, die getroffen werden mussten. Und jede Wahl konnte sich für sie als absolut richtig oder schrecklich falsch herausstellen.

Sie konnte die hinteren Fenster der Burke Schwestern sehen. Sie wohnten in zwei Cottages an der Pond Street. Das untere Stockwerk der Cottages war zusammengelegt worden und beherbergte Leaves of Comfort, ihren Laden für Tee, Bücher und Handarbeiten. Alex blickte lächelnd zu dem Fenster im oberen Stockwerk, hinter dem die Schwestern gerade in ihrer Wohnung über dem Laden frühstückten, wie sie wusste, und vermutlich über Folly-on-Weir tratschten, oder vielmehr über die Bewohnerinnen und Bewohner. Für zwei alte, pensionierte Lehrerinnen, die vermutlich nicht allzu häufig das Haus verließen – bis auf die Besuche in Alex’ Pub, der praktischerweise sehr nah lag – verfügten sie über einen wahren Schatz an Neuigkeiten und Gerüchten aus der Gegend.

Doch es war Tony, Tony Harrison, der Tierarzt des Dorfes, der sich auch um die umliegenden Höfe kümmerte und manchmal Alex’ Geliebter war, der alles andere verdrängte und ihr Bewusstsein erfüllte, wann immer es ihr nicht gelang, die Gedanken an ihn beiseitezuschieben. Er war ihr bester Freund. Waren sie nicht ein seltsames Paar?

Sie wollte weiter mit Tony schlafen. Zuletzt hatten sie aufregende Experimente gewagt, die sie keinem von ihnen je zugetraut hätte, statt in eine gemütliche Routine zu verfallen.

Sie lächelte verstohlen hinter ihren Händen.

Doch sie schienen beide nicht in der Lage zu sein, sich ihrer Zukunft zu stellen. Das könnte auch besser so sein; sie hatten beide zuvor schreckliche Ehekatastrophen erlebt.

Sie wünschte, die Frau in der Kirche würde weitersingen, doch sie schien eine längere Pause eingelegt zu haben. Oder vielleicht war sie fertig.

Die kleine Tochter, die Alex vor fünf Jahren bei der Geburt verloren hatte, kurz bevor sie nach Folly-on-Weir zurückgekehrt war, hatte hier keinen Grabstein, an dem Ort, den die Mutter des Kindes und die Großmutter, Lily, als Heimat bezeichneten. Lily ging regelmäßig in die Kirche. Alex nur, wenn sie die entsprechende Stimmung überkam, was in jüngster Zeit allerdings häufiger vorgekommen war. Sie war an diesem Morgen auf den Friedhof gekommen, um eine gute Stelle für eine Sitzbank zu finden. Auf einer kleinen Messingplakette würde nur „Baby Lily“ stehen, da ihre Tochter nach der Großmutter benannt worden war, die sie nie gesehen, nie gehalten hatte.

Warum konnte sie diesen Verlust eines Kindes nicht hinter sich lassen? Manchmal dachte sie wochenlang nicht an ihre Tochter, doch dann holten sie die Erinnerungen wieder ein, meistens in den dunklen Nachtstunden, wenn sie wach lag und nach dem Sonnenaufgang Ausschau hielt. Sie stand auf und lief zwischen den Gräbern umher, immer noch auf der Suche nach dem perfekten Ort für die Bank. Als sie das rosenberankte, überdachte Friedhofstor erreichte, legte sie ihre verschränkten Arme auf einen rauen Querbalken, wobei sie darauf achtete, die Ranken nicht zu beschädigen, die sich darum wanden.

Einige Jugendliche ritten unter lautem Hufgetrappel die Mallard Lane hinauf. Sie lachten und plauderten, während das Fell ihrer Pferde in der Sonne funkelte. Zwei Jack Russel Terrier rannten auf der Suche nach Aufmerksamkeit um die Pferde herum, hielten sich aber weit genug von den Hufen fern. Sie beobachtete die Gruppe, bis sie die Pond Street überquerte und eine Abkürzung zur Dorfwiese nahm, dann drehte sie sich um, lief einmal auf dem Pfad im Halbkreis um den Friedhof herum und setzte sich dann wieder an die Mauer.

