Leseprobe Wie ruiniert man einen Earl?

Prolog

Sophia Monmouth war die Erste.

Sie war damals sechs oder sieben Jahre alt gewesen, ein winziges, schäbiges, kleines Ding, welches sich nicht von jedem anderen zerlumpten Straßenkind in London unterschied.

Vielleicht hätte Lady Amanda Clifford das Mädchen gar nicht bemerkt, wenn da nicht das Blut gewesen wäre.

Es war inzwischen getrocknet. Einige Tage zuvor hatte Sophias Mutter ihr Schicksal ereilt, aber eine solche Menge Blut – große, dunkelrote Spritzer, die über die Schürze des Kindes verteilt waren – konnte man nicht übersehen.

Dann waren da noch die Augen des Mädchens: grün, ziemlich faszinierend. Aber bloße Schönheit hätte Lady Amanda nicht zu Sophias Gunsten beeinflussen können. Nein, es war der Scharfsinn in diesen grünen Augen, der für sie sprach, die Gerissenheit.

Für eine Frau war Klugheit weit vorteilhafter als Schönheit.

Lady Amanda wählte den Nachnamen des Kindes nach ihrem eigenen Gutdünken. Vielleicht war das arrogant, aber es war besser, wenn Lady Amanda zufrieden war. Was alle anderen betraf …

Im Jahre des Herrn 1778 war Seven Dials ein schwülheißes, stinkendes Labyrinth enger Gassen, die sich aneinanderreihten wie verrottende Leichen in einer Pestgrube. Man konnte nur vermuten, dass die todgeweihten Seelen, die in der Monmouth Street lebten, weder über den Namen noch über ihr Schicksal erfreut waren.

Aber es ließ sich nicht ändern. Es war pure Arroganz zu glauben, einer von ihnen könne seine Vergangenheit hinter sich lassen, denn, bei Gott, die Vergangenheit war ein hinterhältiges, schleichendes Ding, das in den ungünstigsten Momenten und an den unwahrscheinlichsten Orten in Erscheinung trat.

Man konnte seiner Herkunft nie ganz entkommen und Sophia Monmouth – dieses winzige, schäbige, kleine Ding – war da keine Ausnahme.

Deshalb lautete ihr Nachname Monmouth, wenn es auch ein Name war, der niemandem gefiel, außer vermutlich einer Reihe von Herzögen, die diesen Titel trugen, vielleicht einmal abgesehen vom ersten von ihnen, der mehrere hundert Jahre zuvor enthauptet worden war.

Hochverrat.

Eine grausame Angelegenheit, aber so war es oft bei Herzögen.

Sollte Lady Amanda Bedenken gehabt haben, das Schicksal dieses Kindes zu ändern, so zählten diese jetzt nicht mehr. Und wahrlich, wer konnte schon sagen, was das Schicksal für Sophia Monmouth bereithielt?

Lady Amanda Clifford konnte es nicht.

Letzten Endes war es doch so: Wenn der Sohn eines Königs seinen Kopf durch die Henkersklinge verlieren konnte, gab es keinen Grund, anzunehmen, dass ein Waisenkind aus Seven Dials nicht eines Tages die Geschichte zu ihren Gunsten wenden könnte.

Kapitel eins

Great Marlborough Street, London

Ende Juli, 1793

Auf dem Giebeldach von Lord Everlys Haus lag ein Junge. Stirnrunzelnd blickte Tristan Stratford, Lord Gray, in das Glas Portwein in seiner Hand. Nein, es war noch halb voll. Es war keine Täuschung. Wahnvorstellungen vielleicht? Dies schien nicht so weit hergeholt zu sein, wie es einst der Fall war. Man konnte selbst den vernünftigsten Mann zum Halluzinieren treiben, wenn man ihn nur ausreichend bedrängte.

Aber ein Junge auf dem Dach seines Nachbarn? Das schien eine seltsame Wahl zu sein, was Wahnvorstellungen betraf.

