Leseprobe Winterzauber in der Törtchenbäckerei

Prolog

Der Brief glitt aus Lizzys Händen und landete auf dem schönen Holzboden. Der Becher mit dem schaumigen Milchkaffee, den sie sich gerade erst zubereitet hatte, polterte ebenfalls mit einem lauten Klirren zu Boden.

Kaffee spritzte auf ihre dicke weiße Strickstrumpfhose und das Papier wurde sogleich von der hellbraunen Brühe getränkt, was die Information darauf aber trotzdem nicht vernichten konnte.

Das konnte doch nicht wahr sein. Nein, das durfte nicht wahr sein. Aber dort stand es schwarz auf weiß, beziehungsweise nun eher schwarz auf braun.

Keike Burmeyer und Sven Hennings

Trudi, die sogleich bemerkte, dass mit ihrer Mama etwas nicht stimmte, kam sofort herbeigewackelt und vergrub grunzend ihre kleine rosa-schwarz gefleckte Schnauze in Lizzys Kniekehle. Das konnte einfach nicht sein. Es musste ein Missverständnis sein, anders konnte Lizzy sich das Ganze nicht erklären.

Atemlos warf sie ein Geschirrhandtuch auf das Kaffeemalheur am Boden, während sie zur Tür ihres Cafés eilte, um das Geöffnet-Schild auf Geschlossen zu drehen.

Mit einem Leckerli, das sie aus ihrer gerüschten dunkelroten Schürze hervorkramte, lockte sie Trudi zielgerichtet in deren Körbchen, bevor sie nach ihrem Handy griff, um die Zentrale anzurufen.

Mit zittrigen Fingern tippte sie die Frankfurter Vorwahl ein, gab der nervtötenden Automatenstimme den Pin durch, und wartete darauf, dass sie endlich durchgestellt wurde. Nachdem eine äußerst blecherne Version von Jingle Bells zum gefühlt eintausendsten Mal durchgelaufen war, tutete es endlich in der Leitung.

»Florian Bauer am Apparat, was kann ich für Sie tun?«

Atemlos keuchte sie ins Telefon: »Liz … ähm Elisabeth Hufschmidt am Apparat, es geht um meinen Auftrag … da muss ein Fehler passiert sein!«

Während ihre Stimme immer panischer wurde, blieb Florian äußerst ruhig und gelassen. »Ich bräuchte bitte einmal die Vorgangsnummer und Ihr Geburtsdatum zum Datenabgleich.«

Am liebsten hätte Lizzy ins Telefon geschrien, dass er ihr verdammt noch mal doch einfach nur sagen sollte, ob es sich bei dem Schreiben um einen Fehler handelte! Stattdessen kniete sie sich nun auf den Boden, um die vermaledeite Vorgangsnummer auf dem glitschig nassen Schreiben erkennen zu können.

Sie atmete tief durch, ehe sie sich bemüht ruhig das Handy wieder ans Ohr presste, obwohl ihre Finger so stark zitterten, als hätte sie eine Stunde in der winterlich kalten Ostsee gebadet.

»Vorgang 100DLH23«, da hätte sie auch selbst draufkommen können, ohne in der Kaffeeplörre zu wühlen, »und mein Geburtsdatum ist der 24.12.1997.«

Herr Bauer gab ein seltsames Glucksen von sich. »Ah, ein Christkind also.« Sehr lustig. Anstatt seine dämlichen Witze zu reißen, sollte er ihr lieber sagen, ob das Schreiben wirklich korrekt war. Sie hörte das Klappern einer Computertastatur am Ende der Leitung und knetete nervös ihre klebrigen Finger.

»Hören Sie, Frau Hufschmidt?«

»Ja!« Lizzy schrie beinahe ins Telefon, so aufgeregt war sie nun. Jetzt würde sich alles klären.

»Ich habe den Fall noch mal überprüft, aber es ist definitiv alles richtig damit. Sven Hennings und Keike Burmeyer sind Ihr letztes Pärchen, herzlichen Glückwunsch, übrigens!«

Doch da drückte sie auch schon auf den roten Hörer, ehe sie an den Kühlschrank gelehnt auf den Boden sank. Es würde sich gar nichts klären.

Eins

Auf den ersten Blick wirkte Elisabeth Hufschmidt wie eine ganz normale junge Frau von fünfundzwanzig fast sechsundzwanzig Jahren.