Alex musste sich auf den Black Dog konzentrieren, den Dorfpub von Folly-on-Weir, der nach ihrer Scheidung ihre Investition in die Zukunft gewesen war. Ein Geschäft führt sich nicht von selbst und es war ihr wichtig, als Eigentümerin nicht abwesend zu sein, während ihre Mutter, Lily Duggins, und ihr Geschäftsführer Hugh Rhys den Pub am Laufen hielten. So gut sie ihre Arbeit auch machten, die Gäste verbanden den Pub immer mit der Eigentümerin. Sie lächelte. Früher hatte sie sich nur auf ihre erfolgreiche Karriere als Grafikerin konzentriert. Einen Pub zu übernehmen wäre ihr nie in den Sinn gekommen.

Aus der Kirche war Krach zu hören, ein misstönender Schlag auf die Klaviertasten, vermutlich aus Verzweiflung. Die Sängerin hatte so lange geschwiegen, dass Alex davon ausgegangen war, sie wäre gegangen.

Enttäuscht über die erneute Stille stand Alex auf, pfiff Bogie heran und lief zur Seitentür, die in den Chorumgang hinter der Orgel führte. Dort stand das alte, aber gut gepflegte Klavier, da dort auch der Chor übte. Das Klavier im Black Dog, das gelegentlich benutzt wurde, war in einem etwas besseren Zustand.

Wenn die Frau noch da wäre, würde Alex ihr erzählen, wie sehr ihr ihre Stimme gefiel und dass sie hoffte, sie wieder hören zu dürfen.

In der Ferne, rechter Hand von Alex, lief jenseits der Friedhofsmauer eine Gestalt in dunkler Kleidung entlang. Er, und sie war sich sicher, dass es ein Mann sein musste, lief aufs Pfarrhaus zu und verschwand beinah sofort wieder aus ihrem Blickfeld, weil die Kirche ihr die Sicht versperrte. Das musste Reverend Ivor gewesen sein, der Übergangsvikar, der sie angeblich bald wieder verlassen würde. Sie würde ihn vermissen, und seine Frau, Sybil – und den Langhaardackel Fred.

„Sitz“, sagte sie zu Bogie. „Und bleib.“

Es sank unter rosaroten und korallenfarbenen Rosenblüten zusammen und sah sie vorwurfsvoll mit seinen schwarzen Augen an.

In der Kirche dauerte es einen Moment, bis sich Alex’ Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten. Sie trat hinter den Chorpodesten ein und lief dahinter entlang, bis sie die Rückseite des Klaviers sah. Die Frau war fort. Verdammt. Enttäuscht kehrte Alex wieder in den Chorumgang zurück und vermied es, auf die Gedenktafeln aus Messing zu treten, die in die steinernen Bodenplatten eingelassen waren. Sie betrachtete den Ritter und sein Fräulein, die dort abgebildet waren, wie sie es schon oft getan hatte. Die zahllosen begeisterten Besucher, die Papier über die unheimlichen Abbilder ausbreiteten, um das Relief durchzupausen und später aufzuhängen, hatten über die Jahre ihre Spuren auf den Tafeln hinterlassen. Mittlerweile war das Durchpausen verboten.

Alex trat einen Schritt zurück, um einen besseren Blick auf den Ritter zu haben. Seine Plattenstiefel liefen spitz zu und seine in Kettenpanzer gehüllten Arme waren über der ausgehöhlten Brust verschränkt. In dem Stein daneben … Sie trat mit der Ferse auf irgendetwas, das unter ihrem Fuß wegrutschte. Sie kippte mit wedelnden Armen nach hinten und versuchte noch, sich mit einem Bein abzufangen. Alex schrie auf. Die Landung auf Ellenbogen und Hintern war schmerzhaft, doch wenigsten war sie nicht ganz flach aufgekommen und hatte sich den Kopf angestoßen.

