Leseprobe Vicious Elite

Prolog

Elizabeth

Es heißt, dass die Wahrheit einen befreien konnte. Und auf eine verdrehte Art und Weise stimmte das auch. Selbst wenn die Wahrheit grausam war, war es besser sie zu kennen, um auf sie reagieren zu können, als sie von einer Lüge abzudecken und immer mit dem Damoklesschwert über einem zu leben und Angst haben zu müssen, dass es irgendwann auf einen hinabfiel und einem den Hals zertrennte. Dennoch wollte ein Teil von mir diese bittersüße Blase aus Unwissenheit und Frieden bewahren, weil ich panische Angst vor dem hatte, was als Nächstes kommen würde. Ich konnte es in ihrem Blick sehen. In den hellen Iriden, die meinen so sehr ähnelten. Sie war Reina. Meine Tante Reina. Sie saß vor mir. Ich hatte sie gefunden und nun würde sich alles ändern. Ich betete nur, dass das Leben, das Schicksal eine gute Wendung für mich bereithielt. Für uns. Vito und mich. Und all die anderen, die uns bis zu diesem Punkt begleitet hatten.

Kapitel 1

Vito

Eine Woche zuvor

„Warte! Das ist Irrsinn! Wir können nicht einfach gehen“, rief Lizzy und stoppte abrupt, noch bevor wir das Tor der Blackbury Academy wirklich hinter uns gelassen hatten. Wir kamen auch nur schwerfällig voran. Noch immer hatte ich das Gefühl, mein Bein würde bluten. Der Schuss war vielleicht nicht tief gewesen und hatte mich nur leicht gestreift, dennoch war ich mir sicher, dass ich mit dieser Verletzung eigentlich nicht durch den Regen laufen sollte. Es war aber nicht zu ändern. Vom Himmel prasselten die Tropfen auf uns herab und befeuchteten den Boden, sodass er matschig und rutschig war. Bei jedem Schritt befürchtete ich in den Dreck zu fallen, aber irgendwie hielt ich mein Gleichgewicht.

„Wieso nicht? Es ist nicht so, als hätten wir eine andere Wahl.“ Ich keuchte vor Anstrengung und blieb ebenfalls stehen. Unaufhörlich fiel der Regen auf mich und öffnete der Kälte Tür und Tor. Der aufkommende Wind ließ mich frösteln und nun wünschte ich mir, wir wären klug genug gewesen, um noch einmal in unsere Zimmer zu gehen und die notwendigsten Gegenstände einzupacken. Eine Jacke beispielsweise, denn bei diesem Wetter war ein Sakko wenig hilfreich. Lizzy musste es mit ihrem Kleid noch schlechter gehen. Doch es war nicht mehr zu ändern. Wir hatten die Akademie verlassen und waren offiziell keine Schüler mehr. Ich würde mich nicht lächerlich machen, nur um zurückzugehen und bei Vater zu Kreuze zu kriechen. Es war abzusehen gewesen, dass es irgendwann zu diesem Punkt kommen würde, an dem ich mich entscheiden musste. Und ich hatte richtig gewählt. Ich liebte Elizabeth. Fuck, so sehr! Uns gab es nur noch gemeinsam. Ich war nun ein Teil von ihr und hatte meinem Vater endgültig den Rücken gekehrt. Eine Tatsache, über die ich wahnsinnig froh war. Sein Auftritt hatte das mehr als deutlich gemacht. Ich blutete, verdammt! Aber das hatte ihn nicht einmal interessiert. Stattdessen hatte er nur verlangt, dass wir aufhörten, im Dreck zu wühlen und all die Geheimnisse aufzudecken, die bereits Staub angesetzt hatten.

„Man hat immer eine Wahl und du triffst gerade die falsche!“, brüllte Lizzy, als es über unseren Köpfen donnerte. Das tiefe Grollen vermengte sich mit dem Plätschern der Regentropfen, die auf dem Boden auftrafen. Schon nach wenigen Sekunden klebten mir meine Haare feucht an der Stirn und meine Kleidung schmiegte sich unangenehm gegen meine Haut.

„Denkst du das wirklich?“, fragte ich und drehte mich zu ihr um, nur um scharf die Luft einzuziehen. Hatte sie eine Ahnung, wie wunderschön sie aussah? Selbst jetzt im Regen, wo ihre Haare an ihrem Gesicht hinunter hingen und der Saum ihres Kleides sich mit Matsch vollgesogen hatte, war sie unbeschreiblich bezaubernd. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen glitzerten verdächtig. Ihren Oberkörper hielt sie fest mit ihren Armen umschlungen, um noch das letzte bisschen Körperwärme zu schützen. Am liebsten wäre ich auf sie zugegangen, hätte sie an mich gezogen und sie einfach geküsst. Aber das hatte Zeit. Nichts hetzte uns mehr. Wir mussten uns nicht mehr versteckt in irgendwelchen Nischen küssen, damit es niemand sah. Nein, ich konnte meine Liebe zu ihr nun von den Dächern schreien, wenn ich wollte. Und fuck, das hatte ich auch vor! Ich wollte Lizzy. Unbedingt! Niemals hatte ich irgendetwas mehr begehrt als sie. War es deshalb wichtig, dass ich gerade den Ort verlassen musste, an dem ich mich zum ersten Mal wie zu Hause gefühlt hatte? War es von Bedeutung, meine Freunde in der Akademie zurücklassen zu müssen, oder vielleicht nie wieder ein Wort mit meinem Vater wechseln zu dürfen? Nein, weil all das nicht so wichtig für mich war wie Lizzy. Alles verlor seinen Wert, solange sie an meiner Seite war.

„Du zerstörst dein Leben. Meinetwegen.“ Sie schniefte leise und versuchte gar nicht erst, sich gegen die Kälte zu schützen, die uns beide umgab. Wir mussten dringend aus diesem Regen raus, bevor wir uns eine Lungenentzündung holten und Perrys Vergleichen von Romeo und Julia noch mehr Futter gaben. Ich hatte keine Lust zu sterben, schon gar nicht jetzt, wo ich endlich wusste, dass Lizzy und ich nicht miteinander verwandt waren.

