Leseprobe Wenn ich deine Wahrheit kenne

Kapitel 1

Berkeley, Kalifornien
Vier Monate später
August

Mia

Berkeley ist eine typische kleine Studentenstadt – so typisch, dass es mir im ersten Moment vorkommt, als wäre ich mitten in einer Teenieserie gelandet.

Während ich im Bus zu meiner neuen WG sitze, ziehen winzige Geschäfte mit bunten Markisen und vollgestopfte Buchläden an mir vorbei. Die Sonne scheint und überall dort, wo es Kaffee gibt, drängen sich die Studenten vor den Eingängen.

Ich entdecke Jungs in blauen Collegejacken, die von hübschen Mädels in Cheerleader-Uniformen begleitet werden, Nerdmädchen mit Mein-kleines-Pony-Badges auf ihren Rucksäcken, dunkel gekleidete Freaks, die sich in den Schatten herumdrücken und ein paar zerstreut wirkende Professoren, die über die Bürgersteige spazieren und sich bemühen, jeden einzelnen Studenten zu grüßen.

Ein Klischee folgt auf das andere.

Ist das Unileben echt so, wie man denkt? Wer sind die Tussis, vor denen ich mich besser in Acht nehme? Und wie heißen die tollen Typen, vor denen ich mich genauso in Acht nehmen sollte? Gibt es den großen, gutaussehenden Quarterback mit den breiten Schultern wirklich? Und hat er eine blonde Cheerleader-Freundin, die zwar nicht bis drei zählen kann, dafür aber wie ein menschlicher Feuerwerkskörper in die Luft schießt, wenn ihre Freundinnen sie am Spielfeldrand in die Höhe schleudern?

Auf der Highschool war es so, aber dort hatte ich mit dem ganzen Wahnsinn nicht viel zu tun. Ich war im Fotoclub und damit weder eine Außenseiterin noch besonders auffällig. Wie es ein guter Fotograf laut meinem Dad machen sollte, bemühte ich mich, stets Teil der Szene zu sein, aber nie aufzufallen.

Irgendwann, hoffe ich, gelingt mir auf diese Weise das perfekte Bild. Mein Signature Shot, mit dem ich in die Fußstapfen eines der besten Fotografen der Welt treten werde – die meines Vaters.

An der Sacramento Street steige ich aus und wuchte meinen riesigen blauen Koffer aus dem Bus, was gar nicht so leicht ist, denn ich habe wie immer meine Kamera in der Hand, um im richtigen Moment abdrücken zu können. Einhändig zerre ich das Ungetüm hinter mir her und versuche, dabei eine halbwegs gute Figur zu machen. Aber das Ding ist so schwer, dass ich nur langsam vorwärtskomme. Praktisch alles, was ich besitze, befindet sich darin. Zumindest gehe ich davon aus, dass Mom die wenigen Sachen, die ich damals nicht aus unserem Haus am Stadtrand von L.A. mitgenommen habe, mittlerweile gespendet oder an eine meiner jüngeren Cousinen weitergegeben hat.

Ich horche in mich hinein, um herauszufinden, was dieser Umstand mit mir macht. Aber da ist nichts. Keine Enttäuschung, keine Traurigkeit, keine Wut. Bestenfalls noch Ernüchterung darüber, wie schnell aus einer heilen Familie eine zerrüttete werden kann. Doch das werde ich jetzt ändern.

Auch wenn ich in den letzten Monaten so gut wie gar nichts mehr von Lea gehört habe, bin ich mir sicher, dass das hier die schönsten zwei Jahre meines Lebens werden können. Wir waren schon immer wie beste Freundinnen und werden sicher eine tolle Zeit haben.

Laut der Wegbeschreibung von Google Maps sind es nur noch zwei Blocks bis zu ihrer Wohnung und ich kann es kaum erwarten, meine ältere Schwester wieder in die Arme zu schließen.

Ich laufe weiter und stelle überrascht fest, dass zwei Blocks hier offenbar nicht dasselbe bedeuten wie in Windhoek, wo ich die letzten drei Jahre gelebt und das College besucht habe. Über einem Café namens Cat on the Moon, das vielleicht hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt liegt, wohnt meine Schwester.

Es heißt immer, in Amerika wäre alles so weit und groß, aber wirkliche Weite habe ich bisher nur in Afrika erlebt.

Ich erreiche das Café und trete an die Haustür, die halb von den verschnörkelten, leicht verwitterten Tischen und Stühlen des Cat on the Moon verdeckt wird. Dann klingle ich bei Myers/Estevez und bin schon gespannt, was Lea gleich sagen wird. Offiziell lande ich erst heute Abend, aber mein Flug wurde vorgezogen. Ich hoffe, sie steht noch genauso auf Überraschungen wie früher.