Sie streckte sich vorsichtig auf dem kalten Boden aus und wartete, bis sich ihre Atmung beruhigt hatte. Ihr tat alles weh, doch sie bewegte ihre Glieder und streckte die Wirbelsäule, bis sie sich sicher war, dass nichts gebrochen war. Alles noch funktionsfähig, wenngleich Schmerz durch ihren Körper pochte. Das Bein, das sich unter ihr zurückgebogen hatte, tat am Knie höllisch weh, doch sie konnte das Gelenk gut genug bewegen.

Sie hörte, dass irgendetwas vor und zurück rollte, langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Sie setzte sich auf. Die rote Thermoskanne, auf der sie ausgerutscht sein musste, war zum Stillstand gekommen. „Wer lässt denn so etwas hier liegen?“, murmelte sie, erhob sich vorsichtig und hob die unbeabsichtigte Stolperfalle auf. Vermutlich ein Chormitglied. Ein oder zwei von ihnen trugen Wasserflaschen mit sich herum und wickelten sich demonstrativ lange Schals um den Hals, wie Opernsänger und Opernsängerinnen, die ihre unbezahlbaren Stimmen schützen wollten.

Alex bückte sich, stützte sich auf ihren Knien ab und wartete, bis ihr Herz wieder im normalen Takt schlug. Sie würde sicher einige blaue Flecken davontragen. Die Thermoskanne war alt und abgenutzt, doch es fehlte der Schraubverschluss, der auch als Tasse diente.

Nicht weit vom Klavier entfernt, entdeckte sie am Boden einen schmutzigen, weißen Deckel, der vermutlich zur Flasche gehörte.

Sie atmetet durch den Mund und kniff die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, setzte ihr Herz erneut einen Schlag aus. Ein schmales Rinnsal aus Blut floss hinter einem Bein des Klaviers hervor – sein Ursprung schien hinter einer Masse glänzender, blassblonder Haare zu liegen, die sich über den Fuß eines Messingnotenständers und den grauen Steinboden ausbreitete.

Eine regungslose Hand schien mit ausgestreckten Fingern nach dem Verschluss der Thermoskanne zu greifen.

Zwei

Alex würde es nicht gefallen, wenn sie herausfand, dass Harriet Burke vom Leaves of Comfort aus angerufen hatte, um anzuregen, dass Tony vielleicht mal bei St. Aldwyn’s vorbeigehen sollte. Er würde versuchen, glaubhaft zu vermitteln, dass er zufällig bei einem Spaziergang mit seiner Hündin Katie vorbeigekommen war.

Das Märchen würde nicht der leisesten Skepsis standhalten. Na und? Er musste Zeit mit Alex verbringen, und zwar bald.

„Sie sitzt hinten an der Kirche, an der Mauer, die an unser Grundstück grenzt“, hatte Harriet ihm gesagt. Das war schon einige Zeit her und er hoffte, dass er sie nicht verpasst hatte. Er erreichte die Stelle. Alex war nirgends zu sehen, doch Katie stürmte los, so schnell die arthritische Hüfte es ihr erlaubte, und er folgte ihr. Die Hündin bellte einmal aufgeregt, dann stimmte ein vertrautes Jaulen ein. Er fand Katie bei Bogie, der fröhlich zwischen den Rosenbüschen an einem Seiteneingang zur Kirche herumtänzelte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen.

Er hörte Alex’, bevor er sie sah. Der Ton ihrer Stimme ließ ihn schnell ins Gebäude laufen, vorbei an den Chorpodesten. Sie sprach in ihr Handy, dringlich und atemlos und setzte einen Notruf ab.

Zu ihren Füßen lag eine junge Frau, die ihm vage bekannt vorkam. Sie war blond, ihre blauen Augen standen offen und wirkten verschleiert, ihre runden Gesichtszüge erschlafft. Tony spürte die Leere des Todes.

