Leseprobe The Boyfriend Deal

Prolog

Jenna

Ein wenig wehmütig rühre ich in meiner Kaffeetasse und schaue aus dem großen Fenster des Vegalanas.

Draußen verlieren die Bäume allmählich ihre Blätter und ich freue mich, dass ich den Herbstbeginn in Flourish Bay zumindest noch für wenige Tage miterlebe. Ich liebe den Herbst, aber schon bald werde ich hier alle Zelte abbrechen und nach New York ziehen. Dort ist es definitiv anders als hier in der Kleinstadt, egal zu welcher Jahreszeit. Aber es ist die perfekte Gelegenheit, um wie Lana mit ihrem veganen Restaurant ebenfalls meinen Traum zu verwirklichen. Meinen Traum vom eigenen Café.

Das Klirren von Geschirr reißt mich aus meinen Gedanken, als meine Eltern sich zu mir an den Tisch setzen, in den Händen jeweils einen Teller mit einem Stück Cheesecake darauf. An der Bar gibt Lana ihrer Servicekraft noch ein paar Instruktionen und macht sich dann ebenfalls auf den Weg zu unserem Tisch.

„Genieß die letzte Woche in der Heimat noch“, witzelt Dad, nachdem er es sich mir gegenüber gemütlich gemacht hat. „Auch wenn New York auf viele junge Leute eine geradezu mystische Anziehungskraft hat, zu Hause ist es doch meist am schönsten.“

Mum setzt sich neben ihn und wirft ihm einen schwer zu deutenden Blick zu. „Mit ein wenig mehr Geduld wäre dieser einschneidende Umzug gar nicht erst nötig. Aber auf mich wollte ja niemand hören.“

„Ach Mum.“ Mit besänftigender Stimme versuche ich meine Mutter von einem ihrer typischen Vorträge abzuhalten. „Es sind doch schon so viele junge Leute nach New York gegangen. Hier in der Familie hast du zwei perfekte Beispiele.“

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Lana kurz vor unserem Tisch innehält. Anstatt mir beizupflichten, setzt sie sich immerhin neben mich und nickt zustimmend.

„Das ist etwas ganz anderes“, setzt Mum nun doch zu einer Rechtfertigung an. „Lana ist schließlich wieder zurückgekommen. Sie war für einen begrenzten Zeitraum dort und hatte keinen Druck, einen Businessplan einhalten zu müssen. Wenn man in Schwierigkeiten ist, gerät man in so einer Großstadt schnell an die falschen Leute.“

Ernsthaft? Bevor ich mein Café überhaupt eröffnet habe, denkt sie schon daran, wie ich es gegen die Wand fahre? Na wunderbar.

„Außerdem war sie älter als du“, fährt Mum fort, als würde das jedes weitere meiner Argumente entkräften.

„Ein halbes Jahr“, springt Lana nun doch für mich in die Bresche. „Das ist eben so, wenn man sich erst nach mehreren Umwegen für den Herzenswunsch entscheidet. Wenn ich nicht ewig andere Sachen angefangen hätte, wäre ich viel jünger gewesen.“

„Das stimmt, Schatz“, pflichtet auch Dad ihr bei. „Auf das Alter solltest du es wirklich nicht schieben. Jenna ist sehr konsequent, was ihre Lebensziele betrifft. Das sollten wir respektieren.“

„Und honorieren.“ Lana hat im Gegensatz zu uns nichts zu essen vor sich stehen und lehnt sich mit verschränkten Armen in ihrem Stuhl zurück. „Jason ist auch in New York, die Tochter der Johnsons hat sich damals für den Big Apple entschieden und ich glaube, die Zwillingssöhne, die drei Blocks von uns entfernt gewohnt haben, sind nach der Highschool ebenfalls dorthin umgezogen.“

Ich kann an Mums Miene deutlich sehen, dass ihr die Argumente ausgehen. „Jason ist ein Mann. Vorher ist er lange hier und viel älter gewesen, als er nach New York gezogen ist. Und die Jackson-Zwillinge waren immerhin zu zweit.“

Obwohl ich normalerweise auf die Gender-Diskussion angesprungen wäre, lege ich die Gabel neben meinen Teller, stehe auf und gehe um den Tisch herum. Zuerst sieht mich Mum erschrocken an, aber als ich mich zu ihr beuge und sie umarme, legt auch sie ihr Besteck ab und tätschelt mir den Rücken.

„Ach, mein Schatz“, murmelt sie, und ich höre deutlich an ihrer Stimme, dass sie versucht, aufkommende Tränen zu unterdrücken. „Ich will doch nur, dass euch nichts passiert. Ich meine es wirklich nicht böse.“

„Das weiß ich doch, Mum.“ Ich lasse von ihr ab, und für einen Moment sehen wir uns einfach nur händchenhaltend an. „Ich schaffe das. Vertrau mir. Und du hast ja noch Liam, der noch ein paar Jahre zu Hause wohnen wird.“

„Ist in Ordnung“, erwidert sie schniefend und wischt sich über die Wange. Langsam löse ich meine Hände aus ihren und gehe zurück auf meinen Platz.

„Aber wenn es etwas gibt, mit dem wir dich unterstützen können, sagst du unbedingt Bescheid, ja?“ Dad schabt auch noch die letzten Kuchenreste von seinem Teller und schiebt sie sich in den Mund. „Wir unterstützen dich genauso, wie wir auch Lana und Jason bei ihren Träumen unterstützt haben.“

„Das ist lieb von euch. Fürs Erste ist es schon mal eine riesige Hilfe gewesen, dass ihr für mich bei dem Kredit gebürgt habt. Vielleicht könnt ihr mich hin und wieder besuchen, dann bin ich zufrieden.“

„Jenna, wirklich.“ Empört klappt Mums Mund auf. „Natürlich werden wir das. Genauso wie wir jede Woche bei Lana essen gehen und so gut wie jedes Heimspiel von Jason besuchen.“

„Das lässt sich sogar perfekt kombinieren“, wirft Lana ein, während sie in ihrer Kaffeetasse rührt. „Vor dem Spiel geht ihr bei Jenna vorbei und wenn ihr abends wieder nach Flourish Bay kommt, esst ihr bei mir zu Abend.“

Dankbar lächele ich meiner großen Schwester zu. „Klingt wirklich nach einem tollen Plan.“

„Wisst ihr was?“ Mum macht eine theatralische Pause und trennt ein weiteres Stück ihres Kuchens ab. „Mir fällt gerade ein, wer noch nach New York gezogen ist. Er ist sogar in Lanas Jahrgang gewesen. Damon Tanner.“

Aus dem Augenwinkel merke ich, wie sich Lana versteift. Gleichzeitig erscheint ein Bild in meinem Gedächtnis, die Erinnerung an ein Ereignis.