Es dauert nicht lange, bis mir aufgedrückt wird. Ich verstaue die Kamera in der dafür vorgesehenen Tasche, packe den Koffer am Griff und schleppe ihn durch das schmale, mintfarben gestrichene Treppenhaus rauf in die zweite Etage.

»Hier sieht’s ja aus … wie in einer Zahnarztpraxis«, keuche ich zur Begrüßung, als ich die halb geöffnete Tür erreiche, in der …

Nicht meine Schwester steht. Stattdessen entdecke ich dort ein fremdes Mädchen mit rabenschwarzem Haar und dichtem Pony, das mich verwundert mustert.

Das muss Kelly sein, Leas Mitbewohnerin.

»Hi«, sage ich atemlos, als ich den oberen Treppenabsatz erreicht habe. »Ich bin Mia, Leas Schwester.«

Irgendwie rechne ich damit, dass Lea Kelly Bescheid gesagt hat, dass ich komme und ins winzige freie Zimmer der Wohnung ziehe, bis ich etwas anderes gefunden habe.

Aber Kelly sieht mich nur weiter an, als wäre ich Justin Bieber oder wen man sonst am allerwenigsten vor seiner Tür erwarten würde und fragt: »Solltest du nicht in Afrika sein?«

Entgeistert sehe ich Kelly an. Lea hat also nicht erzählt, dass ich komme. Vielleicht verstehen sich die beiden nicht besonders gut. Komisch, dabei versteht sich Lea eigentlich mit jedem.

»Nein, ich bin mit dem College fertig«, sage ich und deute hinter Kelly. »Ist sie da?«

Kelly schüttelt den Kopf – und dann sagt sie etwas, das mich gleich aufs Neue verwundert.

»Lea war bestimmt seit zwei Wochen nicht mehr hier. Aber vielleicht kommst du erstmal rein.«

***

Es dauert sicher zehn Minuten, bis ich halbwegs verstanden habe, was hier los ist. Zehn Minuten, in denen mich Kelly in eine schmale, fliederfarbene Küche führt, mir eine eiskalte Coke vorsetzt und dann weiter in dem Chili rührt, das sie gerade kocht.

»Ich koche meistens gleich für die ganze Woche«, lässt sie mich wissen. »Spart Zeit.«

Irgendwo in meinem Hinterkopf frage ich mich, wie ich es finden würde, eine ganze Woche lang Chili zu essen. Aber vordergründig beschäftigt mich eine andere Frage und ich beginne langsam, mir Sorgen zu machen.

»Was soll das heißen, Lea war seit zwei Wochen nicht mehr hier?«

»Na ja, sie übernachtet oft woanders, seit sie das Studium geschmissen hat«, erklärt Kelly beiläufig. »Wahrscheinlich bei irgendeinem Kerl.«

»Seit sie was?«, höre ich mich fragen, wobei meine Stimme gleichzeitig schrill und heiser klingt.

Lea soll ihr Studium an der University of California abgebrochen haben?

Sie war immer eine der Klassenbesten und hat hart gearbeitet, um in Berkeley angenommen zu werden. Sie hat Kunst und Zahnmedizin studiert, eine komische Kombi, aber wenn man über den Beruf unseres Vaters nachdenkt und dann darüber, dass der jetzige Mann unserer Mutter Zahntechniker ist, so komisch auch wieder nicht.

Lea war von Anfang an in beiden Fächern gut und hat das Unileben in vollen Zügen genossen. Wie schon in der Schule war sie Cheerleaderin, außerdem Mitglied einer Studentenverbindung mit einem komischen griechischen Namen …

Sie hatte all das, was sie immer wollte.

Und jetzt soll sie dieses Leben aufgegeben haben? Einfach so?

In meinem Kopf krame ich nach dem letzten Gespräch, das wir beide geführt haben. Es ist fast drei Wochen her und hat über WhatsApp stattgefunden. Lea war ziemlich einsilbig, was mich gewundert hat. Sie hat mir nur kurz ihre Adresse gegeben und dabei wohl vergessen, zu erwähnen, dass sie selbst nicht mehr studiert.

»Sie hat abgebrochen. Im April, kurz vor dem Ende des letzten Semesters«, sagt Kelly.

Das ist ja vier Monate her!

»Das … das muss ein Irrtum sein.«

Als ich erfahren habe, dass ich in Berkeley angenommen wurde, hat sie hingeschmissen? Etwa wegen mir?

Unsinn. Auch wenn der Kontakt zwischen uns etwas eingeschlafen ist, bin ich mir sicher, dass sie sich genauso auf mich gefreut hat wie ich mich auf sie.

