Leseprobe Wicked Elite

Prolog: König

Vito

10 Jahre zuvor

Es heißt, das Herz einer Frau schlägt schneller als das eines Mannes, weil es kleiner wäre und somit mehr Arbeit leisten muss, um den ganzen Körper mit Blut zu versorgen. Daraus resultiert, dass sie niemals im gleichen Takt schlagen können. In diesem Moment bezweifelte ich jedoch, dass das stimmte, denn mein Herz schlug kaum noch in meiner Brust, als Vaters Finger über das Schachbrett fuhren und nach einem seiner Läufer griff.

„Du hast verloren.“ Er schob seine Figur über das Schachbrett und stellte sie genau vor meinem König ab. Dabei hatte er eine Augenbraue hochgezogen und ein unzufriedener Gesichtszug bildete sich um seinen rechten Mundwinkel. Das Spiel war beendet. Mein König war gefallen. Ich hatte diese Partie verloren. Dabei hatte ich nichts falsch gemacht. Nicht in meinen Augen. Ich hatte alle Regeln berücksichtigt, die Figuren selbstbewusst geführt und auf meine Gegner geachtet. Jeden Einzelnen. Doch Vater hatte mich umstellt, ohne dass ich es bemerkt hatte, und damit mein Spielfeld verkleinert. Er hatte mir die Wege abgeschnitten und angefangen, sich meine Spieler zu holen. Einen nach dem anderen. Ich hatte gekämpft, versucht, sie zu retten … und versagt.

„Ich weiß, Vater.“ Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er wollte nicht, dass ich verlor. Spiele waren nicht dazu da, um Spaß zu machen, nicht in seiner Welt. Für ihn war das Schachbrett kein Vergnügungspark, sondern eine Probe fürs Leben. Eine, die ich nicht bestanden hatte.

„Welchen Fehler hast du gemacht?“

„Ich weiß es nicht, Vater.“ Keinen, hätte ich am liebsten geschrien, denn ich hatte wirklich alles beachtet, was er mir beigebracht hatte. Den König beschützen, eine starke Front aufbauen, nicht vorschnell entscheiden und erst den Zug machen, wenn ich all meine Spieler und Gegner betrachtet hatte, um das bestmögliche Ergebnis zu gewährleisten. Ich war gut darin, hatte bereits unglaublich viel Übung. Das war immerhin nicht unsere erste Partie. Nicht einmal am heutigen Tag und hätte ich sie nicht verloren, wäre es wahrscheinlich auch nicht unsere letzte Partie gewesen. Doch Vaters enttäuschter Blick zeigte mir, dass er nicht stolz auf mich war, weil ich die fünf anderen Runden gewonnen hatte. Nicht, wenn ich eine verlor und nicht einmal wusste, wieso.

„Wie sollst du verhindern, dass du beim nächsten Mal erneut scheiterst, wenn du nicht einmal ahnst, was du falsch gemacht hast?“ Vater formulierte es als Frage, dabei wusste er die Antwort bereits und ich wusste ebenfalls, was er von mir hören wollte. Dennoch kamen die Worte nur schwerfällig über meine Lippen, während ich versuchte nicht in seine Augen zu sehen, die mich kalt musterten. Sie waren noch eisiger als die Temperaturen, die uns umgaben. Wir hatten erst November, aber dennoch lag der erste Schnee bereits um das kleine Häuschen, das Vater spontan gekauft hatte, obwohl wir es eigentlich nicht brauchten. Ich wäre lieber irgendwo in der Wärme gewesen, doch das schien Vater nicht zu kümmern. Er liebte den kleinen Hof mit den steinernen Bänken und Tischen, die um das Haus verteilt waren. Einige davon hatten bereits das klassische schwarz-weiße Schachbrett eingraviert, das ich inzwischen zu hassen begann. Anfangs hatte es hübsch ausgesehen, doch mittlerweile empfand ich Abscheu gegenüber den vielen Vierecken und den Figuren, die immer wieder auf denselben Feldern landeten.

„Gar nicht, Vater.“ Ich biss die Zähne schmerzhaft zusammen. Meine Backenzähne protestierten unter der Wucht, doch statt meinen Kiefer zu lockern, spannte ich ihn weiter an. Gleichzeitig zog ich meine Jacke näher um mich. Langsam kam Wind auf und blies durch alle Zwischenräume. Leider bot ich genügend Angriffsfläche mit dem dünnen Stoff, den ich anhatte. Ich hatte nicht damit gerechnet, so lange hier draußen zu bleiben. Nun bereute ich meine Entscheidung, mir nicht mehr angezogen zu haben. Die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel und landeten in Vaters dunklem Haar. Gern wäre ich ins Haus zurückgegangen, wo der Kamin hell vor sich hin loderte, aber Vaters Blick verriet, dass ich mich keinen Zentimeter von der Steinbank wegbewegen sollte, wenn ich mir keinen Ärger einhandeln wollte.

„Sieh genau hin! Finde den Fehler, Vito!“, forderte Vater und brachte mich dazu, den Kopf noch weiter zu senken, bis meine Nase fast einen der Türme streifte, die auf dem Brett standen. Allerdings sah ich nicht wirklich auf die Figuren. Wenn mir mein Fehler bewusst gewesen wäre, hätte ich ihn nicht begangen. Es hatte nicht viele Möglichkeiten gegeben. Ich hätte die Dame vor den König ziehen können, aber dann hätte ich meine Königin verloren. Die Bauern standen alle bereits zu weit weg. Genau wie meine Läufer. Das Pferd stand diagonal zum König, sodass es auch nicht infrage gekommen wäre. Vater hatte mich erfolgreich eingekesselt und meinen König umstellt, damit ich nicht fliehen konnte. Also was genau wollte er von mir hören? Dass ich früher in seinen Kopf sehen und hätte wissen müssen, was er vorhatte? Ich konnte keine Gedanken lesen. Vater hatte ein gutes Pokerface, eines, das er mir beigebracht hatte. Ich hätte seinen Schachzug nicht voraussagen können.

„Ich sehe den Fehler nicht“, gab ich kleinlaut zu und betete, Vater würde mir einfach sagen, was er von mir verlangt hätte, damit ich beim nächsten Mal darauf achten konnte. Leider tat er es nicht. Stattdessen lehnte er sich ein Stück zurück und hob auch noch die andere Augenbraue an, bis beide beinahe seinen Haaransatz berührten. Er schnaubte verächtlich.

„Das solltest du ändern, denn du wirst hier sitzen bleiben, bis du ihn gefunden hast. Verstanden?!“ Ein raues Brummen mischte sich in seinen Befehlston, während er sich erhob, sodass sein Schatten über meine Gestalt fiel und gleichzeitig das Schachbrett verdunkelte. Dabei prasselten immer mehr Schneeflocken auf uns nieder und der Wind wehte erneut. Diesmal stark genug, dass die vereinzelten Blätter an den Ästen der Bäume zu rascheln begannen.