„Nein, das ist nicht wahr!“ Vehement schüttelte ich den Kopf. Ihretwegen? Dachte sie das tatsächlich? Das war Blödsinn. Ich tat es nicht für sie. Dafür war ich viel zu egoistisch. Nein, ich machte es für mich. Weil ich nicht ohne sie leben wollte. Weil ich so versessen darauf war, mit ihr zusammen zu sein, dass ich alles dafür opfern würde. Und sie brauchte die Wahrheit. Sie konnte nicht ohne die Gewissheit weitermachen, was mit ihrer Tante geschehen war und ich respektierte das. Die Wahrheit war es wert, dafür zu kämpfen.

„Doch! Du kannst alles verlieren, wenn wir jetzt gehen. Das Geld deines Vaters …“ Lizzy verzog gepeinigt ihre Miene. Einzelne nasse Strähnen fielen ihr ins Gesicht und blieben dort kleben, als sie erneut den Kopf schüttelte. Die verzweifelte Geste, der schmerzerfüllte Ton sorgten dafür, dass sich mein Herz zusammenzog. Verdammt! Ich wollte dieses Geld ohnehin nicht. War mein Leben aufgrund dessen eine Zeit lang sehr einfach gewesen? Ja, absolut, aber deshalb konnte ich Vater auch nicht mit allem durchkommen lassen.

„Ich habe bereits alles verloren, Lizzy! Siehst du das nicht? Vielleicht warst du der Auslöser, du hast all das ins Rollen gebracht, aber diese ganze Geschichte begann lange bevor wir beide uns getroffen haben. Er  dieses gottverdammte Arschloch  hat mein Leben bereits zerstört. Alles, woran ich geglaubt habe, ist eine Lüge. Das weiß ich jetzt. Dank dir.“ Mit eiligen Schritten überbrückte ich die Distanz zwischen Lizzy und mir, wobei bei jeder Bewegung ein schmerzhafter Stich durch mein Bein jagte. Aber das kümmerte mich nicht, solange ich dafür näher bei ihr sein und ihr die Strähnen aus dem Gesicht streichen konnte. Meine Finger waren warm im Vergleich zu ihrer ausgekühlten Haut und ich liebkoste sanft ihre Wange, als ihre Haare wieder an Ort und Stelle waren.

„Es tut mir so leid!“, hauchte sie und die Tränen schimmerten stärker in ihren Augen. Sie schluchzte und es zerriss mir das Herz, dass sie sich schlecht fühlte. Das sollte sie nicht. Ich wollte, dass sie glücklich war und sie sich wohlfühlte. Andererseits konnte ich nicht erwarten, dass sie nun mit einem Lächeln durch die Gegend lief, nur weil ich mich so fühlte, als könnte ich die ganze Welt umarmen. Sie war es schließlich, die noch vor wenigen Minuten in diesem scheußlichen Waschraum gesessen hatte und beinahe vergewaltigt worden wäre.

„Es ist nicht deine Schuld. Nichts von dem, was heute geschehen ist. Ich bin verantwortlich. Ich habe eine Ewigkeit meine Augen davor verschlossen, was genau vor meiner Nase war. Meine Mum …“ Ich schloss frustriert die Augen. Ja, Mum. Was sollte ich zu ihr sagen? Zum Teil fehlten mir die Worte. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie es am Ende sein würde, die uns helfen würde. „Sie ist ein guter Mensch und mein Vater liebt sie nicht. Er hat sie immer nur in Angst und Schrecken versetzt, bis sie sich gewehrt hat. Mit Briefen, die ich nie geöffnet habe.“ Weil ich ein Angsthase bin. Ich sprach es nicht aus, aber im Grunde war es die Wahrheit. Ich hatte nicht schon wieder Vaters Beleidigungen und Anschuldigungen lesen wollen. Und genau mit denen hatte ich gerechnet, weil ich sie seit Jahren bekam. Ich hatte mir das einfach nicht mehr zumuten wollen und vielleicht hätte mir das schon zu denken geben sollen. Eltern waren biologisch darauf programmiert, ihre Kinder zu lieben. Vater war also mehr ein Erzeuger als ein Vater und das hatte bestimmt nicht Lizzy zu verantworten. Nur weil sie es aufgedeckt hatte, machte es sie nicht zur Täterin, sondern zur Mitstreiterin. „Es ist nicht deine Schuld, sondern meine. Ich habe zu wenig zugehört und diese beschissenen Briefe nicht geöffnet.“

„Du wusstest es nicht“, widersprach Lizzy und schmiegte sich an meine Hand. Sie seufzte genüsslich und trat instinktiv einen Schritt näher, um ihren Körper an meinen zu pressen und sich so vor dem Auskühlen zu schützen.

„Ist das eine Entschuldigung?“ Ich schlang meine Arme um ihre Taille und zog sie fester an mich. Sanft beugte ich mich zu ihr hinab, bis ich ihren Atem auf meiner Haut fühlen konnte. „Selbst ich hatte so viel Angst vor seinen Worten, dass ich die Briefe nicht lesen wollte. Wie hatte mir entgehen können, dass er ein Monster ist?“ Erschöpft legte ich meine Stirn auf ihrer ab und genoss das Gefühl ihrer Haut an meiner. Ihre Wärme umhüllte mich, genau wie der unvergleichliche blumige Geruch, den ich nur mit ihr verband. Scheiße, wie gern hätte ich sie nun einfach gegen die nächste Wand gedrückt und geküsst? In meiner Vorstellung hatte dieser Abend immer so geendet. Ich hatte mir solche Hoffnungen auf dieses Fest gemacht und auf das, was Brown uns erzählen würde, und hatte dabei McLachlan unterschätzt. Das würde mir nicht wieder passieren. Niemals. Nicht, wenn Lizzy diejenige war, die unter meinen Verfehlungen litt. „Aber der Fehler passiert mir wohl öfter, sonst wärst du heute nicht in dieser Situation gewesen. Geht es dir gut?“ Die Frage kam mir viel zu wenig und gleichzeitig zu viel vor. Fuck, es ärgerte mich, dass ich sie überhaupt stellen musste, aber noch immer bebte Lizzys Körper und ich wusste nicht, ob es an der Temperatur lag oder daran, dass vor Kurzem noch jemand mit einer Waffe auf uns gezielt hatte. Oder an dem Orgasmus, den sie gehabt hatte. Direkt auf meiner Zunge. Noch immer hatte ich das Gefühl, ihre Klit in meinem Mund pochen spüren zu können. Es hatte sich unglaublich angefühlt und ich hätte nichts dagegen, das zu wiederholen. Leider mussten wir zuerst den riesigen Haufen Probleme lösen, ehe wir unsere Zweisamkeit genießen konnten.