»Glaub mir, es ist keiner«, beharrt Kelly, während sie ein Lorbeerblatt in den Topf fallen lässt. »Es war an einem der letzten Tage vor Ferienbeginn. Am Abend davor hat es eine Riesenparty zu Ehren der Eagles gegeben. Das letzte große Spiel vor der Sommerpause stand am nächsten Tag an und davor wird immer groß gefeiert. Ich war nicht da, ich habe mit den Sportlern nicht viel zu tun. Aber deine Schwester kam erst in den Morgenstunden nach Hause und als ich zu meinem ersten Kurs wollte, schlief sie immer noch. Ich habe sie geweckt und ihr angeboten, sie mitzunehmen …« Kelly zuckt mit den Schultern und schmeckt ihr Chili ab, bevor sie weiter berichtet. »Aber sie war total fertig und hat sich geweigert, aus dem Bett zu kommen. In den nächsten Tagen war sie komisch drauf und schließlich meinte sie zu mir, dass sie nächstes Semester nicht mehr dabei ist.«

»Und warum nicht?«, frage ich ein wenig gepresst, denn Kellys Worte haben dafür gesorgt, dass sich ein riesiger harter Klumpen in meiner Magengrube gebildet hat. Alles, was sie da erzählt, klingt so überhaupt nicht nach meiner Schwester.

»Das wollte sie mir nicht verraten und ich habe auch nicht weiter nachgehakt. Wir sind keine Freundinnen oder so.«

Ich nicke mechanisch und versuche, meine Gedanken zu ordnen.

Wieso hat Lea mir nicht erzählt, was los ist? Sie hätte mit mir reden können oder zumindest mit Mom. Oder mit Stu, Moms neuem Mann. Im Gegensatz zu mir hat sie sich mit ihm immer bestens verstanden.

»Ich muss sie anrufen«, sage ich.

Kelly deutet auf den Korridor jenseits der Küche. »Die erste Tür links, da ist dein Zimmer. Falls du ungestört sein willst.«

Ich bedanke mich, stehe auf und hole mein Handy aus der Seitenklappe des Koffers. Dann trete ich in den Flur, überlege, ob ich vorher kurz einen Blick in Leas Zimmer werfen soll – und entscheide mich dagegen. Was auch immer mit Lea los ist, ich will es nicht herausfinden, indem ich herumschnüffle.

Als ich eintrete, stehe ich praktisch direkt vor dem Bett. Die Wand zu meiner Rechten wird von einem dunkel gestrichenen Schrank eingenommen, der so abgewetzt ist, dass er an manchen Stellen schon grau aussieht. Links befindet sich das Fenster, das raus auf die Straße zeigt. Platz für einen Schreibtisch gibt es nicht, aber das ist okay. Ich wusste vorher, dass das hier mehr eine Abstellkammer als alles andere ist.

Ich setze mich auf die Matratzenkante und wähle mit klopfendem Herzen Leas Nummer. Während ich auf das Freizeichen lausche, rechne ich irgendwie mit allem Möglichen. In erster Linie damit, dass sie gar nicht erst rangeht.

Doch sie nimmt nach dem dritten Klingeln ab und ich bin gleich aus mehreren Gründen überrascht. Nicht nur, weil sie sich überhaupt meldet, sondern auch wegen der lauten Musik und des Stimmengewirrs im Hintergrund.

Ist sie etwa auf einer Party?

Jetzt, um noch nicht mal drei Uhr nachmittags?

»Schwesterchen!«, meldet sie sich fröhlich und, wenn mich nicht alles täuscht, leicht angetrunken.

Ich bin erschrocken darüber, wie verändert ihre Stimme klingt. Irgendwie härter und älter als gewohnt.

»Wann wolltest du mir sagen, dass du das Studium geschmissen hast?«, frage ich ohne Umschweife.

Anders als erwartet, reagiert Lea kein bisschen erschrocken darauf, dass ich Bescheid weiß.

»Keine Ahnung, sobald du auftauchst, schätze ich. Wann kommst du nochmal, nächste …« Sie gibt ein Quietschen von sich, das in ein Lachen übergeht. »Also wirklich, Jerry, doch nicht vor all den Leuten!«

»Als würde dich das auf einmal stören«, sagt eine Männerstimme, die nicht nüchterner klingt als die von Lea.

Okay. Offenbar ist meine brave, vorbildliche Schwester also nicht nur auf einer Party, sondern macht auch gleich mit einem Kerl rum, während sie mit mir spricht.

Jerry …

Immerhin hat ihr Eishockey-Freund endlich einen Namen. Zumindest gehe ich davon aus, dass er es ist, mit dem sie da zugange ist.