***

Ich muss damals elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Gemeinsam mit einer Freundin war ich auf einem Spielplatz und Lana kam mit ihrer Freundin Stacey, um mich zum Abendessen abzuholen. Ich hatte noch keine Lust zu gehen, also rannte ich zu meinem Lieblingsversteck unter der Rutsche und dachte mir immer wieder andere Ausreden aus, warum ich unbedingt noch bleiben musste.

Plötzlich war ein metallisches Poltern zu hören, gefolgt von begeistertem Johlen. Lana und ihre Freundin erstarrten. „Shit, das ist Damon“, zischte Stacey und sah sich panisch um. „Wir können nicht weg.“

Die lärmenden Jungen kamen in mein Sichtfeld und ich erkannte den Kerl, den sie meinten. Damon war in der ganzen Highschool bekannt, weil er jede Möglichkeit, die sich ihm bot, nutzte, um andere Schüler zu malträtieren. Und dabei machte er auch nicht vor Mädchen oder Jüngeren Halt. Ihm war es schlichtweg egal, Hauptsache, er konnte die Angst seiner Opfer spüren.

„Na, wenn das mal nicht Lana und Stacey sind“, höhnte er und schritt auf die beiden zu, begleitet von dem Gelächter seiner drei Kumpels. „Bleibt ihr noch ein bisschen bei uns?“

„Wir sind nur auf dem Heimweg“, erwiderte Stacey mit zitternder Stimme. „Bis morgen.“ Sie warf Lana einen vielsagenden Blick zu, doch meine Schwester war wie erstarrt.

„Also, ich finde Lana sieht aus, als würde sie gern noch ein wenig bleiben.“ Damon trat näher und grinste noch breiter. „Ist es nicht so, Mitchell?“

Es war Zeit zu gehen, das wusste ich. Und auch ich wollte mittlerweile verschwinden, so weit weg von diesen Typen wie möglich. Aber irgendetwas an dieser Situation ließ mich in meinem aktuellen Versteck unter der Rutsche verharren.

Als Damon Lana noch näher kam, trat sie einen Schritt zurück. Seine Miene verfinsterte sich. „Was ist denn los, Lana? Magst du mich etwa nicht?“ Mit einem Mal schnellte sein Arm nach vorne und packte sie am Handgelenk, bevor sie noch weiter zurückweichen konnte. „Sag doch mal endlich was.“

„Lass sie los!“, schrie Stacey sofort. „Damon, wirklich, wir wollten euch nicht stören.“

Damons Freunde blieben still, beobachteten die Szene wie Raubtiere. Dank Staceys Ablenkung riss Lana sich von Damon los und lief weg.

„Hey, wo willst du hin?“ Mit wenigen Schritten hatte Damon sie eingeholt und trat nach ihr. Sein Fuß traf meine Schwester in die Kniekehle und ließ sie hart zu Boden gehen. Mit einem bedrohlich klingenden Lachen kniete er sich neben sie, bog ihren rechten Arm auf den Rücken und beugte sich ganz nahe über sie. „Du magst mich wohl wirklich nicht, Mitchell.“

Von meiner Position aus konnte ich genau sehen, dass Angst in Lanas Augen stand. Das und der hämische Ausdruck ihres Schulkameraden ließen Panik in mir aufsteigen. Irgendetwas musste ich getan haben, eine Bewegung, ein Geräusch, irgendwas, denn Damons Blick schnellte nach oben und fand mich. Sein Grinsen wich. Dann schaute er wieder herab auf Lana, die zu weinen begonnen hatte.

„Hey, Damon“, rief einer seiner Kumpels. „Was machen wir mit ihnen?“ Die anderen drei hatten Stacey geschnappt, ein Kerl fixierte ihre Arme hinter dem Rücken. Staceys Gesicht war vor Wut ganz rot, doch sie blieb standhaft und weinte nicht. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Hose ganz staubig.

„Tanner“, erklang auf einmal eine laute Stimme, dann schnelle Schritte. Ich sah mich um und spürte Erleichterung.

„Jason“, rief ich und lief aus meinem Versteck. Mein großer Bruder kam mit seinem besten Freund Josh angerannt.

„Lasst sofort die Mädchen in Ruhe und verzieht euch“, donnerte Jason. „Sonst werdet ihr was erleben.“

Damon ließ Lana los und stand auf. „Ach, noch mehr vom Mitchell-Clan. Hier muss irgendwo ein Nest sein. Aber gut, wir können euch auch alle verprügeln.“ Seine Freunde ließen von Stacey ab und gemeinsam positionierten sie sich vor Jason und Josh.

Ich weiß nicht mehr, wie es genau passiert war, aber ein paar Minuten später hatten Damon und seine Leute das Weite gesucht. Ich war unendlich erleichtert und obwohl ich sonst selten körperliche Nähe suchte, klammerte ich mich fest an meinen Bruder. Er schüttelte mich nicht ab, wie er es sonst bei Umarmungen tat. Lana und Stacey befreiten ihre Klamotten vom Staub und beruhigten sich gegenseitig, aber schließlich konnten wir nach Hause gehen. Vor Mum und Dad ließen wir nichts von dieser Sache verlauten.

***

„Damon ist nicht wirklich jemand, dem ich gern begegnen möchte“, sagt Lana nach einem Moment der Stille. „Weder in New York noch sonst irgendwo.“

„Ich weiß, er hat einen schlechten Ruf auf der Highschool gehabt“, plappert Mum weiter. „Aber er hat sich wirklich gemacht, soweit ich das gehört habe. Immerhin ist er Anwalt. In seiner Kanzlei scheint er einer der Stars zu sein.“

An Lanas Miene erkenne ich deutlich, dass ihr gerade so viele Dinge auf der Zunge liegen, die sie über Damon sagen könnte. Allerdings entscheidet sie sich dazu, keinen Streit anzufangen. „Und du glaubst, sein Beruf als Anwalt hat ihn um hundertachtzig Grad gedreht?“, hakt sie lediglich nach. „Na, deine rosarote Brille möchte ich auch mal tragen.“

„Wie dem auch sei“, kommt Mum zum Ende dieses Themas. „Ich meinte ja nur, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, ihm mal zu schreiben und in dein Café einzuladen.“ Auffordernd sieht sie mich an. „Wäre das nicht eine tolle Idee, Jenna?“

Nur über meine Leiche, liegt mir auf der Zunge, aber ich bleibe lieber stumm. Außerdem werde ich bei Kunden nicht wählerisch sein, selbst wenn es sich um den Erzfeind meiner Schwester handelt. Und wieso sollte sich ausgerechnet Damon Tanner in mein Café verirren?

1

Jenna

„Jason, du bist einfach der beste Bruder der Welt“, ruft Lana gegen das Dröhnen der Musik und hält ihm ihren Drink zum Anstoßen entgegen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass sie schon vorgeglüht hat. Oder sie ist einfach nichts mehr gewohnt.

Auch mir hält sie das Cocktailglas entgegen und ich stoße mit meinem Caipirinha dagegen.

„Auf dich und dein Café“, ergänzt sie feierlich und strahlt uns an.

