Leseprobe Zwei auf Norderney

Prolog

Die ersten Strahlen der Sonne erreichten Norderney, für die Nacht war es an der Zeit, dem Morgen zu weichen. Ein sanftes Meeresrauschen bettete den Weststrand in eine himmlische Ruhe. Leise wehte eine laue Brise vom menschenleeren Strand in Richtung des Nobelviertels.

Flott öffnete sich die Haustür der ersten Villa in der Straße. Der Hausherr verließ wie jeden Morgen sehr früh sein Anwesen, um eine Runde am nahegelegenen Strand zu joggen. Er kniff ein Auge zu, als ihn die ersten Sonnenstrahlen blendeten. Langsam bildeten sich feine Schweißtropfen auf seiner erst kürzlich frisch nachrasierten Glatze und rannen ihm über das freundliche Gesicht.

Er hatte kaum zweihundert Meter bis zum Strand. Hier konnte er seine Seele baumeln und seinen Geist schweifen lassen. Dies war die Route, welche er täglich wählte. Er liebte die Ruhe und Einsamkeit, bevor der hektische Betrieb an den Stränden Norderneys eintrat. Zwischen dem Strand und der Brandung fand er immer die Kraft, die ihn durch seinen anstrengenden Tag brachte. Er liebte es, bei Tagesanbruch als Erster seine Spuren in den frisch ausgewaschenen Sand zu setzen. Denn schlussendlich war er derjenige, der vorangehen musste. Es war schon eine große Verantwortung, mit welcher er Tag für Tag zurechtkommen musste. Ihm war es einfach wichtig, immer alle Interessen zu vertreten, und somit einen angemessenen Mittelweg zu finden.

Er erhöhte seine Geschwindigkeit, während seine Gedanken tief um eine komplizierte Angelegenheit kreisten. Wie sollte er dieser Lage nur Herr werden? Langsam sammelten sich dicke Schweißtropfen auf seiner hohen Stirn und zogen ihre feuchten Bahnen über seine Wangen.

Was ihn jedoch am meisten störte, war, dass sein bester Freund aus Kindestagen, und gleichzeitig auch ein Kind der Insel genau wie er, zum ersten Mal nicht auf seiner Seite stand. Obwohl sie sich einst gegenseitig geschworen hatten, immer im Sinne ihrer Philosophie zu handeln.

Seine Füße versanken angenehm im Sand, mit flotten Schritten war er kurz vor seinem täglichen Etappenziel: einem alten, fast schon morschen Fischersteg. Den weißlackierten, angerosteten Anlegepoller des Stegs klatschte er stets ab und kehrte danach um, den ganzen Weg zurück nach Hause joggend. Anschließend ging es sofort unter die Dusche. Erfrischt weckte er dann seine Familie. Sobald dies erledigt war, gab es das Frühstück. Dann ging es ab in die Arbeit. Das machte er jeden Tag so, egal bei welchem Wetter. Doch heute sollte ein anderes Schicksal auf ihn warten.

Ein Mann, schmächtig, keine ein Meter achtzig groß, saß wartend auf dem weißen Anlegepoller. Ein dunkler Pullover verbarg seinen Oberkörper, die aufgezogene Kapuze verdeckte sein Gesicht. Seine Hände steckten lässig in die Bauchtasche gestemmt. Schon von Weitem sah der Jogger die Gestalt auf dem Poller sitzen. Eigentlich wäre er dieser mysteriösen, dunklen Gestalt lieber ausgewichen. Aber sein Ehrgeiz, den Poller wie jeden Morgen abzuklatschen, war groß. Daher schlug er wie gewohnt den Weg zum Steg ein, steuerte zielstrebig auf den weißen Poller und den Mann zu. Seine Gedanken kreisten immer noch um die aktuellen Probleme seiner Projekte. Der alte Steg knarzte wie gewohnt, als seine flotten Schritte das Holz in Schwingung versetzten. Kurz vor dem Ziel blickte er in das im Dunkeln verborgene Gesicht, konnte jedoch nur grobe Konturen erkennen. Die fremde Gestalt sagte auf einmal seinen Namen mit einer so markanten Stimme, dass ihn der Schreck umgehend aus seiner Gedankenwelt riss. Ihm kam die Stimme bekannt vor, doch wusste er nicht, wie er jene zuordnen sollte. Seine Augen vermochten sich nicht auf das verborgene, dunkle Gesicht einzustellen, und seine Reaktion kam zu spät. Blitzschnell zog der Fremde eine Waffe aus der Bauchtasche seines Pullovers. Es gab nur einen gedämpften Knall, nur einen Schuss, eine Kugel, aber diese schlug ihm direkt in die Brust ein.

Alles ging so schnell. Als er den Knall hörte, sah er etwas Rotes aus seiner Brust spritzen, spürte einen Stich wie noch nie zuvor in seinem Leben, bevor die Dunkelheit ihn in der Sekundenschnelle eines Gedankens aus dem Leben riss.

Der Schütze ergriff sofort die Flucht, als er sah, dass er genau das Herz getroffen hatte.

So lauteten die Regeln.

Kein Leiden, keine aufwendige Sauerei. Einfach seriös, ohne großes Reden, eine Kugel ins Herz. Denn der feine Herr wusste ganz genau, wofür seine Strafe war.