„Ja, mir ist kalt, aber es geht mir gut.“ Lizzy nickte unter Tränen und beugte sich weiter zu mir, bis ihre Nasenspitze meine berührte. Ein paar Regentropfen fielen zwischen uns und landeten auf ihrer Wange. „Ich liebe dich, Vito!“, hauchte sie und leckte sich über die trockenen Lippen. Ihr Blick brannte sich liebevoll in meinen. Sehnsucht breitete sich langsam darin aus und zeigte, dass ich nicht der Einzige war, der sich darauf freute, Lizzy endlich nah sein zu können. Mein Schwanz zuckte bei der Vorstellung freudig in meiner Hose.

„Ich liebe dich auch!“, flüsterte ich zurück und meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als ich meinen Unterleib gegen ihren presste und Lizzy leise keuchte. Das Rot ihrer Wangen wurde dunkler, doch statt vor Scham zurückzuweichen, rieb sie ihre Mitte gegen meine. „Fuck, du fühlst dich so gut an!“ Ich stöhnte und hob das Kinn ein Stück, bis unsere Lippen nur noch Millimeter voneinander entfernt waren. Ein Kuss, mehr wollte ich gar nicht. Das war nicht zu viel, aber leider viel zu wenig und ich wusste, dass es nicht bei dem einen bleiben würde, wenn ich sie nun küsste. Nein, ich würde mehr wollen und mich hassen, weil ich es jetzt nicht bekommen konnte. Nicht hier im Garten von Blackbury. Irgendwo mussten wir unterkommen. Am besten an einem Ort mit einem Bett. „Wir müssen aus diesem Regen raus“, sagte ich bestimmt, rührte mich jedoch nicht vom Fleck. Ich schaffte es einfach nicht, obwohl ich mein Bestes versuchte. Ich wehrte mich gegen das warme, heimische Gefühl des Friedens, das Lizzy in mir auslöste und versuchte mich selbst zu motivieren. Irgendwie klappte es, dass ich mich doch noch von ihr zurückzog, doch das war eher Lizzy zu verdanken, die meinen inneren Kampf bemerkte und ihre Nase ein letztes Mal an meiner rieb, ehe sie nach hinten wich.

„Wohin sollen wir gehen? Meine Tante ist viel zu weit weg und ich denke nicht, dass deine Familie uns das Geld für den Flug geben wird. Wir sind obdachlos und all unsere Sachen sind in Blackbury.“

Ich schluckte bei ihren Worten. Ja, diese Aussichten erschienen einem wirklich nicht rosig. Verflucht! Dabei hatte sie nicht ganz recht. Ich hatte noch das Geld, das ich in meiner Geldbörse bei mir trug und ich hatte das Auto, das nicht weit entfernt stand und eigentlich dafür sorgte, dass ich mit meinen Freunden Blackbury zum Feiern verlassen konnte. Früher hatten wir das öfter gemacht, aber nach Carlys Tod … Egal, jetzt würde uns der Wagen helfen von hier wegzukommen. Und ich wusste auch schon, wo unser erster Halt sein würde.

„Die anderen können uns unsere Kleidung bringen, immerhin sind sie noch Schüler an der Academy, und alles andere brauchen wir erst mal nicht.“ Nicht, wenn wir uns hatten. Ich hoffte nur, dass wir beide all die Widrigkeiten überstehen würden. Wahrscheinlich war das der Grund, wieso Perry all diese schnulzigen Liebesromane liebte. Weil die Paare darin immer gestärkt aus irgendwelchen Notsituationen hervorgingen. Ich betete, dass diese Geschichten nur ansatzweise der Realität entsprachen und mein Vater nicht die Beziehung von Lizzy und mir mit seinem Verhalten zerstören würde, bevor sie wirklich begonnen hatte.

„Werden wir zurückkommen?“, fragte Lizzy und drehte ihren Kopf von mir weg, um stattdessen das riesige Gebäude anzusehen, das bis vor wenigen Minuten noch unser Zufluchtsort gewesen war. Doch selbst den hatte Vater uns nun weggenommen. Ob sich seine anderen Opfer ebenfalls so gefühlt hatten? Reina? Grace? Carly? Hatten sie das Gefühl gehabt, nirgendwo mehr vor ihm sicher zu sein? So ging es mir nämlich. Egal, wo wir hingehen würden, er würde es wissen. Wir konnten ihm nicht entkommen. Doch vielleicht wäre ein Versteckspiel auch der falsche Ansatz gewesen. An Reina hatten wir ja gesehen, welche Konsequenzen das haben konnte, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Gerade jetzt hätten wir ihre Unterstützung dringend gebrauchen können. Oder die Antworten auf die Fragen, die nur sie uns geben konnte. Beispielsweise wer mein Halbbruder oder meine Halbschwester war. Ob das Kind selbst es wusste? Kannten wir uns vielleicht sogar? Besuchte es die Blackbury Academy und hatte ich mit meiner Aktion gerade bewirkt, dass ich ihn oder sie niemals finden würde? Fragen über Fragen und es waren weit und breit keine Antworten in Sicht.

„Sobald wir das finanzielle Problem gelöst haben.“ Meine Stimme klang zuversichtlicher, als ich mich fühlte. Mir war klar, dass der harte Weg noch vor uns lag, auch wenn die Route bis hier her ebenfalls einem Marathon glich. Dennoch versuchte ich das Lächeln auf meinen Lippen zu bewahren, während ich wieder an Lizzy herantrat, weil ich es nicht ertrug, dass sie in meiner Reichweite war, ohne dass ich sie berührte.