Ihr rötlich-blondes brustlanges Haar, dessen Naturkrause sie kaum zu bändigen wusste, trug sie für gewöhnlich zu einem unordentlichen Dutt auf dem Kopf aufgetürmt, damit sich keines ihrer widerspenstigen Haare in einen Kuchenteig verirrte.

Geboren und aufgewachsen war sie als waschechtes hessisches Mädchen in Frankfurt am Main, wo sie auch die Schule besucht und ihr Abitur gemacht hatte. Bereits im Kindesalter hatte Lizzy es geliebt, mit ihrem Papa in der Küche zu stehen und die irrwitzigsten Rezepte für Törtchen, Plätzchen und Kuchen auszuprobieren, die sie in Oma Elisabeths handgeschriebenem Rezeptbuch gefunden hatten.

Von Oma Elisabeth hatte Lizzy nicht nur ihren Namen geerbt, sondern wohl auch die Leidenschaft fürs Backen. Aber das war abgesehen von ihren tiefgrauen Augen auch schon alles, was sie von der Verwandtschaft väterlicherseits hatte. Den Rest hatte sie – leider Gottes – ihrer Mama und deren Mutter zu verdanken. Das, was sie eben von anderen jungen Frauen ihres Alters unterschied.

Elisabeth Hufschmidt, kurz Lizzy, war nämlich eine Maga Amatoria in der dritten Generation. Kurzum für alle, deren Lateinkenntnisse schon etwas länger zurückliegen: Sie war eine Liebeshexe. Und ihre Aufgabe war es, von Beginn des achtzehnten Lebensjahres an, bis zum Erreichen des sechsundzwanzigsten Geburtstages einhundert Pärchen zu verkuppeln.

Für alle, die jetzt dachten, Lizzy könne sich wahllos Frauen und Männer aussuchen und diese mit einem Liebeszauber belegen, falsch gedacht. Die Vorgabe, wer für wen bestimmt war, kam von ganz oben aus der Zentrale Amoris, welche sich ebenfalls in ihrer Heimatstadt befand. Dort arbeitete man mit modernster IT und den neuesten Gerätschaften, die sich so gut wie nie irrten und die perfekten Liebespaare ausspuckten.

So weit so gut, aber vor Ablauf ihres fünfundzwanzigsten Lebensjahres war es ihr nicht erlaubt, eine Beziehung zu führen. Sie durfte nicht einmal einen Mann küssen! Ihr Leben glich mit anderen Worten dem einer frommen Nonne und das war noch nicht einmal alles. Schaffte sie es nicht, die verflixte Anzahl von einhundert Beziehungen zu erreichen, würde sie auf ewig dazu verdammt sein, ihr Leben als Liebeshexe zu fristen. Ein einsames Dasein ohne Beziehung, ohne Liebe und ohne Kinder.

Doch darum machte sich Lizzy keine Sorgen. Sie hatte in den letzten Jahren einen ziemlich guten Schnitt erzielt, sogar einen Vorsprung herausgearbeitet, sodass sie nun bis Heiligabend um Mitternacht nur noch ein zukünftiges Liebespaar miteinander verbinden musste.

Ihr Job spielte ihr dabei glücklicherweise in die Karten. Nach dem Schulabschluss hatte Lizzy ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht und war durch die Weltgeschichte gereist, um das Konditoren-Handwerk von der Pike auf zu lernen.

Ihre Ausbildung hatte sie an der berühmten Ecole de la Pâtisserie in Paris absolviert und danach einige Zeit die verrücktesten Macarons bei Ladurée kreiert. Eine Zeit lang hatte sie in einem hippen Szene-Restaurant in Tokio Desserts gezaubert – natürlich nur metaphorisch – bevor es sie schließlich nach England in das urige Städtchen York verschlagen hatte, wo sie die Filialleitung eines gemütlichen aufsteigenden Coffeeshops übernommen hatte.

Es gab ihrer Meinung nach kaum einen einfacheren Weg, einen simplen, aber wirkungsvollen Liebeszauber über zwei Muffins zu legen und die zu Verkuppelnden damit zu beglücken. So hatte jede Hexe – ja, von diesem Schicksal waren ausschließlich Frauen betroffen – ihre eigene Taktik.