„Ja, Vater!“ Ich nickte gehorsam, doch in mir zogen sich meine Eingeweide zusammen. Ich würde den Fehler nicht finden. Ich wusste es bereits, dennoch sprach ich es nicht laut aus. Er würde seine Meinung nicht ändern. Für ihn war es beschlossen. Ich sollte bleiben und dieses Brett anstarren, bis ich die Antwort kannte, die er aus meinem Mund kommen hören wollte. Egal, ob es Stunden oder Tage dauerte. Ich fröstelte. Ja, ich hätte mich definitiv besser anziehen sollen. Ängstlich hob ich den Blick und sah gen Himmel. Er war wolkenverhangen, aber noch schien die Sonne hindurch, deren Strahlen die Schneeflocken zum Glitzern brachten. Ich konnte nur hoffen, dass sie nur langsam untergehen würde.

„Es ist viel zu kalt dafür!“, mischte Mum sich ein, die nur wenig von uns entfernt auf einer weiteren Steinbank saß und ein Buch in den Händen hielt. Bisher hatte sie geschwiegen und war in der Geschichte versunken gewesen, dabei las sie das Buch jedes Jahr. Doch Vaters harscher Ton schien sie aus ihren Fantasiewelten gerissen zu haben, denn sie schlug das Buch zu und sah direkt in unsere Richtung.

„Und? Dann sollte er sich mit der Suche beeilen!“ Vater rümpfte missbilligend die Nase und verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. Sein Gesicht lief rot an und eine Ader trat an seiner Stirn hervor. Wut legte sich um seine Züge. Er wollte nicht, dass Mutter Partei für mich ergriff. Dennoch versuchte sie es. Ohne Erfolg.

„Aber …“ Mum wollte protestieren und sah sich um, als die Flocken dicker wurden. Ein Schneesturm schien aufzuziehen. Der Himmel verdunkelte sich. Sie griff nach ihrem Reißverschluss, der nur bis zur Hälfte geschlossen gewesen war, und zog ihn bis unter ihr Kinn, um sich vor der aufkommenden Kälte zu schützen. Sie sprang von der Bank und trat auf uns zu. Ihre Schuhe gaben ein Knirschen auf dem erdigen Boden von sich.

„Keine Diskussion!“ Vaters Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Sie donnerte über den weitläufigen Platz und dröhnte in meinen Ohren. Ich zuckte zusammen und versuchte seine Worte auszublenden, um mein Herz vor seiner Wut zu schützen, doch es gelang mir nicht. „Er wird das schaffen, ansonsten verdient er es, elendig zu erfrieren. Perez´ sind Sieger! Wir lassen uns nicht von kleinen Rückschlägen oder der Witterung aufhalten. Schlimm genug, dass er verloren hat. Jetzt soll er auch noch aufgeben?“ Vater schüttelte den Kopf, als wäre die Vorstellung absurd. Lächerlich. Dabei fühlte es sich nicht wie aufgeben an. Ich hatte verloren. Das war alles. Man durfte verlieren. Mum hatte das oft zu mir gesagt. Man konnte nicht immer gewinnen. So war das Leben nicht. Vater sah das jedoch anders. Er blieb bei seiner Meinung und Mum … sie gab sich geschlagen. Wie immer.

„Nein, natürlich nicht!“ Mum ließ die Schultern sinken und beendete das Gespräch. Ihr Blick blieb dennoch misstrauisch auf mich gerichtet, während ich nur Augen für das Brett vor mir hatte. Für die Figuren. Und das Schwarz-Weiß, das mich sogar noch in meinen Träumen verfolgen würde.

Kapitel 1: Blindenspiel

Elizabeth

Gegenwart

„Tante Grace?“ Schnurstracks ging ich auf Grace zu, die ich durch den Schleier aus Tränen kaum erkannt hätte, wenn sie nicht die typische Lederjacke getragen hätte, die sie ständig anhatte. Der Anblick erinnerte mich ein wenig an Trixie und wieder durchzog mich Traurigkeit. Inzwischen war das Gefühl ein ständiger Begleiter für mich geworden. Ich vermisste Trixie und Bea, obwohl sie mich bis zum Flughafen gebracht und mir immer wieder eingetrichtert hatten, dass wir nach den Ferien endlich die Antworten auf all meine Fragen finden würden. Ich glaubte jedoch nicht daran und das Letzte, das ich wollte, war es tatsächlich an die Blackbury Academy zurückzukehren. Nicht, wenn ich dort wieder auf Vito treffen musste. Ich wollte ihn nicht sehen, wollte nicht seinen Duft einatmen und ihn lachen hören, während mein Herz in tausend Teile zerbrochen war – und das war es. Ich hatte in den letzten Tagen und Stunden versucht, jede Scherbe aufzuheben, sie an ihren richtigen Platz zu bringen und darauf gehofft, die Bruchstücke würden sich wieder zusammenfügen. Doch kein Kleber konnte heilen, was Vito zerstört hatte. Ich schluchzte und fuhr mir mit dem Handrücken über die Wange, weil sich schon wieder eine Träne aus meinem Augenwinkel löste und meine Haut entlang floss. Großartig, genau so wollte ich Tante Grace nicht gegenübertreten. Ich wollte sie grinsend empfangen und so tun, als wäre es toll an der Akademie. Ich wollte ihr nicht zeigen, dass sie recht behalten hatte. Verdammt, ich wollte sie mit all meinen Erkenntnissen konfrontieren, aber stattdessen drohte ich an meinen Gefühlen zu ersticken. Die Tränen füllten meinen Hals und ließen mich gurgelnd zugrunde gehen.

„Eli, ich bin so froh, dich zu sehen! Wie war dein Flug?“ Tante Grace drehte sich schwungvoll zu mir um und ein freudestrahlendes Lächeln saß fest auf ihren Lippen, das jedoch nicht echt sein konnte, denn die Fröhlichkeit erreichte ihre Augen nicht. Dicke Ringe lagen wie Schatten auf ihrem Gesicht und gaben ihrem blassen Teint einen gespenstischen Ausdruck, über das auch das Grinsen nicht hinwegtäuschen konnte, das in sich zusammenbrach, sobald sie mich erblickte. Zuerst erstarrten ihre Züge, dann sanken ihre Mundwinkel hinab. „Was ist passiert, Eli?“, fragte sie und streckte eine Hand nach mir aus, um mich an sich zu ziehen.

„Nichts, ich habe nur … ich habe … ich glaube, ich habe mich verliebt.“ Nein, das glaubte ich nicht. Ich wusste es. Ich hätte nicht mit Vito schlafen wollen, wenn ich diese Gefühle nicht für ihn gehabt hätte. Es war nicht geplant gewesen. Eigentlich hatte ich alles getan, um mich nicht zu verlieben, immerhin war ich mit einem Auftrag an die Akademie gekommen, aber dann … Er war so unglaublich gewesen. Zuvorkommend, charmant, liebevoll. Im Nachhinein hätte mir klar sein müssen, dass es nur gespielt war. Dass er sich nur über mich lustig machte. Wieso hätte er auch mich nehmen sollen, wenn er Frauen wie Destiny haben konnte?