„Auf die gelungene Eröffnung!“, entgegne ich und nehme einen großen Schluck. Nach Ladenschluss habe ich mit meinen Geschwistern bereits ein Glas Sekt getrunken, doch auch ohne Alkohol fühle ich mich wie beschwipst von dem Gefühl, endlich mein Ziel erreicht zu haben. „Und auf eine tolle Partynacht!“

„Genau.“ Lana grinst, dann nimmt sie ihren Strohhalm in den Mund und der Pegel ihres Getränks sinkt beachtlich. Während sie trinkt, sieht sie mich an, und als sie schließlich absetzt, glänzen ihre Augen schon wieder.

„Ich weiß noch, wie ich mich damals gefühlt habe, als ich das Vegalana eröffnet habe. Die Verwirklichung des großen Traums ist etwas ganz Besonderes.“

Damit hat meine große Schwester in der Tat recht. Diese Rührseligkeit kann ich normalerweise nicht leiden, aber der heutige Tag ist auch für mich sehr emotional gewesen. Den Laden mit dem Wissen aufzuschließen, dass die ersten Gäste eintrudeln werden, die letzten Vorbereitungen für die Waren treffen und schließlich der erste Kunde, angekündigt durch das Klingeln des Glöckchens an der Tür.

Meine ganze Familie ist nach New York gekommen, um mich bei diesem besonderen Ereignis mental zu unterstützen. Mum und Dad sind mit Liam zurück nach Flourish Bay gefahren, während Lana hiergeblieben ist. Noch dazu hat sie unseren Bruder Jason dazu überredet, seine Kontakte spielen zu lassen und uns in einen der angesagtesten Clubs der Stadt einzuladen, sogar in die Loge der New York Heroes.

„Kommen denn nachher noch ein paar deiner Mannschaftskameraden?“, fragt Lana gerade und muss Jason dabei regelrecht anschreien.

Unser Bruder nickt und schaut durch die leicht getönte Scheibe hinunter auf die volle Tanzfläche. „Ich musste sie nicht einmal groß überreden, sie haben sich genau genommen selbst eingeladen.“

„Überreden?“ Irritiert sehe ich zwischen meinen älteren Geschwistern hin und her. „Wolltet ihr denn, dass sie herkommen? Ich dachte, das hier wird ein Geschwisterabend.“

Lana und Jason sehen sich ertappt an und kommunizieren für einen Moment wortlos, wackeln dabei mit den Augenbrauen, zucken mit den Schultern oder schütteln dezent den Kopf, bis Jason schließlich die Augen verdreht und sich von uns abwendet. „Erklär du das, Lana. Ich bestelle uns ein paar Snacks.“ Dann lässt er uns an dem zugegebenermaßen tollen Aussichtsplatz stehen und geht zur logeninternen Bar.

Fragend hebe ich die Augenbrauen, obwohl ich bereits eine Ahnung habe, was sie mir gleich gestehen wird. „Also? Was hat er gemeint? Was gibt es zu erklären?“

Mit einem Mal wirkt meine Schwester wieder total nüchtern. Sie meidet meinen Blick und schlürft so lange an ihrem Strohhalm, bis der Cocktail restlos ausgetrunken ist.

„Lana, nun sag schon“, dränge ich weiter. Die laute Musik trägt leider nicht gerade dazu bei, dass sie endlich antwortet. Also beuge ich mich näher zu ihrem Ohr. „Das hat doch wohl nicht etwas mit mir zu tun, oder doch?“

Sie lässt ihr Glas sinken und dreht sich zu mir. „Doch, ich wollte, dass er sie für dich einlädt“, gibt sie zu.

„O Mann.“ Genervt verdrehe ich die Augen. „Aber warum? Ich habe doch nie angedeutet, dass ich einen von ihnen toll finde oder etwas in der Art.“

„Das nicht.“ Lana fühlt sich sichtlich unwohl, noch immer kann sie mir nicht in die Augen sehen. „Es ist mehr, weil –“ Sie bricht ab, ihre Brust hebt sich, als sie tief einatmet. „Wir machen uns einfach Sorgen, okay? Und es wäre uns lieber, wenn es jemanden an deiner Seite gäbe, der auf dich aufpasst.“

„Aufpasst?“ Belustigt hebe ich eine Augenbraue. Dann verschränke ich die Arme. „Das hat dir doch mit Sicherheit Mum eingetrichtert. Ich verstehe übrigens immer noch nicht, wo der Unterschied zu dir damals ist. Ich bin seit nicht mal einem Monat in der Stadt, während du mehrere Jahre hier verbracht hast. Ebenfalls als Single.“

„Komm her, wir setzen uns.“ Lana hakt sich bei mir ein und gemeinsam steuern wir auf die elegante Sitzgruppe zu. Jason steht noch immer an der Bar, ordert offenbar bei der Gelegenheit neue Drinks für uns.

„Bei mir ist es damals eine andere Situation gewesen“, setzt Lana an. Noch immer hält sie meinen Arm fest, streicht mit einer Hand gedankenverloren über meinen Unterarm. „Drei Viertel der Ausbildungsklasse sind männlich gewesen, und wir sind fast immer als Gruppe unterwegs gewesen, wenn wir abends auf Tour gegangen sind.“

Langsam werde ich ungeduldig. „Du weißt schon, dass du die ganze Zeit nur um die eigentliche Sache herumredest, oder? Komm endlich mal zum Punkt.“

„Mittlerweile kann ich Mums Sorgen einfach besser nachvollziehen“, gibt sie schließlich zu. „Du hast keine solche Gruppe, wie ich sie damals gehabt habe. Es gäbe uns ein besseres Gefühl, wenn wir wüssten, dass du einen Mann an deiner Seite hast, der ein Auge auf dich hat. In so einer Großstadt weiß man nie.“

„Einen Mann?“ Ungläubig reiße ich die Augen auf. Innerlich kocht Wut in mir hoch. Warum genau habe ich mich noch mal zu dieser Party überreden lassen? „Unfassbar! Ich dachte, diese Diskussion wäre erledigt gewesen. Und überhaupt – Footballer? Die sind doch ständig unterwegs, was sollte das bitte für einen Zugewinn darstellen? Wer hat dieses Thema denn schon wieder hochgebracht?“

„Mum und Dad hauptsächlich“, übernimmt Jason und lässt sich neben mir nieder. Er stellt zwei Cocktailgläser und eine Bierflasche vor uns auf dem Tisch ab und sieht Lana an. „Wobei sich unser Schwesterchen hier ziemlich beeinflussen lassen hat.“

Hilfesuchend klammere ich mich an seinen Arm. „Das heißt, du bist auf meiner Seite?“

Zähneknirschend windet er sich. „Ich weiß nicht so recht. Momentan sitze ich eher zwischen den Stühlen. Natürlich sehe ich dich als starke Persönlichkeit. Aber was man manchmal so mitbekommt, ist wirklich nicht schön.“

