Leseprobe Wege des Schicksals

Kapitel 1

Tanga, Kolonie Deutsch-Ostafrika, 2. Juni 1906

Isolde legte eine Hand an die Stirn, um ihre Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Die Sonne stand beinahe senkrecht am wolkenlosen Himmel und auf den sanft gekräuselten Wellen in der Bucht von Tanga blitzten und funkelten abertausende Reflexionen ihrer Strahlen. Die Markgraf, ein Dampfer der Deutsch-Ostafrika-Linie, pflügte durch die ruhigen Gewässer auf den Anlegekai zu. An den Geländern des Oberdecks hatten sich die Fahrgäste versammelt, um der willkommenen Abwechslung einer Hafeneinfahrt beizuwohnen. Sie waren zuvor zwei Tage auf See gewesen, nachdem sie zuletzt in Mombasa angelegt hatten. In Tanga selbst würden nur wenige Passagiere das Schiff verlassen, wie Isolde in Gesprächen mit Mitreisenden erfahren hatte. Die meisten wollten in Dar-es-Salam aussteigen oder bis zur Endstation Kapstadt auf der Markgraf bleiben.

Die Stadt kam immer näher und Isolde konnte erste Gebäude unterscheiden. Tanga lag auf einer kleinen Anhöhe, an deren Fuß sich die Kaianlagen und die Warenhäuser befanden, in denen die Produkte der Kolonie auf ihre Ausfuhr warteten. Der Rand der Erhebung war gesäumt von Bauten in demselben Kolonialstil, den sie bereits von ihren Reisen nach Indien her kannte. Zwei- oder dreistöckige Häuser mit umlaufenden Balkonen, weiß gestrichen und von Palmen eingerahmt.

Das Schiff näherte sich der Mole. Ein Pfiff erklang und die Kraft der Maschinen im Innern des Dampfers schien nachzulassen. Ein Dutzend Matrosen stellte sich an der Backbordseite auf, um den Arbeitern an der Anlegestelle die Taue zuzuwerfen, mit denen die Markgraf befestigt werden würde.

„Aufregend, so eine Ankunft, nicht wahr?“, hörte sie eine Stimme neben sich sagen, in der sie einen leichten englischen Akzent erkannte.

Sie wandte sich dem Sprecher zu, dessen Alter sie auf Anfang Dreißig schätzte. Ein dünner Schnurrbart lag wie ein Strich über seinen vollen Lippen. In sein rechtes Auge hatte er ein Monokel geklemmt, das die Pupille dahinter unnatürlich vergrößerte. Er trug einen kakifarbenen Tropenanzug.

„Wenn ich richtig mitgezählt habe, ist das die zwölfte Ankunft, seitdem wir Neapel verlassen haben. Seit dem ersten Anlegemanöver in Malta hat der Reiz des Neuen für mich doch stark an Faszination verloren“, erwiderte Isolde.

Der Engländer schmunzelte. „Werden Sie in Tanga aussteigen?“

„Ja. Ich kann es kaum erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.“

„Was bringt sie nach Deutsch-Ostafrika?“

Isolde zögerte einen Augenblick. Ihre Reisen in die entlegensten Regionen der Welt hatten sie gelehrt, zurückhaltend zu sein mit Menschen, die sie nicht kannte. Aber der Engländer machte nicht den Eindruck eines Mannes, dem sie besser mit Vorsicht begegnen sollte.

„Ich bin geschäftlich hier“, sagte sie und ergänzte dann: „Zum Teil jedenfalls. Einen privaten Anlass für meine Reise gibt es auch. Meine Schwester lebt in Wilhelmstal. Wir haben uns seit sechs Jahren nicht mehr gesehen und ich freue mich darauf, sie zu besuchen.“

„Wilhelmstal? Das liegt in den Usambara-Bergen, wenn ich mich nicht irre?“

„Ja, Elsa und ihr Mann betreiben eine Kautschuk-Plantage dort.“

Der Engländer legte seinen Kopf schief. Kam es ihr nur so vor oder war sein Interesse bei dem Wort „Kautschuk“ erwacht? Ehe er weiter in sie dringen konnte, fragte sie: „Und Sie? Was führt Sie nach Tanga, Herr …?“