„Das sollte etwas Schönes sein“, hauchte Tante Grace, doch ihr Ton machte klar, dass sie ahnte, was als Nächstes kommen würde. Statt mich zu verurteilen und mir unter die Nase zu reiben, dass sie es von Anfang an besser gewusst hatte, legte sie ihre Arme um mich und drückte mich fest an ihren Körper. Sie roch unglaublich vertraut, nach Zuhause. Erst jetzt merkte ich, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Ich hatte mein ganzes Leben mit ihr verbracht. Ein gutes Leben. Eines, das ich wegen ein paar Antworten weggeworfen hatte, die nur noch mehr Fragen aufgedeckt hatten. Was hatte mir das gebracht? Kopfschmerzen und ein gebrochenes Herz. Kein besonders guter Deal. Doch ich konnte es nicht mehr ändern und musste das Beste aus der Situation machen. Aber das hatte Zeit. Zuerst wollte ich mich nur wie eine Kugel zusammenrollen und den Schlaf nachholen, den ich in letzter Zeit versäumt hatte. Auch Tante Grace sah aus, als könnte sie eine ruhige, sorglose Nacht vertragen.

„Nein, ist es nicht. Es ist furchtbar. Er ist ein Arschloch!“ Wieder schluchzte ich und schmiegte meine Wange an die Stelle, an der Grace´ Schulter in ihren Hals überging. Tief sog ich ihren Geruch in mich ein und ließ mich in die Umarmung fallen. Dabei fielen ein paar meiner Tränen auf ihre Haut, doch sie beschwerte sich nicht darüber.

„Oh nein, Eli!“ Tante Grace presste mich ein letztes Mal an sich, bevor sie mich an den Schultern packte und wie eine Puppe ein Stück von sich wegschob, um mich genauer in Augenschein nehmen zu können. Dabei fehlte mir auf den ersten Blick nichts. Ich war unverletzt. Körperlich zumindest. Innerlich … na ja, das Leben musste weitergehen und irgendwann musste ich das Chaos in mir ordnen. Angefangen bei meinen Gefühlen für Vito bis zu meiner Verwirrung bezüglich des Kindes, das Tante Grace angeblich vor mir geheim hielt. Doch das hatte Zeit. Ich war gerade erst gelandet und noch roch die Kleidung in meinem Koffer nach der Akademie. Erst wenn sich dieser Umstand geändert hatte, musste ich mich damit auseinandersetzen, dass die Welt sich weiterdrehte und ich mich nicht ewig in meinem Zimmer einigeln konnte.

„Ich will nach Hause!“, hauchte ich leise und biss mir auf die Unterlippe, damit das ständige Zittern ein Ende fand. Leider klappte es mehr schlecht als recht. Stattdessen begannen auch noch meine Zähne zu klappern.

Grace nickte zustimmend und ihr Blick wurde, wenn möglich noch trauriger. „Natürlich!“ Sie schnappte sich meinen Koffer, hob ihn an und setzte sich eilig in Bewegung. Gemeinsam verließen wir die große Halle des Flughafens und traten auf den Parkplatz zu dem alten Wagen, der an derselben Stelle stand wie vor ein paar Monaten, als Grace mich hergebracht hatte, damit ich zur Akademie fliegen konnte. Es kam mir vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.

„Steig ein!“, forderte Tante Grace, öffnete zuerst die Beifahrertür, damit ich mich in den Wagen setzen konnte, und verstaute meinen Koffer anschließend auf der Rückbank, ehe sie auf der Fahrerseite Platz nahm. Wortlos kramte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Schlüssel und warf die Tasche in den Fußraum des Beifahrersitzes. Sie startete den Motor, stellte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke. Souverän lenkte sie den Wagen auf die Straße und den Weg hinunter. Sie trat fester aufs Gaspedal, änderte den Gang und beschleunigte, bis wir den Asphalt Richtung nach Hause folgten. Mit jedem Zentimeter, dem wir uns vom Flughafen entfernten, wurde mein Herz schwerer. Es fühlte sich an, als würde ich mich immer weiter von Vito entfernen, und obwohl ich genau das wollte, war es gleichzeitig schmerzhaft.

„Was genau ist passiert?“, fragte Tante Grace irgendwann, als der Flughafen im Rückspiegel nicht einmal mehr zu sehen war. Sie beendete damit die Stille, die zwischen uns herrschte und uns wie ein Mantel einhüllte. Sie war süß und bitter zugleich. Früher hatte ich es genossen, einfach neben Grace zu sitzen und zu schweigen, doch mittlerweile lagen zu viele unausgesprochene Dinge zwischen uns. Zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Wer war mein Vater? Wo war Tante Grace´ Kind? Waren Vito und ich Geschwister? Wovor hatten alle solche Angst? Brown? McQueen? Grace? Jedoch sprach ich keine der Fragen aus. Stattdessen suchte ich nach einer Antwort, die zumindest Grace befriedigen würde. Was war an der Akademie passiert? Ich hatte mich verliebt, jemandem mein Herz geschenkt und er hatte es mit Absicht auf den Boden geworfen, war darauf herumgesprungen und hatte erst damit aufgehört, als der blutige Klumpen Fleisch nicht einmal mehr gezuckt hatte.

„Vito Perez!“, flüsterte ich, weil ich die Metapher mit dem blutdurchtränkten Fußboden und dem zerrissenen Muskel nicht laut aussprechen wollte. Es reichte, dass ich mich naiv und dumm fühlte. Tante Grace sollte mich nicht auch dafür halten. Außerdem erklärte Vito alles, oder nicht? Er war für das Leid verantwortlich, das meinen Brustkorb durchzog, und für die Verwirrung in meinem Kopf, weil er anscheinend … eventuell … … vielleicht … unter Umständen mein Bruder war. Alle Fäden führten zu Vito oder besser gesagt zu seiner Familie.

„Was? Wer?“ Tante Grace´ Blick war starr durch die Windschutzscheibe auf den Verkehr gerichtet, während sie den Blinker betätigte und die Spur wechselte. Sie legte den nächsten Gang ein und fuhr noch schneller, als könnte auch sie es nicht erwarten, endlich wieder mit mir zu Hause - in Sicherheit - zu sein.

„Vito Perez. Er und ich, wir haben … Egal! Es ist vorbei.“ War es das wirklich? Ich wusste es nicht. Er hatte gelogen, mich zum Gespött gemacht und alles in den Dreck gezogen, was wir gehabt hatten, weil er nicht ehrlich zu mir gewesen war. Nicht am Anfang und auch nicht am Ende. Nein, es hatte erst Perry gebraucht, damit ich erfuhr, welche widerlichen Spielchen im Hintergrund gespielt wurden. Dabei war ich eine der Mitspielerinnen gewesen, ob ich wollte oder nicht. Alles in mir schrie danach, ihn zu vergessen und nie wieder an ihn zu denken, doch … ich schaffte es nicht. Er beherrschte meine Gedanken. Ständig geisterte er in meinem Kopf herum und es gelang mir nicht, ihn in irgendeine Ecke zu verbannen. Wie auch? Er war ständig präsent. Selbst wenn ich nicht an mein Liebesdrama denken wollte, kam ich immer wieder auf ihn, weil ich dann zwangsläufig an meine Eltern dachte und an Damon Perez, der ein wachsendes Mysterium war. Er hatte meiner Familie so viel zugemutet. Wieso das alles?