Tristan ließ seinen Portwein auf der Ecke seines Schreibtischs stehen und schlich näher an das Fenster. Er schloss die Augen, holte tief Luft und riss sie wieder auf.

Er blinzelte.

Da lag ein Junge auf Lord Everlys Giebeldach.

Er war ein mickriges Exemplar, ganz in Schwarz, mehr Schatten als Substanz, mehr Hirngespinst als Fleisch. Es beunruhigte Tristan ein wenig, dass er eine so einzigartige Wahnvorstellung haben sollte. Wenn man jedoch von der Frage nach dem Geisteszustand einmal absah, musste ein Junge auf einem Dach ein winziges Aufflackern von Interesse hervorrufen, sogar in einem Herzen, welches seit Wochen dunkel und verschlossen geblieben war.

Der Junge tat nichts Falsches. Er lag einfach nur da, auf dem Rücken, völlig regungslos, und starrte in den Himmel. Trotzdem, ein Junge auf einem Dach? Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Vielleicht sollte er jemanden alarmieren. Ein anständiger Nachbar würde das tun. Zweifellos hatte Everly nicht die geringste Ahnung, dass ein Junge auf seinem Dach lag.

Selbst der aufmerksamste Mensch könnte so etwas übersehen und Everly war nicht der aufmerksamste aller Männer. Seine Lordschaft war ein verschlagenes, schielendes Geschöpf. Tristan hatte nie viel für Everly übrig gehabt, aber er würde auch nicht tatenlos zusehen, wie ein diebisches Kind den Mann um all seinen weltlichen Besitz brachte.

Ob der Junge echt war oder ein Produkt seiner fieberhaften Fantasie, blieb fraglich. Wenn sich jedoch herausstellte, dass es sich nicht um ein Hirngespinst handelte, war er mit Sicherheit ein Dieb.

Es konnte keine harmlose Erklärung für seine Anwesenheit auf Lord Everlys Dach geben.

Immerhin, Tristan erkannte einen Dieb, wenn er einen sah. Einst, vor langer Zeit, war er ein Bow Street Runner gewesen, einer der ersten Polizisten der City of Westminster. Er konnte nicht sagen, was er jetzt war. Offenbar ein Earl, der faulenzte und Portwein schlürfte, während sein Nachbar ausgeraubt wurde. Ein weiterer nutzloser Earl. Genau das, was London brauchte.

Da das Schicksal ihn nun einmal zu einem Leben in aristokratischem Müßiggang verdammt hatte, fühlte er sich verpflichtet, seine Sache ordentlich zu machen. Wochenlang hatte Lord Lyndon sein Stadthaus heimgesucht. Nun hatte Tristan widerwillig zugestimmt, seinen Freund an diesem Abend ins White’s zu begleiten. Er hatte eine vage Vorstellung von den Aktivitäten, die man als Earl amüsant finden sollte – trinken, wetten und derlei – aber Tristan hielt nichts davon.

Er fand das alles völlig sinnlos. Deshalb war er früh aufgebrochen und schon fast zu Hause angekommen, als ihm klar wurde, dass das White’s dazu bestimmt war, sinnlos zu sein.

Sinnlosigkeit war in der Tat der Punkt.

Da der Abend ein spektakulärer Misserfolg gewesen war, hatte Tristan nicht viel Hoffnung, dass London eine bessere Beschäftigung für Gentlemen zu bieten hatte. In der Tat fiel ihm nach diesem Abend kein einziger Grund ein, überhaupt in der Stadt zu bleiben.

Abgesehen vielleicht von dem Jungen auf Lord Everlys Dach.

Tristan holte seinen Portwein, ließ sich in seinen Stuhl sinken und führte das Glas an die Lippen. Ein richtiger Earl verschwendete keinen guten Portwein. Der Junge würde früher oder später etwas Interessantes tun. Tristan war zufrieden damit, an seinem Portwein zu nippen und zu warten, bis es soweit war.