Ihre beste Freundin Mona aus Kindheitstagen hatte zum Beispiel dank ihres früheren Jobs als Hotelmanagerin die Angewohnheit gehabt, einen Liebeszauber über einzelne Hotelzimmer zu legen, in denen sie dann die Pärchen versehentlich zusammen einquartierte. Einfach, aber effektiv. Vor Kurzem hatte Lizzy erst von einer jungen Schwedin gehört, die in ihrer Buchhandlung Lesebegeisterte verkuppelte. Wenn da mal nicht Magie im Spiel war …

Doch so sehr Lizzy ihren Job und ihr daraus resultierendes Vagabundenleben auch liebte, umso mehr vermisste sie echte Freundschaften und das Gefühl, nach Hause zu kommen. Es wäre nicht so, dass sie viele gute Bekanntschaften geschlossen hätte, doch bei dem männerfreien Einsiedlerleben, das sie führte, war es gar nicht so einfach, darüber hinauszugehen.

Natürlich hatte sie in jeder Stadt, in der sie gewohnt hatte, lockere Freundschaften mit anderen Mädels geschlossen, doch während diese stets auf der Suche nach der großen Liebe waren, die sie dank Lizzy auch des Öfteren fanden, durfte Lizzy nur zuschauen. Jeden Flirtversuch musste sie unterbinden, jeden Mann, den sie auch nur ansatzweise interessant fand, von sich stoßen. Deswegen hatte es Lizzy nie lange an einem Ort gehalten.

Die einzige Konstante in ihrem Leben war Trudi, ein rosig braun-geflecktes Miniaturhausschwein, das Lizzy vor einigen Jahren auf einem Schlachtfest in der Heimat gewonnen hatte. Natürlich hätte Lizzy es nie übers Herz gebracht, dem kleinen, kulleräugigen, grunzenden Tierchen den Garaus zu machen. Von da an war Trudi – neben Mona – Lizzys treuste Freundin, die sie auf Schritt und Tritt begleitete, egal, in welche Ecke der Welt es Lizzy führte.

Doch heute, an jenem grauen wolkenverhangenen Tag, beschloss Lizzy, dass ihr rastloses Dasein nun ein Ende hatte. Sie hatte nur noch einen einzigen Auftrag zu erledigen, sodass sie sich bereits eine Existenz für die Zukunft schaffen könnte, ohne ständig auf der Flucht sein zu müssen.

Vor ihrem inneren Auge sah sie es bereits vor sich. Ein kleines Café mit hellen gemütlichen Möbeln und großen Fenstern, von denen aus man eingekuschelt in ein Fell aufs Meer hinausschauen könnte. Dazu würde sie die leckersten Törtchen-Kreationen von Cheesecake-Spekulatius bis hin zu Limette-Heidelbeere anbieten, hausgemachte frischgebackene Vanillekipferl, schokoladige Cookies und cremige Torten. Ja, ein eigenes Café am Meer, das war ihre Zukunft.

Zwei

Schnaufend verfrachtete Lizzy die letzten Klamotten in dem großen pink-metallischen Hartschalenkoffer, während Trudi über den Boden ihres alten Kinderzimmers fegte. An den Wänden hingen immer noch die alten Poster von Zac Efron und Vanessa Hudgens, doch das schien Trudi nicht sonderlich zu stören, die gerade von einer dicken Staubwolke umgeben unter dem Bett hervorschoss. Für sie war es der reinste Abenteuerspielplatz, für Lizzy die Vorhölle.

Denn so sehr sie ihre Eltern auch liebte, hatten die paar Wochen, die sie übergangsweise hier verbracht hatte, vollkommen ausgereicht, dass sie kurz davor war, den Kopf in ihre KitchenAid zu stecken.

Während ihr Vater vor Begeisterung kaum noch an sich halten konnte, dass seine rastlose Tochter endlich sesshaft wurde – wahrscheinlich hatte er im Kopf schon sämtliche seiner potenziellen Enkelkinder benannt –, war Lizzys Mutter das genaue Gegenteil. Ständig fragte sie, ob Lizzy sich den Umzug an die Ostsee und die Eröffnung eines eigenen Cafés gut überlegt hatte – schließlich wäre sie ja noch so jung und hätte noch ihr ganzes Leben vor sich.