„Was hat er dir angetan?“ Grace sah von der Straße zu mir und wieder zurück. Ihr Blick wurde forschend. Ein besorgter Unterton mischte sich in ihre Stimme. Sie zog die Augenbrauen zusammen und nahm die Hand vom Schaltknüppel, um sie mir stattdessen auf den Oberschenkel zu legen. Beruhigend strich sie über mein Bein. Zuerst war mir nicht klar, wieso sie das tat, bis ich selbst die Tränen spürte, die kochend heiß wie Feuer meine Wange hinunter brannten.

„Nichts! Wahrscheinlich bin ich selbst schuld.“ Das war ich doch, oder nicht? Ich hätte es besser wissen müssen. Verdammt, ich hatte es besser gewusst! Von Anfang an hatte ich mich gefragt, warum Vito mich behandelte, als wäre ich etwas Besonderes. Doch ich hatte mir eingeredet, dass ich für ihn wirklich die Eine war, die ihm half zu erkennen, wie wichtig Gefühle waren, und dass das Image am Ende des Tages niemanden glücklich machen kann, wenn man ständig allein war. Ich dachte wirklich, er würde mich mögen. Dass wir zusammen glücklich werden würden. Wann war ich derart naiv geworden? Hatte ich mich so sehr nach jemandem gesehnt, der mit mir diese Schlacht schlug und mir half, die Wahrheit ans Licht zu bringen, dass ich ihm so leicht aus der Hand gefressen hatte?

„Bist du nicht! Egal, was du getan oder was du gesagt hast. Solange du nicht einverstanden warst und du das – wie auch immer – geäußert hast, ist es nicht deine Schuld gewesen. Lass dir das von niemandem einreden, Eli!“ Die Stimme meiner Tante wurde lauter. Vehement. Sie sagte es mit einem Selbstbewusstsein, das keinen Widerspruch zuließ. Tadelnd sah sie mich an und stieg ein wenig vom Gaspedal, um keinen Unfall zu verursachen. Ein bekümmerter Schatten huschte über ihr Gesicht. Trauer machte sich in ihren Augen breit.

„Er hat um meine Jungfräulichkeit gewettet, aber er hat aufgehört, als ich es wollte“, hauchte ich und starrte Tante Grace mit offenem Mund an. Was? Dachte sie, Vito hätte … Nein! Absolut nicht! Er … er hatte mich nie angefasst, wenn ich es nicht gewollt hatte. Machte ihn das zum besseren Menschen? Nein, es machte ihn überhaupt erst menschlich. Respekt und Anstand waren Grundvoraussetzung, das absolute Minimum und nicht, was man positiv hervorheben musste. Zumindest sollte es so sein, doch Tante Grace´ Gesicht verriet, dass es keine Selbstverständlichkeit war, dass Vito mich nicht einfach gepackt hatte und … Ich schauderte bei der Vorstellung. Sicher, ich hätte gern mit Vito geschlafen, aber doch nicht so. Wie konnte sie annehmen, er würde … Nein, natürlich dachte sie daran. Wie auch nicht? Er war ein Perez und wäre nicht der Erste dieser Familie, der Frauen vergewaltigte.

„Oh!“ Überrascht weiteten sich Grace´ Augen. Sie leckte sich über die trockenen Lippen und zog die Hand von meinem Oberschenkel, um sie wieder an das Lenkrad zu legen und erneut die Spur zu wechseln. „Das …“ Sie stieß ein nervöses Lachen aus, das mir eine Gänsehaut bescherte, und rang nach den richtigen Worten. „Er … er ist ein Arschloch!“

„Ja!“ Langsam nickte ich und überspielte damit die eigenartige Stimmung, die sich zwischen uns ausbreitete. Vito war nicht wie sein Vater, oder etwa doch? Nein, er war immer liebevoll zu mir gewesen. Er hatte sanft über meine Haut gestreichelt und … ein Wimmern verließ meinen Mund, als die Erinnerungen mich überschwemmten. Es hatte sich gut angefühlt, fantastisch. Vito hatte genau gewusst, wie er mich berühren musste, damit ich mich ihm entgegenstreckte und nichts lieber wollte, als mir die Kleider vom Leib zu reißen. Ich sollte nicht daran denken, mich nicht danach sehnen, dass es wieder passierte, aber ich wollte es. Schon die Erinnerung seiner Berührungen auf meinem Körper ließen mein Herz schneller schlagen. Dabei war es falsch. Schon beim ersten Mal war es das gewesen. Er war … mein Bruder.

„Du mochtest ihn?“ Die Falten auf Grace´ Stirn vertieften sich, dafür verschwand jedoch ihr kreidebleicher Teint. Erleichterung wanderte über ihre Züge, auch wenn ihre Muskeln um ihre Mundwinkel angespannt blieben und weiterhin ihre Besorgnis ausdrückten.

„Ja!“ Mögen? Wenn es nur so einfach gewesen wäre. Ich mochte Trixie, Bea, Perry, selbst Rider. Sie alle waren sympathisch und auf ihre Weise einzigartig und besonders, aber Vito war mehr als das. Er hatte etwas in mir berührt und damit meinte ich nicht nur den empfindlichsten Punkt in meinem Inneren, als er mich gefingert und geleckt hatte. Nein, er hatte nach meinem Herz gegriffen und es sich gekrallt. „Eigentlich tue ich das immer noch.“ Das war das Schlimme daran, nicht wahr? Er hatte gewettet, mit meinen Gefühlen gespielt und ich war trotzdem bis in beide Ohren in all seine geflüsterten Liebesschwüre verliebt. Warum gab es dafür niemanden, der ihn zur Rechenschaft zog? Es sollte verboten sein, so auf den Emotionen anderer Menschen herumzutrampeln.

Grace seufzte tief. Der Ton bestand aus einer Mischung aus Frustration, Verbitterung und Resignation. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, statt ihre Gedanken auszusprechen. Stattdessen überlegte sie einen Moment und trat erneut fest aufs Gaspedal. „Wie wäre es damit. Ich bestelle Pizza und wir setzen uns vor den Fernseher, um uns einen Liebesfilm nach dem anderen anzusehen und uns zur Krönung den Eisbecher gönnen, der in der Gefriertruhe wartet?“ Grace wandte mir ihr Gesicht zu und hielt dabei das Lenkrad gerade. Wieder zierte ein falsches Grinsen ihre Züge, doch ich war dankbar, dass sie sich Mühe gab. Denn es funktionierte. Automatisch fühlte ich mich weniger allein, wenn ich bei ihr war.

