Leseprobe Wenn wir unser Geheimnis teilen

Prolog

Malcolm

Folge 109
The Ivy Diary
Podcast

»Liebe Nachtschwärmer und Nachtschwärmerinnen, willkommen zu einer neuen Folge von »Ivy Diary« – dem Podcast, der direkt von einer der berühmtesten Unis der Staaten zu euch nach Hause kommt.

Heute will ich über was ganz Bestimmtes mit euch sprechen, denn morgen ist für mich ein besonderer Tag: Meine Freundin und ich feiern Jubiläum, und zwar zweimonatiges.

Zwei Monate sind etwas Besonderes, findet ihr nicht? Man ist über die ersten paar Dates hinaus, man hat längst festgestellt, dass was Großes daraus werden könnte.

Wenn ich ehrlich bin, haben meine Freundin und ich das glaube ich schon an unserem ersten Abend gespürt, und von dem will ich euch jetzt erzählen.

Eigentlich kennen sie und ich uns schon seit einer Ewigkeit. Wir gehen auf dieselbe Uni und sind uns immer mal wieder über den Weg gelaufen. Viel geredet haben wir aber nie, und dafür gibt es einen einfachen Grund: Ich bin ein Nerd.

Nein, eigentlich bin ich der Inbegriff von einem Nerd. Ich bin der Beste in Informatik, ich habe meinen ersten Roboter gebaut, als andere Jungs noch auf Miley-Cyrus-Poster sabberten. Ich bin unsportlich bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus und würde dafür sterben, dass Spiderman im Marvel Universe bleibt.

Und meine Freundin?

Sie ist, ganz ohne Übertreibung, der Inbegriff von Perfektion, und das sehe nicht nur ich so.

Da sind die Dinge, die man auf den ersten Blick erkennt: Sie ist eine wunderschöne Cheerleaderin und ihre Beine sind länger als eine ausgewachsene Tigerpython. Sie ist aber längst nicht nur äußerlich der Hammer.

Als wir einander auf dem Sommerball unserer Uni vorgestellt wurden, trug sie nicht einfach ein Kleid, sondern sie war verkleidet als Titania, die Elfenkönigin. Ich hatte einen Anzug voller Avengers-Motive an. Dass wir aus zwei verschiedenen Welten stammten, war so offensichtlich, als würde man Daenerys Targaryen mit Chewbacca bekannt machen. Ich war hin und weg.

Sie dagegen war hungrig.

Das war so ungefähr das Erste, was sie zu mir sagte, kaum dass wir allein waren.

Hey, hast du auch so einen Hunger?

Also versprach ich ihr, sie nach dem Ball zum besten Ramen-Shop der Stadt zu bringen. Wir liefen übers Unigelände, redeten über Gott und die Welt und ich erfuhr in der guten halben Stunde, die wir unterwegs waren, mehr als genug über sie, um mich auf der Stelle in sie zu verlieben.

Sie kennt abgedrehte Mangas wie Great Teacher Onizuka.

Sie zockt Fortnite – auch wenn sie mir ihren Spielernamen nicht verraten will, weil sie ihn bescheuert findet.

Ihr ist immer kalt, aber vor allem, wenn sie nervös ist. Und das war das Heftigste an der ganzen Sache.

Sie war nervös. Wegen mir. Das ist ungefähr so, als wäre Wonder Woman aufgeregt, weil sie … Okay, Schluss mit den albernen Vergleichen. Ihr wisst schon, was ich meine.

Jedenfalls reichte dieser eine Abend, um mich in sie zu verlieben. Nicht, weil sie in ihrem Herzen genauso ein Geek ist wie ich. Sondern, weil sie eben sie ist.

Weil sie laut spricht, aber leise lacht, irgendwie so, als würde ihr Lachen nur mir gehören. Weil sie sich den Lippenstift abwischt, bevor sie anfängt zu essen – ist so ein Tick von ihr. Weil sie die miesesten Selfies macht, mir aber trotzdem dauernd welche schickt. Ich könnte jetzt hundert Dinge aufzählen, aber …

Ihr wollt bestimmt lieber wissen, wie unser erster gemeinsamer Abend ausging.

Wir waren in dem Restaurant und schon umringt von wütenden Kellnern. Ihr wisst, wie das in guten Ramen-Läden ist, man soll schnell essen und den Platz für die nächsten Gäste freimachen. Ich glaube, es hat nicht mehr viel gefehlt und sie hätten uns mit unseren Suppenschüsseln nach draußen geprügelt.

Schließlich gingen wir freiwillig, und das war gar nicht so schlimm, denn vor dem Laden spielte ein Straßenmusiker.

Das ist noch was, das wir beide gemeinsam haben: Sie liebt Musik. Ich mache Musik. Würde man von mir wahrscheinlich nicht erwarten, wenn man mich sieht. In Wahrheit bin ich aber ganz gut darin, weil ich als Kind zwar keinen Computer hatte, dafür aber eine Gitarre.

Jedenfalls sagte ich ihr, sie soll die Augen zu machen und ging rüber zu dem Straßenmusiker.

Ich glaube, sie dachte, ich will mir einfach nur ein Lied für sie wünschen … und umso überraschter war sie, als es ganz anders kam. Ich sang ihr Lieblingslied für sie, das sie mir schon in dem Ramen-Laden verraten hatte. Ich werde nie vergessen, wie sie …

Sie drehte sich um, ganz langsam, und machte die Augen auf. In dem Moment kam es mir vor, als würde sie sich in Zeitlupe bewegen. Nur sie – die Menschen, die vorbei gingen, nicht.

Ihr Haar wehte im Wind, sie sah mich an und mir wurde eins klar. Sie ist keine Frau, der man ihr Lieblingslied vorsingen sollte.

Sie ist eine Frau, die es verdient, dass man ihr Lieder schreibt.

Diese Art von Frau ist sie. Diese Art von Liebe ist das.

Na ja, und darum habe ich genau das getan. Ich habe einen Song für sie geschrieben und morgen Abend – zu unserem Zweimonatigen – werde ich ihn ihr vorspielen. Dann hoffe ich, dass aus zwei Monaten zwei Jahre werden. Zwanzig Jahre. Zweihundert, wenn wir das irgendwie hinkriegen … ihr wisst schon, was ich meine, oder?

Wie auch immer, bevor ich hier noch anfange, euch unsere imaginären Enkelkinder zu beschreiben – was ich eigentlich fragen will, ist:

Wollt ihr ihn schon mal hören?«