Er schlug sich auf die Stirn. „Oh, verzeihen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Barker. Benjamin Barker ist mein Name.“ Er streckte ihr eine Hand entgegen, die sie kurz ergriff. Sein Händedruck war fest, seine Haut kühl. „Ich reise im Auftrag der East-Africa-Plantation-Company, um das Potenzial Deutsch-Ostafrikas für den Anbau von Kulturpflanzen zu erkunden.“

Isolde runzelte die Stirn. „Müssten Sie da nicht schon Erfahrungen aus Britisch-Ostafrika haben?“

Er lachte. „Ja und nein. Die klimatischen Verhältnisse sind durchaus vergleichbar, aber eine wichtigere Rolle spielt die Bodenbeschaffenheit. Und die ist von Ort zu Ort verschieden.“

Das Schiff hatte inzwischen beinahe den Anleger erreicht. Isolde konnte bereits die Arbeiter am Kai erkennen, die darauf warteten, dass ihnen die Matrosen die Taue zuwarfen.

„Darf ich Ihren Namen auch erfahren?“, fragte Barker.

„Isolde Hartmann“, erwiderte sie.

„Sie hatten erwähnt, dass Sie auch aus geschäftlichen Gründen nach Tanga reisen würden. Welche Geschäfte betreiben Sie denn?“

„Ich bin Fotografin. Reisefotografin, um genauer zu sein. Ich war schon in China, Indien und Südamerika. Dies ist meine erste Begegnung mit dem afrikanischen Kontinent und ich freue mich schon sehr darauf, Land und Leute kennenzulernen.“

Sie sah in Barkers Gesichtsausdruck, dass sein Interesse an ihrer Person zugenommen hatte.

„Und Sie haben alle diese Reisen alleine gewagt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Meine erste Expedition nach China habe ich im Rahmen eines archäologischen Forschungsprojekts unternommen. Aber in Indien und Südamerika war ich alleine, ja.“

„Erstaunlich, ganz erstaunlich.“

Isoldes Augen verengten sich. „Warum? Kann eine Frau nicht auf eigene Faust reisen?“

Er hob abwehrend die Hände. „Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich kann da immer nur von mir ausgehen, und für mich ist es eine große Überwindung, alleine unterwegs zu sein.“

Isolde lächelte. „Ich bin gerne alleine.“

Das Schiff bewegte sich inzwischen nur noch langsam vorwärts. Es glitt lautlos neben den Kai.

„Wohin werden Sie von Tanga aus reisen? An den Kilimandscharo? Ich hoffe nicht, dass Sie im Aufstandsgebiet im Süden zu tun haben. Dort gibt es noch immer Kampfhandlungen, wie man hört.“

Wieder überlegte Isolde, ob sie dem Engländer vertrauen konnte, aber den Zweck ihrer Reise mitzuteilen, konnte nicht schaden. „Ich bin nicht vollständig unabhängig“, sagte sie. „Dieses Mal bin ich im Auftrag einer Zeitschrift unterwegs – der Gartenlaube.“

„Das klingt nicht so, als ob Sie als Kriegsberichterstatterin im Einsatz wären. Sollen Sie die Leser mit Fotografien von Elefanten und Baobab-Bäumen beglücken?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich soll Dr. Koch bei seiner Arbeit fotografieren.“

„Den Nobelpreisträger?“

„Ja. Er befindet sich gerade auf einer Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit. Nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Physiologie genießt er daheim im Reich einen einsamen Heldenstatus und deswegen hat mich die Redaktion der Gartenlaube um exklusive Bilder seiner Tätigkeit vor Ort gebeten. Ich hoffe, ihn noch in Tanga anzutreffen, er müsste hier vor zwei Wochen eingetroffen sein.“

Das Schiff kam mit einem Ruck zum Stillstand. Isolde hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Auf dem Kai wuselten die Anlegemannschaften wie Ameisen umher. An der Seite des Dampfers wurde die Gangway heruntergelassen.

„Wo werden Sie absteigen?“, fragte Barker.

„Im Hotel Kaiserhof“, erwiderte Isolde.