Und er wartete, und er wartete, und er wartete …

Die Zeit spielte ihre Spielchen mit Tristan – die letzten Wochen hatten sich wie Jahre hingezogen –, aber noch nie waren die Minuten so zögerlich verstrichen wie jetzt. Die Schatten wurden länger, das Feuer brannte herunter, die Standuhr im ersten Stock schlug zu den vollen Stunden, und ihm war es, als ob sich irgendwo eine ganz neue Zivilisation entwickelte und wieder unterging.

Und dennoch, Tristan wartete.

War es nicht unnatürlich für einen Jungen, so lange regungslos zu bleiben?

Selbst als es zu regnen begann, zuckte der Junge nicht. Er lag einfach regungslos da, wie eine Leiche –

Ruckartig richtete sich Tristan auf. Sein leeres Glas fiel auf den Boden. Er blickte auf die reglose Gestalt hinunter, aber es war zu dunkel, um zu erkennen, ob sich der Brustkorb des Jungen bewegte.

War es möglich, dass es ein Leichnam war? Wie, zum Teufel, kam eine Leiche auf Lord Everlys Dach? Andererseits, wenn er sich einbilden konnte, dass ein Dieb auf einem Dach erschien, könnte das dann nicht auch eine Leiche tun?

Nein, nein, nein. Das wäre nicht möglich. Es gab Grenzen für das, was Tristan in seinen Wahnvorstellungen tolerieren würde. Ein Phantomdieb war eine Sache, aber eine Leiche eine andere. Das war eine Halluzination zu viel. Tristan blieb nur eine einzige, unausweichliche Schlussfolgerung.

Da lag ein toter Junge auf Lord Everlys Giebeldach.

Ein toter Junge auf dem Dach des Nachbarn war nichts, was ein Gentleman übersehen konnte, und das, so überlegte Tristan später, war der Grund für all das Chaos, das folgen sollte.

Wäre die Situation auch nur ein bisschen weniger beunruhigend gewesen als ein toter Junge auf einem Dach, hätte er sich vielleicht gar nicht hinausgewagt. Er wäre in seiner Bibliothek geblieben, hätte sich noch ein Glas Portwein genehmigt und sich betrunken, wie es sich für einen richtigen Earl gehörte.

So aber fand ihn das Chaos und als es ihn gepackt hatte, zeigte es keine Gnade. Es packte ihn am Hals, versenkte die Krallen in seinem Fleisch und stürzte ihn kopfüber in Aufruhr, ohne ihm auch nur die Höflichkeit zu gewähren, das Ganze noch einmal zu überdenken.

***

Hätte Sophia Monmouth geahnt, wie einfach es sein würde, die Fassade eines Londoner Stadthauses zu erklimmen, hätte sie ihre Fußabdrücke bereits auf jedem von Mayfairs Dächern hinterlassen.

Ein einziger Sprung und sie war über die Oberkante des schmiedeeisernen Geländers balanciert, welches die Steintreppe flankierte. Ein bisschen kriechen, ein– oder zweimal diskret gehangelt und sie hatte sich, wenn auch nicht sehr damenhaft, an eine der Säulen geklammert, die zu beiden Seiten der Eingangstür standen, indem sie ihre Arme und Beine darum schlang. Von dort aus war es ein Leichtes gewesen, sich hochzuziehen und über den Rand des Giebels zu klettern.

Unnötiges Risiko, Sophia.

In solchen Momenten drang Lady Cliffords Stimme in Sophias Kopf ein. Auch wenn das Ignorieren der Stimme ihr ein klein bisschen schlechtes Gewissen bereitete, hatte Sophia sich dennoch angewöhnt, es mit einem Achselzucken abzutun.

Es war ja nicht so, dass Lady Clifford im Unrecht war. Streng genommen hätte Sophia die Fassade von Lord Everlys Stadthaus nicht erklimmen müssen. Sie hätte sich hinter einem Baum verstecken können wie ein gewöhnlicher Eindringling, aber sie wollte wissen, ob sie es schaffen würde. Schließlich wusste eine Lady nie, wann sie das Dach eines Lords oder einer anderen Person erklimmen musste.

Man musste einfach wissen, was man konnte.

