Leseprobe Wie überlistet man einen Marquess?

Prolog

White Friars Dock, London

April, 1779

Cecilia Gilchrist war die Zweite.

Lady Amanda Clifford konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie an diesem Tag zu den Docks geführt hatte. Es war, wie sie später reflektieren sollte, einer jener merkwürdigen Fälle, in denen das Schicksal, das einen normalerweise blindlings umherstolpern ließ, sie wohl oder übel direkt in den Weg von Cecilias Schicksal stellte.

Von Angesicht zu Angesicht, wenn man so wollte.

Damals hatte sie geglaubt, das Schicksal habe Cecilia Gilchrist einen Dienst erwiesen, indem es das Kind in Lady Amandas Weg geworfen hatte.

Erst später begriff sie, dass es genau umgekehrt gewesen war.

Cecilia Gilchrist war an jenem Tag an der Themse herumgeirrt und hatte das große Glück, eine Guinee zu finden, die im Schlamm vergraben war. Für ein schmutziges, kleines Waisenkind wie Cecilia Gilchrist war es ein Vermögen. Die Goldmünze, die sie fest mit der Faust umklammert hielt, machte den Unterschied zwischen Verhungern und Errettung.

Aber Vermögen war eine ebenso unbeständige Angelegenheit wie das Schicksal. Innerhalb eines Wimpernschlags oder dem Drehen einer Goldmünze konnte es sich in eine Katastrophe verwandeln.

So war es auch bei Cecilia Gilchrist. Kaum hatte sie ihre dünnen Finger um ihre Rettung geschlungen, wendete sich ihr Glück. Als Lady Amanda das Kind fand, wurde es von einer Horde randalierender Straßenjungen angegriffen, ein wahrer Mob kleiner Pöbler, die alle darauf aus waren, sie zu einer blutigen Masse zu prügeln, um ihr die Guinee aus der Faust zu reißen.

Lady Cliffords Diener, Daniel Brixton, ein Mann, dem Schicksal und Glück gleichgültig waren, zögerte nicht lange, über beides zu entscheiden. Er schleuderte ein halbes Dutzend der kleinen Raufbolde beiseite, packte die dürre, schlammverschmierte Waise in der Mitte des Handgemenges und setzte sie auf den grauen Samtsitz in Lady Amandas Kutsche.

Ebenso wenig wie sich Lady Amanda erinnern konnte, welcher Auftrag sie zu den Docks geführt hatte, konnte sie sich daran erinnern, was sie an diesem Tag zu dem Kind gesagt hatte – wahrscheinlich irgendetwas über die Lästigkeit der Massen, die Launenhaftigkeit des Schicksals oder die Boshaftigkeit von Kindern –, aber sie erinnerte sich genau an Cecilia Gilchrists Antwort.

Sie hatte gesagt: „Sie haben Hunger.“

Keine Spur von Groll in dieser kindlichen Stimme. Keine Bitterkeit. Keine Verurteilung.

Sie haben Hunger. Das war alles.

Noch Jahrzehnte später würde Lady Amanda Clifford das Echo dieser süßen Stimme hören, eine Erinnerung daran, wie leicht es war – unverzeihlich, sträflich leicht – ein kostbares Fünkchen Gold zu übersehen, das in einem Meer von Schlamm verborgen lag.

Kapitel eins

Edenbridge, Kent

Februar, 1795

Wäre der Tag weniger angenehm gewesen oder wäre der Marquess of Darlington ein weniger auffälliger Gentleman gewesen, hätte Cecilia Gilchrist ihn sofort für einen Mörder gehalten.

Es war einer jener sonnigen Tage, die im Februar so selten sind, als sie Lord Darlington zum ersten Mal erblickte. Seine Lordschaft trug einen eleganten blauen Mantel, der ihm sehr gut stand, und dazu tadellos polierte, leichte Reitstiefel.

Um bei der Wahrheit zu bleiben, er war an diesem Tag ziemlich weit von ihr entfernt gewesen und sie hatte sich sicher hinter einem der extravaganteren Büsche des Hyde Parks verborgen.

Aber nun ja, die Nähe zu einem Mann, der des Mordes an seiner Frau verdächtigt wurde, war das eine. Bei ihrem zweiten Treffen mit Lord Darlington kam Cecilia zu einem ganz anderen Schluss.

Dieser Tag begann sehr vielversprechend. Die Postkutsche kam pünktlich in Edenbridge, der Heimat von Darlington Castle, an. Es schien der letzte Ort zu sein, an dem ein Schurke in Versuchung geraten könnte, einen Mord zu begehen. Mit der Reihe gedrungener Fachwerkhäuser und Gebäuden, deren Fenster mit fröhlichen Blumenkästen geschmückt waren, war es eines dieser schönen Dörfer, die Kent hervorbrachte. Jetzt war Winter, daher waren die Blumenkästen leer, aber die Aussicht auf fröhliche Blumen reichte aus, um Cecilia zuversichtlich zu stimmen.

Es konnte doch nicht sein, dass ein Marquess ein so abscheuliches Verbrechen wie einen Mord in einem Dorf beging, in dem es so viele Blumenkästen gab?

Ein hübscher Weiler auf dem Lande also, mit einem eigenen kleinen Fluss im Südosten, eingebettet in sein eigenes kleines Tal und einer ziemlich vornehm aussehenden Kirche mit Buntglasfenstern.

Cecilias Begleiterin in der Postkutsche, eine etwa gleichaltrige junge Dame namens Molly, die in Edenbridge aufgewachsen war, sagte ihr, die Kirche heiße St Peter and St Paul’s.

Zwei Heilige. Es konnte doch nicht sein, dass ein Marquess ein so abscheuliches Verbrechen wie einen Mord in einem Dorf mit zwei Heiligen beging?

Edenbridge lag außerdem nur fünfundzwanzig Meilen von London entfernt, eine halbe Tagesreise von Cecilias Zuhause in der Clifford School und damit auch von Daniel Brixton, Lady Cliffords treuestem Diener und dem größten Mann, den Cecilia je gesehen hatte.

Sollte irgendetwas schiefgehen, könnte Daniel in wenigen Stunden bei ihr sein. Natürlich würde nichts schiefgehen, aber es tröstete sie trotzdem, dass er so nah und so beruhigend groß war.