„Nun, dann werden wir uns da wohl noch ein oder zwei Mal über den Weg laufen. Ich muss mich leider empfehlen, da ich dafür sorgen muss, dass nicht nur ich, sondern auch mein Gepäck das Schiff verlässt.“

Er reichte ihr die Hand. „Es hat mich sehr gefreut“, sagte er.

„Ganz meinerseits“, erwiderte Isolde.

Sie wandte sich um und hielt Ausschau nach dem Steward. Dieser wartete am Beginn der Gangway, eine lange Liste in der einen, einen Bleistift in der anderen Hand.

„Fräulein Hartmann“, sagte er, und in seinem dichten Bart erschien ein Grinsen.

„Herr Winzigmann“, erwiderte sie und lächelte ihm freundlich zu. „Nun müssen wir uns leider voneinander verabschieden.“

„Ich habe veranlasst, dass Ihr Koffer in das Hotel Kaiserhof gebracht wird. Soll ich Ihnen noch einen Wagen organisieren?“

„Nein, danke. Nach zwei Wochen auf schwankenden Brettern bin ich dankbar dafür, ein paar Schritte auf festem Grund gehen zu können.“

Sie schüttelten sich die Hände und Isolde betrat die Gangway. Vor ihr war ein großer, breitschultriger Mann darum bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Sie wartete, bis er den Kai erreicht hatte, und eilte dann die Treppen hinab. Wie auch in anderen Hafenstädten erwartete sie eine Kakofonie aus Rufen, Maschinengeräuschen und dem Wiehern von Pferden. Es roch nach schwerem Öl und nicht mehr frischem Fisch. Isolde sah sich um. In dem Gewusel konnte sie zahllose Gesichter ausmachen, teils von Europäern, teils von Indern, aber in der Mehrzahl von Afrikanern. Letztere waren damit beschäftigt, die Ladung der Markgraf, die mit einem Kran an Land gehievt wurde, in zwei Schuppen zu räumen, wo die Zollbehörden die Waren begutachten würden.

Sie ging weiter in Richtung Kaiende. Die Anhöhe, auf der die Stadt lag, war zwar nur etwa zwanzig Meter hoch, aber der Abhang war sehr steil. Eine Straße führte in einer Serpentine nach oben. Hier waren bereits mehrere Pferdegespanne unterwegs. Isolde lehnte zwei Angebote von Rikschafahrern ab und begann mit dem Aufstieg.

Sie kam rasch ins Schwitzen, aber das fühlte sich großartig an. Auf dem Schiff hatte ihr die Bewegung gefehlt. Nun genoss sie es, ihre Beine zu benutzen, zu spüren, wie die Muskeln arbeiteten, wie ihre Füße fest und kräftig voranschritten. Sie überholte ein Lastgespann, und nach wenigen Minuten hatte sie die Anhöhe erklommen. Sie befand sich nun in einer langen Straße, die gesäumt war von den weiß getünchten Gebäuden, die sie bereits vom Schiff aus gesehen hatte. Ein Passant, gekleidet in einen blütenweißen Tropenanzug, schien ihren fragenden Blick richtig zu deuten.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

Isolde bat ihn darum, ihr zu erklären, wie sie zum Hotel Kaiserhof gelangen könnte. Er deutete auf ein stattliches Gebäude, nur etwa hundert Meter in nördlicher Richtung. Es war ein zweistöckiger Bau, gekrönt von einem hohen Dach. Zur Seeseite hin waren großzügige Balkone angebaut worden. Vor dem Eingang warteten mehrere Kutschen.

Sie ging hinein und genoss die Kühle, die in dem Foyer herrschte. Rechts und links führten Treppen in die oberen Stockwerke. Vor ihr stand ein untersetzter Mann in einem kakifarbenen Anzug hinter einem Tresen.

„Guten Tag“, sagte er. „Sind Sie das Fräulein Hartmann?“

Isolde nickte.

„Sehr erfreut. Mein Name ist Mascher, Paul Mascher. Ich bin der Besitzer des Hotels. Sie hatten ja bereits gekabelt. Ihr Zimmer ist bereit. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“

Er führte sie in den ersten Stock hinauf und einen langen Gang entlang.