Na toll, eine Hilfe ist er mir nicht gerade. Allerdings wecken seine Worte eine Erinnerung an einen seltsamen Vorfall. Vor etwa einer Woche hat ein Mann, während wir mir Renovierungsarbeiten beschäftigt gewesen sind, sehr auffällig in meinen Laden gestarrt. Ich habe mich unwohl gefühlt, mir aber nicht zu helfen gewusst. Erst meine Mitarbeiterin Nancy ist schließlich nach draußen gegangen und hat ihn gefragt, ob sie ihm irgendwie helfen könne. Wider Erwarten ist er sehr freundlich gewesen und hat behauptet, nur mal schauen zu wollen, worauf er sich in dem neuen Laden freuen könne. Euphorisch, wie ich gewesen bin, habe ich ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert. Als er wieder gegangen ist, hat er schnurstracks das Gebäude an der Straßenecke gegenüber angesteuert und ist darin verschwunden. Keine Ahnung, was das sollte, aber ohne Nancy hätte ich wirklich Angst allein im Laden gehabt.

Trotzdem lasse ich Jason nicht so schnell aus der Sache raus. „Wie wäre es denn, wenn du einfach mein Beschützer bist?“ Fragend wende ich mich an Lana, die uns genau beobachtet. „Wäre das für euch denn ausreichend? Ich werde ohnehin wenig Zeit haben, um groß wegzugehen.“

Nachdenklich schaut sie zwischen uns hin und her. „Ich weiß nicht. Was ist, wenn er selbst eine Freundin findet? Die ist vermutlich wenig begeistert, wenn er ständig bei seiner kleinen Schwester rumhängt. Aber wenn das für ihn okay wäre, warum nicht?“

Irritiert zieht Jason die Augenbrauen zusammen. „Hey, ich sitze ebenfalls hier, okay? Und nein, das ist keine Option. Die Zeiten, in denen ich für meine jüngeren Geschwister den Babysitter gespielt habe, sind lange vorbei.“

Resigniert seufzend greife ich nach einem der Cocktailgläser und lehne mich auf dem Sofa zurück. Ehrlich gesagt habe ich schon lange nicht mehr über eine Beziehung nachgedacht. Vor allem im Hinblick auf mein Café bin ich einfach zu beschäftigt, um mich mit Dates zu befassen. Und dann auch noch so aufgezwungen? Das klappt nie im Leben!

„Aber Jenna, nimm es uns nicht übel. Wir meinen es wirklich nur gut“, setzt Jason nach und greift nach seinem Bier.

„Also fällst du mir nun doch in den Rücken? Ich bin entsetzt.“

Schuldbewusst runzelt er die Stirn. Er nimmt einen Schluck aus der Flasche und lehnt sich ebenfalls zurück. „Die Welt ist schlecht, Schwesterherz“, sagt er trocken, nachdem er das Bier wieder abgesetzt hat. „Denk einfach drüber nach, ob du dir nicht doch von uns helfen lassen willst. Es muss ja niemand aus dem Team sein, wir können auch nachher auf der Tanzfläche auf die Suche gehen.“

„Du meinst, ich soll mich von euch verkuppeln lassen. Und zwar nur, damit ihr ruhig schlafen könnt.“ Ich kann es noch immer nicht fassen. Noch nie hat sich irgendjemand aus meiner Familie daran gestört, wenn ich single gewesen bin.

„Aber eigentlich sollte dieses Thema uns nicht den Abend verderben“, setzt Lana an. „Wir sind doch schließlich zum Feiern hier.“

„Stimmt“, bestätige ich und nehme einen großen Schluck von meinem Cocktail. „Und wisst ihr was? Genau das werde ich jetzt tun. Wer kommt mit auf die Tanzfläche?“

 

Damon

„Sollen wir nicht lieber woanders hingehen?“, mault Mike und schabt mit seiner Sohle über den Gehweg, was ein unschönes Kratzen erzeugt. „Bei dem Tempo stehen wir hier noch ewig in der Kälte rum.“ Mit dem Kinn deutet er auf den Eingang des Clubs und gestikuliert zu den etlichen anderen Wartenden, die vor uns stehen.

„Keine Sorge“, entgegne ich, obwohl mir schon jetzt langsam die Finger abfrieren. Verdammt, warum stehe ich hier auch nur im Sakko? „Je später der Abend, desto betrunkener sind die Frauen. Und desto weniger charmant muss man sein, um sie mit nach Hause zu nehmen.“

„Stimmt auch wieder“, johlt Christopher neben mir und tippelt auf der Stelle.

Eine Frau vor uns dreht den Kopf und straft mich mit einem vernichtenden Blick, doch das macht mir nichts aus. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich jemals Wert auf die Meinung anderer gelegt habe. Vor allem nicht, wenn es um einen One-Night-Stand geht. Wir sind alle erwachsen und wissen, worauf wir uns einlassen.

Gerade als ich überlege, mit den Jungs doch woanders hinzugehen, bewegt sich die Menge und wir stehen auf einmal ganz vorne. Prüfend betrachten uns die Türsteher. Da ich noch meinen schicken Anzug aus dem Büro trage und auch Mike und Chris sich in Schale geworfen haben, nickt einer der beiden Hünen – und wir sind drin.

Während sich Mike und Chris wie zwei kleine Jungs darauf freuen, ein paar Frauen anzugraben, gebe ich in Ruhe mein Sakko an der Garderobe ab und sehe mich verstohlen um, ob ich Kollegen aus der Kanzlei entdecke. Bisher habe ich nie gehört, dass jemand diesen Ort erwähnt hat, aber man weiß ja nie. Und ich wäre wirklich nicht begeistert, wenn ich ausgerechnet jemanden aus dem Büro treffen würde, während ich mit den Jungs auf Tour bin.

Schon mehrmals haben meine Kollegen angedeutet, dass die beiden Gründer der Kanzlei, Henry Kennedy und Timothy Crawford, viel Wert auf ein geregeltes Privatleben ihrer Mitarbeitenden legen. Allmählich bin ich es leid, mich so tief in die Arbeit zu knien und bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten. Aber meine acht Jahre an praktischer Erfahrung würden nur knapp für die Stelle eines Partners reichen. Wenn die beiden nicht zusätzlich von mir als Privatperson überzeugt sind, kann ich die Beförderung vergessen.

Sobald wir den Eingangsbereich hinter uns gelassen haben, schiebe ich diese Gedanken beiseite. Hier werden Kennedy und Crawford schon nicht auftauchen und mitbekommen, wie ich fremde Frauen um den Finger wickele, um ein wenig Sex zu bekommen. Und langfristig wird mir schon etwas einfallen, um die beiden so lange an der Nase herumzuführen, bis ich bekommen habe, was ich möchte.