Er ließ sich auf die Knie sinken und tastet nach einem Puls. Nichts. Doch sie war noch warm, nicht starr, und er begann mit der Wiederbelebung. Ihr Kopf erschlaffte, ehe er dazu kam, sie zum zweiten Mal zu beatmen, und ein Blick in ihre Augen bestätigte seine Befürchtung. Ihre Lippen waren blau und sogar ein wenig aufgedunsen, und Speichel lief aus ihrem Mundwinkel über die Wange. Er sah sich ihre Kleidung genauer an. Die Bluse klebte an ihrem Körper, als hätte sie stark geschwitzt. Er schnupperte und bemerkte, dass sie sich übergeben haben musste, auch wenn er keine Anzeichen dafür entdecken konnte. Er bewegte sich vorsichtig rückwärts, stand auf und sah sich um. Er wollte um keinen Preis etwas berühren, was für die Polizei von Interesse sein mochte.

Alex streckte ihre freie Hand nach ihm aus. Er drückte ihre Finger und sah, dass Tränen über ihre Wangen liefen und Verwirrung in ihren ovalen, grünen Augen funkelte. „Ja“, sagte sie ins Handy. „War? In der St. Aldwyn’s, Folly-on-Weir, bei der Orgel. Bitte beeilen Sie sich. Ja, ich bleibe so lange hier.“

„Tony“, sagte sie und ließ das Handy in eine Tasche ihrer grünen Jacke gleiten. „Woher wusstest du, dass du herkommen musst?“

Er schluckte. „Wusste ich nicht. Ich habe nach dir gesucht und dich gefunden. Und jetzt bin ich froh, bei dir zu sein. Weißt du, wer sie ist?“

Alex neigte den Kopf. „Ich glaube, ich habe sie irgendwo gesehen.“

„Mein Vater wollte heute Vormittag Harriet und Mary besuchen.“ Er holte sein eigenes Handy heraus. Sein Vater war der örtliche Landarzt. „Hoffen wir, dass er schon dort ist.“

Es war die vernünftigere Harriet Burke, die ans Telefon ging: „Leaves of Comfort.“

Er fragte, ob Doc Harrison bereits dort war. „Ja“, sagte sie knapp, konnte sich aber die Frage nicht verkneifen: „Gibt es ein Problem da drüben?“

Sie hatten also beobachtet, ob er Alex suchen würde. „Würden Sie ihn bitten, zur Kirche zu kommen? Er soll die Tür hinter der Orgel nehmen, in der Nähe des Chors“, sagte er bestimmt und legte auf.

„Tony.“ Alex starrte ihn an. „Ist das … Tony, hat ihr das jemand angetan?“

Er blickte ins Gebälk hoch über ihnen und schluckte. „Ich weiß es nicht.“

„Aber du glaubst es, oder? Ihr Kopf. Jemand hat ihr einen Schlag versetzt.“

„Oder sie ist gestürzt“, sagte er schnell. „Auf den Fuß des Notenständers vielleicht?“

Alex schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ein Krankenwagen ist unterwegs.“

Ihre Blicke begegneten sich und Tony zog eine Grimasse. „Was ist das?“ Er nickte in Richtung der roten Thermoskanne, die sie in der Hand hielt.

Sie schnupperte daran. „Riecht nach Beeren – und vielleicht Nelken – aber scharf. Ich erkenne den Geruch nicht. Könnte ein Sirup sein. Die Flasche lag da drüben. Ich bin draufgetreten und gestürzt. Ich glaube, das da bei ihrer Hand ist der Deckel.“

Er nickte. „Ich würde mir die Leiche gern genauer ansehen, aber wir dürfen sie nicht bewegen. Dad wird herkommen. Alex, die Thermoskanne hättest du nicht bewegen dürfen, oder auch nur berühren.“

„Sie ist leer.“ Sie stellte die Kanne auf den Klavierhocker und wischte sich die Hand an der Jeans ab. „Ich habe gar nicht an so etwas gedacht. Ich hatte … sie noch gar nicht bemerkt. Tony, warum? Sie ist so jung. Bist du dir sicher, dass sie nicht einfach ohnmächtig geworden ist und sich den Kopf aufgeschlagen hat?“

„Da bin ich mir sicher, Liebling. Ich wünschte, es wäre anders.“

„Morgen“, sagte sein Vater knapp, als er mit seiner Arzttasche durch die Seitentür hereinkam. „Wollt ihr beide euch für den Chor melden? Er war in letzter Zeit ein wenig unterbesetzt, aber meinst du wirklich, dass du eine Bereicherung wärst, Tony? Wenn ich mich recht entsinne …“ Er entdeckte die junge Frau und ging augenblicklich neben ihr auf die Knie. Er tastet an ihrem Hals nach einem Puls und holte das Stethoskop aus seiner Tasche.