Ein halber Tag war doch nichts, ein Klacks, ein Augenblick, ein Schnippen mit den Fingern …

„Entschuldige, Cecilia. Hast du was gesagt?“

Cecilia drehte sich um und sah, dass ihre neue Bekannte sie verwirrt ansah. Molly war ihre einzige Freundin in Edenbridge. Es wäre nicht gut, sie zu ängstigen oder gar zu vertreiben, nur weil sie wie eine aus dem Irrenhaus Entlaufene vor sich hinmurmelte. „Nein, ich … ich sagte nur, dass es ewig dauert, bis der Fahrer unser Gepäck ablädt.“

Mollys breites Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Hast’s eilig weiterzukommen, was? Hast gar nicht erzählt, was dich nach Kent führt. Hast du ’nen Liebsten hier?“

Cecilia unterdrückte ein Schnauben. Das Einzige, was einem Liebsten am nächsten kam, war ihre Schwärmerei für Valancourt, den Helden aus Mrs Radcliffes The Mysteries of Udolpho.

„Nein, nein, nichts dergleichen. Ich bin gekommen, um eine Stelle als Hausmädchen anzutreten.“

Hausmädchen, Detektiv, Spion – waren das nicht alles nur verschiedene Bezeichnungen der gleichen Sache?

Molly warf Cecilia einen zweifelnden Blick zu. „Du scheinst ’n bisschen zierlich aus für ’n Hausmädchen zu sein, aber was macht das schon.“ Sie nickte in Richtung des Postkutschenfahrers, der auf das Dach der Kutsche geklettert war und das Gepäck herunterreichte. Sie beeilten sich, ihre Sachen zu holen, und traten dann zur Seite, um den anderen Passagieren Platz zu machen. „Mein Vater kommt her, um mich abzuholen. Vielleicht kann er dich da absetzen, wo du hinwillst, und dir den Weg ersparen.“

„Oh, das ist sehr nett von dir. Ich will nach Darlington Castle.“

Ein Keuchen erhob sich aus dem kleinen Kreis der in der Nähe stehenden Reisenden. Der Kutscher erstarrte, ein Koffer rutschte ihm aus den Händen und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem gefrorenen Boden. Cecilia sah sich nach dem Geräusch schlurfender Füße hinter sich um und stellte fest, dass ihre Mitreisenden vor ihr zurückgewichen waren, als wäre sie etwas Unreines.

Fassungslos starrte Molly sie an. „Darlington Castle? Du meinst, du wirst als Hausmädchen für Lord Darlington arbeiten?“

Cecilia schluckte, während ihr Blick von einem entsetzten Gesicht zum nächsten wanderte. „Äh, ja. Ich –“

„Aber er ist ein Mörder!“ Molly schlug sich die Hand auf die Brust, als verursachte ihr allein die Erwähnung von Lord Darlington Herzklopfen. „Hat sich seiner Frau entledigt, heißt es.“

„Es gibt keinen Beweis, dass er …“

Die Dame neben ihr brachte sie mit einem Zischen zum Schweigen. „Sei nicht dumm, Mädchen. Jeder in England weiß, dass er sich seiner Frau entledigt hat.“

Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich aus der Menge und ein Mann mit schroffem Gesicht trat vor. Er wedelte mit dem Finger vor Cecilias Gesicht herum. „Er schickte sie in ein frühes Grab. Zweifeln Sie nicht daran, Miss. Er ist der Mörderische Marquess, so sicher, wie ich hier stehe.“

Cecilia presste ihre Lippen zusammen. Hier in Edenbridge nannte man ihn ebenfalls den Mörderischen Marquess? Sie hatte den Spitznamen für eine Erfindung der Londoner Elite gehalten, aber anscheinend waren die Leute hier genauso schrecklich wie die Leute in London.

Vielleicht war Lord Darlington ein Mörder, vielleicht aber auch nicht. Lady Clifford hatte Cecilia damit beauftragt, dieses besondere Geheimnis zu lüften, während Seine Lordschaft mit seiner Verlobten, Miss Fanny Honeywell, in London weilte.

Erst gestern hatte Cecilia ihn dort gesehen, wie er im Hyde Park spaziergenging, mit Miss Honeywell am Arm.

Cecilia fand, dass er nicht gerade wie ein Mörder aussah. Angesichts der Gerüchte über ihn, hatte sie einen finsteren, monströsen Mann erwartet, aber falls Lord Darlington die bösen Taten begangen hatte, die man ihm nachsagte, dann sah man ihm seine Sünden nicht an.

Selbst ihre Freundin Georgiana, die sehr viel mehr über Sünden und Mord wusste als Cecilia, hatte das zugegeben. Falls Lord Darlington ein Mörder war, so war er ein äußerst eleganter Mörder. Natürlich hatte Georgiana auch darauf hingewiesen, dass ein gut aussehender Gentleman in einer feinen Seidenweste ebenso wahrscheinlich seine Frau ermorden konnte wie jeder andere. Es war ja wirklich so, dass die Menschen ein einfaches Gesicht schneller verurteilten als ein hübsches.

Aber es war nicht sein hübsches Gesicht, welches Cecilia für ihn einnahm. Nein, es war die beschützende Art, mit der er Miss Honeywells Arm hielt, seinen Kopf gütig zu ihr geneigt, während er sie über den unebenen Weg führte.

Er war ein großer Mann, viel größer als Fanny Honeywell, ein zierliches blondes Geschöpf, und er behandelte sie mit großer Sorgfalt, als wäre sie eine zarte Porzellanfigur, die zu zerbrechen drohte.

So sehr sie sich auch bemühte, Cecilia konnte sich nicht vorstellen, dass ein so zivilisierter Gentleman seine Frau ermorden würde, nicht einmal, als Georgiana sie daran erinnerte, dass auch der berüchtigte Wegelagerer John Rann als recht charmant und elegant galt. Dennoch war sein Hals für eine Schlinge geeignet gewesen.

Über diesen Punkt hatte Cecilia nicht mit Georgiana argumentiert. Sie wusste selbst, dass sie zu weichherzig war und zu sehr dazu neigte, das Beste von jedem zu denken, sogar von Mördern – das hieß, sogar von Lord Darlington –, aber es gab keine Beweise, dass er ein Mörder war. Nur hässliche Gerüchte, an denen es in London nie mangelte.

Lady Clifford hätte sich damit begnügt, ihn in seinem Schloss in Ruhe zu lassen, wäre seine Verlobte, Miss Honeywell, nicht die Nichte von Mrs Abernathy gewesen und Mrs Abernathy eine großzügige Wohltäterin der Clifford School. Die arme Mrs Abernathy hatte einen hysterischen Anfall bekommen als die Verlobung bekannt gegeben wurde, und Lady Clifford musste versprechen, dass sie Miss Honeywell nicht ins Verderben laufen lassen würde, ohne einen Finger zu rühren.