„Und wie stellen wir das an?“ Lizzy verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, als würde es ihr schwerfallen, aufrecht stehen zu bleiben. Wahrscheinlich war es auch so. Sie musste genauso müde sein wie ich. Der Adrenalinspiegel fiel langsam ab und ließ eine bleierne Erschöpfung zurück.

„Ich muss mit meiner Mum sprechen. Am besten sofort.“ Sollte ich sie anrufen? Nein, die Machenschaften des eigenen Vaters waren nichts, was man am Telefon miteinander erörterte. Also würde ich sie besuchen müssen und da sie gerade im Zweitwohnsitz war, könnten wir tatsächlich ohne Flug auskommen. Zwar würden wir ein paar Stunden fahren müssen, aber noch hatte ich genug Geld für den Tank. Scheiße, über so etwas hatte ich mir nie irgendwelche Gedanken gemacht und nun … Geld bekam wohl wirklich erst dann einen Wert, wenn man keines mehr hatte. „Bist du bereit deine zukünftige Schwiegermutter kennenzulernen?“

Elizabeth riss die Augen auf. Ihre Gesichtszüge entgleisten. „Nein?!“, murmelte sie kleinlaut und schluckte sichtlich, was mich breiter grinsen ließ. Was? Hatte sie nach dem heutigen Abend wirklich Angst, meine Mutter zu treffen? Wenn sie meinen Vater überlebte, dann auch die Begegnung mit Mum. Außerdem hatten wir nicht wirklich eine andere Möglichkeit, es sei denn wir wollten tatsächlich draußen im Regen schlafen.

„Tut mir leid, es wird sich nicht verhindern lassen.“ Nicht, dass ich damit ein Problem hatte. Wenn es nach mir ginge, war Lizzy ein Teil der Familie, denn sie gehörte zu mir. Und mit etwas Glück würde sie das auch für immer.

Kapitel 2

Elizabeth

„Sie beide werden bereits erwartet.“

Ich wusste nicht, was ich gedacht hatte, wie Vitos Elternhaus aussehen würde, doch womit ich bestimmt nicht gerechnet hatte, war ein Typ mit der Statur eines Gorillas, der an der Tür stand und uns willkommen hieß. Aber genau das war die Realität. Ein Mann im Anzug öffnete uns die Tür und machte eine einladende Geste in Richtung des Hausinneren. Sein Gesicht war ausdruckslos und eine Sonnenbrille verdeckte seine Augen, sodass ich nicht hätte sagen können, welche Farbe seine Iriden hatten.

„Bitte?“ Verblüfft starrte ich ihn an, weil ich das Gefühl hatte, in einem Paralleluniversum gelandet zu sein. Tante Grace hatte am Ende des Monats manchmal Schwierigkeiten, um das Geld für einen großen Einkauf aufzubringen und wir mussten auf Eis oder andere Süßigkeiten verzichten, da sie teuer, aber nicht überlebensnotwendig waren. Und die Familie Perez hatte jemanden, um nicht selbst an die Tür gehen zu müssen? Das kam mir verdammt falsch vor. Doch ich sagte nichts und zwang ein höfliches Lächeln auf meine Lippen, um dem Angestellten dankbar zuzulächeln, als er zur Seite trat und uns den Weg frei machte.

„Die Herrin des Hauses ist im Speisesaal und bittet um Ihre Gesellschaft“, berichtete er und seine Stimme klang beängstigend monoton. Als wäre er ein Roboter ohne Gefühle oder Meinung.

„Vielen Dank, wir finden den Weg allein“, versicherte Vito, täuschte ebenfalls ein Lächeln vor und drängte sich an dem Türsteher vorbei. Mich zog er dabei einfach mit sich und in den Eingangsbereich, der von einer riesigen Treppe dominiert wurde, die in den ersten Stock führte. Genau auf diese eilte Vito zu und setzte schwerfällig einen Fuß vor den anderen. Zeitgleich hielt er sich am Geländer ab, um sich selbst den Aufstieg zu erleichtern. Keine Ahnung, wie er es schaffte, all die Stufen mit seinem verletzten Bein hinter sich zu lassen, aber irgendwie gelang es ihm tatsächlich.

„Woher wusste sie, dass wir kommen würden?“, fragte ich und folgte Vito auf dem Fuße. Er führte mich von der Treppe einen wunderschön ausgestatteten Gang entlang. Alle paar Meter waren dunkle Bodenvasen zu erkennen, in denen weiße Blumen steckten und die Gegend mit ihrem betörenden Duft erfüllten. Darüber hingen in regelmäßigen Abständen kleine Kronleuchter von der Decke und tauchten den roten Teppich, auf dem wir gingen, in ein sanftes Licht. Alles in diesem Haus war farblich aufeinander abgestimmt und sah teuer aus. Das war es vermutlich auch. Ich wollte lieber gar nicht wissen, was der Stoff kostete, auf dem wir gerade liefen und die feuchte Erde, die an unseren Schuhen klebte, darauf verteilten.

„Keine Ahnung, aber sie weiß anscheinend über alles Bescheid, was um sie herum geschehen ist, auch wenn mir ein Rätsel ist, wieso sie nie etwas gesagt hat.“ Vito zuckte ratlos mit den Schultern und lehnte sich beim Gehen ein wenig gegen meinen Körper, weil sein Bein inzwischen wieder schmerzen musste. Auf dem Weg hatten wir bei einem Krankenhaus gehalten und hatten die Wunde versorgen lassen. Sie wurde desinfiziert, genäht und verbunden. Er hatte auch Medikamente gegen die Schmerzen bekommen, doch bisher hatte er keine davon genommen.