„Das hier ist das Bad“, sagte er und öffnete eine Tür, die den Blick frei gab auf ein weiß gekacheltes Bad mit einer Badewanne, einem Plumpsklo und zwei Waschbecken.

„Und das hier ist Ihr Zimmer“, sagte er und öffnete eine weitere Tür.

Der Raum war sauber und ordentlich eingerichtet. Durch die offenstehende Balkontür wehte eine frische Brise, die das Moskitonetz, mit der das große Bett verhängt war, wie ein Segel aufblähte.

„Wie lange gedenken Sie zu bleiben?“, fragte Mascher.

„Das hängt davon ab, ob sich Doktor Koch noch in der Stadt befindet“, erwiderte Isolde.

Der Hoteldirektor sah sie mit einem bedauernden Blick an.

„Oh, es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber der Herr Doktor ist bereits vor zwei Wochen zur Forschungsstation in Amani aufgebrochen.“

Isolde spürte, wie die Enttäuschung über sie hinweg wusch.

„Nun gut“, sagte sie. „Dann wird mein Aufenthalt hier wohl eher kurz ausfallen.“

„Möchten Sie etwas essen?“, fragte Mascher. „Wir bieten zu jeder Tageszeit warme Speisen.“

Isolde schüttelte den Kopf. „Ich bin noch nicht hungrig, danke. Aber etwas zu trinken wäre mir ganz genehm.“

Der Direktor bat sie, ihn zu begleiten. Er führte sie zu einer Bar im Erdgeschoss des Hotels. Sie nahm an einem der freien Tische Platz, und gleich darauf stand eine dampfende Tasse Tee vor ihr. Der Blick ging weit über die Bucht von Tanga hinaus. Sie lehnte sich zurück und beobachtete die unzähligen kleinen Segelschiffe, die den im Verhältnis dazu riesigen Dampfer umschwirrten wie Fruchtfliegen einen faulen Apfel.

Ihr Blick fiel auf einen stattlichen Mann, zwei Tische weiter. Er hatte ein Glas Bier vor sich stehen und las. Isoldes Neugier war sofort geweckt. Bücher waren ihre Welt, und eine ihrer hartnäckigsten Angewohnheiten war es, in Erfahrung zu bringen, was andere Leute lasen. Offenbar spürte der Mann ihren Blick auf sich ruhen. Er sah auf.

„Entschuldigen Sie bitte meine Neugier, aber was für ein Buch haben Sie da?“, fragte Isolde.

„Da gibt es nichts zu entschuldigen“, erwiderte der Mann. „Ich lese die Erinnerungen der Frau von Prince. Ihr Mann Tom von Prince betreibt eine Plantage in den Usambara-Bergen.“

„Ich kenne diese Memoiren“, sagte Isolde in einem eher kühlen Ton.

„Sie scheinen Sie nicht gerade gefesselt zu haben?“

„Ich fand sie wenig informativ und voll europäischer Ressentiments.“

„Europäische Ressentiments? Sind wir Europäer nicht dazu verdammt, mit unserer Sichtweise an Land und Leute heranzutreten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, es ist unsere Aufgabe, Land und Leute unvoreingenommen kennenzulernen.“

„Das scheint mir viel verlangt.“

„Ich liebe Herausforderungen.“

Er lachte. „Mein Name ist übrigens Wilhelm von Nehring.“

„Isolde Hartmann. Was bringt Sie in die Kolonie?“

„Die Jagd. Und das Abenteuer.“

Isolde schmunzelte. „Nun, da haben wir ja etwas gemeinsam. Wohin werden Sie reisen?“

„In die Usambara-Berge und dann weiter in Richtung Kilimandscharo und zum Victoria-See. Und Sie?“

Isolde überlegte. Sollte sie Koch sofort folgen? Oder doch lieber einen Abstecher zu Elsa unternehmen?

„Ich denke, ich werde zunächst nach Wilhelmstal reisen und meine Schwester besuchen.“

Von Nehring nickte.