„Manche sagen, er habe sie mit einem Kissen erstickt.“ Molly rückte näher an Cecilia heran und senkte ihre Stimme zu einem entsetzten Flüstern. „Andere meinen, er hat sie vergiftet und ihre armen, ermordeten Knochen in den Schlossmauern versteckt. Ich glaube, er hat sie in seinem Wassergraben ertränkt.“

Cecilia erschauderte. „Mein Gott, wie abscheulich!“

„Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass es so war, aber er hat etwas mit ihr gemacht. Ich wüsste nur nicht, warum er sich die Mühe machen sollte, ein Loch in die Schlossmauer zu hauen wenn er doch einen Wassergraben hat. Ich weiß es nicht sicher, aber so viel kann ich sagen: Es gibt niemanden in Edenbridge, der gesehen hat, wie die arme Frau ordnungsgemäß in ihr Grab gelegt wurde.“

„Aye, er ist ein Mörder, ganz sicher“, sagte der Mann mit dem wedelnden Finger. „Aber der liebe Gott sieht unsere Sünden und Darlington wird mit seinen bösen Taten nicht davonkommen. Die Marchioness ist zurück, um Rache zu nehmen.“

„Zurück?“ Wie konnte die Marchioness of Darlington zurück sein? Es kursierten viele Gerüchte über Lady Darlingtons Tod, aber niemand schien daran zu zweifeln, dass sie tatsächlich tot war. Wie konnte sie also zurückkommen, um Rache zu nehmen?

Es sei denn …

Ein Schauer lief Cecilia über den Rücken. „Sie können nicht meinen –“

„Dass die arme Marchioness jetzt ein einsamer, wandelnder Geist ist? Aye, Miss. Das ist es, was ich meine. Ein halbes Dutzend Leute im Dorf haben ihren Geist durch die Wälder hinter Darlington Castle wandeln sehen. Sie nennen sie die Weiße Frau, wegen ihres weißen Kleides und Haares und ihres Gesichts, das blasser ist als der Tod selbst.“

Cecilia blieb der Mund offen stehen. Keine Ehefrau wollte den düsteren Tiefen des Wassergrabens ihres Mannes übergeben werden, aber immerhin könnte sie dann friedlich ruhen. Cecilia fand es furchtbar ungerecht, dass es einer ermordeten Ehefrau auch noch aufgebürdet wurde, den Ehemann zu verfolgen, der ihren Tod verursacht hatte.

„Ein grässlicher Anblick, wie sie in der Luft schwebt und nur die Zehen ihrer weißen Pantoffel über den Boden schleifen. Die alte Mrs Crocker hat sie neulich Abend gesehen und leidet seitdem an hysterischen Anfällen.“

„Hysterische Anfälle?“

„Ich habe noch nie erlebt, dass Mrs Crocker einen Tag lang geschwiegen hätte, aber seit sie den Geist gesehen hat, kommt kein Wort mehr über ihre Lippen. Sie sitzt da, starrt in die Luft und ihr Mund ist vor Entsetzen geöffnet.“

„Du musst das nicht tun, Cecilia.“ Molly klammerte sich an Cecilias Arm. „Du kannst sofort zurück nach London fahren und nie wieder einen Blick auf Darlington Castle werfen.“

Cecilia warf dem Postkutschenfahrer einen sehnsüchtigen Blick zu. In wenigen Stunden könnte sie wieder in London sein, zurück in der Clifford School, wo ihre Freundinnen sie mit Küsschen und Freudenschreien empfangen würden. Sie würden sie streicheln und trösten, bis sie ihre Feigheit vergessen hätte, die sie dazu brachte, ihr Versprechen an Lady Clifford zu brechen.

Sie hätte es tun können – sie hätte sich trotz aller Bemühungen von ihren Bedenken überwältigen lassen. Sie hatte sogar einen Schritt auf die Postkutsche zu gemacht, als ihr einfiel, dass sich nichts Wesentliches geändert hatte, seit sie in London in die Postkutsche gestiegen war.

Wassergräben und in Schlossmauern verborgene Skelette, Geister und Gespenster – es war nur noch mehr Klatsch und Tratsch, genau wie der, den sie in London gehört hatte. Zwar etwas reißerischer, aber dennoch Klatsch und Tratsch.

Geistergerüchte hin oder her, ihre Aufgabe war es, die Wahrheit über den Tod der Marchioness herauszufinden und Lady Darlington war leider so tot wie sie nur sein konnte.

Oder untot, wenn die Dorfbewohner recht hatten. Darlington Castle könnte bis unter die Dachbalken mit furchterregenden Geistern vollgestopft sein und Lord Darlington der Unhold, für den ihn ganz England hielt, aber sie würde ihr Versprechen halten, selbst wenn es bedeutete, dass sie mit dem Gesicht nach unten im Wassergraben des Mörderischen Marquess endete.

„Nein, so geht das nicht, Molly.“ Cecilia beugte sich vor, griff nach ihrem Koffer, dann richtete sie sich auf und sah Molly in die Augen. „Ich habe den Posten bereits angenommen. Mrs Briggs, Lord Darlingtons Haushälterin, erwartet mich.“

Es war zu spät, um umzukehren. Lady Clifford hatte sich sehr viel Mühe gegeben, diese Sache zu arrangieren. Cecilia würde sich ohnehin nur mit Lord Darlingtons Personal beschäftigen. Wenn Seine Lordschaft Geheimnisse zu verbergen hatte, würden seine Bediensteten sie kennen. Ihre Aufgabe war es, diese Geheimnisse zu lüften und dann nach London zurückzukehren, ohne Lord Darlington je wieder zu begegnen.

Molly sah nicht überzeugt aus, aber sie widersprach nicht. „Also gut. Mein Vater wird das Gelände von Darlington Castle nicht betreten, aber wir bringen dich mit dem Wagen so weit wie möglich.“

„Ich danke dir.“ Cecilia griff nach Mollys Hand und drückte sie dankbar.

Molly schüttelte den Kopf. „Ich hoffe nicht, dass du es bereuen wirst, Cecilia.“

Was für eine unglückliche Wortwahl.

Cecilia hoffte ebenfalls, dass sie es nicht bereuen würde. Sie gab dem heimtückischen Flüstern in ihrem Kopf nicht nach. Stattdessen folgte sie Molly über die Straße und schleppte ihren Koffer zu dem Knäuel aus Wagen und Karren.

***

Die Dämmerung brach schnell herein, wie es im Winter in England üblich war, aber es war noch hell genug, sodass Cecilia Darlington Castle in seiner ganzen erschreckenden, grauenerregenden Pracht erkennen konnte.