Lizzy wusste, dass ihre Mutter sich nur Sorgen machte, da sie einst das gleiche Schicksal wie ihre Tochter geteilt hatte, trotzdem hätte sie sich von ihrer Mama etwas mehr Begeisterung gewünscht … und von ihrem Vater vielleicht etwas weniger. Doch dieser wusste schließlich nichts von dem Schicksal der Hufschmidt-Frauen.

Zum Schluss warf Lizzy noch ihren dicken dunkelgrünen Weihnachtspullover in den Koffer, der mit einem Schweinchen, das eine Weihnachtsmütze trug, bestickt war und der dank der integrierten LED-Lichtlein herrlich blinkte. Das klang nicht nur entsetzlich kitschig, nein, der Pulli sah auch ganz genauso aus. Doch Lizzy liebte das Teil, auch wenn sie eigentlich kein Fan davon war, Billig-Polyesterware in chinesischen Onlineshops zu bestellen.

Sie klappte den Koffer zu und lehnte sich mit ganzer Kraft auf die wenig flexiblen Hartschalen. Mit einem ächzenden Ratsch zog sie die Reißverschlüsse zu und wuchtete den Koffer die steile Treppe ihres Elternhauses hinunter. Trudi kam hinterhergetrabt und Lizzy legte ihr das pinke Geschirr an, das eigentlich für einen Hund gedacht war. Es war Zeit, Abschied zu nehmen, wenn sie heute noch in Düneck, ihrem neuen Heimatort, ankommen wollte.

Ihre knapp drei Jahre ältere Freundin Mona, die immer so etwas wie eine große Schwester für Lizzy gewesen war, hatte dort im letzten Jahr ein kleines Bed and Breakfast eröffnet. Doch obwohl Mona im Gegensatz zu Lizzy ihren Liebesauftrag bereits erfüllt hatte, ließ ihre eigene Liebe noch immer auf sich warten.

Das änderte jedoch nichts daran, dass Mona die lustigste, liebevollste, lebensbejahendste und manchmal auch pragmatischste Person war, die Lizzy kannte. Sie freute sich darauf, ihrer ältesten und besten Freundin endlich wieder näher zu sein. Bereits letztes Jahr hatte sie ihren Sommerurlaub bei Mona im B&B an der Ostsee verbracht – ja, auch Hexen hatten Urlaub – und es war absolut traumhaft gewesen.

Wenn Mona nicht gerade arbeiten musste, sonnten sie sich am Strand, gingen in den niedlichen Geschäften der Promenade bummeln, tranken Kaffee in einem der gemütlichen Lokale oder sie saßen bis tief in die Nacht in einem der Strandkörbe vor Monas B&B, vernichteten eine Flasche Wein nach der anderen und träumten zusammen von der großen Liebe.

Als Mona vor wenigen Wochen angerufen hatte, um ihr zu erzählen, dass die Besitzerin des Cafés von gegenüber in Rente gehen und zu ihrem Sohn nach Hamburg ziehen würde, hatte Lizzy schließlich kurzen Prozess gemacht. Noch am gleichen Nachmittag hatte sie bei Frau Ulla Pötter – so hieß die Dame – angerufen und gefragt, ob sie das Ladenlokal samt Wohnung vermieten würde.

Die alte Dame hatte über Lizzys Direktheit gelacht, ihr aber, ohne zu zögern, die Nummer des Immobilienmaklers gegeben, der sich um die Vermittlung kümmerte. Und obwohl es verschiedene Anfragen für das gut erhaltene Café in dem aufsteigenden Urlaubsort gegeben hatte, hatte Frau Pötter sich letzten Endes für Lizzy entschieden. Als der Mietvertrag endlich unterschrieben war, hatte Lizzy nicht lange gezögert, ihren Job in York gekündigt und die Koffer gepackt.

Bei ihren Eltern hatte sie die letzten Vorbereitungen getroffen, auch wenn das zum Glück nicht viele waren, da sie Ullas Törtchenbäckerei und die darüberliegende Wohnung voll möbliert übernehmen konnte. Wenn sie die Fotos richtig gedeutet hatte und im Kleingedruckten nicht etwas übersehen hatte, war das Café in einem recht guten Zustand und Lizzy könnte mit wenig Aufwand den Räumlichkeiten ihre eigene Note verpassen.

Doch in erster Linie wollte sie die Einheimischen und Touristen mit ihrem Gebäck verzaubern … ähm beglücken, und das würde sie definitiv hinbekommen!