„Nun, da werde ich mich auch hinwenden. Wollen wir uns zusammentun?“

Kapitel 2

Mombo, 4. Juni 1906

Die Lokomotive ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Das Quietschen der Bremsen stellte die Haare an Isoldes Nacken auf und riss sie unvermittelt aus der Betrachtung der eindrucksvollen, mit grünem Regenwald bewachsenen Berge, die seit mehreren Stunden zu ihrer Rechten aufragten.

„Wir sind da“, sagte von Nehring. Er deutete auf ein einstöckiges Ziegelgebäude, an dem ein Schild angebracht worden war, auf dem Bahnhof Mombo stand. Er erhob sich und Isolde tat es ihm nach. Sie stiegen aus dem Waggon der zweiten Klasse, in dem nur Europäer und Hunde zugelassen waren, und gelangten auf einen staubigen Bahnsteig. Wie Isolde dem Führer durch Tanganital entnommen hatte, den sie in Tanga vor ihrer Abreise erworben hatte, war Mombo die vorläufige Endstation der Usambara-Bahn. Ein Weiterbau der Strecke bis nach Moshi am Fuß des Kilimandscharo war geplant, der Reichstag hatte die dafür notwendigen Gelder aber noch nicht genehmigt.

Von Nehring winkte vier der bereitstehenden einheimischen Träger zu sich und bedeutete ihnen, Isoldes Koffer und seine Taschen zu transportieren. Isolde holte ihre Kamera aus dem Futteral und fotografierte die Szene. Dann folgte sie dem Großwildjäger in das Ziegelgebäude. Im Inneren war es stickig, es roch nach Schweiß und Pfeifentabak. Ein Mann in einer Eisenbahneruniform kam ihnen entgegen. Er stellte sich als Werner Schreiber vor.

„Ich bin der hiesige Postbeamte. Sie haben wegen der Pferde telegrafiert?“

Von Nehring nickte.

„Wird Ihre Frau Gemahlin auch reiten? Wir haben keine Kutsche zur Verfügung.“

„Ich bin nicht seine Frau Gemahlin“, erwiderte Isolde, ehe der Großwildjäger zu Wort kam. „Und ja, ich werde reiten. Gerne auch im Herrensattel.“

Der Postbeamte musterte sie mit einem abschätzigen Blick, enthielt sich aber eines Kommentars. Er führte sie zu einer Koppel, an der zwei Pferde und mehrere Maultiere angebunden waren. Auf seinen Wink hin begannen die Träger, den Lasttieren das Gepäck aufzuladen, während ein einheimischer Stallbursche einen schweren Sattel herbeischleppte und sich abmühte, diesen dem ersten der beiden Pferde anzupassen.

„Und Sie wollen wirklich im Herrensitz reiten?“, fragte von Nehring.

Isolde lächelte. „Ich habe ganz Argentinien im Herrensitz durchquert, dann werde ich wohl auch die zwanzig Meilen bis Wilhelmstal auf diese Art reiten können.“

Sie trat zu dem Stallburschen und schob ihn sanft beiseite. Mit geübten Handgriffen befestigte sie den Sattel und wandte sich dem Reittier zu. Sie legte eine Hand auf seine Nüstern und sprach in beruhigenden Worten zu ihm. Dann schwang sie sich auf und trabte eine Runde über den Vorplatz. Sie spürte von Nehrings anerkennenden Blick auf sich ebenso wie das missfällige Starren des Postbeamten. Der Großwildjäger bestieg sein Pferd ebenfalls. Der Stallbursche reichte ihm die Leine, mit der die beiden Maultiere angebunden waren. Er befestigte sie an seinem Sattel und sah Isolde erwartungsvoll an. Sie beugte sich zu dem Jungen hinunter und drückte ihm eine Münze in die Hand. Dann schnalzte sie mit der Zunge und ihr Hengst trabte los.

Der gut vierstündige Ritt nach Wilhelmstal, dem Sitz des kaiserlichen Bezirksamtes und Hauptort der deutschen Siedlungen in den Usambara-Bergen war so spektakulär, wie Isolde es sich nur wünschen konnte. Zunächst durchquerten sie das flache Tal, doch schon bald stieg die Straße an, führte in zahlreichen Kurven durch den Regenwald an den Berghängen höher und höher hinauf. Wenn sie zurückblickte, sah sie den Lauf des Pangani immer tiefer unter sich, die weite Ebene, die bis zum Horizont reichte.