„Das liegt daran, dass dein Vater immer der Meinung war, Frauen wären nur für zwei Dinge gut: hübsch auszusehen und Kinder zu bekommen. Ihn hat es nicht interessiert, dass ich etwas mitbekomme und er war sich auch nicht zu schade, um Lügengeschichten zu erzählen und einfach davon auszugehen, ich würde sie niemals hinterfragen.“ Die Stimme einer Frau empfing uns, als wir das Ende des Flurs erreichten und bei einer weit geöffneten Tür ankamen, hinter der die wunderschöne Besitzerin der Stimme auf einem Stuhl saß und sich gerade in unsere Richtung drehte. Sie trug ein silbernes Kleid, das ihre Silhouette umspielte und perfekt zu ihrer gebräunten Haut und den hellen Haaren passte, die ihr zur Hälfte über die Schultern fielen. Der Rest ihrer Strähnen war in einer Hochsteckfrisur befestigt. Ihre Arme hatte sie einladend von sich gestreckt, während sie ein Lächeln auf ihre Züge zauberte und uns entgegensah. „Willkommen zu Hause, Vito!“

„Mum.“ Vito beschleunigte seine Schritte und nickte seiner Erzeugerin zur Begrüßung zu. Zeitgleich strich er das Shirt glatt, das er trug. Die Aktion half jedoch nicht gegen die Falten, die darin zu erkennen waren.

„Und du musst Elizabeth sein.“ Vitos Mutter richtete ihren Blick vielsagend auf mich. Sie wippte mit einem Fuß und sah mich an, als würde sie auf irgendwas warten. Ich wusste nur nicht auf was. Dass ich etwas sagte vielleicht?

„Lizzy reicht“, nuschelte ich und blieb hastig im Türrahmen stehen, weil mich plötzlich Panik durchflutete. Der rational denkende Teil meines Gehirns wusste, dass es dafür keinen Grund gab. Sie war nicht Damon Perez und sie hatte uns mit den Briefen geholfen, sodass sie nicht halb so bösartig sein konnte. Dennoch blieb ein Restzweifel zurück, den ich nicht loswurde. Vito bemerkte meine Starre und hielt ebenfalls an, um mich anzusehen.

Vitos Mutter nickte. Sie richtete sich ein wenig auf und nickte mir von ihrem Platz aus zu. Ihre Mundwinkel waren nach oben verzogen und das Lächeln auf ihren Lippen wirkte warm und einladend. Dennoch wusste ich nicht ganz, was ich von ihr denken sollte. „Schön, dass wir uns endlich begegnen, Lizzy. Ich war gespannt, welche Frau es geschafft hat, Vitos Herz zu stehlen.“

Vito zischte leise und warf seiner Mutter einen warnenden Blick zu, damit sie nicht noch mehr sagte. Dabei hätte ich gern gewusst, was sie von mir hielt. Ob ich in ihren Augen für Vito die Richtige war oder nicht. Keine Ahnung, wieso mir das wichtig war, immerhin würde es nichts an Vitos Gefühlen für mich ändern, nicht wahr? Dennoch hatte ich den Drang, von ihr gemocht zu werden. Sie war Vitos Mutter. Meine Schwiegermutter, wenn ich Vitos Worten Glauben schenkte und verdammt, das tat ich. Wenn es nach mir ging, würden wir uns nicht wieder trennen. Niemals.

„Wir brauchen Hilfe, Mum!“, gab Vito zu und zog mich über die Türschwelle in den großen Raum, der wohl das Speisezimmer darstellte. Eine riesige Tafel erstreckte sich in der Mitte des Zimmers, über der ein großer Kronleuchter hing und jede Ecke beleuchtete. Mehrere Stühle waren um den Tisch verteilt und auf einem davon saß Vitos Erzeugerin mit überschlagenen Beinen und beobachtete uns immer noch aufmerksam, als wollte sie keine Bewegung von uns verpassen.

„Ich weiß. Und ihr seid leider nicht die Einzigen.“ Vitos Mutter verschränkte die Arme vor der Brust, wodurch der Stoff ihres Kleides zerknittert wurde. Dennoch floss die Seide über ihre Beine und umspielte ihre Schenkel wie sanfte Wellen. Sie sah wunderschön aus. Wie eine Königin, die uns eine Audienz gewährte.

„Was meinst du damit?“ Alarmiert sah Vito sich um, als hätte er Angst, wir wären nicht allein. Aber außer uns beiden und seiner Erzeugerin war niemand zu sehen. Egal, wer also in Schwierigkeiten steckte, wir konnten nicht helfen. Zumindest nicht sofort.

„Dein Vater hat angerufen“, informierte uns Vitos Mutter und lehnte sich ein Stück zurück, bis ihr Rücken gegen die Tischkante hinter ihr stieß. „Jetzt hat er völlig den Verstand verloren. Er übernimmt bis auf Weiteres die Leitung der Blackbury Academy, weil  laut ihm  dort unzumutbare Umstände herrschen. Als Beispiel dafür hat er den bewaffneten Jungen genannt, der angeblich heute Nacht in der Waschküche um sich geschossen hat.“ Vielsagend ließ sie ihren Blick von Vitos Gesicht bis zu seinem Bein nach unten wandern. Zwar war der Verband von seiner Hose verdeckt, allerdings verriet die Ausbeulung des Stoffes, dass darunter etwas war. Blässe breitete sich über die Wagen von Vitos Mutter aus, als ihr klar wurde, dass ein Teil der Geschichte wohl stimmte.

„Er hat McQueen gekündigt?“ Erschrocken zog ich die Luft ein. Nein! Das durfte nicht sein! Wieso? Ich schnaubte. Die Frage konnte ich mir selbst beantworten. Weil sie versucht hatte, Vito und mir zu helfen.