Gott im Himmel. Sie glaubte nicht an Gespenster, aber wenn irgendwelche Phantome oder Gespenster im Februarnebel herumschwebten, dann war dies das Schloss, das sie heimsuchen würden.

„Gruseliger alter Kasten, nicht wahr?“ Molly, die auf der anderen Seite des Wagens saß, beugte sich über Cecilia, um besser sehen zu können.

„Gruselig genug. Das Fallgatter sieht aus, als könnte es einen bei lebendigem Leib verschlingen.“ Cecilia starrte auf das Monstrum, das sich vor ihr ausbreitete, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Von ganzem Herzen wünschte sie sich, dass sie übertrieb, aber dieses Fallgatter sah aus wie ein klaffendes Maul, dessen spitze Eisenzähne sich in einer Reihe über das untere Ende des Gitters zogen. Es sah aus, als ob es nur darauf wartete, jeden zu schnappen, der dumm genug war, sich hindurch zu wagen.

Wenn schon das erste Fallgitter nicht die Gliedmaßen vom Körper trennte, so würde es das zweite sicherlich tun. Als wären der geschwärzte Stein und der schattige Innenhof jenseits des klaffenden Rachens nicht schon unheimlich genug, hatte man Darlington Castle mit einem doppelten Fallgatter ausgestattet.

Und auch mit einem doppelten Wassergraben.

Wie es schien, war der Marquess of Darlington nicht sehr vertrauensselig, aber wenn die Gerüchte über ihn wahr waren, hatte er eine Menge zu verbergen.

„Wie tief ist der Graben, was meinst du?“ Cecilia bemühte sich, ein weiteres Schaudern zu unterdrücken, als ihr Blick auf das dunkle, träge Wasser unter der Zugbrücke fiel. Gott allein wusste, welche Albträume in diesen düsteren Tiefen lauerten.

Tief genug, um eine Leiche zu verstecken? Die Leiche der Marchioness of Darlington zum Beispiel?

„Nicht mehr als einen Klafter“, sagte Mr Hinshaw, Mollys Vater.

Nur ein Klafter? Das war nicht sehr tief. Sicherlich nicht tief genug, um eine –

„Der Darlington Lake soll viel tiefer sein“, fügte er hinzu, bevor Cecilia einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen konnte. „Aber ich kann nicht sagen, wie tief er ist.“

Es gab also auch einen See? Wie viele Wasserflächen brauchte ein Marquess?

Eine für jede Frau, die er ermordete.

Cecilia schluckte und verfluchte ihre Vorliebe für gruselige Horror-Romane, die alle schön und gut gewesen waren, bis sie selbst in einen gestolpert war.

Molly bedeckte Cecilias Hand mit ihrer. „Es ist noch nicht zu spät, deine Meinung zu ändern.“

Cecilia warf einen letzten ängstlichen Blick auf das breit aufklaffende Maul, das den höhlenartigen Hof bewachte, und straffte die Schultern. Mit einer Tapferkeit, die sie nicht einmal ansatzweise verspürte, streckte sie das Kinn vor und sagte: „Nein, nein. Ich habe mein Wort gegeben und ich werde jetzt kein Feigling werden.“

Mr Hinshaw und Molly sahen sich an, dann kletterte Mr Hinshaw von seinem Sitz herunter, holte Cecilias Koffer von der Ladefläche des Wagens und reichte ihr die Hand, um ihr herunterzuhelfen. „Wir werden warten, bis Sie drinnen sind. Wenn Sie es sich anders überlegen …“

„Das ist sehr nett von Ihnen, Mr Hinshaw, aber bitte warten Sie nicht meinetwegen.“

Cecilia konnte ihm ansehen, dass der Mann sich und seine Tochter weit weg von hier wünschte. Ohnehin war es möglich, dass sie die Nerven verlor und von Darlington Castle floh, wenn sich eine solch leichte Möglichkeit zur Flucht bot.

Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, nahm sie Mr Hinshaws Hand, ließ die Sicherheit des Wagens hinter sich und blieb an der langen Steinbrücke stehen, die auf Lord Darlingtons Grundstück führte.

Mr Hinshaw übergab ihr den Koffer. „Wir werden nicht gehen, bevor Sie nicht das Fallgatter passiert haben.“

„Um sicherzugehen, dass es mich nicht verschlingt?“ Cecilia versuchte sich an einem Lächeln, als sich ihre nervösen Finger um den Griff ihres Koffers legten. „Nun, dann mache ich mich am besten gleich auf den Weg, nicht wahr?“ Sie winkte Molly und Mr Hinshaw zu, dann ging sie los. Mit einem dumpfen Schlag traf der Absatz ihres Stiefels auf die hölzernen Bretter der Brücke.

Es fühlte sich nicht an wie ein einzelner Schritt, sondern eher wie ein Sprung ins Ungewisse. Cecilia setzte weiterhin einen Fuß vor den anderen, bis sie am Rand einer zweiten Brücke stand, der schmalen Fußgängerbrücke, die zu den Fallgattern führte.

Sie erlaubte sich einen Blick über die Schulter, aber der Wagen wurde von der hohen, dichten Hecke verdeckt, die das Schlossgelände umgab. Sie warf einen einzigen vorsichtigen Blick auf die eisernen Zähne über sich, dann betrat Cecilia die Zugbrücke. Sie machte einen Schritt, und noch einen weiteren. Sie schaute weder nach rechts noch nach links, sondern konzentrierte ihren Blick auf die Spitzen ihrer Stiefel.

Nicht auf den Graben schauen.

Noch ein Schritt, noch einer, bis sie den durch die hohen Mauern verdunkelten Innenhof durchquert hatte und eine andere Welt betrat.

Kapitel zwei

Das gefrorene Laub knirschte unter Gideons Füßen, als er die Baumgrenze durchbrach und den offiziellen Teil des Schlossparks betrat.

Die Dämmerung senkte sich herab. Sie warf düstere Schatten auf die Gärten und den rosenumrankten Weg, aber es war noch nicht dunkel. Der sterbende Schimmer der blassen Wintersonne fing sich auf der bewegten Oberfläche des Darlington Lake. Daneben konnte er gerade noch die grauen Steine des Innenhofs ausmachen. Darlington Castle selbst ragte wie ein riesiges Ungeheuer über der Szenerie auf und tauchte alles, was es berührte, in Dunkelheit.

Es sah aus wie ein Albtraum.

Er hatte nicht immer so gedacht. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er das Schloss als sein Zuhause betrachtet, aber im letzten Jahr war ein Albtraum in den nächsten gekippt, wie eine Reihe verfluchter Dominosteine, und irgendwie war auch Darlington Castle in den Abgrund gezogen worden.