Mehrmals hielten sie an, damit Isolde Fotografien anfertigen konnte. Auf von Nehrings Versuche, Konversation zu treiben, antwortete sie nur knapp, zu sehr war sie mit Schauen beschäftigt. All die Eindrücke, all die Farben. Isolde war glücklich, sie fühlte den Rausch des Wunders. Alles, was immer sie sich als Mädchen erträumt hatte, wurde nun wahr. Wieder einmal.

Viel zu schnell erreichten sie das Hochplateau, auf dem sich Wilhelmstal befand. Die Siedlung lag in einem Talkessel, umgeben von grünen Hügeln, an denen sich die landwirtschaftlichen Betriebe angesiedelt hatten. Zweiundzwanzig Pflanzungen zählte der Führer auf. Und eine davon, die Plantage Müllerau, wurde von Elsa und ihrem Mann bewirtschaftet.

Sie ritten vorbei an niedrigen Hütten, passierten zwei herrschaftlich wirkende Bauten, in denen Isolde ein Postamt und die Forstverwaltung erkannte, und hielten schließlich vor einem zweistöckigen Gebäude, das ein mit Hotel zum kleinen Leutnant beschriebenes Schild als den örtlichen Gasthof auswies.

Als ob sie erwartet worden wären, kam ihnen ein kleiner, sonnengebräunter Mann entgegen. Die Spitzen seines enormen schwarzen Schnurrbarts hüpften aufgeregt auf und ab und in den vor Gel glänzenden, nach hinten gekämmten Haaren spiegelte sich die sinkende Sonne.

„Guten Tag, guten Tag!“, sagte er, und in seiner Stimme schwang ein Akzent mit, der Isolde kurz zusammenzucken ließ. Genau so hatte der Hoteldirektor in Venedig gesprochen, in dem Palazzo, in dem Emily, Isoldes große Liebe, nach ihrem Zusammenbruch jene unheilvolle Diagnose erhalten hatte, die sie das Leben gekostet hatte.

„Mein Name ist Georgio Zuganatto“, fuhr der Mann fort und Isolde schüttelte die quälenden Erinnerungen ab. „Ich bin der Direktor dieses kleinen, aber feinen Hotels.“

Von Nehring schwang sich von seinem Pferd und wollte Isolde zur Hand gehen, doch ehe er sie erreicht hatte, stand sie schon auf dem Boden.

„Wir benötigen zwei Zimmer“, sagte der Großwildjäger.

Zuganatto nickte. „Gerne, wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Er winkte mehreren, im Schatten einer Palme wartenden Jungen zu, die sich offenbar um die Pferde kümmern sollten.

„Wie weit ist es bis zur Plantage Müllerau?“, fragte Isolde.

Zuganatto runzelte die Stirn. „Nun, etwa drei Meilen in nordwestlicher Richtung“, sagte er.

„Gut“, erwiderte Isolde, setzte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich wieder in den Sattel. „Lassen Sie bitte das Gepäck in mein Zimmer bringen. Ich habe noch etwas zu erledigen.“

Sie nickte von Nehring zu, wendete ihr Pferd und trabte davon. Als sie die letzten Häuser der Siedlung hinter sich gelassen hatte, fand sie sich auf einem schmalen Weg wieder, der zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurchführte. Sie kam nicht so rasch voran, wie sie es erhofft hatte. Immer wieder musste sie absteigen und ihr Pferd über breite Wurzeln führen, die in den tiefen Furchen wucherten, welche die Räder zahlloser Karren in den Pfad gegraben hatten. Sie passierte eine Abzweigung, von der aus ein Weg zu einer Ansammlung von mit Palmenblättern gedeckten Hütten führte. Das musste ein Einheimischen-Dorf sein. Zwei Kinder spielten im Unterholz. Als sie Isolde sahen, rannten sie davon und riefen dabei „Mzungu! Mzungu!“ Sie erwog, in dem Dorf nach dem Weg zu fragen, entschied sich dann aber doch dafür, dem Pfad zu folgen, den Zuganatto ihr gewiesen hatte.