Ein paar Minuten später stehen wir auf einer kleinen Empore neben der Bar und beobachten die Tanzfläche. Wenig charmant lassen wir uns über unvorteilhafte Outfits der Damen aus und kommentieren die unterschiedlichen Tanzstile. Es ist mies, ja. Aber was soll’s? Sie hören uns sowieso nicht.

Als unsere Getränke leer sind, haben sich meine beiden Kumpels bereits auf ihre erste Beute festgelegt. Feixend klatschen wir uns ab und sie verziehen sich. Ich bleibe zurück. Irgendetwas hält mich davon ab, mich auch unter die Tanzenden zu mischen, doch ich kann es nicht benennen. Irgendwie habe ich nicht mal richtig Lust, eine wildfremde Frau abzuschleppen. Aber warum nur? Sonst habe ich doch auch keine Gewissensbisse deswegen.

Nachdem ich mir ein neues Bier geholt habe, stehe ich wieder am Rande des Geschehens und lasse den Blick schweifen. Heute lacht mich aber auch wirklich keine an. Was ist nur los mit mir? Ich bin normalerweise nicht so wählerisch.

Gerade, als ich mich einfach unter die Leute mischen will, um auszuprobieren, ob jemand positiv auf vermeintlich versehentliches Begrabschen reagiert, bleibt mein Blick an zwei Frauen hängen. Sie halten Händchen und kommen aus einer der protzigen Logen. Top gestylt, aber nicht übertrieben aufgedonnert eilen sie auf die Tanzfläche. Genau in dem Moment, als sie diese erreichen, wechselt das Lied. Die beiden jubeln und beginnen zu tanzen, wobei sie sich nicht nur äußerlich, sondern auch im Tanzstil verblüffend ähneln.

„Mitchell?“ Ich murmele den Namen vor mich hin und kneife die Augen zusammen, bin mir nicht sicher, ob ich die Frauen wirklich richtig zuordne. Zumindest eine von ihnen hat ziemliche Ähnlichkeit mit einem Mädchen, das früher auf der Highschool in meinem Jahrgang gewesen ist. Lana Mitchell.

Obwohl wir sehr viele Leute gewesen sind, erinnere ich mich an Lana recht gut. Ich habe es früher eine Weile lustig gefunden, sie zu ärgern, weil sie immer so erstarrt ist, wenn ich auf sie zugekommen bin. Wenn ich nicht falsch liege, sind die Mitchells insgesamt vier Geschwister, zwei Schwestern und zwei Brüder. Bei der Ähnlichkeit der beiden Frauen könnte also Lanas Tanzpartnerin ihre Schwester sein. Wie hieß sie noch gleich?

Plötzlich taucht eine Erinnerung in meinem Kopf auf, das Bild eines Posts in einer der Social-Media-Gruppen von Flourish Bay, in der ich noch immer drin bin. Ging es darin nicht um ein Café, das Lanas Schwester hier in New York eröffnen will?

Auch wenn es mir eigentlich egal sein könnte, hole ich mein Handy hervor und scrolle durch die alten Beiträge. Tatsächlich finde ich das Bild wieder, unverkennbar sind Lana und ihre heutige Begleiterin darauf abgebildet. Darunter steht:

Falls ihr mal in New York seid, besucht unbedingt das süße Café meiner kleinen Schwester. Sie macht das Gebäck komplett selbst, und der Kaffee ist superlecker.

Und dann noch der Name. Café Mitchell. Nicht gerade originell.

Schulterzuckend packe ich mein Smartphone wieder weg. Das hunderttausendste Café in New York, das braucht kein Mensch, selbst wenn es jemand aus meiner Heimatstadt eröffnet. Wieder wende ich mich der Tanzfläche zu, habe fest vor, jetzt eine Frau zu finden, die ich antanzen kann. In der Menge sehe ich Mike und Chris, die allerdings eher weniger erfolgreich ihre Auserwählten anzusprechen versuchen. Und so sehr ich mich auch bemühe, mein Blick landet immer wieder bei den Mitchell-Schwestern. Ich beobachte, wie sie sich auch über die nächsten Tracks freuen. Hin und wieder werden sie angetanzt, aber sie ignorieren die Typen komplett. Irgendwie weckt das meinen Kampfgeist. Würden sie mich auch so abblitzen lassen? Immerhin habe ich einen vermeintlichen Vorteil und kenne sie bereits, einem Gespräch würden sie sich mit Sicherheit nicht verschließen. Oder?

 

Jenna

Nach dem Aufreger in der Loge kann ich mich gemeinsam mit Lana auf der Tanzfläche so richtig schön auspowern. Es ist mir egal, dass durch das Schwitzen vermutlich mein ganzes Make-up verschmiert, denn es geht heute nur darum, den Kopf freizukriegen. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal richtig feiern gewesen bin. Und auch nicht, mit wem. Ich bin so in meine Ausbildung zur Konditorin und Barista vertieft gewesen, dass ich nur an die Arbeit gedacht habe. Und genau genommen wird sich das jetzt, da ich mich selbstständig gemacht habe, auch nicht großartig ändern. Also sollte ich die heutige Gelegenheit nutzen.

„Du, ich brauche mal eine Pause“, ruft Lana beim nächsten Liedwechsel in mein Ohr und wedelt in Richtung Garderobe. „Toilette“, kann ich noch verstehen, bevor sie sich an mir vorbeischiebt. Schnell hake ich mich bei ihr ein, eine kleine Verschnaufpause wird mir auch guttun.

Nachdem wir die Menge der Tanzenden verlassen haben, lasse ich Lana los und sehe ihr hinterher, wie sie den Gang Richtung Klo ansteuert. Für einen Moment überlege ich, ob ich zu Jason in die Loge zurückgehen soll, entscheide mich aber dagegen, als ich sehe, dass sich mittlerweile noch weitere Personen dort eingefunden haben. Mehrere Männer mit breiten Schultern stehen zusammen und stoßen feierlich an. Dann schwärmen sie aus, einige nehmen Platz, andere pilgern zum Fenster, um die anderen Gäste zu begutachten. Schnell ducke ich mich weg und verschwinde aus ihrem Sichtfeld. Zwar werde ich meinen Geschwistern den Gefallen tun und mich den Spielern zumindest vorstellen lassen. Aber eine große Verkupplungsaktion wird das definitiv nicht werden. Ich stehe ohnehin nicht auf diese durchtrainierten Schönlinge, das müssten Lana und Jason eigentlich wissen.

„Hey“, ruft jemand und reißt mich aus meinen Gedanken. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass derjenige neben mir steht, aber ich beachte die Person nicht weiter, da ich nicht damit rechne, dass ich gemeint bin. Mein Blick streift schwarze Schuhe und Anzughose. Ein Mann. Doch er geht nicht weiter. O nein! Wird das etwa eine Anmache? Ich hätte doch lieber zu Jason gehen sollen.

Langsam hebe ich den Kopf und sehe in sein Gesicht. Er grinst und … irgendwie kommt er mir bekannt vor. Aber woher? Mein Gehirn kann ihn einfach nicht zuordnen.