Was er wohl dazu sagt, dass sie die Uni geschmissen hat? Wenn einer der Sportler mit einer Cheerleaderin zusammen ist, ist das vollkommen normal, aber mit einer Studienabbrecherin?

Vielleicht kann er ihr ja ins Gewissen reden.

»Lea?«, frage ich und presse das Handy wieder dichter an mein Ohr, als das vielsagende Schmatzen auf der anderen Seite der Leitung endlich aufgehört hat.

»Kann ich deinen Freund vielleicht mal sprechen?«

Lea lacht, es klingt ein bisschen zu laut. »Ich werde ihn dir noch früh genug vorstellen, Schwesterchen. Aber noch ist die Sache viiiel zu frisch.«

Jetzt kapiere ich gar nichts mehr. »Du bist doch schon seit letztem Jahr mit ihm zusammen.«

Lea stockt und braucht einen Moment, bevor sie antwortet. »Äähh … Erstens finde ich es komisch, dass du anscheinend Buch über mein Liebesleben führst …«

Im Hintergrund lacht dieser Jerry.

»Pscht«, macht Lea und fängt ebenfalls an zu kichern, was auch nicht ganz aufhört, als sie wieder mit mir spricht. »Zweitens bin ich jetzt mit Jerry zusammen und nicht mehr mit diesem Arsch von den Eagles und drittens solltest du dir eins merken: Halt dich von den Eishockeyspielern der UC fern! Oh«, fügt sie nach einem Moment hinzu, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. »Und verlieb dich nicht. Genieß einfach dein Leben und wenn du Spaß haben willst, dann benutz deinen Körper – aber niemals dein Herz.«

»Was soll das denn heißen, benutz deinen Körper?«, gurrt dieser Jerry im Hintergrund und Leas Verabschiedung geht in Geräuschen unter, zu denen ich lieber keine Bilder im Kopf haben will, aber dennoch unwillkürlich habe.

Dann klickt es und das Gespräch ist vorbei.

Ratlos nehme ich das Handy runter und sehe auf mein Display, auf das Foto, unter dem ich Lea eingespeichert habe.

Es entstand hier, in Berkeley, als ich sie vor gut einem Jahr das letzte Mal besucht habe. Wir waren am Meer und kauften uns das bunte Slushy, das wir als Kinder so gerne mochten. Auf dem Bild springt Lea in die Luft und hält dabei ihren Becher hoch wie einen Pokal. Ein fröhliches Lachen liegt auf ihren Zügen, das hellblonde Haar fliegt ihr um den Kopf und sie wirkt so unbeschwert und optimistisch, als könnte ihr nichts auf der Welt etwas anhaben.

Heute habe ich mit einer anderen Version von ihr gesprochen. Einer, die nicht mehr an die Liebe zu glauben scheint. Sie klang zynisch und auf eine Art erwachsen, die nicht zu ihr passt. Nicht so, als wäre sie nur ein Jahr älter als ich.

Nach ihren Worten bin ich mir sicher, dass Leas Exfreund irgendetwas mit ihrer Verwandlung zu tun hat. Ich muss unbedingt rausfinden, was vorgefallen ist.

Halt dich von den Eishockeyspielern fern.

 

Slater

»Weiter, weiter, weiter, weiter! Noch zehn Meter, neun, acht … Komm schon, Thorn, nicht aufgeben jetzt!!«

Keuchend schiebe ich den schweren Schlitten über den trockenen Rasen des Footballfelds. Es ist viel zu warm heute und ich würde lieber in der Halle auf dem Eis trainieren. Die Sonne brennt nur so vom Himmel und die Luft steht. Um uns herum auf den Rängen sitzen ein paar Studenten, die uns zugucken. Vor allem Studentinnen, wie immer. Viele von ihnen haben Becher dabei, vollgestopft mit Eiswürfeln, die der Hitze sicher nicht lange standhalten werden.

Ich hingegen habe es mit dem ersten Training der Saison zu tun, das jetzt schon seit drei Stunden läuft und einfach nicht enden will.

Konzentrier dich auf den Schlitten, sage ich mir.

Es ist nicht wirklich ein Schlitten, sondern eine Art Metallgestell auf Kufen, auf dem Hantelscheiben befestigt sind. Der Coach hat mir gleich heute hundert Kilo draufgepackt. Er geht davon aus, dass ich den Sommer zum Trainieren genutzt habe – und er hat verdammt recht. Nach der Pleite zum Saisonende habe ich was wiedergutzumachen.