„Ja.“ Ich zog einen Mundwinkel an und versuchte mich unter Tränen an einem schiefen Lächeln. Essen war noch immer die Problemlösung Nummer eins für meine Tante, aber verdammt, genau das war es, was ich jetzt gebrauchen konnte. Jede Menge Zucker, Paare, die sich auf kitschigste Weise die Liebe gestanden und Kissen, an die ich mich kuscheln konnte. Vielleicht würde mich das auf andere Gedanken bringen und ich konnte mir kurz vorstellen, dass alles so war wie früher, als ich den Namen Damon Perez nicht einmal gekannt hatte. „Danke, Tante Grace!“

***

„Willst du noch einen letzten Film sehen? Ich kann aber nicht versprechen, dass ich währenddessen nicht einschlafe.“ Tante Grace´ letztes Wort ging in einem Gähnen unter, als sie die Arme nach oben streckte und ihren Körper dehnte. Ein Krachen erklang, als ihre Wirbelsäule sich wieder zu voller Größe aufrichtete, und zeigte uns, dass wir schon viel zu lange im Bett von Tante Grace lagen und fernsahen. Ich hatte zwischendurch den Überblick verloren, wie viele Filme wir uns schon angesehen hatten, aber seitdem sie mich vom Flughafen abgeholt hatte, waren einige Tage vergangen und alle liefen gleich ab. Wir wachten bei Grace im Bett auf, frühstückten im Schlafzimmer, nachdem irgendwer Essen geholt hatte und wiederholten alle Schnulzen der letzten dreißig Jahre, bis uns entweder wieder die Augen zufielen oder unser Magenknurren uns daran erinnerte, dass wir uns nicht von Eiscreme und Chips zwischendurch ernähren konnten. Gerade lief der Abspann von Dirty Dancing und erinnerte mich daran, dass die heutige Musik nicht mehr mit der von früher mithalten konnte. Vielleicht wartete ich deshalb bis zum letzten Ton ab, bis auch ich mich aus meiner Burg aus Decken und Kissen regte und aufstand. Meine Glieder fühlten sich wie Wackelpudding an. Nicht weich und gleichzeitig nicht fest. Dennoch ging ich zielstrebig auf den DVD-Player zu und zog die Disk aus dem Gerät, um sie in die Verpackung zurückzustecken und sie wieder in die Schublade zu schmeißen, in der Grace all ihre DVDs aufbewahrte. Blind zog ich dafür die nächste Verpackung heraus. Roadhouse. Schön, es schien, als hätte Grace ein Faible für Patrick Swayze gehabt. Das störte mich allerdings nicht.

„Kommt drauf an: Haben wir noch Taschentücher?“, fragte ich mit einem breiten Grinsen und wischte mir die letzten Tränchen von der Wange, die ich vergossen hatte, als Johnny endlich zu Baby stand und Baby im Gegenzug nicht mehr vor ihrer Familie kuschte. Sie hatten gemeinsam allen Widrigkeiten getrotzt und waren gestärkt als Paar aus der Vergangenheit hinausgegangen. Na ja, zumindest verkaufte der Film eine Illusion, denn ich glaubte nicht, dass ihre Beziehung danach lange gehalten hatte. Sie waren unglaublich verschieden und hatten sich in den Ferien kennengelernt. Keiner wusste, wie das gemeinsame Leben, der Alltag miteinander werden würde. Darüber durfte ich jedoch nicht lange nachdenken, sonst würde es mir den Film zerstören. Lieber wollte ich glauben, dass alle Paare für immer glücklich waren.

Grace lachte und rollte sich vom Bett, um auch ihre Beine zu lockern. Dabei umwehte ihr Pyjama ihre dünne Silhouette. Sie hatte abgenommen seit ich weggegangen war. Nicht viel, aber sie hatte schon davor kaum Gewicht. Wenigstens waren in den letzten Tagen die tiefen Ringe unter ihren Augen verschwunden. „Sicher, in der obersten Schublade im Wohnzimmer.“

Dankbar nickte ich, machte mich auf den Weg zur Tür und schlenderte anschließend den Gang hinunter zum Wohnzimmer, das noch von der Deckenlampe erhellt wurde. Verdammt, ich hatte wohl vergessen sie abzudrehen, nachdem ich das dreckige Geschirr in die Küche gebracht hatte. Die Teller und Gläser stapelten sich immer noch neben der Spüle. Wahrscheinlich hätte ich den Abwasch erledigen sollen, doch lieber peilte ich die Schublade an und lief zielstrebig darauf zu. Ich zog sie auf und … hielt inne. Ich hatte mit drei oder vier Packungen gerechnet, aber nicht … damit.

„Hast du sie gefunden?“, ertönte Grace´ Stimme, während ich mit einer Hand über all die Verpackungen strich, in denen die Taschentücher darauf warteten, benutzt zu werden. Wie viele das wohl waren? Zwanzig? Dreißig? Wofür brauchte sie Tante Grace? Hatte sie so oft geweint, als ich weg war? Nein, wir hatten auch früher schon viele davon im Haus gehabt, wenn auch nicht in so extremen Mengen. Früher hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, aber jetzt?! Brauchte Grace sie alle, weil sie oft an früher dachte? Daran, was alles geschehen war?

„Tante Grace?“ Wie gebannt starrte ich in die Schublade. Das waren viele Taschentücher. Verdammt viele. Sie war, seit ich wieder zu Hause war, nicht ein einziges Mal einkaufen gewesen, also mussten sie schon eine Weile hier liegen. Wer brauchte einen so großen Vorrat an Taschentüchern? Oder interpretierte ich mehr in die Situation, als es war? Hatte sie die nur gekauft, weil sie Geld sparen und die Taschentücher gerade im Angebot gewesen waren? Wieso hatten die Verpackungen dann unterschiedliche Marken und Farben? Weil sie viel weinte. Diese Tatsache stand außer Frage. Wie oft hatte sie eine offene Nase, weil sie mehrfach geputzt hatte, und rot geäderte Augen? Sie hatte immer behauptet, sie hätte gerade einen traurigen Film gesehen. Aber das stimmte nicht. Sie weinte nicht wegen einer fiktiven Geschichte. Hatte ich ihr als Kind zu früh geglaubt? Hatte ich zu wenig hinterfragt? War ich zu naiv gewesen? Wahrscheinlich, doch das musste ein Ende haben. Ich hatte meine Ruhe bekommen und sie genossen, aber ich hatte in den letzten Tagen auch mein Ziel aus den Augen verloren. Ich musste mit Grace sprechen. Das hatte ich Trixie versprochen.