„Hey“, sagt er erneut und deutet mit dem Kinn auf mich. „Schön, dich hier zu sehen. Herzlichen Glückwunsch zur Eröffnung.“

Perplex starre ich ihn an. Okay, dieser Typ scheint mich definitiv zu kennen. Noch immer suche ich in meinen Erinnerungen nach dem passenden Hinweis, woher ich ihn kenne. Auch ihm scheint endlich klar zu werden, dass ich ihn nicht erkenne, denn sein Lächeln verblasst.

„Du bist die jüngere Schwester von Lana Mitchell.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ich habe euch zufällig auf der Tanzfläche gesehen und erkannt. Sie war in der Schule in meinem Jahrgang.“

Aha. Ein Hinweis. Einen kurzen Moment lang zermartere ich mir noch das Hirn, aber mir will sein Name einfach nicht einfallen, also zucke ich mit den Schultern und sehe prüfend in Richtung der Toiletten. Lana ist nirgends zu sehen, also muss ich wohl doch zu Jason und seinen Teamkameraden. „Sorry, Lana ist gerade auf der Toilette.“

Ich wende mich ab und will davongehen, als der Mann blitzschnell nach meinem Handgelenk greift. Als hätte er mir einen Stromschlag versetzt, zucke ich zusammen und sehe ihn an. „Magst du mich etwa nicht?“, fragt er und grinst boshaft. Und plötzlich sind die Erinnerungen wieder da.

Damon Tanner. Der Bully aus Lanas Jahrgang. Warum ist mir das nicht gleich eingefallen, Mum hat ihn neulich erst erwähnt. Ich solle ihn auf einen Kaffee einladen. Pah!

Ruckartig entziehe ich ihm meinen Arm. „Fass mich nicht an, du Penner, oder ich sage der Security Bescheid.“

Erst sieht er verblüfft aus, aber schließlich schiebt er beide Hände in die Hosentaschen. Warum grinst er denn noch immer? Ist er solche Beleidigungen etwa gewohnt? „Ich sehe schon, du bist ein wenig aufbrausender als deine Schwester. Das gefällt mir.“

„Das kann dir gefallen oder nicht, es spielt keine Rolle. Du sollst mich in Ruhe lassen!“

Sein Blick verdunkelt sich und er tritt einen Schritt näher. Mit aller Kraft widerstehe ich dem Drang, zurückzuweichen. Ganz bestimmt lass ich mich nicht von ihm einschüchtern.

„Keine Ahnung was du für ein Problem hast, aber ich habe dich einfach nur nett begrüßt. Das ist mehr, als alle anderen Frauen in diesem Laden hier behaupten können.“

Mein Herz rast. Mit einem Mal fühle ich die Panik von damals, als er mit seinen Freunden auf Lana und Stacey losgegangen ist. Damals hat er sich auch erst vermeintlich nett gegeben, das ist scheinbar seine Masche. Dabei konnte er so skrupellos sein.

„Oh, jetzt soll ich mir darauf auch noch etwas einbilden, oder wie?“, fauche ich. „Auf deine Nettigkeit verzichte ich gern, an die erinnere ich mich nämlich noch ziemlich gut.“

Damon blinzelt, dann tritt Erkenntnis in seinen Blick. „Du spielst doch nicht etwa auf die alten Geschichten an. Meine Güte, wir sind doch inzwischen alle erwachsen.“

„Ja, ich hab es schon gehört“, gifte ich und setze eine übertrieben erfreute Miene auf. „Der Herr Staranwalt, herzlichen Glückwunsch! Aber das heißt nicht, dass ich jetzt vor dir kuschen werde. Wenn du so erwachsen bist, dann lass mich doch einfach in Ruhe, anstatt mich zu belästigen.“

In diesem Moment steuert jemand von den Toiletten aus auf uns zu. Lana. Sie sieht mich und lächelt. Doch als sie meine Miene sieht, verdunkelt sich ihr Gesichtsausdruck.

„Jenna? Was ist los?“

„Das ist los.“ Mit dem Kinn deute ich auf Damon, der wortlos zwischen uns hin- und hersieht. Verwirrt schaut Lana ihn an – und ihre Augen weiten sich. Sie wird regelrecht bleich und taumelt einen Schritt zurück.

„Was … was soll das?“, stammelt sie. Dann sieht sie sich hilfesuchend um. „Lass uns bloß in Ruhe, sonst rufen wir die Security.“

„Wie einfallsreich“, höhnt er und verdreht die Augen. „Man merkt sofort, dass ihr Schwestern seid. Mir wurde bereits vor wenigen Sekunden mit dem Sicherheitsdienst gedroht.“

„Zu Recht“, setze ich nach und greife nach Lanas Hand. „Komm, Lana. Der Club ist groß genug für uns alle.“ Bereitwillig lässt sich meine Schwester in Richtung New York Heroes Loge ziehen. Damon ruft uns nichts hinterher, soweit ich das beurteilen kann. Wir sehen ihn den ganzen restlichen Abend nicht mehr und darüber bin ich sehr froh. Lana hat die Begegnung ziemlich aus der Bahn geworfen, aber Jasons Footballkollegen schaffen es, uns abzulenken, auch ohne dass irgendwelche Verkupplungsversuche unternommen werden.

Erst später, als wir uns zum Gehen fertigmachen, schweifen meine Gedanken noch einmal zu Damon. Hoffentlich läuft er mir von jetzt an nicht öfter über den Weg. Das hat mir gerade noch gefehlt, einen unliebsamen Bully aus der Kindheit um mich herum zu haben.

2

Damon

Die neue Arbeitswoche beginnt zäh. Obwohl ich nach Freitagabend am Wochenende nicht mehr feiern war, bin ich todmüde. Dieses seltsame Aufeinandertreffen mit den Mitchell-Schwestern hat mich nachdenklicher gestimmt, als ich erwartet hatte. Es ist komplett bescheuert, dass ich mich deswegen schlaflos im Bett herumgewälzt habe. Ich meine, ja – ich bin früher ein Tyrann gewesen. Aber Menschen können sich doch ändern. Wie lange haben wir uns jetzt nicht mehr gesehen? Zehn Jahre vielleicht? In dieser Zeit kann viel passieren. Und vor allem Lanas Schwester, Jenna, wie ich nun weiß, hat überhaupt keinen Grund, mich so zu verurteilen. Mit ihr habe ich nie etwas zu tun gehabt, soweit ich mich erinnern kann.

Mühsam verdränge ich die Gedanken aus meinem Kopf. Am Nachmittag habe ich einen Termin mit einem neuen Mandanten und muss mich gut darauf vorbereiten. Es geht um ein Lizenzrecht, eine einfache Sache, aber ich darf mir keinen Fehler leisten, niemals.