In diesem Albtraum ging es um Geister. Und warum auch nicht? Sobald der tragische Tod einer Lady zu einem Mord und ihr Ehemann zu einem Mörder gemacht worden war, machte ein rachsüchtiger Geist Sinn. Es war der unvermeidliche nächste Schritt, von einem Albtraum zum nächsten. So viel musste er den Dorfbewohnern von Edenbridge lassen – die Gerüchte behielten die richtige Reihenfolge bei.

Gideon glaubte nicht an Geister … oder, nein. Es war näher an der Wahrheit, zu sagen, dass er keinerlei Gedanken an Geister verschwendet hatte, außer dass er Phantome, Gespenster und körperlose Geister als Hirngespinste seiner fiebrigen Phantasie betrachtete, eine Erfindung geplagter Kindermädchen und erschöpfter Gouvernanten, um Kinder gefügig zu machen.

Jetzt, nun … er glaubte immer noch nicht an Geister. Selbst wenn er den Geistergerüchten Glauben schenken würde, hätte er sich keine großen Sorgen gemacht. Die Untoten waren weit weniger furchterregend als die Lebenden, und Geister nicht die schlimmsten Schrecken, die einen Menschen heimsuchen konnten.

Die Weiße Frau in ihrem wallenden weißen Kleid, mit ihrem blassen Gesicht und den wehenden weißen Haaren war heute Abend jedenfalls nirgends zu sehen. Vielleicht hatte sie sich ein anderes Schloss ausgesucht, in dem sie spuken konnte.

Gideons Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln. Nicht, dass es einen Unterschied machen würde. Die Gerüchte würden sich hartnäckig halten, unabhängig davon, ob der Geist jemals wieder auftauchte. Die Weiße Frau war einfach ein zu köstliches Märchen, als dass die Dorfbewohner sie einfach aufgeben würden. Es würde weitere Sichtungen der Erscheinung geben, die sich in den Wäldern hinter Darlington Castle niedergelassen hatte.

Es hieß, sie sei farblos, abgesehen von ihren Lippen, die einen grausigen, scharlachroten Farbton hatten. In der Tat wurde sie in qualvollen Details beschrieben, sogar von denen, die behaupteten, bei ihrem Anblick vor Schrecken bewusstlos geworden zu sein. Die Beschreibungen waren so detailliert, dass selbst die guten Bürger von Edenbridge, die an der Existenz von Geistern zweifelten, davon überzeugt waren, dass Gideons tote Frau ihr Dorf heimsuchte. Sie sagten, sie sei gekommen, um sich an ihm zu rächen – um den Mörderischen Marquess für seine monströsen Verbrechen bezahlen zu lassen.

Irgendjemand musste es ja schließlich tun.

Die Hälfte des Dorfes hatte berichtet, sie gesehen zu haben – die phantasievollere Hälfte. Andere behaupteten, sie hätten ein mysteriöses Licht in den Bäumen gesehen. Gideon hätte dies als weiteres Gerücht abgetan, wenn seine Haushälterin, Mrs Briggs, nicht zugegeben hätte, dass sie selbst das gleiche seltsame Licht gesehen hatte, als würde jemand mit einer Laterne durch die Wälder hinter dem Schloss wandern.

Wahrscheinlich waren es Wilderer oder Scherzbolde, die das schlimmste der Gerüchte wieder aufleben ließen, um seine Verlobte zu verscheuchen. Es würde nicht funktionieren. Gideon hatte sich viel Mühe gegeben, seiner vierjährigen Nichte eine gute Mutter zu finden, und er hatte nicht vor, sie jetzt aufzugeben.

Nach seiner langen Abwesenheit von den gesellschaftlichen Ereignissen und den hässlichen Gerüchten, die sich um seinen Namen rankten, hatte er nicht erwartet, dass Londons Schönheiten atemlos darauf warten würden, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ihre eisigen Blicke und ihr bösartiges Getuschel gaben ihm zu verstehen, dass ihn die meisten der Elite für schuldig hielten. Allerdings war er immer noch ein reicher Marquess und es gab einige, die bereit waren, über die Gerüchte hinwegzusehen, um einen Titel und ein Vermögen zu erlangen.

Schließlich hatte sich Gideon seine Braut gesichert.

Nach mehr als einem Jahr des Aufruhrs und des Kummers war Miss Honeywell wie ein Schluck feinster Champagner, der eine raue, ausgedörrte Kehle hinunterrann – leicht, süß und prickelnd. Auch wenn es schwierig war, sich an den Geschmack zu erinnern, wie sich die blubbernden Perlen auf seiner Zunge angefühlt hatten … nun, das war nicht weiter wichtig. Er war nicht an einer großen Leidenschaft interessiert und glaubte genauso wenig an Märchen, wie er an Geister glaubte.

Miss Honeywell war eine Schönheit. Hätte sie einen Titel oder ein Vermögen gehabt oder eine weniger vulgäre Mutter, hätte man sie für einen Diamanten ersten Ranges halten können. Er hatte sie aber nicht wegen ihres hübschen Gesichts ausgewählt. Sie gefiel ihm, weil sie keine Ansprüche stellte und eine unkomplizierte junge Dame war. Ihr Gemüt war so hell und sonnig wie ihr Haar und sie hatte ein süßes, argloses Lächeln. Sie würde eine liebevolle Mutter für seine Nichte Isabella sein. Das war alles, was Gideon im Moment interessierte.

In vierzehn Tagen würde Miss Honeywell also die Marchioness of Darlington werden, sehr zur Freude ihrer Mutter. Mrs Honeywell war bereit, über eine Mordanklage hinwegzusehen, wenn sie dafür einen Marquess als Schwiegersohn gewann.

Er und Miss Honeywell würden in der Kapelle von Darlington Castle heiraten, wie jeder Marquess of Darlington vor ihm. Aber zuerst musste er einen rachsüchtigen Geist austreiben, wenn er seine neue Braut nicht heim in ein verwunschenes Schloss bringen wollte.

Tief atmete Gideon die kalte Luft ein, während er durch die Gärten ging und sich dem Innenhof näherte. Die Kälte kroch in seine Glieder. Die Dunkelheit war tief und durchdringend, düster auf eine Weise, wie nur der Winter in England sein konnte, still bis auf das Murmeln des Wassers, das über die abgenutzten Steine –

Plopp.

Was zum Teufel? Gideon hielt mitten im Schritt inne und wölbte die Augenbraue.

Plopp.

Hatte er sich das Geräusch eingebildet? Er blieb stehen und lauschte.