„Ja?“ Schritte erklangen. Grace folgte mir ins Wohnzimmer. Noch immer hörte sie sich fröhlich an. Genau wie ich genoss sie die gemeinsame, sorglose Zeit, die viel zu schnell ihr Ende finden würde. Doch ich konnte mich nicht länger davor drücken. Bald wären die Ferien vorbei und dann würde ich wieder an die Akademie zurückkehren. Das war ich Trixie und Bea schuldig, die inzwischen alle Möglichkeiten durchgingen, um an die verschwundenen Jahrbücher zu kommen.

„Warst du schwanger?“ Meine Stimme hörte sich an wie das Krächzen eines Raben. Kaum noch menschlich und viel zu undeutlich, um es zu verstehen. Dennoch war ich froh, dass ich überhaupt irgendwas über die Lippen brachte. Ich wollte nicht, dass Grace traurig wurde oder wir uns wieder stritten, aber ich brauchte diese Antworten. Mehr denn je. Die Ungewissheit, ob mein eigener Bruder Gefühle in mir wachrief, die nicht sein durften, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in meinem Mund, den ich nicht loswurde. Es schmeckte, als hätte ich die ganze Zeit über Erbrochenes im Mund. Ich räusperte mich. „Warst du schwanger?“, wiederholte ich. Diesmal lauter, deutlicher.

Grace stockte in der Bewegung. Die regelmäßigen Geräusche ihrer Schritte verstummten kurzfristig, ehe sie wieder einen Fuß vor den anderen setzte. „Warum fragst du mich das?“ Tante Grace trat neben mich, schnappte sich zwei Päckchen Taschentücher und schloss die Schublade. Mit mehr Wucht als es benötigt hätte. Das lackierte Holz gab einen leisen Knall von sich, während meine Tante sich umdrehte und sich gegen den Kasten lehnte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Etwas, das sie sonst nie tat. Sie nannte es eine klassische Abwehrhaltung. Sie machte sich bereit für einen Kampf. Gegen mich.

„Ist das ein Ja?“ Ich bemühte mich, meine Stimme unverfänglich klingen zu lassen und zeitgleich zu lächeln, um sie ein wenig zu beruhigen. Ich wollte nicht ihre Feindin sein. Auf gar keinen Fall. Sie war meine Familie, die einzige, die ich noch hatte. Wir sollten zusammenhalten, aber das ging nicht, wenn sie nicht ehrlich zu mir war. Wenn sie einfach mit mir sprechen würde, dann wäre ich vielleicht nicht blauäugig genug gewesen, mich auf Vito einzulassen.

Grace´ Miene wurde ausdruckslos. Eine steinerne Maske legte sich über ihr Gesicht, die mich nicht einmal erahnen ließ, was sie dachte. Nur ihre Augen, die mich stürmisch musterten, zeigten, dass die Gedanken in ihrem Kopf rasten. „Ja!“

„Von wem?“ Einem Professor? Damon Perez? Jemand anderem? Wieso wurde dieses Kind totgeschwiegen, wenn es offensichtlich existierte? Und wo war es? Beim Erzeuger? Wieso war es nicht hier? Bei Tante Grace und mir?

„Ist das wichtig?“ Grace legte den Kopf schief. Der Sturm in ihren Augen wütete weiter. Blitze durchzogen ihre Iriden und ich konnte den Donner praktisch hören, der dem Gewitter folgte. Sie blinzelte mehrmals gegen die Tränen an und schaffte es, sie zurückzuhalten. Noch!

„Ist das Kind bei ihm? Dann schon.“ Nun verschränkte auch ich meine Arme vor der Brust. Sie wich mir aus und beantwortete meine Fragen kaum. Ihre Sätze waren knapp, als hätte sie Angst, dass jedes Wort ein falsches sein könnte und ich mehr erfuhr, als ich sollte. Dabei hatte ich ein Recht darauf, alles zu wissen. Es ging um meine Familie, verflucht!

„Nein, ist es nicht!“ Grace schüttelte den Kopf und richtete sich ein Stück weiter auf, bis sie kerzengerade stand. Sie atmete flach, sodass sich ihr Brustkorb kaum noch hob und senkte. Es war fast, als würde sie die Luft anhalten. Wahrscheinlich tat sie das auch in der Hoffnung, sie würde umfallen, statt meine Fragen beantworten zu müssen.

„Wurdest du vergewaltigt? Dachtest du deshalb, Vito hätte gegen meinen Willen etwas getan?“ Meine Stimme wurde lauter, ohne dass ich es wollte, aber die Vorstellung ließ mich innerlich erzittern. Ich wollte nicht, dass ihr jemand etwas angetan hatte. Niemand sollte irgendwelche Traumen durchleiden und Grace hatte sich immer um mich gekümmert. Es war ungerecht, dass es ausgerechnet sie getroffen hatte und sie nun lieber versuchte, selbst mit den Erinnerungen fertigzuwerden, nur um mich nicht zu belasten. Ich war kein Kind mehr. Verflucht, ich war so alt wie Carlotta es gewesen war, als sie … starb! Sich umbrachte. Ihr Leben beendete, weil ihr dasselbe zugestoßen war wie Tante Grace. Mir wurde schlecht. Es hätte Grace sein können. Wenn sie anders mit der Situation umgegangen wäre, dann hätte sie diejenige sein können, die von irgendeinem Dach springt, nur um nicht mit den Albträumen leben zu müssen, die im Grunde keine Träume, sondern Erinnerungen waren. Dann hätte ich sie niemals kennengelernt. Sie wäre einfach nicht mehr da gewesen. Wie Mum und Dad. Ich schluckte schwer. Das Blut wich aus meinen Wangen und eine eisige Kälte machte sich in mir breit. Dann wäre ich nun mutterseelenallein gewesen mit meinen Fragen. Aber war es jetzt viel anders? Grace sprach nicht mit mir. Mit niemandem. Alle hatten sich anscheinend darauf geeinigt, dass niemals etwas passiert war, obwohl Menschen gestorben waren.

„Gott, Eli!“ Grace seufzte schwer. Ihr Mund klappte auf. Sie schüttelte den Kopf und wurde noch blasser. Der Sturm in ihren Augen nahm wieder Fahrt auf. Erneut zog sich ein Blitz durch ihre Iriden und diesmal mischten sich große Wassertropfen dazu, als würde es zu regnen beginnen. Tränen schossen ihr in die Augen und nun half ihr auch kein Blinzeln mehr, um sie zurückzuhalten. „Was ist an dieser Akademie passiert?“

„Du weichst meiner Frage aus!“ Und ich ihrer, doch ich tat es nicht absichtlich. Ich hatte ihr nur alles gesagt, was es zu sagen gab. Vito hatte mein Herz mit Füßen getreten. Ende der Geschichte. Sie musste nicht wissen, dass ich beinahe mit ihm geschlafen hätte und erst sein bester Freund dafür gesorgt hatte, dass wir es nicht wie Karnickel getrieben hatten.