Auch wenn meine Arme brennen wie Feuer und meine Beinmuskeln kurz davor sind, nachzugeben, hole ich nochmal alles aus mir heraus und schiebe das Gerät mit einem fast schon wütenden Schrei das letzte Stück über die Linie.

Der Coach sieht auf die Uhr. »Zweiundvierzig Sekunden. Das geht schneller!«

Damit wendet er sich von mir ab und widmet sich unserem Teamkapitän Jenson, der den Schlitten nun zurück auf die andere Seite des Spielfelds befördern muss.

Sauer sehe ich ihm nach. Schneller? Ach ja, wie denn?!

»Der nimmt dich heute ganz schön ran.« Tom tritt an meine Seite und joggt auf der Stelle, um warm zu bleiben.

Ich stimme ihm mit einem Nicken zu und versuche, zu Luft zu kommen, ehe ich mich aufrichte. Schweiß läuft mir über die Stirn, mein Shirt klebt nass an meinem Oberkörper und ich würde alles für eine Wanne voller Eis geben.

Das hier ist die erste offizielle Einheit nach dem Sommer. Normalerweise ist das Training an diesem Tag immer eher locker, aber normalerweise haben wir davor auch eine Meisterschaft gewonnen und können es uns erlauben, die Sache ruhig angehen zu lassen.

Dieses Jahr sehen die Dinge anders aus. Wir sind nur Zweiter geworden.

Dank mir. Weil ich beim letzten Spiel so sehr neben mir stand, dass die gegnerischen Angreifer einfach an mir vorbeilaufen konnten, bis ich schließlich auf der Ersatzbank landete.

»Ich werde ihm schon beweisen, dass ich’s noch draufhabe«, sage ich finster.

»Slay, du musst hier keinem was beweisen. Jeder hat mal einen schlechten Tag!« Tom klopft mir auf die Schulter, dann sprintet er wieder los.

Er ist Stürmer und sein Training sieht ein bisschen anders aus als meins. Die Stürmer müssen schnell und wendig sein, wir Verteidiger vor allem eines: kraftvoll.

Wir müssen die Angriffe von hundert Kilo schweren Zwei-Meter-Männern abfangen können, und das am besten, ohne uns dabei selbst zu verletzen. Oder zumindest, ohne so stark verletzt zu werden, dass wir für den Rest des Matches ausfallen.

Ich habe mal ein Spiel mit einer angebrochenen Rippe beendet. Da war ich erst siebzehn und noch auf der Highschool. Mit diesem Einsatz habe ich die Scouts von gleich mehreren Top-Uni-Teams für mich begeistert. Das ist das Level, auf dem ich mich normalerweise bewege. Man erwartet von mir, dass ich restlos alles gebe, und zwar immer.

Auch, wenn es wehtut.

Auch wenn andere längst aufgeben und ihren Teamkollegen das Feld überlassen würden.

»Geht’s wieder?«, Coach Ridley sieht kurz zu mir rüber, dann feuert er Jenson an, wie er es eben bei mir getan hat.

Ich nicke und stelle mich aufrecht hin, um ihn nicht sehen zu lassen, dass mich das Training heute an meine Grenzen bringt. Denn für mich darf es keine Grenzen geben. Auch wenn ich den Sommer über jede freie Minute trainiert habe, war es trotzdem zu wenig, wie ich jetzt schmerzhaft feststellen muss. Trotz aller Bemühungen gab es zu viel anderes, um das ich mich kümmern musste, sodass der Sport zu kurz kam. Das darf nicht sein, das weiß ich selbst. Aber was hätte ich denn machen sollen?

»Klar, alles bestens«, sage ich und lockere meine Schultern.

»Willst du gleich nochmal?«

Ich nicke wieder und mache mich daran, Jenson zu folgen, damit ich auf der anderen Seite übernehmen kann. Aber der Coach ruft mich zurück.

»Thorn?«

Ich drehe mich zu ihm um.

»Ich will, dass dir eine Sache klar ist. Ich nehme dir das letzte Match nicht übel. Wir wissen beide, was für ein Riesentalent du bist und daran ändert ein versautes Spiel auch nichts. Aber dir sollte trotzdem klar sein, dass du dich diese Saison besonders anstrengen musst. Denn die Proficlubs aus der National Hockey League haben das Meisterschaftsfinale auch gesehen und es würde mich nicht wundern, wenn ein paar von denen jetzt glauben, dass du schon auf dem absteigenden Ast bist.«

»Bin ich nicht«, sage ich schnell.

Der Coach schiebt sein Basecap zurecht, was ihn unsicher wirken lässt. »Ich hoffe es.«

»Das brauchen Sie nicht zu hoffen«, erwidere ich, dann wende ich mich ab und sprinte auf die andere Seite des Feldes, um ihm zu beweisen, dass ich fit bin. Dass ich es in die NHL schaffen werde.