Außerdem, wo war der Spaß daran, gewöhnlich zu sein? Jetzt war sie hier, lag gemütlich auf dem Rücken auf Lord Everlys Dach. Du meine Güte, er hatte eine Menge Fenster, nicht wahr? Allein sechs davon im ersten Stock, die sich in einer ordentlichen Reihe über die Fassade des Hauses zogen. Die Symmetrie war erfreulich. Aristokraten mochten es eben, wenn die Dinge an ihrem richtigen Platz waren.

Alle Dinge, nicht nur ihre Fenster.

Neugierig stieß sie die Spitze ihres Stiefels in einen winzigen Spalt am unteren Rand des Dachfensters über ihr und drückte. Es glitt auf und ein amüsiertes Schnauben kam ihr über die Lippen. Himmel, der Adel war töricht. Es wäre das Einfachste auf der Welt für sie, ins Haus zu schleichen und das Familiensilber zu stehlen.

Es war wirklich schade, dass sie keine Diebin war, denn sie wäre eine ungeheuer gute gewesen. Die meisten der Stadthäuser in der Great Marlborough Street hatten schmiedeeiserne Geländer und Säulen auf beiden Seiten der Türen mit schönen, breiten Giebeln obenauf. Zweifellos waren die aristokratischen Besitzer stolz auf ihre Giebel und betrachteten alle Gesimse, Säulen und Vordächer als den Gipfel der Eleganz.

Nun gut. Stolz war eine böse, abscheuliche Sünde.

Ein schmiedeeisernes Geländer war eben nichts anderes als ein Fußbänkchen, eine Säule eine behelfsmäßige Leiter, und Gesimse und Zierbögen Trittflächen und Griffe. Dächer in ganz Mayfair streckten Sophia die Finger entgegen und forderten sie auf, es zu versuchen. Das war doch das Wunderbare an der Stadt London, nicht wahr? Gerade wenn man dachte, man würde sie kennen, bot sie eine völlig neue Landschaft, die darauf wartete, erkundet zu werden.

Was Lord Everly betraf, so war sein Silber sicher genug vor ihr. Zum Glück für ihn war Sophia nicht hier, um zu stehlen. Sie war überhaupt nicht wegen Lord Everly hier.

Nein, sie war wegen jemand anderem gekommen und nun blieb ihr nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass sich ihre Zielperson zur Tür hinauswagte. Er würde es heute Abend vielleicht nicht tun, aber sie würde morgen wiederkommen und jede der folgenden Nächte, bis es soweit war.

Sophia summte vor sich hin und blickte in den dunklen Himmel, während sie wartete.

Nach kurzer Zeit begann es zu regnen. Die dicken Regentropfen schlugen in verschiedenen Tönen auf das Schieferdach und verwandelten so einen sonst vielleicht tristen Abend in eine Sinfonie. Sie lag still und lauschte dem rhythmischen Prasseln. Sie hatte sich nie am Regen gestört, aber sie hatte auch nie bemerkt, wie angenehm das Geräusch war, das er verursachte. Andererseits war sie dem Regen noch nie so nahe gewesen wie jetzt. Er hatte nicht denselben angenehmen Nachhall, wenn er auf das Straßenpflaster traf, aber von hier oben war er wie Musik oder das Läuten einer Uhr.

Während die Zeit verstrich, verdichtete sich der Himmel über Sophia zu einem undurchsichtigen Mitternachtsblau. Die Wolken, die den ganzen Tag über der Stadt gehangen hatten, schoben sich hin und her und spielten ein Versteckspiel mit dem Mond. Ja, sie würde mehr Zeit auf den Dächern Londons verbringen, sobald dieses Geschäft erledigt war.

Ihr Herzschlag nahm den beruhigenden Rhythmus des Regens auf und er hätte sie vielleicht in den Schlaf gewiegt, wenn das Knarren einer sich öffnenden Tür sie nicht aufgeschreckt hätte.