„Vielleicht wäre es doch besser ins Bett zu gehen.“ Grace stieß sich vom Kasten ab und entfernte sich ein Stück von mir, um in Richtung des Schlafzimmers zu fliehen, dessen Tür noch sperrangelweit offen stand. Stimmen drangen aus dem Inneren, was zeigte, dass Grace den nächsten Film bereits gestartet hatte. Sie hatte nicht mit diesem Gespräch gerechnet. Schuldgefühle stiegen in mir hoch, die noch durch das Schluchzen verstärkt wurden, das Grace von sich gab.

Ich folgte ihr die wenigen Meter bis zum Flur und unterdrückte selbst die aufsteigenden Tränen, die in meinen Augen brannten. Ich hätte jetzt gut eines der Taschentücher gebrauchen können, doch die hielt meine Tante immer noch in der Hand und zerquetschte die Verpackungen in ihren Händen. „Nein, bitte! Ich brauche Antworten, Tante Grace. Ich habe so viele Fragen. Warum bist du aus der Akademie verschwunden? Wieso hast du gelogen, als ich dich nach Professorin McQueen gefragt habe? Wer hat meine Eltern getötet? War es nur ein Unfall? Was hat Damon Perez mit Mum gemacht? Hat er sie …“

„Stopp, Elizabeth!“ Schwungvoll drehte sich Grace zu mir um. Ihr Ton war harsch und laut. Sie schrie mich an, während ihr gleichzeitig die ersten Tränen über die Wangen liefen. Tief atmete sie durch, sah zu Boden, um sich zu sammeln und schaute dann erst wieder in mein Gesicht. Als sie diesmal den Mund öffnete, war ihre Stimme leiser, beherrschter, doch das Leuchten ihrer Augen verriet, dass die Blitze nun schnell hintereinander folgend einschlugen und die gesamte Zeit die Dunkelheit erhellten. „Ich weiß, dass die Situation für dich nicht leicht ist. Aber vertrau mir, wenn ich sage, dass du am sichersten bist, wenn du nicht alles weißt. Damals waren es schwierige Zeiten. Wir haben alle Dinge getan, auf die wir nicht stolz waren und …“ Ein Schluchzen zog sich durch Grace´ Körper. Sie schauderte, erbebte und krümmte sich vor seelischem Schmerz. Sie hatte wohl eine schlechte Entscheidung getroffen, doch sie ging nicht darauf ein, was genau sie getan hatte. „… und jeder von uns hat dennoch sein Bestes versucht. Wir wollten immer nur, dass du glücklich bist. Ihr alle.“ Grace´ Blick verdunkelte sich. Die Blitze verflüchtigten sich. Finsternis breitete sich in ihren Augen aus. Sie wurde begleitet von einer Schwere, die nur die Vergangenheit mit sich bringen konnte. Tränen perlten über Grace´ Wange. Sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie krallte ihre Finger fester in das Plastik der Taschentuchverpackung und wich wieder meinem Blick aus. „Ich will nicht mehr darüber reden, Eli. Es tut mir leid!“, hauchte sie, machte erneut kehrt und ging dieses Mal schneller. Sie floh. Vor mir, den Fragen, der gesamten Situation. Vor der Wahrheit. Ich wollte sie gehen lassen. Sie war meine Tante und ich liebte sie. Auf keinen Fall wollte ich, dass sie litt. Sie verdiente Besseres. Vielleicht war es egoistisch von mir, sie dennoch mit Fragen zu bombardieren, aber ich konnte nicht aufhören. Nicht, wenn mich die Unwissenheit zerfraß. Der Umgang mit Vito war bereits schwer genug, auch ohne die ungeklärte Verwandtschaftssituation. Ich konnte mich nicht mit ihm auseinandersetzen, solange ich nicht wusste, ob er mein Bruder war.

„Sind meine Eltern wirklich meine Eltern? Oder bin ich eigentlich eine Perez?“ Wollte ich es überhaupt wissen? Ja, ganz sicher sogar. Aber was, wenn mir die Antwort nicht gefiel? Im Moment wusste ich nicht einmal, welche ich hören wollte. Dass Damon Perez mein Erzeuger war und aus Vito und mir ohnehin niemals etwas geworden wäre? Oder dass Vito und ich keine Geschwister waren und wir dennoch nicht zusammenkommen würden, weil ich Vito nicht mehr bedeutete als eine Flasche Scotch, die er bei einer Wette gewinnen konnte?

Grace erstarrte erneut. So abrupt, dass sie beinahe über ihre eigenen Füße fiel. „Meine Schwester hat dich geliebt. Mehr als alles andere auf der Welt!“ Wieder keine genaue Antwort. Ihre Liebe schloss eine Verwandtschaft mit der Familie Perez nicht aus. Es gab auch Adoptiveltern, die ihre Kinder liebten. Ein Kind zu zeugen war am Ende des Tages immerhin etwas anderes, als ein Elternteil zu sein. Um eine Mutter oder ein Vater zu sein, brauchte es mehr, als Sperma in ein Loch zu spritzen. Grace hatte mir das immer gesagt, als ich ein Kind gewesen war und gerade meine Eltern verloren hatte. Sie meinte, sie würde mich lieben wie eine Mutter, ob ich nun von ihr abstammte oder nur ihre Nichte war. Sie hatte mir damit das Gefühl gegeben, einen Ort zu haben, an den ich gehörte. Zu ihr. Doch genau dieses Gefühl fehlte nun. Es war, als hätten ihre Geheimnisse eine unsichtbare Mauer zwischen uns hochgezogen, die ich unmöglich einreißen konnte. Nicht ohne ihre Hilfe.

„Das beantwortet nicht meine Frage.“ Das Brennen in meinen Augen wurde stärker. Mein Herz lag bereits in Bruchstücken vor mir, doch das schien der Realität nicht zu genügen. Nein, irgendwer hatte nun auch noch einen Vorschlaghammer genommen und schlug damit auf alle Scherben ein, bis nur noch Splitter davon übrig waren. Wieso antwortete sie mir nicht? Was machte ihr solche Angst, dass sie es nicht einmal aussprechen konnte?

„Habe ich einen Cousin oder eine Cousine? Sag mir wenigstens das!“, flehte ich und trat noch näher auf sie zu, bis ich einen Arm auf ihre Schulter legen konnte. Grace schüttelte sie jedoch augenblicklich ab und wich mir aus, damit ich sie nicht berühren konnte. Sie schlang die Arme um sich, als wäre ihr kalt und sie müsste sich vor den eisigen Temperaturen schützen. Dabei war es angenehm warm im Wohnzimmer und auch im Rest des Apartments.

„Du hättest eine Cousine gehabt, Eli. Aber das Kind ist tot!“ Grace´ Lippen bewegten sich wie mechanisch, während ihr die Tränen die Wange entlangliefen. Eine nach der anderen, bis es so viele waren, dass ihr ganzes Gesicht glänzte. Ihre Stimme klang tonlos. Das Leuchten in ihren Augen erstarb. Der Sturm legte sich. Selbst die Regentropfen verschwanden. Die Dunkelheit verschlang jedes Leuchten, jedes Schattenspiel und ließ nichts mehr übrig. Keine Emotionen oder Gefühle. Es war einfach dunkel und leer. Genauso wie Grace sich fühlen musste.

