Leseprobe Todesschweigen

1

Die Leidenschaft verleiht ihr Flügel und als sie diese ausbreitet, schwebt sie. Gleitet durch den Raum, trunken vor Vorfreude, die sich prickelnd in ihr ausbreitet.

Sie schleudert die Frau zu Boden. Vernimmt den dumpfen Laut, den der Aufschlag des Kopfes verursacht.

Endlich ist es so weit! So lange wartete sie, verzehrte sich danach, ihm nahe sein. Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Bar. Sie mit verlaufenem Make-up, da es draußen in Strömen gegossen hatte, er, wie immer, blendend aussehend in seinem dunklen Anzug, dem schiefen Grinsen und den stahlgrauen Augen, deren Blick in sie drang.

Die Frau röchelt, würgt. Dreht sich auf den Bauch, um dann, wie ein verendendes Insekt zu kriechen.

Überall sind Rosenblätter verstreut, auf dem Boden, dem Bett. Nur einmal erwähnte sie diese - zugegebenermaßen klischeebehaftete - Vorliebe Jannik gegenüber und er arrangierte den Raum ihren Vorstellungen entsprechend. In dem Zimmer mit den schwarzen Wänden und Möbeln, wirkten sie wie Küsse, mit denen er den Raum auf ihr Zusammentreffen vorbereitet hatte. Sie ließ sich mit ihm auf das Bett fallen.

Das Kriechen wird langsamer, verebbt schließlich vollends. Sie beugt sich zu der Frau hinunter, um sie auf den Rücken zu drehen.

Er ist über ihr. Der Griff seiner Hände, fordernd und zur selben Zeit liebkosend. Jede Berührung entflammt ihre Haut, schürt die Begierde.

Sie setzt sich auf die Brust der Frau, kämpft den Ekel nieder, der sich ihrer zu bemächtigen droht. Insbesondere dieser Bereich ist ein Sinnbild der Weiblichkeit und erst dann erträglich, wenn kein Atem ihn mehr hebt und senkt. Den zuckenden Körper drückt Sie zu Boden. Betrachtet das Gesicht, in dem sich die Augen angstvoll weiten, legt dann die Hände um den Hals, spürt den Adamsapfel, der sich gegen die Handflächen drückt.

Mit ausgebreiteten Armen empfängt sie seine Küsse, schmeckt seine Lippen, spürt die Wogen der Hitze, die sie durchfließen.

Der Mund öffnet und schließt sich, ohne dass sich ein Schrei der Kehle entringt. Die weit aufgerissenen Augen zucken hin und her. Sie spürt, wie die Auszulöschende sich unter ihr aufbäumt. Sie neigt sich vor und erhöht den Druck, bis etwas krachend nachgibt. Der Knorpel des brechenden Kehlkopfes.

Ihr blondes Haar fließt von ihrem Schopf über die dunklen Laken, rahmt ihr Gesicht ein. Eine goldene Corona, während ihrem leicht geöffneten Mund lustvolles Stöhnen entweicht.

Die Augen starren Sie entsetzt an, dann bricht der Blick und Sie weiß, dass es vollbracht ist. Die Existenz ist ausgelöscht und die Ausgelöschte bereit, hergerichtet zu werden. Zu einem Bild, das eine Botschaft übermittelt.

Sein Finger fährt sanft die Kontur ihrer Lippen entlang. „Ich bin verrückt nach deinen Rosenlippen“, sagt Jannik.

Sie hievt den Körper auf das Bett, breitet Arme und Beine aus, dann das das Gesicht umfließende, blonde Haar. Nimmt das Skalpell in die Hand und schneidet.

Ich bin verrückt nach deinen Rosenlippen, denkt Sie.

Sie ist ein Ästhet.

2

Der Schock fraß sich in ihre Eingeweide. Ignorierte den Verstand, der ihr nüchtern mitteilte, dass sie seit zwanzig Jahren Mordtatorte untersuchte. Dieser ist anders, wollte sie ihm entgegenschreien, während das Grauen ihren Blick lenkte, um das totenschädelartige Grinsen zu fixieren.