Sophia ließ den Kopf unten, rollte sich aber herum, rutschte auf dem Bauch an den Rand des Giebels und spähte über die Seite hinunter, wobei sie darauf achtete, dass sie nicht gesehen wurde. Die Straße war voller Schatten, aber das schwache Licht, welches aus der Eingangstür fiel, beleuchtete kurz die Gestalt eines Mannes, bevor er die Tür hinter sich zuschlug.

Sophias Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln.

Er war leicht auszumachen – ein kleines, rattenartiges Wesen, mit gebeugten Schultern und fahrigen Bewegungen. Ein Makel, wie Sophia fand. Es war viel besser, wenn man sich als Krimineller anpassen und mit der Menge verschmelzen konnte.

Er hatte eine Pfeife zwischen den Fingern und hielt inne, um daran zu saugen, bevor er die Treppe hinunterschlenderte und links in die Great Marlborough Street einbog, um in Richtung Regent Street zu gehen. Eine dünne Rauchschwade zog hinter ihm her wie ein zweiter Schatten, als er um die Ecke verschwand.

Sophia ließ ihn gehen. Es gab keinen Grund, ihm hinterherzueilen. Sie hatte noch nie ihre Beute verloren und auch jetzt würde sie sie nicht verlieren. Sie wartete, immer noch summend, bis das Geräusch der Schritte verklang und ein Blick nichts zeigte als die leere Straße unter ihr.

Sie schwang ihre Beine über die Seite des Giebels und ließ sie dort einen Moment lang baumeln, bevor ihre Füße die schmale Kante oben an der Säule fanden. Sie stabilisierte sich und hangelte sich dann auf dieselbe schockierende Weise hinab, in der sie hinaufgeklettert war. Diesmal kümmerte sie sich nicht um das Geländer, sondern ließ sich leichtfüßig auf die oberste Stufe fallen. Dann zog sie sich die dunkle Mütze ins Gesicht.

Sie verfolgte diesen Mann nun schon seit einigen Wochen und wusste weit mehr über ihn, als sie jemals über irgendeinen Mann wissen wollte – welche Häuser er besuchte, welche Prostituierten in Covent Garden er bevorzugte – alles ohne Erfolg.

Aber Sophia war geduldig, weil sie wusste, dass er irgendwann an den Ort seines Verbrechens zurückkehren würde.

Das taten sie immer.

***

Der Leichnam hatte sich bewegt.

Das hieß, der Junge – wie es schien, war er sehr lebendig –, hatte sich mit einer akrobatischen Leistung und der Leichtigkeit einer Billardkugel über das Dach gerollt. Nun hing er über dem Giebel, die Beine stützend auf dem Dach gespreizt, während sein Oberkörper in der Luft schwebte.

Er könnte doch noch als Leiche enden. Ein unerwartetes Zucken eines Muskels oder ein plötzlicher Luftzug und er würde wie eine überreife Frucht vom Baum fallen.

Tristan hätte der Sache in diesem Moment ein Ende setzen können – Dieb oder nicht –, aber er wollte den Jungen nicht in den Tod stürzen sehen. Bevor er sich jedoch rühren konnte, öffnete sich die Tür von Lord Everlys Haus und ein Mann trat heraus.

Er schloss die Tür hinter sich und löschte das schwache Licht, das hinter ihm aus dem Stadthaus drang. Tristan konnte dennoch genug von ihm sehen, um festzustellen, dass es nicht Seine Lordschaft war. Er war viel kleiner als der eher dicke und gedrungene, kugelige Everly.

Tristan konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Angesichts der vielen Leute, die täglich in Everlys Stadthaus ein und aus gingen, machte er sich auch nicht die Mühe, eine Vermutung über die Identität des Mannes anzustellen.

Der Mann hielt inne, hob die Pfeife, die er zwischen den Fingern hielt, an die Lippen und dann ging er selbstsicher die Straße hinunter. Zu selbstsicher, der Narr. Scheinbar hatte er nicht die geringste Ahnung, dass er beobachtet wurde.