Das alles fühlte sich so aussichtslos an.

„Habt ihr einen Krankenwagen gerufen?“, fragte er in scharfem Ton.

„Ja. Sie sang hier drinnen, als ich noch draußen unterwegs war. Dann hörte sie auf, doch ich habe keinen Hilferuf gehört.“

Doc James Harrison beugte sich über sie und ließ das Stethoskop über die Brust der jungen Frau wandern. Er setzte es ab, legte es auf den Boden und tastete erneut ihren Hals ab. Nach einigen Augenblicken lehnte er sich zurück und sah ihr direkt ins Gesicht. Wie lange ist es her, dass sie aufgehört hat zu singen?“

„Ich weiß es nicht.“ Alex sah aus, als wäre sie wieder den Tränen nah. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ich glaube, ich war ziemlich lange da draußen. Sie hat mehrfach aufgehört zu singen, als würde sie üben. Das war, bevor ich eine Runde um den Friedhof gedreht habe. Ich lief eine Weile, um nachzudenken, und kam irgendwann zurück und setze mich wieder. Es war, als hätte sie versucht, irgendetwas hinzubekommen, und hätte dann frustriert aufgegeben. Sie schlug fest auf die Klaviertasten. Danach war es still. Ich habe über andere Dinge nachgedacht.“

„Sie ist noch nicht lange tot“, sagte der Doc. Er war schon sein Leben lang Arzt, hatte aber nie das Mitgefühl im Angesicht einer Tragödie verloren. Als Tony ihn ansah, erkannte er, was Alex schon zuvor angemerkt hatte, ein Spiegelbild von ihm selbst mit Sechzig Jahren: Sein Vater war groß, stand mit geradem Rücken da, sein dunkelblondes Haar wurde grau, war aber immer noch dicht und lockig, und er hatte dieselben dunkelblauen Augen.

Tony richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Alex. Er konnte beinahe ihre Gedanken lesen. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Ich bin da draußen herumspaziert, während sie hier gestorben ist.“

„Denk lieber nicht darüber nach“, sagte er. „Du hättest nichts tun können.“

Sein Vater holte sein Handy heraus. „Ich muss die Polizei informieren.“

Drei

Gummisohlen quietschten auf den Platten des Vorraums.

„Gott sei Dank“, sagte Alex.

„Wenn das die Rettungssanitäter sind, werden sie sich zurückhalten müssen, bis die Polizei etwas anderes sagt“, erklärte ihr der Doc.

Alex atmete laut aus. Die alte Kirche schien mit ihrem gesamten Gewicht auf sie niederzudrücken. Das Sonnenlicht erreichte gerade den obersten Rand des einzelnen Buntglasfensters und beleuchtete die Leiche der jungen Frau und ihr blasses Gesicht mit unangemessen fröhlichen Farben. Das war nicht richtig. Bunte Farbtupfer wie in einem Kaleidoskop hatten hier nichts verloren.

„Hallo!“ Seine Stimme kündigte das Eintreffen eines jungen Mannes an. Er hatte dunkles und lockiges Haar wie Alex, wobei sie vermutlich kleiner war. Als er die halbe Strecke des Mittelganges zurückgelegt hatte, entdeckte er sie und hielt inne. „Entschuldigung“, sagte er und hängte seinen leer wirkenden Rucksack von einer Schulter über die andere. „Ich hatte nicht erwartet hier jemanden anzutreffen, außer … ich meine …“ Er runzelte die Stirn und sah sich suchend in der Kirche um.

Doc Harrison blickte zwischen Tony und Alex hin und her und ging dem Neuankömmling entgegen. Er mochte etwa um die zwanzig Jahre alt sein. Seine schlaksige Gestalt ließ vermuten, dass er noch ein Teenager war, doch er war groß.