»Da ist er ja.« Tom grinst mir entgegen.

In Begleitung von Grace und Abigail, zwei Cheerleaderinnen, die hier gleichzeitig mit uns trainieren, kommt er über die Laufbahn angejoggt. Grace ist klein, brünett und kurvig. Tom versucht schon länger, sie rumzukriegen. Abigail ist groß, blond und Chef-Cheerleaderin. Sie wirft mir heute ziemlich eindeutige Blicke zu, obwohl wir uns schon ewig kennen.

»Grace und Abigail würden sich nach dem Training gern mit uns treffen, um ein paar Ausdauertipps auszutauschen«, sagt mein bester Freund.

Ich sehe Abigail an. Der Gedanke, sie nach dem Training zu treffen, gefällt mir, denn ich müsste dringend mal ein bisschen Dampf ablassen. Seit Wochen habe ich das Gefühl, dass ich jeden Moment explodieren werde. Aber genau aus diesem Grund kann ich mir auf keinen Fall Zeit für sie nehmen.

Es gibt Wichtigeres, um das ich mich kümmern muss.

»Beim nächsten Mal vielleicht«, sage ich und laufe rüber zum Schlitten.

»Slater, komm schon, du kannst mich doch jetzt nicht hängen lassen«, beschwert sich Tom, so als hätte er irgendeinen Nachteil davon, wenn ich nicht mit der Freundin seiner neuesten Eroberung ins Bett ginge.

Wer weiß. Vielleicht will Grace nicht als Schlampe dastehen und lässt sich nur auf das Abenteuer ein, wenn Abigail es auch tut. Wie auch immer, es ist nicht mein Problem. Letztes Jahr um die Zeit wäre es für mich klar gegangen, nach dem Training einfach ein bisschen Spaß zu haben. Aber jetzt liegt eine harte Saison vor mir.

Ich löse Jenson ab und positioniere mich hinter dem Schlitten.

Zweiundvierzig Sekunden muss ich unterbieten. Mich selbst besiegen. Ich fixiere die andere Seite des Spielfelds und mobilisiere nochmal all meine Kräfte.

Los geht’s.

 

Mia

Draußen ist es bereits dunkel, ich habe meine Sachen eingeräumt und sollte jetzt wahrscheinlich losziehen, um mich ins Unileben zu stürzen. Irgendwo gibt es sicher eine Semester-Start-Party. Doch stattdessen sitze ich hier auf dem durchgelegenen Bett, das ab heute meins ist, sehe an die Wand, von der ich nicht sagen kann, ob sie wohl schon immer altrosa war oder nur mit den Jahren ausgeblichen ist, und denke über Lea nach. Meine Schwester war immer anders als ich, aber trotzdem waren wir die besten Freundinnen. Ich hätte nie gedacht, dass sie mir so fremd werden könnte. Vorhin am Telefon habe ich sie kaum wiedererkannt und seitdem mache ich mir Sorgen.

Etwas muss vorgefallen sein.

Etwas, das ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hat.

Und ich bin mir sicher, dass es mit diesem Kerl aus dem Eishockey-Team zu tun hat.

Vielleicht weiß Mom, was los ist. Vielleicht sollte ich sie …

Nein. Ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Lea und mir lautet: Wenn es Probleme gibt, wenn eine von uns Mist baut – dann halten wir unsere Eltern raus.

Also bleibt mir nur eine Möglichkeit, die zwar auch nicht toll, aber immerhin besser ist, als gleich bei Mom zu petzen.

Ich stehe auf und durchquere mein winziges Zimmer mit wenigen Schritten. Ich bin gespannt, wann ich mich hier das erste Mal wie zu Hause fühlen werde. Und ob überhaupt. Kelly scheint in ihrem Zimmer zu sein, trotzdem husche ich lieber unauffällig hinüber zu Leas Zimmer und schließe leise die Tür hinter mir.

Der Duft des süßen Parfums, das meine Schwester schon als Teenager benutzt hat, liegt in der Luft. Schnell mache ich Licht und erwarte, dass Lea aus dem Schlaf hochschrecken und mir eine Szene machen wird, aber ihr Bett ist natürlich leer. Ich hätte ja auch mitgekriegt, wenn sie heimgekommen wäre.

Langsam drehe ich mich einmal um mich selbst. Ihr Zimmer ist größer als meins, mit zwei Fenstern, vor denen weiße Spitzengardinen hängen. An den Wänden, die die Farbe von Solero-Eis haben, befinden sich Plakate von Uni-Veranstaltungen, blau glitzernde Pompons und ein paar Urkunden.