Tristan machte sich nicht die Mühe, zu schauen, wohin er ging. Sein Blick wanderte zurück zu dem Jungen, der den Kopf gedreht hatte, um den Weg des Mannes zu verfolgen. Er hatte sich nicht bewegt, aber Tristan spürte eine plötzliche Anspannung in seiner schlanken Gestalt, die gespannte Stille eines Raubtiers in den Sekunden, bevor es zum Sprung ansetzt.

Waren Diebe nicht ebenfalls Raubtiere?

Die vertraute, rastlose Energie, die Tristan verloren geglaubt hatte, tobte nun in seinen Adern. Ein paar Augenblicke vergingen, dann noch ein paar und dann … war der Junge auf den Beinen und über die Seite des Giebels geklettert.

Tristans Muskeln spannten sich instinktiv an, als wolle er den Jungen auffangen, aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Der Junge rutschte die Säule hinunter, schnell wie ein Äffchen. Im nächsten Atemzug ließ er sich auf die Straße fallen und huschte hinter dem Unbekannten her, dunkel und lautlos wie ein Schatten.

Kein Geist also und keine Einbildung. Kein Leichnam und kein Dieb.

Seltsamerweise war es Letzteres, das Tristan am meisten überraschte. Es sah nicht so aus, als wäre der Junge dort gewesen, um zu stehlen.

Zumindest nicht von Everly. Vielleicht wollte der Junge den Mann bestehlen, dem er folgte. Es gab in London viele Taschen, die man erleichtern konnte, allerdings war für keine davon ein Abenteuer auf dem Dach nötig.

Warum sollte der Junge seinen Hals dafür riskieren, einen Mann zu bestehlen, der, wenn er auch klein war, ihn um einige Köpfe überragte und mindestens zehn Kilo schwerer war als er? Tristan hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Junge zu tun gedachte, wenn er sein Opfer einholte, aber das würde er noch früh genug herausfinden.

Er trug noch immer Stiefel und machte sich nicht die Mühe, seinen Mantel anzuziehen. Zehn Sekunden später stand er auf der Straße vor seinem Stadthaus. Zu diesem Zeitpunkt war von dem Jungen nichts mehr zu sehen, aber allzu weit konnte er nicht gekommen sein.

Verdammt, der kleine Kobold hatte die Kunst des Verschwindens perfektioniert, genau wie ein richtiges Phantom.

Ob Geist oder nicht, am Ende würde es jedoch keine Rolle spielen.

Für Tristan war das Erreichen des anderen Endes der Stadt ebenso leicht wie ein Spaziergang von seiner Bibliothek zum Arbeitszimmer. Er kannte jede Straße, jede versteckte Nische und jede dreckige Hintergasse in London.

Der Junge war schlau und schnell, aber Tristan würde ihn erwischen.

***

An diesem Abend würde er einen fatalen Fehler begehen. An diesem Abend, nach langen Wochen der Verfolgung dieses Schurken durch ganz London, würde Sophia ihn endlich überführen.

Sie konnte es riechen, fühlen, als läge ein Duft in der Luft oder als gleite eine Fingerspitze über ihre Haut. Sie fand es nicht mehr merkwürdig, dass sie in der Lage war, solche Dinge zu spüren. Sie musste mit dem Verstand eines Verbrechers geboren worden sein, wenn nicht sogar mit dem Herzen eines Verbrechers, denn sie wusste instinktiv, wie sie sich verhalten würden.

Sie lief nach Westen, die Great Marlborough Street hinunter und hielt sich in den Schatten versteckt. Reine Intuition leitete ihre Schritte. Ein– oder zweimal glaubte sie Schritte hinter sich zu hören, aber als sie innehielt, war da nichts anderes als das leichte Prasseln des Regens auf dem Boden.

Selbst wenn sie jemand verfolgte, würde er sie nicht einholen.

Niemand schaffte das.

Sie blieb im Verborgenen, während sie hinter ihrem Opfer herschlich, welches sich in Richtung Tottenham Court Road bewegte und dabei scheinbar völlig ahnungslos war, dass es verfolgt wurde. Es schien dem Mann nicht in den Sinn zu kommen, dass er für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden könnte.