„Tot?“ Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Das jedoch nicht. Bisher hatte ich wirklich angenommen, dass ein Junge oder ein Mädchen in meinem Alter irgendwo auf dieser Welt war und Grace zum Verwechseln ähnlich sah. Doch das war vermutlich wieder naiv von mir gewesen. Noch immer glaubte ich daran, dass gute Dinge geschahen. Dabei sollten die letzten Monate mich eines Besseren belehrt haben.

„Es war ein Unfall. Ich habe das Kind verloren!“ Grace schluchzte nicht. Kein Schniefen war zu hören und auch kein Wimmern. Sie blieb stumm. Nur die wenigen Worte kamen monoton aus ihrem Mund. Sie lockerte die Finger um die Taschentuchverpackungen, bis das Plastik durch ihre Hand rutschte und auf den Boden fiel, wo sie liegen blieben. Grace machte sich nicht die Mühe, sie aufzuheben. Wie zur Salzsäure erstarrt, stand sie auf dem Flur und weinte stumm.

„Tante Grace, ich …“ Ich schluckte den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte und immer größer wurde, bis er von innen stark gegen meine Speiseröhre drückte und ich kaum noch atmen konnte, ohne den Sauerstoff gierig in meine Lungen zu ziehen und wiederholt nach Luft zu schnappen. „Es tut mir leid!“ Das tat es wirklich. Daran wollte ich sie bestimmt nicht erinnern. Ich dachte immer, das Schlimmste, das einer Frau passieren konnte, wäre es, vergewaltigt zu werden, aber ich hatte mich geirrt. Schlimmer war es, das eigene Kind zu Grabe tragen zu müssen. Grace hatte diese Erfahrung gemacht, auch wenn ich nicht wusste, wieso. Ich fragte aber auch nicht. Das Kind war tot. Einzelheiten waren unwichtig, nicht wahr?

„Eli, damals sind viele Dinge geschehen und nicht alle Beteiligten haben sie unbeschadet überstanden. Nichts davon ist jedoch von Bedeutung. Nicht mehr. Das Einzige, das zählt, ist, dass du dich von diesen Menschen an der Akademie fernhältst. Dein Leben hängt davon ab!“ Bettelnd sah Grace mich an. Sie wollte mich nicht verlieren. Jetzt konnte ich das besser verstehen als je zuvor. Sie hatte schon zu viele Verluste ertragen müssen. Ihr Kind, ihre Schwester, ihren Schwager, … Sie waren alle gestorben. Ich war alles, was sie noch hatte. Ich war der Grund, warum sie schlussendlich doch eine Mutter geworden war.

„Mein Leben?“, echote ich und starrte meine Tante verwirrt an. Wieso sagte sie das? Waren wir in Gefahr? Sprach deshalb niemand von früher? Weil meine Eltern von den Geschehnissen geredet hatten und gestorben waren? Brachten die Verantwortlichen von damals auch heute noch Menschen um, die zu viel wussten? „Grace, wovon sprichst du?“

„Damon Perez ist kein guter Mensch. Er ist kein guter Vater und jeder Mann, der von ihm großgezogen wurde, kann auch keiner sein. Geh seinem Sohn aus dem Weg!“ Grace´ Worte klangen nicht wie ein Vorschlag, sondern wie ein Befehl. Dabei hatte sie früher nie etwas von mir verlangt. Es war ihr immer wichtig gewesen, dass ich meine eigenen Erfahrungen sammeln konnte. Wollte ich auf einen Baum klettern – Sie ließ es zu und fing mich auf, wenn ich hinunterfiel. Hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt mit Rollschuhen den Berg hinabfahren wollte – Sie hatte mir Pflaster auf die Schürfwunden geklebt und mir geholfen aufzustehen, nachdem ich hingefallen war. Doch in dieser Sache ließ sie mir nicht die Wahl, sie gab mir nicht die Chance, selbst zu entscheiden. Nein, sie wollte mir ihre Regeln aufzwingen, um mich zu beschützen. Sogar vor mir selbst.

„Bin ich seine Halbschwester?“ Ich wischte mir mit den Fingerkuppen die Tränen unter den Augen weg. Die Flüssigkeit fühlte sich angenehm warm auf meiner Haut an, dennoch schauderte ich. Ich war müde, erschöpft und wollte nur noch ins Bett. Wahrscheinlich würde ich die Wahrheit heute nicht einmal mehr ertragen, selbst wenn Grace sich endlich überwinden konnte, mir noch mehr zu erzählen.

„Eli …“ Ein entschuldigender Ausdruck mischte sich in Grace´ Züge. Dabei wollte ich nicht, dass es ihr leidtat. Sie hatte nichts getan. Sie war nicht schuldig an dem, was ihr widerfahren war. Da war ich sicher. Wieso versuchte sie ihn für seine Taten zu decken? Warum hatte ihn niemand angezeigt, wenn er meiner Mutter Unmenschliches zugemutet hatte?

„Sag es mir doch einfach!“, drängte ich weiter und hob die Stimme weiter an, bis ich Grace übertönte. Verzweiflung zog sich durch mein Innerstes und vermischte sich mit dem Schmerz, der sich in meiner Brust eingenistet hatte. Er durfte nicht mein Bruder sein. Bitte, bitte nicht! Wir hatten zwar keinen Sex gehabt, aber … wir hatten einiges gemeinsam getan. Er hatte mich berührt wie nie ein Mann zuvor und ich hatte es genossen. Sicher, zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung gehabt, wer er oder eher ich war, doch das machte es nicht besser. Die Vorstellung, dass etwas so Schönes plötzlich falsch war, erschütterte mich. Es war, als hätte ich ein Bild in den verschiedensten Farben gemalt, nur damit es am Ende in einem tristen Schwarz-Weiß zurückblieb.

„Ich will dich nicht als Nächste beerdigen müssen!“ Viel zu laut schrie Grace mir die Worte entgegen und ein neuer Schwall Tränen lief über ihr Gesicht. Unaufhörlich, bis ihre Haut feucht war und das salzige Wasser von ihrem Kinn tropfte. Schock machte sich auf ihrem Gesicht breit, als könnte sie selbst nicht glauben, wie sehr sie die Fassung verloren hatte. Sie wandte sich um und überbrückte die restliche Distanz zum Schlafzimmer.

„Tante Grace!“, rief ich ihr hinterher, aber sie drehte sich nicht mehr um. Stoisch ging sie weiter, bis sie in ihrem Schlafzimmer verschwand und die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Doch das reichte ihr nicht. Gleich darauf hörte ich das bekannte Klacken des Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde. Sie hatte mich ausgesperrt. In mehr als einer Hinsicht. Nicht nur aus ihrem Schlafzimmer, sondern auch aus ihrer Vergangenheit, ihrem Leben. Was zum Teufel war damals passiert? „Tante Grace!“