„Doc James Harrison“, sagte Tonys Vater und lief mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. „Ich bin der Hiesige Landarzt. Wir sind uns noch nicht begegnet.“

„Elyan Quillam“, sagte der junge Mann, der jetzt nah genug war, dass Alex seine intelligenten, dunklen Augen und sein schmales, aber klassisch schönes Gesicht sehen konnte.

Doc Harrison war verstummt. „Der Pianist?“, fragte er.

„Ja. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Kein verlegener Seitenblick oder Röte im Gesicht, keine Befangenheit – oder Arroganz. „Wir wohnen für einige Monate im Green Friday. Wir sind vor zwei Wochen hergekommen.“

Alex konnte sich nicht bewegen. Die Leiche lag offen sichtbar auf den kalten Steinplatten, doch dieser Elyan konnte sie von seiner Position aus nicht sehen. Und sie wollte, dass er wieder ging, ehe sich das änderte. Er schien sich weiter umschauen zu wollen, als suchte er nach etwas.

„Das ist Hugh Rhys’ Haus“, sagte Tony. Er schien nicht weniger angespannt zu sein als Alex. „Das Haus, oberhalb des Dimple, das er sich gekauft hat. Dimple ist unser Spitzname für das ovale Tal, in das man vom Green Friday aus hinunterblickt. Er sagte, er würde das Haus über den Sommer an eine Familie vermieten. Ich hoffe, Sie fühlen sich dort wohl.“ Das Dimple war eine flache Vertiefung in einem nahegelegenen Hügel, in der sowohl Tonys als auch Alex’ Haus standen.

Elyan nickte und lächelte schief.

Doc Harrison schien von dieser Begegnung hingerissen zu sein. „Ich habe Sie in der Wigmore Hall gehört – wundervoll.“ Er betrachtete Elyan. „Ich wusste nicht, dass Sie es sind, der Hughs Haus mieten wird. Sie müssen ein sehr anstrengendes Leben führen. Das Green Friday wird ein angenehmer Rückzugsort für Sie sein. Ein wunderschönes Grundstück.“

Die Leiche. Alex’ Blick zuckte zu der toten jungen Frau. Wo ist der Krankenwagen? Wo bleibt die Polizei? Sie bekam Kopfschmerzen. Erst in diesem Augenblich dachte sie an Detective Chief Inspector Dan O’Reilly. Nein, nicht dieses Mal, nicht schon wieder. Sie waren sich zum ersten Mal im Angesicht einer Leiche begegnet, die eingefroren an einem verschneiten Hang außerhalb des Dorfes gelegen hatte. Sie knirschte mit den Zähnen. Dann waren sie sich ein weiteres Mal begegnet …

„Ich werde hier auf meine Schwester warten“, sagte Elyan und lief auf Tony zu.

Er lief an Doc Harrison vorbei und hielt direkt auf das Klavier zu, näherte sich aber so, dass seine Schwester auf der anderen Seite lag. „Sieh mal einer an …“ Er hob die Thermoskanne auf. „Ich glaube, die gibt es schon seit unserer Grundschulzeit.“ Seine Lippen bewegten sich, ohne dass er ein Geräusch von sich gab. Das Glitzern des gerinnenden Blutes hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Er hatte eine Hand an die Seite des Klaviers gelegt und starrte auf das dunkler werdende Rinnsal, dann trat er langsam einen Schritt vor, und noch einen.

„Schauen Sie besser nicht hin“, sagte der Doc. „Kommen Sie her und setzen Sie sich.“

Falls der Junge ihn gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Noch ein Schritt, bei dem er behutsam darauf achtete, die Kleidung seiner Schwester nicht mit seinem Schuh zu berühren. Dann stand er da und blickte in das leblose Gesicht der jungen Frau hinab.

„Laura“, flüsterte er, dann schrie er: „Laura. Laura. Steh auf. Was ist los? Laura.“ Seine Stimme brach und er griff nach ihr, als wollte er sie in die Arme nehmen.