Seine Sorglosigkeit gründete sich nicht auf Unschuld, sondern auf Arroganz und Dummheit.

Erst als er in die Aldwych Street einbog und sie die Kuppel der St. Paul’s Cathedral und die Spitze der St. Clement Dane’s Church in der Ferne erblickte, begann Sophias Herz zu klopfen. Von allen Orten, die ein Mann in einer dunklen Nacht in London aufsuchen konnte, war er ausgerechnet hierher gekommen.

Seltsam, wenn man bedachte, was ihm widerfahren war, als er sich das letzte Mal in dieser Gegend aufgehalten hatte.

Das hieß, was er behauptete, das ihm widerfahren war.

Es war schon merkwürdig, dass er nachts ganz allein an einen Ort zurückkehrte, an dem er selbst Opfer eines Verbrechens geworden war.

Aber es war kein Versehen, dass er hierhergekommen war, und auch kein Zufall.

Sophia schaute sich um und achtete besonders auf die schattigen Ecken, bevor sie sich an seine Fersen heftete. Ihre Brust zog sich vor Aufregung zusammen, als sie an einer Seite der St. Clement Dane’s Church innehielt und darauf wartete, was er als nächstes tun würde.

Er schien nicht besorgt zu sein, dass ihn jemand sehen könnte, sondern näherte sich dem Eingang der Kirche, überprüfte seine Taschenuhr, ließ sich dann in der gewölbten Türöffnung nieder und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Pfeife zu.

Eine andere Person hätte sich vielleicht von dieser Unbekümmertheit täuschen lassen, aber nicht Sophia. Sein Verhalten war zu selbstbewusst, zu geübt. Für ihr geschultes Auge sah es so aus, als warte er dort auf jemanden, wollte aber den Anschein erwecken, er sei zufällig an der Kirche vorbeigekommen und wäre ebenfalls zufällig von dem unwiderstehlichen Drang übermannt worden, dort eine Pfeife zu rauchen.

Sie unterdrückte ein spöttisches Schnauben. Er spielte seine Rolle nicht sehr gut.

Sie duckte sich hinter die Säule eines Gebäudes auf der anderen Straßenseite. Von hier aus hatte sie freie Sicht auf den Mann, aber mit den Augen überprüfte sie bereits den Kirchhof, um ein besseres Versteck zu finden. Wenn sie etwas hören wollte, musste sie näher an ihm dran sein.

Ihr Blick blieb an dem kleinen, runden Säulengang an der Westseite der Kirche hängen. Es war nicht mehr als ein Halbkreis aus schlanken Säulen mit einem Dach, aber es würde genügen. Sie war schon ziemlich nah – nur auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Wenn sie den Gang erreichte, könnte sie um die Seite herumschleichen, näher an den Eingang der Kirche heran. Von dort aus würde sie sehen und hören können, was vor sich ging.

Der Sprung über die Straße könnte sich allerdings als etwas schwierig erweisen. Wenn der Mann zufällig in ihre Richtung schaute, während sie die Straße überquerte, würde er sie sehen. Aber bis jetzt hatte er sich nicht als besonders aufmerksam erwiesen, nicht wahr?

Sophia begutachtete die schmale Straße vor ihr, berechnete die Entfernung und warf dann einen Blick zurück zum Eingang der Kirche, wo ihr Opfer immer noch am Torbogen lehnte und so aufmerksam aussah, wie ein verschlafenes Kind bei einer Kirchenpredigt.

Ja, sie konnte es schaffen. Sobald die heranziehenden dicken Wolken den Mond verdeckten, würde sie loslaufen. Sie wartete, ihre Muskeln waren angespannt, aber gerade als die Wolken begannen, das Mondlicht zu verdrängen, hörte sie ein dünnes, hohes Geräusch von hinten.

Es hörte sich an wie … ja, das war es: Ein Mann kam The Strand hinunter auf die St. Clement Dane’s Church zu – und er pfiff.