Die Beste im Kunsthistorie-Sommerseminar.

Die Beste im Berkeley-Segelkurs.

Vizepräsidentin von Kappa-Delta-Phi.

Sowas war Lea immer wichtig.

Auch wenn all das typisch für meine Schwester ist, entdecke ich auch so einige Dinge, die so gar nicht zu ihr passen wollen.

Nachdenklich sehe ich mir die Bücher an, die auf ihrem Schreibtisch gestapelt sind. Sie haben schon eine dünne Staubschicht angesetzt. Auch das ungemachte Bett passt so gar nicht zu ihr.

Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, erkenne hier und da noch meine Schwester, aber dann auch wieder nicht.

Sie war immer eine Perfektionistin, doch ihr Zimmer wirkt auf mich wie das einer Lea-Kopie. Der Mülleimer quillt über und die Fotos, die an einer Pinnwand neben ihrem Bett hängen und eigentlich fröhliche Aufnahmen von ihr und ihrer Uni-Clique zeigen sollten, sind kaputt.

Zerrissen.

Stirnrunzelnd trete ich näher heran. Ungefähr die Hälfte der rund zwanzig Fotos ist einfach in der Mitte durchgerissen worden und zeigt nur noch meine Schwester allein.

Ich betrachte das erste Bild und bin mir sicher, dass sie hier Mister Eishockey-Star entfernt hat, denn ich erkenne an der Abrisskante noch ein Stück von einem schwarz-weißen Sportschuh. Die Beziehung der beiden ist offenbar zu Ende, doch trotzdem hat sie sich nicht die Mühe gemacht, die Bilder abzuhängen. Wie eine Art Trophäe. Oder als würde ihr noch etwas an ihm liegen.

Was Jerry dazu wohl sagt?

Auf dem nächsten Foto sind die Überreste einer blauen Trainingsjacke zu sehen.

Auf einem anderen hat sie den Typen, der ursprünglich mal neben ihr stand, komplett ausradiert.

Nein, nicht komplett.

Ich beuge mich ein Stück vor und erkenne, dass er lässig einen Arm um ihre Schultern gelegt hat. Er hat muskulöse Arme, leicht gebräunt, aber das ist nicht das Entscheidende. Viel mehr sticht mir das Tattoo ins Auge, das an seinem Handgelenk prangt. Es ist schwarz und besteht aus zwei stilisierten Flügeln.

Wahrscheinlich ein Symbol für die Berkeley Eagles. Wenn nicht sogar ihr Logo …

Damit sollte es nicht so schwer sein, den Mann ausfindig zu machen, der Lea dermaßen fertig gemacht hat, dass sie sogar die Uni geschmissen hat.

Aber was, wenn ich ihn gefunden habe?

Das sehe ich dann.

Lea und ich standen immer füreinander ein.

Es ist meine Aufgabe als Schwester, ihr auch diesmal zu helfen. Und ich habe zumindest eine Idee, wo ich ansetzen kann.

***

Kelly liegt auf ihrem Bett und hat einen kleinen alten Fernseher laufen. Sie hat den Ton ausgeschaltet und betrachtet das Foto, das ich ihr hinhalte, eingehend. Dann schüttelt sie den Kopf.

»Nein, das ist nicht das Eagles-Logo.«

»Okay, aber …« Ich tippe auf das Handgelenk-Tattoo. »Weißt du zufällig, wem das gehört?« Ich knie vor ihrem Bett und hoffe, dass Kelly mir weiterhelfen kann. »Es muss jemand aus der Eishockey-Mannschaft sein.«

»Mia.« Kelly seufzt und setzt sich auf. »Morgen ist dein erster Tag und du bist sicher aufgeregt. Aber es ist mitten in der Nacht. Vielleicht solltest du schlafen gehen.«

»Gleich«, wiegle ich ab. »Sag mir zuerst –«

»Ich weiß es nicht«, unterbricht mich Kelly. »Ich weiß gar nicht viel über das, was an der Uni so abgeht. Meine Eltern haben ihr Leben lang jeden Cent gespart, damit ich an eine gute Uni kann und ich habe ihnen versprochen, mich voll und ganz auf das Studium zu konzentrieren. Ich habe mit den Eishockeyspielern nichts am Hut. Und du solltest dich auch von diesen Aufreißern fernhalten. Die sind eine Nummer zu groß für dich.«

Eine Nummer zu groß für mich?

Was soll das denn heißen?

Ich schlucke eine bissige Erwiderung runter und konzentriere mich weiter aufs Wesentliche.

»Lea hatte einen Freund«, sage ich.

»Einen?« Kelly lacht leise.