„Wir warten auf den Krankenwagen“, sagte Tony und fügte etwas sanfter hinzu: „Und auf die Polizei.“ Er ging zu dem Jungen und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Das ist Laura“, sagte Elyan undeutlich und sackte auf die Knie.

„Lassen Sie sie lieber liegen“, sagte Tony. Er hockte sich neben ihn. Kommen Sie, setzen Sie sich. Hilfe kommt bald.“

„Nein!“

Sie standen beide gleichzeitig auf und Elyan prallte gegen Tony, der den Jungen festhielt, als wäre er ein Kind, das sich gerade verletzt hatte. „Ich werde Ihnen nicht sagen, dass alles in Ordnung ist. Das ist es nicht. Bitte harren sie einfach mit uns aus.“

Tony wirkte verlässlich und vertraut, sein dunkelblondes Haar war wie immer zu lang; seine großen, talentierten Hände packten Elyans Schultern und ließen ihn an seiner Kraft teilhaben. Der junge Mann stand zusammengesunken und ausgelaugt da … völlig überwältig.

„Meine Schwester“, sagte Elyan. „Sie ist meine Schwester. Sie ist nicht immer bei bester Gesundheit, doch es ging ihr vorhin noch gut.“ Er riss sich los. Sein Gesicht war blass und seine Augen riesig. „Wer war das? Jemand hat ihr das angetan. Ich wollte für sie Klavier spielen, aber ich war zu spät. Oh mein Gott, ich habe mich verspätet. Ich hätte hier sein sollen.“

Alex fand ihre Stimme wieder. „Das ist nicht Ihre Schuld. Es war ein Unfall.“ Es musste ein Unfall gewesen sein.

„Verdammte Scheiße“, schrie Elyan. „Noch ein Mal. Immer soll ich noch ein letztes Mal üben. Wenn Sebastian das nicht verlangt, dann mein Vater. Sie lassen mich nicht mein Leben leben. Percy wollte … Ich hasse ihn. Ich hasse sie alle. Sie war immer so still und niemand hat sich für sie interessiert. An den meisten Tagen hat sie nicht einmal ihr Zimmer verlassen. Sie sagte, sie … sie sagte, sie würde so unauffällig werden, dass sie einfach verschwinden würde. Niemand hat je etwas dazu gesagt. Doch gestern Abend war sie glücklich. Sie rief mich an und sagte, sie wolle herkommen und singen. Aber … Warum bin ich nicht einfach zur ausgemachten Zeit losgegangen und hergekommen? Wenige Minuten können einen großen Unterschied machen, wenn es darum geht, wie ein Unglück verläuft. Sie hat einen Herzfehler. Selbst wenige Sekunden hätten einen Unterschied machen können.“

Und auch sie hätte einen Unterschied machen können, dachte Alex.

Schwere Schritte stapfen über den Steinboden und zwei uniformierte Polizeibeamte näherten sich rasch von der Vorderseite des Gebäudes. Zwei weitere Männer und eine Frau folgten ihnen in Kleidung, die an Operationskittel erinnerte. Alex bemerkte eine zusammengeklappte Bahre und große Taschen mit Ausrüstung.

„Was haben wir?“, fragte einer der Männer.

„Sie müssen bitte zurückblieben, bis wir uns das angesehen haben“, sagte ein junger, blonder Polizist. „Wo ist es?“, fragte er, ohne jemanden direkt anzusprechen.

„Es?“, schrie Elyan. „Sie! Verdammter Idiot.“ Er vergrub das Gesicht in den Händen und strauchelte rückwärts. Tony führte ihn zum nächstbesten Chorpodest.

„Ich bin Constable Bendix“, sagte der Polizeibeamte. „Das ist mein Partner, Constable Wicks. Tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe.“ Er sprach in Elyans Richtung, der jetzt vornübergebeugt dasaß.

„Hier“, sagte Doc Harrison und wies ihnen den Weg. „Beim Klavier.“

Tony setzte sich neben Elyan und legte ihm einen Arm um die Schultern. Der junge Mann zitterte.

Bendix beugte sich über die Leiche und tastete nach einem Puls. Sie alles wussten, dass er keinen finden würde. Er sah sich um. „Wer hat die Leiche gefunden?“

Elyan stöhnte auf und als er den Kopf hob, schienen seine Augen ins Leere zu starren.