Nach einer weiteren Stunde beschlich Isolde immer mehr die Furcht, dass sie sich verirrt haben könnte, als plötzlich ein Schild am Wegesrand aufragte, auf dem die Worte Plantage Müllerau. Inh. Werner Müller geschrieben standen.

Sie atmete tief durch, ihr Herz schlug rasend schnell in ihrer Brust. Gleich würde sie ihre Schwester wiedersehen. Und sie würde ihre Nichte kennenlernen. Brünnhilde hatte sie das Kind genannt, das acht Monate nach ihrer Abreise nach Deutsch-Ostafrika geboren worden war. Ein Name, der so typisch für Elsa war, dass Isolde bei dem Gedanken daran schmunzelte. Sie trieb ihr Pferd zur Eile an und trabte durch das offenstehende Tor.

Der Weg führte zwischen Reihen von Kautschukbäumchen entlang. Isolde hatte in Brasilien riesige Gummiplantagen besucht und im Vergleich dazu erschienen die wenigen Pflänzchen mickrig. Zudem sahen sie ungesund aus. Das Blattwerk war dürr, wirkte teilweise vertrocknet. Und die Stämme wiesen zahlreiche Kerben auf.

In der Ferne sah sie ein Gebäude. Als sie näherkam, erkannte sie, dass es sich um das Wohnhaus der Plantage handeln musste. Sie hatte bislang nur blütenweiß gestrichene Häuser im Kolonialstil gesehen. Dieses war wohl auch einmal weiß gewesen, inzwischen war der Lack aber an vielen Stellen abgeblättert und das darunterlegende Holz schimmerte grau hindurch. Zu beiden Seiten des Wohngebäudes erstreckten sich niedrige Schuppen, die noch heruntergekommener wirkten. Isolde hielt ihr Pferd an und sah sich um. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Und es war still. Nur das Rauschen des Windes war zu hören, der durch das Blattwerk der Kautschukbäumchen strich. Isolde widerstand dem Impuls umzukehren. Die Szenerie hatte etwas Beängstigendes. Sie fürchtete nicht um ihr Leben, schließlich hatte sie auf ihren Reisen schon ganz anderen Gefahren getrotzt. Aber sie machte sich Sorgen um Elsa. Was war hier los? Irgendetwas stimmte nicht.

Isolde überwand ihren Widerwillen und ritt auf das Hauptgebäude zu. Dort stieg sie ab und band ihr Pferd an eine der groben Säulen, die das Vordach über dem Eingang stützten. Die Tür war nur angelehnt. Sie knarrte in den Angeln, als Isolde eintrat. Im Innern des Hauses war es düster. Sie fand sich in einem Flur wieder, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte. Ein mit einem Bastteppich verhängter Durchgang lag direkt gegenüber. Sie schob den Vorhang beiseite und betrat eine Art Salon. Hier standen mehrere Sessel um einen niedrigen Tisch. An der Wand war ein Fell aufgehängt worden, das sie einem Wildschwein zugeordnet hätte. Daneben prangte eine Schrotflinte.

Auf einem Kanapee unter dem Fell lag eine schlafende Gestalt. Ein neues Geräusch überlagerte nun das Rauschen des Windes. Es war ein leises Schnarchen. Isolde trat näher und als sie die Person erkannte, die dort schlief, zuckte sie zurück. Werner Müller war kaum wiederzuerkennen. Ein verfilzter, dünner Vollbart war auf den früher so penibel glattrasierten Wangen gewachsen. Die Augenlider waren geschlossen, die Haut dunkel, beinahe schwarz. Auf der Stirn standen dicke Schweißtropfen. Ob ihr Schwager an Malaria litt?