Plopp. Dann wieder, einen Moment später, diesmal lauter …

Platsch.

In der Dunkelheit vor sich nahm er eine Bewegung wahr, den Bogen eines Arms, ein Aufblitzen blasser Haut. Eine Gestalt, zu zierlich, um etwas anderes als eine Frau zu sein, stand am Rand der Treppe, die in den Innenhof führte, und warf etwas in den See.

Sie gehörte nicht zu seiner Dienerschaft. Diejenigen, die ihn nicht wegen der Mordanklage verlassen hatten, waren geflohen, als ein Geist das Schloss heimsuchte. Er kannte diejenigen, die bei ihm geblieben waren, und sie kannte er nicht.

Diese Dame trug einen einfachen, dunklen Reisemantel, kein weißes Gewand, und ihr Haar … nun, Gideon hatte nicht die leiseste Ahnung von ihrem Haar, weil es unter ihrem Hut verborgen war, aber er sah keine herabhängenden weißen Strähnen.

Entweder hatte er einen zweiten Geist – vielleicht die Dunkle Frau – oder eine fremde Lady war auf sein Grundstück gewandert, um seinen See zu belästigen. Vor die Wahl gestellt, hätte sich Gideon für den Geist entschieden. Er hatte nichts übrig für Geister, aber Fremde mochte er noch weniger. „Wer, zum Teufel, sind Sie?“

Sie wirbelte herum und sah ihn an, ein Keuchen kam über ihre Lippen. Sie hatte etwas in der Hand gehalten, aber vor Schreck ließ sie es los und es verstreute sich zu ihren Füßen. „Ich … ich bitte um …“, begann sie, aber ihre Worte verstummten in einem erstickten Wimmern, als sie sein Gesicht sah.

Sie war nicht die erste Frau, die erschrocken vor ihm zurückwich, aber sie stand vor seinem Schloss, an seinem See, auf seinem Grund. War ihm nicht einmal in seinem eigenen Haus Ruhe vergönnt? „Sie können um alles bitten, aber tun Sie es woanders.“

Seine Stimme war so eisig wie der bittere Wind, der über den See wehte. Es war nicht die Art von höflicher Begrüßung, die einem Marquess eigen war, aber er war dummen Schwachköpfen, die auf seinem Grundstück herumschlichen, nicht zu Höflichkeit verpflichtet.

Angesichts der Feindseligkeit, die er von den Dorfbewohnern erfahren hatte, konnte das Mädchen von Glück sagen, dass sie sich nicht am anderen Ende seiner Pistole wiederfand.

Sie schluckte einige Male, bevor es ihr gelang, etwas Zusammenhängendes hervorzubringen. „Aber ich … ich bin Cecilia Gilchrist.“

Zusammenhängend, ja, aber nicht erhellend. „Also gut, Cecilia Gilchrist. Verschwinden Sie von meinem Grund und Boden.“

Ihre Augen weiteten sich, aber zu seiner Überraschung huschte sie nicht davon, wie ein verängstigtes Kaninchen. Cecilia Gilchrist blieb standhaft. „Aber ich … ich sollte hier sein. Mrs Briggs erwartet mich.“

Er beäugte sie misstrauisch. Sie würde den Namen von Mrs Briggs nicht kennen, wenn seine Haushälterin sie nicht tatsächlich erwarten würde, aber warum schlich sie wie eine Diebin im Hof herum? „Sollte ich wissen, wer Sie sind?“

„Ja. Ich meine, nein. Ich meine, nicht, wenn Sie es nicht wollen. Das heißt, ich nehme an, Sie können tun, was immer Sie wollen. Sie sind der Marquess.“ Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. „Es sei denn, es ist zufällig ein Duke in der Nähe?“

Gideon lächelte nicht zurück. Scherzte sie mit ihm?

Niemand scherzte mit ihm.

Nicht mehr.

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum? Sind Sie eine Duchess?“

„Meine Güte, nein. Ich bin nur ein Hausmädchen.“ Sie lachte, ein leicht klingendes Gelächter, dann schien sie es sich anders zu überlegen und biss sich auf die Lippe. „Ihre Haushälterin, Mrs Briggs, hat mir eine Stelle als Hausmädchen angeboten. Ich bin heute mit der Kutsche gekommen, um die Stelle anzutreten.“

Gideons Blick wanderte über sie, als er über ihre Worte nachdachte. Sie sah ihm nicht wie ein Hausmädchen aus. Sie war größer, als er zuerst gedacht hatte, aber schlank, mit schmalen Schultern, einem langen, zarten Hals und riesigen dunklen Augen in einem blassen, ovalen Gesicht. Sie war auch jung. Zu jung, um mit einem Mörderischen Marquess zu scherzen. Hatte das Mädchen denn gar keinen Verstand?

„Wenn Sie nach Darlington Castle gekommen sind, um eine Stelle als Hausmädchen anzutreten, warum haben Sie sich dann nicht bei Mrs Briggs gemeldet? Ich verstehe nicht, was Sie hier draußen im Dunkeln machen.“ Gideon runzelte die Stirn, als er sich an das Plätschern erinnerte, das er beim Näherkommen gehört hatte. „Was machen Sie hier draußen in der Dunkelheit?“

Farbe stieg in ihre blassen Wangen. „Nichts von Bedeutung, Mylord.“

Gideons Lippen spitzten sich zu. Sie klang auch nicht gerade wie ein Hausmädchen, es sei denn, Hausmädchen waren viel unverschämter geworden als sie es einmal gewesen waren.

Er blickte zu Boden, dann bückte er sich, um die Handvoll Steine aufzuheben, die sie hatte fallen lassen, als er sie erschreckt hatte. Er richtete sich auf und öffnete seine Hand, um sie ihr zu zeigen. „Nichts?“

Sie stieß den Atem aus. „Ich habe, äh … Steine in den See geworfen.“

Gideon starrte sie an. „Mir fällt kein einziger Grund ein, warum Sie das tun sollten, wenn Ihnen doch bekannt ist, dass Mrs Briggs Ihre Ankunft erwartet.“

„Ich wollte sehen, ob ich feststellen kann, wie tief er ist.“ Sie zuckte mit einer ihrer schlanken Schultern.