Endlich kann ich die Mitchells zumindest kurzzeitig vergessen. Allerdings beschäftigen sich meine Gedanken nun wieder mit dem Thema, das mich bereits seit Monaten verfolgt: Mein Weg zum Juniorpartner. Obwohl ich noch nicht so lange in der Kanzlei bin, wie manch andere, rechne ich mir Chancen auf die Beförderung aus. Allerdings legen die Kanzleichefs sehr viel Wert auf ein gesittetes Privatleben. Anscheinend leiten sie daran ab, ob sie sich auf jemanden verlassen und langfristig mit einem Partner rechnen können. Rein fachlich kann ich es schaffen, das weiß ich. Aber so sehr ich mich auch bemühe, mein Privatleben vor den Kollegen geheim zu halten, irgendwie dringen doch immer wieder Gerüchte über meinen ungezwungenen Lebensstil in die Kaffeeküche. Wie kann ich das zukünftig verhindern? Vor allem muss ich die bisherigen Gerüchte irgendwie beseitigen.

Seit ungefähr einer Woche liebäugele ich mit einem Plan, der zwar funktionieren könnte, bei dem aber viel auf dem Spiel steht. Wir haben eine Seniorpartnerin in der Kanzlei, Tina Thompson. Soweit ich weiß, ist sie alleinstehend, und obwohl sie schon über fünfzig sein muss, wirkt sie fast noch jugendlich. Für eine Anwältin kleidet sie sich zwar professionell und modern, aber ihre Röcke sind mitunter ziemlich kurz, ihr Ausschnitt teilweise etwas zu auffällig. Wenn ich mich nicht irre, hat sie mir bereits ein paar Mal zugezwinkert. Vielleicht ist diese Frau der Schlüssel zu meinem Erfolg, sie hat viel Einfluss in der Kanzlei. Irgendwie muss ich mich an sie heranmachen – und hochschlafen.

Es klopft an der Tür meines Büros, und ich schüttele den Kopf, um die Bilder darin zu vertreiben. „Herein!“

Wendy, meine persönliche Assistentin, öffnet die Tür und schlüpft durch den Spalt. Sie arbeitet bereits seit zwei Jahren für mich, und obwohl ich am Anfang gedacht habe, dass das mit ihr nicht funktionieren wird, weil sie viel zu schüchtern ist, bin ich sehr zufrieden mit ihr. Wenn es drauf ankommt, kann sie sich durchsetzen, sogar mir gegenüber. Ich will sie so gerne behalten, dass ich sogar nie einen Versuch gewagt habe, sie ins Bett zu bekommen. „Mr. Tanner, ich werde mich in fünf Minuten auf den Weg machen, um Ihnen etwas zum Mittagessen zu holen. Haben Sie irgendwelche Wünsche für heute?“

„Danke, Wendy. Heute habe ich Lust auf ein Sandwich. Und ein Mineralwasser dazu, bitte.“ Unwillkürlich wandern meine Gedanken zu Jenna. Mist. Warum sie schon wieder? Ich denke kurz darüber nach, wie es wäre, meine Mittagspause in ihrem Café zu verbringen.

„Wie beim letzten Mal wieder mit Hähnchenbrust?“ Mein Blick schnellt hoch und ich sehe, wie Wendy sich auf ihrem Handy Notizen macht.

„Genau. Und bringen Sie bitte noch ein zweites mit, mit pikanter Wurst. Ich plane, nicht allein zu essen.“

„Natürlich, kommt sofort.“ Sie nickt emotionslos. Natürlich kennt auch Wendy meinen Ruf. Sie hat mich sogar ein paar Mal gedeckt, als ich mit Sekretärinnen der Kanzlei geschlafen habe und deren Vorgesetzte mich zur Rede stellen wollten. Trotzdem hat es von ihrer Seite noch nie einen Hinweis darauf gegeben, dass sie mein Verhalten verurteilt. Eine so diskrete Assistentin ist nicht leicht zu finden.

***

Als Wendy mit dem Essen zurück ist, nehme ich die Tüte und die Getränke und gehe den Flur entlang zu Tina Thompsons Büro. Ihre Tür ist offen und sie ist tatsächlich da.

„Ah, Damon“, ruft sie, als ich im Türrahmen stehen bleibe. „Was kann ich für Sie tun?“

Lächelnd trete ich in ihr Büro und schließe die Tür hinter mir. „Hi, Tina. Ich muss mir mal eine Pause gönnen und wollte Ihnen eines meiner Sandwiches anbieten. Meine Assistentin hat es heute zu gut mit mir gemeint.“ Ich stelle die Tüte ab und hole die beiden kleinen Päckchen heraus. „Peperonisalami oder Hähnchenbrust. Sie haben die Wahl.“

Schwungvoll rollt sie sich in ihrem Bürostuhl nach hinten. „Ach, das ist aber nett. Vielen Dank. Dann nehme ich gern das Sandwich mit Peperoni.“ Sie steht auf und geht um den Schreibtisch herum. Als sie vor mir stehen bleibt, sieht sie mir fest in die Augen. „Ich mag es lieber scharf.“

Okay, das könnte leichter werden als gedacht. Ich halte ihr das entsprechende Päckchen hin und nicke. „Nur zu. Hähnchen war ohnehin mein Favorit“, lüge ich und deute dann auf den runden Tisch mit mehreren Besprechungsstühlen, der in einer Ecke des schmucklosen Büros steht. „Sollen wir uns setzen?“

Begleitet von dem Rascheln des Packpapiers entfalten wir unser Essen. Obwohl diese Sandwiches von einem leicht schäbig aussehenden Straßenstand stammen, sind sie definitiv mein Favorit der letzten Wochen.

„Also, Damon“, setzt Tina an, nachdem sie ein Stück vom Sandwich probiert hat und ihr Mund wieder leer ist. „Was führt Sie zu mir? Sie haben mir zuvor noch nie beim Mittagessen Gesellschaft geleistet. Geschweige denn, mir auch noch etwas mitgebracht.“

„Das stimmt“, gebe ich zu, als auch ich den ersten Bissen hinuntergeschluckt habe. „Allerdings muss ich ein wenig an meinen sozialen Fähigkeiten arbeiten, wie mir bereits mehrfach gesagt worden ist. Also mische ich mich von jetzt an mehr unter die Leute.“ Ich werfe ihr ein strahlendes Lächeln zu. „Und da fange ich am liebsten bei den angenehmen Leuten an.“

Tina lacht auf. „Ich wurde ja schon als vieles bezeichnet, aber als angenehm? Ich glaube das ist eine Premiere.“

Gespielt empört ziehe ich die Augenbrauen zusammen. „Wirklich? Wieso, wie nennt man Sie denn?“

„Oje, das kriege ich nicht alles zusammen. Vermutlich hätte ich Buch führen sollen. Es fing an mit Worten wie Zicke oder Kuh, irgendwann wandelte es sich zu Bitch, Monster oder Drache. Mittlerweile werde ich immer öfter als Raubtier oder Nymphomanin bezeichnet.“

Bei ihren Worten verschlucke ich mich und unsere Blicke treffen sich. Mein Plan, mich bei ihr hochzuschlafen, dürfte wirklich einfach werden, wenn sie schon so offensiv über Sex redet, obwohl ich nicht mal richtig angefangen habe, zu flirten. Seltsamerweise habe ich gar keine Lust, darauf anzuspringen. Ist das vielleicht doch keine gute Idee?