„Nein, aber sie ist auf unbestimmte Zeit ihres Amtes enthoben.“ Bedauernd ließ Vitos Mum den Kopf hängen. Ihre zierliche Gestalt brach zusammen, bis ihre stolze Haltung gekrümmt wirkte. Sie atmete lautstark aus und blickte an Vito vorbei zu mir. „Geht es dir gut, Elizabeth? Die Gerüchte bezüglich der Situation in dieser Waschküche …“

„Er hat sie nicht angefasst.“ Vitos Stimme klang wie das Knurren eines wilden Tieres. Hart und ungestüm. Als wollte er alle Spekulationen im Keim ersticken, worüber ich froh war. Auf keinen Fall wollte ich, dass irgendwer darüber debattierte, was vielleicht oder vielleicht auch nicht im Keller der Akademie geschehen war. Am liebsten hätte ich die Nacht einfach hinter mir gelassen und vergessen. Noch immer hörte ich nämlich den Schuss, der sich aus der Waffe gelöst hatte, und Vitos Aufschrei. Ich hatte niemals zuvor solche Angst gehabt und ich wollte nicht daran erinnert werden.

„Das habe ich auch nicht behauptet. Ich wollte nur sichergehen, dass sie nicht auch einen Arzt benötigt.“ Vitos Mutter erhob sich grazil von ihrem Stuhl und kam uns Schritt für Schritt entgegen. Dabei musterte sie mich unverhohlen vom Haaransatz bis zu den Schuhspitzen. Als sie mir wieder in die Augen sah, lächelte sie aufmunternd.

„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Nur ein Streifschuss.“ Vito machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre die Wunde an seinem Bein nur eine Kleinigkeit, obwohl sie mit einigen Stichen genäht werden musste. Dass er eigentlich im Krankenhaus hätte bleiben müssen und auf eigene Verantwortung gegangen war, berichtete er seiner Mutter nicht.

„Sollte etwas Derartiges wieder vorkommen, meldest du dich sofort bei mir. Ist das klar? Das Geld dieser Familie gehört auch mir, das sollte dein Vater nicht vergessen.“ Streng stemmte sie die Hände in die Hüften und bedachte Vito mit einem tadelnden Blick.

„Also gibst du uns das Geld, um wieder an die Akademie zu können?“, fragte Vito und ging nicht auf die Maßregelung ein. Dabei waren die Worte seiner Mum nicht als Kritik gemeint. Ich konnte die Sorge dahinter vernehmen und die verzweifelte Bitte, dass Vito nie wieder so etwas passieren sollte. In ihren Augen konnte ich sehen, was ich bei Damon Perez in diesem Waschkeller so vermisst hatte: Liebe. Ihr Sohn war ihr wichtig. Die Erkenntnis sorgte dafür, dass mein Herz schneller schlug.

„Solange dein Vater dort ist? Bestimmt nicht!“ Vitos Mutter lachte auf, als wäre der bloße Gedanke lächerlich. Vielleicht war es das auch. Solange Damon Perez dort war, würde niemand von uns sicher sein. Am allerwenigsten Vito und ich. „Bringt Beweise für das, was er getan hat. Wenn er hinter Schloss und Riegel sitzt, könnt ihr in Ruhe euren Abschluss machen“, versprach sie ernst, nachdem ihr Lachen verstummt war.

„Es gibt diverse Zeugen.“ Vito trat einen Schritt auf mich zu und legte einen Arm um meine Taille. So fest, dass ich die Wärme seines Körpers sogar durch die feuchten Lagen unserer Kleidung fühlen konnte.

Vitos Mum seufzte tief. Ein Ton des Mitleids kam über ihre Lippen, doch ich wusste nicht, für wen genau er bestimmt war. Als sie den Mund allerdings wieder öffnete, klang ihre Stimme wieder kraftvoll. „Das wird nicht reichen. Alle Aussagen kann er abstreiten. Was er jedoch nicht einfach beiseite wischen kann, ist ein Vaterschaftstest.“

„Wir suchen also immer noch meinen Cousin oder meine Cousine?!“ Verzweifelt legte ich den Kopf in den Nacken und hätte am liebsten zu beten begonnen, damit irgendjemand uns aus dieser verfahrenen Situation holte und uns half. Wir brauchten ein Zeichen. Irgendeines. Aber es kam nichts. Keine höhere Macht rettete uns. Stattdessen griff Vito nach meiner Hand, als wäre ich immer noch zu weit von ihm entfernt, und zeigte damit, dass ich zumindest nicht alleine in all dem feststeckte.

„Ja.“ Vitos Mum nickte und sah auf unsere verschlungenen Hände hinab. Dennoch löste Vito sich nicht von mir. Im Gegenteil, er rückte näher an mich heran, bis unsere Becken aneinanderstießen.

„Du weißt auch davon?“ Verwundert stutzte Vito und richtete seinen Blick wieder von mir auf seine Mutter. Gleichzeitig drückten seine Finger meine Hand. Die Geste wirkte beruhigend, dennoch klopfte mein Herz noch viel zu schnell gegen meine Rippen.
„Es gibt wenig, was ich nicht weiß. Einige von uns suchen seit Jahren nach Reina, aber niemand hat sie seit damals gesehen. Es ist fast, als wäre sie vom Erdboden verschluckt.“ Mit einige meinte Vitos Mutter wohl auch sich selbst, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie es geschafft hatte, all das hinter dem Rücken von Vitos Vater zu machen. Andererseits schien das Ehepaar Perez nicht viel Zeit miteinander zu verbringen, immerhin hatte Damon seine Frau auch jetzt nicht mit nach Blackbury genommen. Sie war hier und er dort, ohne zu wissen, was der jeweils andere tat.

„Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte?“, hinterfragte Vito und ein hoffnungsvoller Unterton schwang in seiner Stimme mit, doch auch seine Mum konnte uns keinen Lichtblick bieten. Sie schien auch nur die Informationen zu haben, die alle anderen hatten. Aber es musste doch eine Person geben, die Reina als Letztes gesehen hatte, oder nicht?

„Es wird gemunkelt, dass sie den Namen geändert hat und wahrscheinlich stimmt das, aber das bedeutet nur, dass es noch schwerer ist, sie zu finden“, erzählte Vitos Mutter und sah mich entschuldigend an, als würde sie es bereuen, mir nicht mehr sagen zu können. Dabei war es nicht ihre Schuld, dass sie meine eigene Tante besser kannte als ich. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, unter welchem neuen Namen Reina ein weiteres Leben beginnen hätte können.