„Sechs Klafter an der tiefsten Stelle, aber ich habe keine Ahnung, warum das für Sie eine Rolle spielen sollte.“

Sie blinzelte über seinen knappen Ton. „Ich … es spielt keine Rolle, Mylord. Ich war einfach nur neugierig.“

Er schloss seine Finger um die Steine in seiner Faust. „Neugierde ist keine wünschenswerte Eigenschaft bei einem Hausmädchen.“

„Nein, wahrscheinlich nicht. Das habe ich nicht bedacht.“ Sie runzelte die Stirn, als dächte sie darüber nach, dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Ich kann ausgezeichnet zielen. Vielleicht könnte sich das als eine nützliche Fähigkeit erweisen?“

Gideon mochte keine Fremden, keine unverschämten Diener und keine Überraschungen, aber zu seiner großen Verärgerung fragte er: „Wofür genau?“

„Ich denke, es wäre für viele Aufgaben nützlich, wie …“

Sie hielt inne und legte die Stirn in Falten. „Ahh, ich weiß! Um mit einem Besen Spinnweben aus den Ecken zu klopfen! Dieses Schloss sieht aus, als gäbe es eine Menge Spinnweben.“

„Sie sind zu schmächtig, um eine richtige Dienerin zu sein.“ Ihre dünnen, weißen Handgelenke sahen aus, als ob sie unter dem Gewicht eines Besens brechen würden. „Ich bezweifle, dass Sie eine Kohlenkiste heben könnten, ohne umzufallen.“

Gideon kümmerte sich normalerweise nicht um die Widerstandsfähigkeit seiner Hausmädchen, noch stellte er Mrs Briggs Urteilsvermögen in Frage, aber er war neugierig, was sie ihm antworten würde. Es war lange her, dass er auf irgendetwas neugierig gewesen war.

Ihr Lächeln verblasste. „Ich bin stärker als ich aussehe, Mylord.“

Gideon grunzte und dachte, was ihr an Kraft fehlte, würde sie wahrscheinlich durch Einfallsreichtum wettmachen, aber er sprach es nicht laut aus. Es klang zu sehr nach einem Kompliment. „Mrs Briggs hat mir kein Wort darüber gesagt, dass heute ein neues Hausmädchen ankommt.“

Er erwähnte nicht, dass er, seit er heute Nachmittag aus London gekommen war, kaum ein Dutzend Worte mit Mrs Briggs gewechselt hatte. Dafür war keine Zeit gewesen. Er hatte es kaum erwarten können, das Grundstück zu durchsuchen. Mrs Briggs, die ihn erst nächste Woche in Kent zurückerwartet hatte, steckte bis zum Hals in Hochzeitsvorbereitungen.

Er hatte vorgehabt, noch eine Woche mit Miss Honeywell in London zu verbringen, aber sein Freund, Lord Haslemere, der den Winter auf seinem Landsitz in Surrey verbrachte, hatte die Gerüchte über die Weiße Frau gehört. Er hatte Gideon einen Brief geschickt, in dem er ihn warnte, dass ein Geist in seinem Schloss umherstreife und ihn zurück nach Kent rief.

„Ich versichere Ihnen, Mrs Briggs erwartet mich heute, Mylord.“ Miss Gilchrist schob ihr Kinn nach vorn. Sie tat ihr Bestes, um es zu verbergen, aber es machte den Anschein, als würde sie sich lieber in den Darlington Lake stürzen, als noch einen Moment mit ihm zu verbringen.

Gideon konnte es ihr wirklich nicht verübeln. Hausmädchen oder nicht, keine junge Frau wollte allein in der Dunkelheit zwischen dem Mörderischen Marquess und seinem riesigen, verwunschenen Schloss gefangen sein.

„Mrs Briggs erwartet jemanden.“ Er bezweifelte, dass es sich um diese merkwürdige junge Frau handelte. Noch nie hatte er eine Dienerin gesehen, die so aussah oder sprach, und die aus dem Nichts auftauchte, um Steine in seinen See zu werfen. Trotzdem war sie hier und Mrs Briggs brauchte die Unterstützung. „Sehr wohl, Miss Gilchrist.“ Mit einem Seufzer winkte Gideon sie zu sich. „Kommen Sie mit mir.“

„Ja, Mylord.“ Sie nahm den Reisekoffer, der zu ihren Füßen stand, und folgte ihm durch das gewölbte Tor auf der einen Seite des Hofes in die lange, schmale Eingangshalle.

„Hier entlang“, sagte er, als sie innehielt, um die Holzdecke und die geschnitzte Holzvertäfelung an den Wänden zu betrachten. Er führte sie einen Seitengang hinunter, der von der Eingangshalle zu seinem Arbeitszimmer führte, welches sich in einer hinteren Ecke des Schlosses befand.

„Setzen Sie sich.“ Gideon wies auf einen Stuhl neben seinem massiven, geschnitzten Mahagonischreibtisch, dann durchquerte er den Raum, um die Klingel zu betätigen und Mrs Briggs zu rufen.

Er setzte sich hinter den Schreibtisch und stützte die Ellbogen auf die Armlehnen seines Stuhls. Keiner der beiden sagte ein Wort, während sie warteten. Sie starrten einander an, bis Mrs Briggs an die Tür klopfte. „Ja, Lord Darlington?“

„Mrs Briggs. Kommen Sie bitte herein. Cecilia Gilchrist, das neue Hausmädchen, ist eingetroffen.“

„Ja, natürlich. Vor lauter Arbeit hätte ich es fast vergessen.“ Mrs Briggs eilte durch den Raum und reichte Cecilia die Hand. „Du meine Güte, Sie sind ja ein kleines Ding, nicht wahr? Willkommen, willkommen. Ich bin Mrs Briggs, die Haushälterin.“

Miss Gilchrist erhob sich und machte einen hastigen Knicks. „Wie geht es Ihnen, Mrs Briggs?“

„Sehr gut, wirklich sehr gut. Setzen Sie sich, Kind.“

Miss Gilchrist setzte sich.

„Ich bin erleichtert, dass Sie endlich da sind“, fuhr Mrs Briggs fort. „Ich habe Sie schon vor einer Stunde erwartet. Ich dachte, Sie hätten sich vielleicht entschieden, die Stelle doch nicht anzunehmen, weil …“ Mrs Briggs brach ab und es trat eine peinliche Stille ein.

Es gab nur einen Grund, warum Miss Gilchrist ihre Meinung über die Stelle geändert haben könnte. Mrs Briggs hatte ihm erzählt, dass ihr letztes potenzielles Hausmädchen in Edenbridge angekommen war, die Gerüchte über den Geist von Darlington Castle gehört hatte und noch am selben Tag wieder abgereist war.

„Aber hier sind Sie“, fuhr Mrs Briggs mit einem strahlenden Lächeln fort. „Nicht einen Moment zu früh. Wir können Ihre Hilfe gut gebrauchen, um das Haus für Lord Darlingtons Braut vorzubereiten.“

„Ich bin, äh … froh, hier zu sein, Mrs Briggs. Ich habe meine Empfehlung von Lady Dunton mitgebracht, wie versprochen.“ Miss Gilchrist griff in ihre Handtasche, zog ein Papier heraus und reichte es Mrs Briggs.