Der Täter hatte Rosenblätter auf dem Bett und dem Boden verstreut und Kerzen entzündet, die zum Teil immer noch brannten. Das Ganze wirkte wie eine Szenerie in einem kitschigen Liebesfilm. Oder war eine geplante Liebesnacht aus dem Ruder gelaufen? Hatten sich hier zwei Liebende getroffen, und die Situation war im Streit eskaliert?

Das erschien unwahrscheinlich, schon aufgrund eines weiteren, nicht unwesentlichen Details  das Lächeln, das ihre Aufmerksamkeit unbarmherzig auf sich lenkte: Der Leiche fehlten die Lippen. Der Täter hatte sie, möglicherweise mit einem Skalpell, aus dem Gesicht geschnitten, was ihr den grausamen Ausdruck eines immerwährenden Lächelns verlieh. Welcher Liebende würde der Angebeteten so etwas antun? Selbst in der größten Wut kam ein Verbrechen, wie jemanden im Affekt zu töten, zwar vor, aber diese Vorgehensweise hatte Zeit und einen Plan erfordert.

Vera wollte gerade zu Doktor Sputnik hinübergehen, um ihn nach seiner Einschätzung zu fragen, als ihr jemand auf die Schulter tippte. „Entschuldigung, Kommissarin Winter?“

Winter schätzte den jungen Beamten auf Anfang zwanzig. Unruhig sprang sein Blick zwischen ihr und der Leiche auf dem Bett in ihrem Rücken hin und her. Es wäre untertrieben gewesen zu sagen, der Mann sei angespannt.

„Was gibt es denn?“ Es kostete sie Mühe, nicht zu entnervt zu klingen. Dieser junge Kerl wirkte, als müsste er sich im nächsten Augenblick über die Kloschüssel beugen, um sein Frühstück an die Kanalisation zu übergeben und tat ihr im nächsten Augenblick leid.

„Da möchte jemand mit Ihnen sprechen. Sagt, es wäre wichtig.“

Vera sah an dem jungen Mann vorbei zum Wohnbereich der Suite, in dem ein Mann mittleren Alters, mit Bauchansatz und dunklem Maßanzug, stand, den zwei Beamte daran hinderten, in den Raum vorzudringen.

„Und mit wem haben wir es zu tun?“ Dieses Mal gelang es ihr nicht, den Ärger aus ihrem Tonfall herauszuhalten. Was lernten die Beamten denn heute auf der Polizeischule?

„Also, er ist …“ Der junge Beamte kratzte sich am Hinterkopf, während er seine Schuhe betrachtete. „Ich denke, er ist der Hoteldirektor.“

Vera seufzte. „Sie denken. Wir werden uns noch mal darüber unterhalten, welche Fragen Sie einer Person stellen müssen, vor allem zu ihrer Identität und der beruflichen Position.“ Sie ließ den jungen Mann stehen und ging zu dem Herrn im dunklen Anzug, der mit den beiden Beamten vor sich diskutierte.

Als er sie sah, richtete er das Wort an sie. „Sind Sie die zuständige Kommissarin?“

„Winter. Genau so ist es.“

Der Mann blickte irritiert drein.

„Winter ist mein Name, kein Hinweis auf die Jahreszeit.“

„Ach so.“ Kurz verzog er die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln. „Ernst Kieping, ich bin der Hoteldirektor.“ Vera beantwortete die Vorstellung mit einem knappen Nicken.

„Es ist absolut notwendig“, mit gestrecktem Zeigefinger dirigierte Kieping seine Worte, „dass nichts nach außen dringt. Einen derartigen Imageschaden können wir uns nicht leisten.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden zu diesem Zeitpunkt die Presse noch nicht verständigen. Aber wir können natürlich keinen Einfluss darauf nehmen, sollte bereits etwas nach außen gedrungen sein.“ Kiepings Miene, die sich kurz aufgehellt hatte, verfinsterte wieder. „Sie sollten vor allem auf Ihr Personal einwirken. Die Presse wird eher von einem Ihrer Mitarbeiter informiert als von einem meiner Beamten.“

„Meine Angestellten sind loyal. Sie sollten da Ihre Erfahrungen nicht verallgemeinern.“ Kieping funkelte sie angriffslustig an, und Vera war klar, dass sie sich unklug ausgedrückt hatte. Sie hatte eine kurze Nacht gehabt und war von dem Anruf, dass es einen Mord gegeben hatte, aus dem Schlaf gerissen worden.