„Wir suchen also die Nadel im Heuhaufen.“ Frustriert strich ich mir eine Strähne aus der Stirn. Durch den Regen hatten sich die Haare ein wenig eingeringelt und ich fragte mich, welchen erbärmlichen Eindruck ich auf die Hausherrin machen musste. Sicher, das war bestimmt nichts, worüber ich mir Gedanken machen sollte, immerhin wurde ich diesen Abend beinahe vergewaltigt, erschossen, bedroht und war durch den Regen gelaufen, während ich geheult hatte. Dennoch wollte ich, dass Vitos Mum mich mochte. Ich wollte, dass sie mich für gut genug für Vito hielt.

„Ja.“ Traurig nickte Vitos Mutter und ihr war anzusehen, dass die Situation sie genauso belastete wie uns. Das sanfte Lächeln auf ihrem Gesicht wich einem starren Blick und ihr gebräunter Teint wurde blasser.

„Wäre es in Ordnung, wenn wir erst morgen damit anfangen? Ich bin unheimlich müde und will endlich aus den nassen Sachen raus.“ Vitos Gähnen unterstrich seine Aussage noch einmal und ich konnte ihm nur zustimmen. Zwar war unsere Kleidung schon am Trocknen, doch die Feuchtigkeit ließ den Stoff unangenehm an meiner Haut kleben und langsam setzte ein Jucken ein, sodass ich mich am liebsten ausziehen würde. Leider musste das noch eine Weile warten.

„Ihr könnt nicht hierbleiben.“ Es waren nur vier Worte aus dem Mund von Vitos Mutter, doch sie trafen mich in mein wehrloses Herz. Hieß das, sie würde uns nicht helfen? Panik überkam mich. Half sie Damon Perez doch? Nein, das glaubte ich nicht. Dafür war sie viel zu … keine Ahnung … warmherzig? Niemand, der seinen Sohn so liebte wie sie, würde ihn Derartiges durchgehen lassen, nicht wahr?

„Wieso nicht?“ Irritiert legte Vito den Kopf schief und wollte sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagern. Erst, als er vor Schmerz zusammenzuckte, erinnerte er sich wohl daran, dass sein Bein immer noch verletzt war.

„Wenn dein Vater herkommt, ist es nicht sicher. Das Anwesen gehört zum Teil ihm und ich denke nicht, dass er vor irgendetwas zurückschrecken wird, nach deinem Statement heute.“ Vielsagend zog Vitos Mutter beide Augenbrauen zu ihrem Haaransatz und ich fragte mich, wie detailliert ihr die Geschehnisse wiedergegeben worden waren. Blut schoss mir ins Gesicht. Meine Wangen erhitzten sich. Ob sie wusste, dass Vito vor mir auf den Knien gerutscht war und seine Zunge tief in mir vergraben gehabt hatte, als wir in diesem Waschkeller gewesen waren? Hoffentlich nicht.

„Du setzt uns vor die Tür?“ Überrascht klappte Vitos Mund auf und er starrte seine Mutter an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. Auch ich konnte meinen Schock nicht verbergen. Keine Ahnung, was genau ich gedacht hatte. Dass wir herkommen und sie all unsere Probleme lösen würde? Das wäre wohl zu viel verlangt gewesen, immerhin hatte sie erst vor wenigen Stunden erfahren, was in Blackbury geschehen war.

„Nein. Ihr könnt in das Sommerhaus. Rechtlich gehört es seit etwa einer Stunde dir. Herzlichen Glückwunsch!“, meinte Vitos Mutter, drückte Vito einen Zettel in die Hand und legte danach ihre Finger auf seine Wange, während sie ihm tief in die Augen sah. Sie schien darauf zu warten, dass er verstand, was sie gesagt hatte. Vito brauchte eine Weile, doch ich realisierte es sofort. Wir würden nicht hierbleiben, wo Damon Perez jederzeit zurückkommen konnte. Wir würden jedoch auch nicht auf der Straße landen. Dafür hatte Vitos Mum gesorgt. Sie hatte Vito kurzerhand einen Teil seines Erbes geschenkt. Ein Haus für uns beide. Eines, das Damon uns nicht mehr wegnehmen konnte. Genauso wie alles, was in diesem Gebäude war. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

„Was ist mit dir?“, verlangte Vito zu wissen, als auch ihm klar wurde, was seine Mutter getan hatte. Denn eines war sicher: Damon würde sich das nicht einfach gefallen lassen. Er würde jemandem die Schuld geben und Vitos Mum würde ganz oben auf seiner Liste stehen.

„Mein Flug in die Schweiz geht in ein paar Stunden“, erklärte Vitos Mum und zog die Mundwinkel in die Höhe. Sie deutete ein Lächeln an und atmete lautstark aus.

„Danke, Mum!“ Vito kuschelte sich gegen die Finger seiner Mutter und seufzte erleichtert, als die Sorge von ihm abfiel. Auch ich fühlte mich plötzlich freier, als mir klar wurde, dass sie nicht in Gefahr sein würde, solange Damon Perez an der Akademie und sie auf einem anderen Kontinent war. So war sie in Sicherheit, während sie uns aus der Ferne helfen konnte.

„Ich liebe dich! Vergiss das bitte nie!“ Sanft zog Vitos Mutter die Hand von der Wange ihres Sohnes und das sanfte Lächeln auf ihrem Gesicht vertiefte sich. Kleine Fältchen bildeten sich um ihre Mundwinkel.

„Wieso haben Sie ihn geheiratet?“, fragte ich, weil mich die Antwort interessierte. Sie hatte gewusst, was damals geschehen war, oder nicht? Selbst wenn nicht hatte sie es im Laufe der Jahre herausgefunden und sich nicht scheiden lassen. Wieso nicht? Sie hatte all die Demütigungen, die Scham ertragen über all die Monate. Ich verstand es einfach nicht. Ich an ihrer Stelle wäre vor diesem Monster geflohen.