Ich presse die Lippen aufeinander und versuche, nicht sauer zu werden. Kelly kann ja auch nichts für den ausufernden Lebensstil meiner Schwester. »Vor einer Weile hat sie angefangen, jemanden von den Eagles zu daten.«

»Ein blöder Fehler. Wie heißt er?«

»Ich kenne seinen Namen nicht, darum geht es ja gerade!«

Kelly hebt vielsagend beide Brauen. Sie hat eine ruhige, unaufgeregte Art an sich, die ich trotz der ironischen Antworten, die sie mir dauernd gibt, irgendwie mag.

Ich weiß im Grunde ja auch, dass ich den Freund beziehungsweise Exfreund meiner Schwester eigentlich kennen sollte, aber Lea hat mir anfangs nur erzählt, dass sie jetzt mit jemandem aus der Eishockey-Mannschaft ausgeht. Und dann hat sie immer weniger mit mir gesprochen. Immer, wenn es um das Thema Beziehungen ging, ist sie mir ausgewichen, fast so, als wollte sie ihr Liebesleben von mir fernhalten. Und so habe ich es schließlich aufgegeben, weiter nachzuhaken – bis wir so gut wie gar nicht mehr geredet haben.

»War sie mal mit einem Mann hier?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Kelly schüttelt den Kopf. »Das ist eine unserer goldenen Regeln: Wenn du vögeln willst, gerne. Aber nicht hier.«

Ich denke an mein winziges Zimmer und bin mit der Regel einverstanden. Auch wenn ich nicht zum Vögeln hier bin, wie Kelly so schön sagt, würde ich mir eher beide Beine abhacken, als jemanden mit in diese Abstellkammer zu nehmen.

»Einverstanden«, sage ich. »Trotzdem muss ich rausfinden, mit wem Lea zusammen war.«

»Aber warum?« Kelly sieht mich ungläubig an. »Er scheint ein Arsch gewesen zu sein, sonst hätte sie wohl kaum die Fotos zerrissen. Mach dich nicht unglücklich, indem du die abgelegten Männer deiner Schwester nimmst.«

Kelly versteht mich total falsch. Als würde ich es darauf anlegen. »Ich will einfach nur herausfinden, mit wem sie zusammen war. Mal einen Blick auf ihn werfen.«

»Dann frag sie doch.«

Wenn das so einfach wäre.

»Sie blockt ab.«

»Sie wird ihre Gründe haben.« Kelly ist so unverständig, dass es mich mit einem Mal sauer macht.

»Ja, weil er ihr wehgetan hat! Er hat sie … verändert. Lea, wie sie eigentlich ist, hätte nie die Uni geschmissen.«

»Hat sie aber. Menschen ändern sich eben«, beharrt Kelly. »Und was willst du dagegen jetzt machen?«

»Wenn ich erstmal weiß, mit wem ich es zu tun habe, wird mir schon was einfallen. Vielleicht kann ich die beiden zu einer Aussprache bringen. Vielleicht kriege ich ihn dazu, dass er sich entschuldigt – für was auch immer zwischen ihnen vorgefallen ist.«

»Du solltest dich nicht einmischen, wenn du mich fragst.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, murmle ich.

Irgendwie hat sie ja recht. Andererseits komme ich mir mies vor, wenn ich Lea einfach hängen lasse. Es geht ihr offenbar nicht gut und ich glaube, sie ist im Augenblick einfach nicht in der Lage, für sich selbst zu kämpfen.

Deshalb schließe ich einen Deal mit mir ab: Ich werde diesen Typen unter die Lupe nehmen, dann kann ich immer noch entscheiden, was ich als Nächstes tun soll.

Ein Schritt nach dem anderen.

»Ich sehe mir das Eishockey-Team morgen einfach mal an«, sage ich und stehe auf.

»Bist du zufällig Cheerleaderin oder hast du vor, dich bei ihnen zu bewerben?«

»Äh … nein«, gebe ich zu.

Zwar habe ich gesehen, dass am Freitag ein offenes Casting für Cheerleading-Anwärterinnen stattfindet, aber darauf, halbnackt und Puschel schwingend übers Eis zu fahren, habe ich eigentlich keine Lust.

»Dann viel Spaß dabei, dich durch die Fanmassen zu kämpfen.«

Ich grinse schief und wünsche Kelly eine gute Nacht.

»Und lass dich bloß nicht von den Jocks einwickeln«, ruft sie mir nach.

Jocks – so werden die Sportler an Unis und Highschools von Leuten genannt, die nicht viel von ihnen halten.

Ich danke ihr für den Rat, auch wenn ich ihn nicht brauche.

Das Letzte, was ich will, ist, mich auf den Sportstar einer Uni einzulassen.