Sophia erstarrte für einen Moment, ihr Herz pochte, dann verschwand sie so schnell und leise, wie sie konnte, in den Schatten. Ein weiterer Blick in Richtung der Kirche zeigte, dass ihr Opfer plötzlich aufgesprungen war.

Für einen atemlosen Moment dachte Sophia, er hätte sie gesehen, aber er sah nicht in ihre Richtung.

Er wartete auf den Mann, der The Strand herunterkam.

Der Mann selbst schien nicht zu bemerken, dass er das Objekt derart intensiven Interesses war. Er schlenderte die Straße entlang, pfiff melodielos vor sich hin und schien vollkommen unbesorgt.

Welches kriminelle Unternehmen auch immer im Gange war, der Pfeifer hatte nichts damit zu tun.

Nein, er war das Opfer des Mannes.

Als der Pfeifer sich dem Torbogen näherte, in dem Lord Everlys Mann wartete, hielt sie den Atem an. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie sehen, dass der Schurke sich bereits anschlich, bereit, sich auf sein Opfer zu stürzen wie eine Ratte auf ein Brotkrümel.

Dann, direkt hinter ihm, sah Sophia eine Bewegung in den Schatten aufflackern.

Sie riss die Augen auf und verengte sie wieder, so sehr strengte sie sich an, etwas zu erkennen. Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als lauere dort noch jemand hinter der Kirchentür, aber sie war sich nicht sicher.

Sie drehte den Kopf zu dem Mann, der The Strand entlang kam. Er ging auf die Vorderseite der Kirche zu, immer noch fröhlich pfeifend, nichts ahnend von dem Unheil, welches ihn erwartete.

Es wäre reine Dummheit, wenn sie jetzt versuchte, ihn aufzuhalten. Sie würde entdeckt werden und ihre Mission einem unnötigen Risiko aussetzen. Trotzdem öffnete sich Sophias Mund und ein Warnschrei stieg in ihrer Kehle auf.

Sie bekam nie die Gelegenheit, ihn loszuwerden.

Gerade als er ihr über die Lippen kommen sollte, legte sich eine behandschuhte Hand hart über ihren Mund. Sophia keuchte schockiert auf, aber selbst als sich ein langer, muskulöser Arm um ihre Taille schlang, behielt sie die Nerven. Dies war nicht das erste Mal, dass sie begrapscht wurde, und sie war keine Frau, die in Hysterie verfiel.

Nein, sie war eher die Art von Frau, die denjenigen biss, der dumm genug war, ihr die Hand auf den Mund zu pressen, und genau das tat sie jetzt. Ohne jedes Zögern biss sie in den ihr nächstgelegenen Finger. Zu ihrem Ärger bekam sie einen außergewöhnlich feinen Lederhandschuh zwischen die Zähne, aber sie klammerte sich an den Fingerknöchel wie ein Jagdhund, der einen Vogel im Maul hat.

Der Angreifer hielt seinen Handschuh wohl nicht für fein genug, um ihn zu retten, denn er riss ihn aus ihrem Mund und ließ ihn zwischen ihnen in den Dreck fallen.

Da sie sich durch den Biss nicht befreien konnte, landete Sophia einen geübten Tritt gegen das Schienbein ihres Angreifers, wobei sich ihre Lippen zu einem wilden Grinsen verzogen, als ihr Absatz mit einem befriedigenden Knirschen auf einen Knochen traf. Der um ihre Taille geschlungene Arm erschlaffte für einen Augenblick, aber der Mann schien eine Menge Erfahrung darin zu haben, Menschen anzugreifen, denn er ließ sie nicht los. Jeder andere hätte es getan, aber er hielt sie fest.

Nur ein gemurmelter Fluch entkam seinen Lippen.

Also trat sie erneut nach ihm.

Er stieß ein schmerzhaftes Grunzen aus. „Das wirst du noch früh genug bereuen.“

Bevor sie einen dritten Tritt landen konnte, riss er sie von den Füßen und zerrte sie rückwärts in den schattigen Kirchhof hinter St. Clement Dane’s.

Jemand war ihr gefolgt, und jetzt hatte er sie erwischt.