Vitos Mutter stieß ein Lachen aus, das zwischen Verbitterung und Frust schwankte. Es war weit davon entfernt fröhlich zu klingen. „Ein Teil von mir dachte tatsächlich, ich könnte ihn ändern, oder er würde selbst den Willen entwickeln, sich für mich zu verändern. Aber das waren Träume von einem kleinen Mädchen, das verliebt in die Liebe war und sich von Geld und Macht hat blenden lassen. Die Wahrheit ist, dass Menschen ihr Bestes geben können, aber ihr Charakter wird sich dabei nicht verformen. Sie werden immer im Innersten bleiben, was sie sind. Gut oder schlecht. Wenn jemandes Herz vergiftet ist, helfen auch keine guten Taten, die er vollbringt, um ihn zu einem Heiligen zu machen.“

„Sie haben jemanden seinetwegen verloren und wollen Rache.“ Es war keine Frage, sondern eine Tatsache. Das wusste ich, während die Worte über meine Lippen kamen. Vitos Vater hatte so viele Menschen in seinem Umfeld verletzt. Schlussendlich sogar seine Frau und seinen Sohn. Wie konnte ihm das egal sein?

„Reina ist eine gute Freundin gewesen und Carly … sie war wie eine Tochter für mich. Ich hätte nicht erwartet, dass er je so weit gehen würde. Sie war sein Kind. Mein Mädchen. Das ist unverzeihlich.“ Vitos Mum schluchzte leise und wandte kurz den Blick ab. Sie zitterte merklich und schien sich zusammenzureißen, um nicht zu weinen. Dafür hatte sie meinen Respekt. Sie trauerte noch immer um diese beiden unglaublichen Frauen.

„Es tut mir leid!“, hauchte Vito und bedachte seine Mutter mit demselben Mitleid, das auch ich für sie empfand. Sie hatte Carly gekannt im Gegensatz zu mir und meine Cousine schien ihr wirklich etwas bedeutet zu haben. Und dennoch hatte Vitos Vater sie ihr weggenommen. Kein Wunder, dass sie nicht mehr hinter ihrem Mann stand.

„Mir auch! Danke, dass du versuchst, das Unrecht wieder geradezurücken. Solltet ihr mich brauchen, meldet euch bei mir!“ Vitos Mutter umarmte ihn zum Abschied und drückte ihn eine Sekunde länger als notwendig an sich, ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf mich richtete und ebenfalls eine Umarmung andeutete, es sich jedoch im letzten Moment anders überlegte und mir doch nur die Hand reichte, als wüsste sie nicht wirklich, was in dieser Situation angebracht war. Um ihre Unsicherheit zu vertreiben, nahm ich ihre Hand schnell entgegen und schüttelte sie leicht.

„Das werden wir. Vielen Dank!“ Ich lächelte sie strahlend an und freute mich, dass zumindest ein Elternteil von Vito nichts gegen unsere Beziehung zu haben schien. Es beruhigte mich, weil es bedeutete, Vito würde nicht seine komplette Familie verlieren. Meine Freude hielt an, als wir uns von ihr abwandten und uns auf den Weg zum Ausgang machten.

„Halt! Wartet!“, rief Vitos Mutter uns hinterher. Ihre Stimme war viel lauter, als es notwendig gewesen wäre, immerhin waren wir nicht weit gekommen. Vito hatte immer noch Schwierigkeiten zu gehen. Bei jedem Schritt humpelte er, um das verletzte Bein nicht zu belasten. Zwar hätte er es hoch lagern und ausruhen sollen, aber dazu hatten wir leider erst später Zeit.

„Was denn noch?“ Fragend drehte sich Vito wieder zu seiner Mum um und hob eine Augenbraue an. Dabei presste er mich näher an seine Seite, als wollte er mich keine Sekunde loslassen. Nicht, dass ich mich darüber beschweren würde. Auch ich hatte nach den Erlebnissen im Waschkeller das Gefühl durchzudrehen, wenn er sich von mir entfernte. Immer wieder dachte ich daran, dass alles anders hätte ausgehen können. Schlimmer. Vito hätte sterben können, wenn McLachlan zur falschen Zeit abgedrückt hätte.

„Das werdet ihr vielleicht brauchen“, sagte Vitos Mutter mit einem Lächeln im Gesicht und zog aus ihrer Hosentasche mehrere quadratische Verpackungen. „So gern ich die Wahl deiner Freundin auch unterstütze, habe ich nicht vor, jetzt schon Großmutter zu werden. Ist das klar?“ Gespielt streng drückte sie ihrem Sohn ein paar Kondome in die Hand und sah uns vielsagend an.

„Mum!“ Entsetzt sah Vito seine Mutter an und seine Pupillen weiteten sich. Sein Kiefer spannte sich an. Sein Blick huschte von seiner Mum zu mir und wieder zurück, als würde er sich Sorgen machen, was diese Anspielung bei mir auslösen könnte. Auch ich rechnete mit einem Gefühlschaos. Angst, Zweifel und Panik, doch es blieb aus. Dafür empfand ich einen noch nie zuvor da gewesenen Frieden. Ich war vielleicht eine Jungfrau, aber die Aussicht, es bald nicht mehr zu sein, rief keine Furcht mehr in mir hervor.

„Was? Denkst du ich war nicht auch einmal jung?“ Vitos Mum lachte schallend und schüttelte belustigt den Kopf, während sie uns mit einer Handbewegung fortschickte. Gern wäre ich noch geblieben und hätte erklärt, dass Vito und ich keinen Sex miteinander hatten. Doch ich tat es nicht. Stattdessen folgte ich Vito mit schnellen Schritten zurück zur Treppe, weil selbst ich nicht wusste, was heute Nacht passieren würde. Tatsache war, dass Vito und ich keine Geschwister waren. Wir waren nicht verwandt und verdammt verliebt ineinander. Ich wollte mit ihm schlafen, oder nicht? Worauf sollten wir warten? Bis die nächste Katastrophe eintrat? Nein, das wollte ich nicht. Wir hatten uns lange genug in Zurückhaltung geübt und es gab niemanden, den ich mehr liebte als Vito. Es wurde Zeit, dass ich ihm genau das auch zeigte. Mit jeder Faser meines Körpers.