„Ich“, sagte Alex. Sie begegnete Tonys Blick und er lächelte ihr ermutigend zu. „Sie lag so da. Ich habe sofort einen Krankenwagen gerufen. Ich wusste, dass es schlimm aussieht, aber ich dachte nicht, dass sie tot wäre.“ War das die Wahrheit? Oder hatte sie einfach nicht glauben wollen, dass die Frau tot sein könnte?

„Ich muss unsere Familie informieren“, sagte Elyan und suchte nach seinem Handy. „Sie müssen herkommen.“ Er tastete mit zitternden Händen seine Taschen ab.

„Das ist keine gute Idee, Junge“, sagte Bendix. „Überlassen Sie das alles uns. Je weniger Menschen den Ort des Geschehens durcheinanderbringen, desto besser. Sie werden wollen, dass alles unverändert bleibt.“

Alex musste nicht fragen, wer „sie“ waren, doch sie konnte noch auf neue Gesichter hoffen, wenngleich sie O’Reilly mittlerweile respektierte.

Ein Unfall, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie reagierte übertrieben. Sie würden wegen eines Unfalltodes nicht die Detectives herholen.

Ihnen wurde aufgetragen, zu bleiben wo sie waren, und die beiden Polizisten zogen sich ein Stück zurück. Die Besatzung des Krankenwagens stand noch immer im Mittelgang herum.

Doc Harrison lief auf und ab und warf immer wieder einen Blick zu Elyan, der kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen schien. Er deutete auf seine Schwester und brachte kaum ein Wort heraus.

„Schauen Sie sich ihren Mund an“, sagte er schließlich. „Diese Farbe. Das ist früher schon mal passiert. Das hat mit ihrem Herz zu tun. Sie hat einen Schock erlitten. Ich glaube nicht, dass sie einfach nur umgefallen ist. Man verletzt sich nicht so schwer, wenn man einfach nur umfällt und sich den Kopf anstößt. Jemand hat sie gestoßen und dabei hat ihr Herz ausgesetzt. Ich … ich … jemand wollte sie aus dem Weg räumen.“

„Nein, nein“, sagte Tony und mied den Blick seines Vaters. „Sie könnte schwer gestürzt sein, besonders, wenn sie vorher das Bewusstsein verlor. Ich glaube, sie ist auf den Notenständer gefallen. Der ist recht massiv.“

Die Polizisten kamen schneller zurück, als es Alex lieb war. In der kurzen Zeit konnten sie nicht viel erklärt haben. Es durfte nicht alles wieder von vorne losgehen, die Blicke, die Fragen, die Verdächtigungen.

„Es ist ein Team auf dem Weg. Der Gerichtsmediziner wird auch bald hier sein. Die Spurensicherung ist unterwegs.“

„Warum?“ Alex konnte sich nicht davon abhalten, zu Bendix zu gehen und direkt in sein junges Gesicht zu blicken. „Warum die Spurensicherung? Das war ein Unfall. Sie ist gestürzt und hat sich den Kopf aufgeschlagen.“

„Was für ein Team ist das?“ Elyans Stimme klang dumpf und er machte sich nicht die Mühe, aufzustehen.

„Kein Grund zur Sorge, Sir. Wir müssen lediglich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Das ist die übliche Vorgehensweise, wenn irgendetwas … Ungewöhnliches passiert.“

„Wer kommt her?“, fragte Alex. Sie konnte die Ungewissheit nicht ertragen. „Ungewöhnlich“ bedeutete, dass sie nicht von einem Unfalltod überzeugt waren. „Sie können uns doch wenigsten die Namen der Leute nennen, oder?“

Die beiden Beamten sahen sich an. „Detectives, Miss. Sie möchten, dass sie alle hierbleiben, bitte.“

„Welche Detectives?“

„Sie kennen sie bestimmt nicht. Detective Chief Inspector O’Reilly und sein Partner. Sie sagten, sie seien mit der Gegend vertraut.“

„Oh mein Gott“, sagte Tony.