„Ich hoffe, das gilt nicht für Personen aus der Kanzlei“, sage ich, um wieder sicheres Terrain zu erreichen. „Sie sind schon lange dabei, von Ihnen und Ihren Fähigkeiten kann man doch nur profitieren.“

„Das kommt ganz darauf an, in welchen Bereichen.“ Ich spüre ihren Blick auf mir und weiß, dass ich ihn erwidern sollte, wenn ich meinen Plan durchziehen will. Aber ich schaffe es nicht. Stattdessen beiße ich einen extragroßen Bissen von meinem Sandwich ab und betrachte es danach, als würde ich mich über den Belag wundern. Immerhin nicke ich dabei und mache ein zustimmendes Geräusch.

„Wissen Sie, Damon, Männer fühlen sich von erfolgreichen Frauen oft eingeschüchtert. Deswegen war es für mich als Karrierefrau nicht immer einfach. Mittlerweile weiß ich, wie ich in gewissen Situationen mit meinen männlichen Konkurrenten umgehen muss. Und vor allem weiß ich, was ich will.“

Nun hebe ich doch den Blick. Ist das etwa das Zeichen, dass sie jetzt sofort …

„Tina?“ Eine Stimme ertönt vom Flur her, und ich zucke zusammen. Als es zusätzlich an die Bürotür klopft, verdreht Tina Thompson die Augen. „Ja, bitte?“

Ein Kollege vom Familienrecht streckt den Kopf zur Tür herein. „Hi Tina. Ah, Damon, Sie sind auch hier. Jemand hat Muffins und andere Köstlichkeiten von diesem neuen Café die Straße runter mitgebracht. Steht in der Kaffeeküche, nur zur Info. Bedient euch!“

Der Kollege verschwindet sofort wieder, und normalerweise könnte ich das von Tina aufgebaute Gespräch wieder aufnehmen. Aber was macht mein Hirn? Es denkt an Lanas Social-Media-Post und fragt sich, ob der Kollege das Café Mitchell meint. Ist es wirklich nur die Straße runter? Bin ich vielleicht sogar unbewusst schon einmal daran vorbeigelaufen?

Es wundert mich noch immer, dass mich dieser Abend im Club, und vor allem das Aufeinandertreffen mit Jenna, so aus der Bahn geworfen hat. Wie sie mich angesehen hat, richtig angeekelt. Dabei kann ich mich nicht erinnern, dass wir jemals direkt etwas miteinander zu tun gehabt haben. Habe ich ihr mal etwas angetan? Ist etwas vorgefallen, an das ich mich nicht mehr erinnern kann? Zu gern wüsste ich den Grund für ihre enorme Abneigung mir gegenüber.

„Sind Sie etwa schon satt, Damon?“ Tina hat sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und zieht mich regelrecht mit ihren Blicken aus. Meine Güte, ist ihre Bluse vorhin auch schon so weit aufgeknöpft gewesen?

„Ähm, wie?“, stammele ich perplex und bemühe mich, ihr ins Gesicht zu sehen.

„Na, Sie sehen noch ein wenig hungrig aus.“

„So?“ Von dem Sandwich ist wirklich nichts mehr übrig, ich habe nur noch meine Wasserflasche. „Ich esse eher mehrere kleinere Portionen über den Tag verteilt, das geht schon in Ordnung. Aber vielleicht mache ich gleich noch einen Abstecher in die Kaffeeküche und schaue, was alles im Angebot ist.“ Mit diesen Worten stehe ich auf und sammle die leeren Verpackungen zusammen. „Sie auch?“

„Sie sind also eine Naschkatze?“, setzt sie noch nach, scheint aber zu akzeptieren, dass unser zugegebenermaßen eher einseitiger Flirt vorbei ist. „Machen Sie nur, ich werde später schauen, ob noch etwas übrig ist.“

Mit einem seltsamen Gefühl, dass sich fast wie ein schlechtes Gewissen anfühlt, verlasse ich das Büro der Seniorpartnerin. Ich bin ein wenig von mir selbst enttäuscht, dass ich nicht einfach ausprobiert habe, ob ich ihre zweideutigen Anmerkungen falsch interpretiert habe. Vor allem das mit der Nymphomanin, noch eindeutiger geht es kaum, oder?

Meine Wasserflasche in der Hand baumelnd steuere ich auf die Kaffeeküche zu. Das Sandwich hat mich tatsächlich recht satt gemacht. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, möchte ich nur prüfen, ob das Essen wirklich von Jennas Laden ist.

Die Bestätigung finde ich in Form eines Logos auf den Verpackungen, die jemand auf den Tisch mitten im Raum gestellt hat. Café Mitchell steht darauf, das C des ersten Wortes und das letzte L hübsch verschnörkelt, sodass sich um den Namen eine Art Rahmen bildet.

„Hey, Damon“, ruft Winston, einer meiner direkten Kollegen. „Die Sachen sind echt lecker, nimm dir schnell was, bevor es noch mehr Leute herausfinden und alles wegessen.“

„Guter Tipp“, entgegne ich. „Was empfiehlst du als Einstieg?“ In einer kleineren Schachtel ist Gebäck, das ich schon mal gesehen habe, auf dessen Namen ich aber nicht komme. Makronen? Keine Ahnung, irgend so etwas. Dann eine recht große Verpackung mit verschiedenen Muffins und schließlich ein angeschnittener Käsekuchen.

„Einen der Muffins.“ Winston tritt einen Schritt näher an den Tisch heran. „Die mit Blaubeere sind mein Favorit. Der Cheesecake soll aber auch nicht schlecht sein, da ist Erdbeere mit drin. Falls du schon zu Mittag gegessen hast, empfehle ich die Macarons.“

Nachdenklich lasse ich den Blick schweifen. Es ist wirklich schwer, sich zu entscheiden. „Die Sachen sind von einem Café aus der Nähe?“, frage ich beiläufig und probiere eines der Macaron-Dinger. „Ein neues?“

„Genau, ich bin vorhin zusammen mit Steven dort gewesen. Sieht recht unscheinbar aus und ist auch nicht besonders groß, aber das, was ich bisher probiert habe, ist wirklich ganz besonders. Vor allem keine langweilige Massenware.“

Ich drapiere ein Stück Käsekuchen auf einem Teller und schnappe mir noch ein Macaron. Die Dinger sind superlecker. „Danke auf jeden Fall. Ich werfe nachher was in die Kaffeekasse.“ Ein wenig umständlich winke ich mit meiner Wasserflasche und verschwinde in Richtung meines Büros.

Vielleicht sollte ich nach Feierabend Jennas Café einen Besuch abstatten …