Da fiel Isoldes Blick auf eine leere Flasche, die neben dem Kanapee umgestürzt auf dem Boden lag. Sie hob sie auf und führte sie an ihre Nase. Der scharfe Geruch nach billigem Branntwein war unverkennbar. Sie stellte das Gefäß wieder hin und berührte Müller sanft an der Schulter. Nichts geschah. Sie drückte fester, schüttelte ihn. Er grunzte und wälzte sich zur Seite. Isolde spürte, wie eine Welle der Wut in ihr aufwallte. Sie ging zurück in den Flur und durch die Tür neben der Treppe. Wie sie richtig vermutet hatte, fand sie sich dort in einer Küche wieder. Auf dem Boden stand ein Eimer. Durch ein Fenster konnte sie einen Brunnen erkennen, der hinter dem Haus gegraben worden war. Sie trat hinaus, füllte den Eimer und kehrte damit in den Salon zurück. Müllers Schnarchen war lauter geworden.

Isolde hob das Gefäß und leerte den Inhalt über den Kopf ihres Schwagers. Die Wirkung war enorm. Müller riss die Augen weit auf. Er prustete, schnappte nach Luft und ruderte dabei wild mit den Armen, wobei er Zeter und Mordio schrie. Dann wurde ihm offenbar bewusst, dass er nicht alleine war.

„Wer … wer sind Sie?“, stammelte er. „Was wollen Sie hier?“

„Ich suche nach Elsa“, erwiderte Isolde kühl. „Meiner Schwester.“

Müllers Augen weiteten sich. „Fräulein Hartmann. Wie kommen Sie hierher?“

„Mit dem Schiff, dem Zug und dem Pferd. Wo ist Elsa?“

Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Ton schärfer wurde, aber der Anblick des desolaten Zustands ihres Schwagers hatte Isoldes brennende Sorgen um ihre Schwester weiter angefacht.

„Meine Frau befindet sich aktuell nicht auf Müllerau“, erwiderte er.

„Und wo ist sie dann?“

Er schluckte. „In Wugiri.“

Isolde kniff die Augen zusammen. „Wugiri? Wo ist das?“

„Etwa 50 Meilen von hier. In den östlichen Usambara-Bergen. Es ist ein Sanatorium.“

Isolde spürte, wie eine eiskalte Hand an ihre Kehle griff. „Ein Sanatorium? Hat sie sich mit Malaria infiziert? Oder mit –“

Ihre Stimme brach ab. Sie konnte das Wort nicht aussprechen, zu furchtbar war die Erinnerung an das Leiden ihrer geliebten Emily.

Müller schüttelte den Kopf. „Sergeant Lüdecke, der Sanitäter des örtlichen Regiments, war der Ansicht, dass meine Frau unter einem besonders schweren Fall von Neurasthenie leidet.“

Isolde spürte, wie eine zentnerschwere Last von ihr abfiel. Eine Neurasthenie war eine schlimme Erkrankung, ohne Frage. Erschöpfung, Ermüdung, Kopfschmerzen und eine quälende Melancholie plagten die Patientinnen und die behandelnden Ärzte konnten keine körperlichen Ursachen erkennen. Aber die Krankheit würde Elsa nicht das Leben kosten.

„Wie lange ist Elsa schon in diesem Sanatorium?“

Müller fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. „Seit vier Monaten.“ Er sah zu Boden.

Isolde widerstand dem Drang, ihn zu fragen, warum seine Plantage in einem derart jämmerlichen Zustand war. Sie konnte es sich denken.

„Fräulein Hartmann“, sagte Müller und seine Augen suchten Isoldes Blick. Er sah sie eindringlich an. „Elsa hört nicht mehr auf mich. Ich möchte, dass sie zurückkehrt. Aber sie hat meine Briefe nicht beantwortet. Vielleicht ist es eine glückliche Fügung des Schicksals, dass Sie zu uns gekommen sind. Ihren Worten wird meine Frau sich nicht verschließen. Gehen Sie nach Wugiri. Reden Sie mit ihr. Sie muss zu mir zurückkehren.“

Isolde schüttelte den Kopf. „Ich muss dringend nach Amani weiterreisen. Und ich bin ohnehin schon spät dran. Wenn Wugiri in den östlichen Usambara-Bergen liegt, ist das genau in der entgegengesetzten Richtung meines Ziels.“

Müller hob flehend die Hände. „Ich bitte Sie. Im Namen Ihrer Schwester. Und im Namen ihrer Nichte. Reden Sie mit Elsa!“

Isolde schluckte. Was sollte sie tun?