Dennoch schluckte sie den aufwallenden Ärger herunter, zwang ihre Mundwinkel nach oben und schaffte es sogar, einen freundlichen Ton anzuschlagen. „Dann verlässt keine Information diesen Raum, was derzeit auch in meinem Sinne ist. Derartige Meldungen sorgen für unnötige Panik und rufen selbst ernannte Kommissare auf den Plan. Wir ziehen also am selben Strang.“

Kiepings Lippen, die er zuvor zu einem blassroten Strich zusammengepresst hatte, entspannten sich und er nickte.

„Sie könnten uns weiterhelfen“, sagte Vera.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich muss wissen, auf welchen Namen dieses Zimmer gebucht wurde, und möchte außerdem mit dem Angestellten sprechen, der die Buchung vorgenommen hat. Ebenso mit allen Personen, die gestern und heute im Hotel gearbeitet haben.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Sie würden unseren Ermittlungen einen unschätzbaren Dienst erweisen.“

„Selbstverständlich“, sagte Kieping und verließ das Zimmer.

Vera atmete hörbar aus. Sie hoffte, dass Kieping recht hatte und keiner seiner Angestellten Informationen vom Mord oder Tatort an die Presse trug. Einige Menschen sind sich nicht zu schade, für ein bisschen Aufmerksamkeit die Grundsätze von Moral und Ethik mit Füßen zu treten, dachte sie bitter.

„Können Sie mir schon etwas zu Todesursache und Todeszeit sagen?“, fragte sie Doktor Sputnik, der sich über die Leiche beugte und zu dem sie hinübergegangen war.

„Sie wurde erwürgt.“ Er wies auf die violetten Male am Hals der Leiche.

„Und das?“ Vera wies auf den Mund der Leiche. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten, dieses groteske Lächeln zu verarbeiten, das im Grunde keines war. Wer kam auf solch eine Idee?

„Das geschah erst post mortem, würde ich sagen, genau weiß ich das allerdings erst nach der Obduktion.“

„Danke“, sagte Vera. Sie mochte Sputnik. Er hatte einen messerscharfen Verstand, auf den sie sich stets verlassen konnte, und vor allem machte er klare Aussagen, die ihr weiterhalfen.

Sie fuhr herum, als ihr erneut auf die Schulter getippt wurde. Wie sie das hasste! Dieses Mal würde ihr der junge Kerl nicht so davonkommen! „Lassen Sie das, verdammt noch mal!“, zischte sie und erntete einen entgeisterten Blick.

„Entschuldigung … ich wollte nur …“ Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

„Wir haben einiges zu klären, aber das muss warten. Vorerst gilt Folgendes: Sie berühren mich nicht ungefragt, und Sie nehmen Aussagen und Personalien auf, bevor Sie mir einen Zeugen vorstellen. Haben Sie das verstanden?“

Der junge Polizist nickte. Kurz glaubte Vera, er würde in Tränen ausbrechen. Was war nur los mit den jungen Leuten heute? Diese Millennials waren mit den einfachsten Aufgaben überfordert, konnten mit Stress meist nicht umgehen. Wenn sie an ihre ersten Jahre dachte  das hätte von diesen Weicheiern keiner durchgehalten.

„Also, was ist los?“, fragte sie.

„Die Rezeptionisten sind da. Sowohl der, der die Buchung durchführte, als auch der von gestern Abend.“

Na, das ist doch schon mal was, dachte sie.

„Dann werde ich sie gleich befragen.“ Sie strebte umgehend in Richtung Zimmertür.

„Soll ich Ihnen nicht sagen, was ich schon erfahren habe?“, rief ihr der junge Polizist hinterher.

Vera blieb kurz in der Tür stehen und sah sich um. „Machen Sie sich keine Umstände, ich komme zurecht.“ Damit verließ sie die Suite.