„Ah, ja.“ Mrs Briggs wandte sich an Gideon. „Miss Gilchrist kommt mit ausgezeichneten Referenzen von Lady Dunton, Mylord. Elf Jahre lang arbeitete sie als Dienstmädchen auf Lady Duntons Landsitz in Stoneleigh, in der Nähe von Coventry.“

„Tatsächlich, hat sie das?“, fragte er erstaunt. Miss Gilchrist hatte das Auftreten und die Aussprache einer Londonerin.

„Oh, ja.“ Mrs Briggs strahlte Miss Gilchrist an. „Ich wage zu behaupten, sie wird eine große Hilfe für uns sein.“

Er streckte seine Hand aus. „Darf ich die Referenz sehen?“

„Ja, natürlich, Mylord.“ Mrs Briggs reichte ihm das Papier.

Gideon las die Seite sorgfältig durch und achtete besonders auf das Datum und die Unterschrift von Lady Dunton. Es sah authentisch aus, aber er war nicht zufrieden. Er warf den Brief auf seinen Schreibtisch. „Verzeihen Sie mir, Miss Gilchrist, aber Sie sehen recht jung aus. In welchem Alter sind Sie in den Dienst getreten?“

„Mit zwölf, Mylord.“

„Dann sind Sie dreiundzwanzig?“

„Ja, Mylord. Dreiundzwanzig.“

Gideon presste die Fingerspitzen unter seinem Kinn gegeneinander und betrachtete die Farbe, die von ihrem Hals zu ihren Wangen aufstieg, mit zusammengekniffenen Augen. Entweder gab Miss Gilchrist ihr Alter nicht gern zu, was bei einer Frau von dreiundzwanzig Jahren unwahrscheinlich war, oder sie log ihn an und zwar schlecht. „Sie sehen nicht älter aus als neunzehn oder zwanzig, Miss Gilchrist.“

„Ähm … danke, Mylord?“

Trotz allem zuckten Gideons Lippen. „Sind Sie in Stoneleigh aufgewachsen?“

„Ja, Mylord.“

Eine weitere Lüge, dem sich vertiefenden Rotton an ihrer Kehle nach zu urteilen.

„Stoneleigh ist ziemlich weit von Kent entfernt. Ist es das erste Mal, dass Sie sich aus der Grafschaft Warwickshire hinauswagen?“ Gideon spielte mit dem Brieföffner auf seinem Schreibtisch. Miss Gilchrist verfolgte die Bewegung, ihr Blick war auf die Spitze gerichtet, die er lässig zwischen den Fingern drehte.

„Ja, Mylord.“

Gideon hob eine Augenbraue. Das war ihr drittes Ja, Mylord, seit sie sein Arbeitszimmer betreten hatte. Die Unverfrorenheit, die er im Hof bemerkt hatte, war verschwunden und durch eine Fügsamkeit ersetzt worden, die einer Dienerin viel angemessener war.

Vielleicht hätte ihn das beruhigen sollen, aber es fühlte sich falsch an, als würde er ihr dabei zusehen, wie sie vorgab, ein Hausmädchen zu sein.

„Nun denn, Mylord. Soll ich sie nach oben bringen und ihr helfen, sich einzurichten?“ Mrs Briggs schien nichts Ungewöhnliches zu bemerken, sondern wirkte sehr zufrieden mit ihrem neuen Hausmädchen.

Miss Gilchrist erhob sich halb von ihrem Sitz und schwebte dort, wie ein Vogel, der auf einem Ast balancierte, bereit loszuflattern, sobald er ein Nicken auch nur andeutete. Er betrachtete ihre verkrampften Finger und den flatternden Puls an ihrem Hals und schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht, Mrs Briggs. Ich würde mich gern noch ein wenig mit Miss Gilchrist unterhalten.“

„Natürlich, Mylord.“

„Vielen Dank, Mrs Briggs.“ Gideon winkte mit einer Hand in Richtung Tür. „Sie können uns allein lassen.“

Miss Gilchrist sah aus, als würde sie sich die Fingernägel in die Handflächen bohren, um sich davon abzuhalten, sich an Mrs Briggs Arm zu klammern und sie so am Gehen zu hindern.

„Ja, Mylord.“ Mrs Briggs schenkte Miss Gilchrist ein ermutigendes Lächeln, drehte sich um und machte sich auf den Weg zur Tür.

Miss Gilchrist sah ihr hinterher und schluckte, als sich die Tür hinter ihr schloss.

Gideon warf den Brieföffner zur Seite und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen seinen Schreibtisch. „Ihre Aufmerksamkeit bitte, Miss Gilchrist.“

Sie zuckte zusammen und begegnete seinem Blick. „Ja, Mylord.“

Gideon betrachtete sie schweigend, viel länger, als es für beide angenehm war, dann sagte er: „Die Bänder an Ihrem Hut.“

Sie griff nach der Haube, die auf ihrem Kopf saß. „Meine Bänder?“

Gideon bemerkte, dass ihre Hand zitterte, aber er ignorierte den Stich in seinem Gewissen. „Dieser Blauton ist der letzte Schrei in London und Ihr Mantel, der mit ziemlicher Sicherheit auch in London gefertigt wurde, ist äußerst ausgefallen für ein Hausmädchen aus Warwickshire.“

Ihre dunklen Augen wurden groß. „Ich –“

„Ich weiß nicht, welchen Grund Sie haben sollten, mich zu belügen, Miss Gilchrist, aber –“

„Ja, Mylord … Ich meine, nein, Mylord. Ich meine, ich bitte um Verzeihung, Mylord, aber ich habe Sie nicht angelogen.“

Gideon hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Auf Mrs Briggs Bitte hin war sie den ganzen Weg von … irgendwoher gekommen. Es gefiel ihm nicht, sie wieder wegzuschicken, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Es war mehr als nur ihre Bänder und ihr Mantel. Diese ließen sich leicht erklären, aber ihre zierlichen Hände und ihre glatte Haut, ihre Stimme und ihre Haltung und die Art, wie sie ihm direkt in die Augen sah, wenn sie mit ihm sprach …

Er traute ihr nicht. Er konnte es sich nicht leisten, Leute zu beschäftigen, denen er nicht traute. Er hatte einfach zu viel zu verlieren. „Ich dulde keine Lügner in meinem Haus, Miss Gilchrist. Sie sind von Darlington Castle entlassen.“