Leseprobe So tödlich der Wald

Prolog

Das kleine Zimmer, in dem sich Johannes Burgmeister befand, roch muffig. Nicht verwunderlich, war es doch Teil eines Kellers, der sich unterhalb eines abgehalfterten Hochhauses in einer der schlimmsten Gegenden Münchens befand.

Hier hat bestimmt seit Jahren niemand mehr ordentlich durchgelüftet, dachte er, und warf einen Blick auf das schmale Fenster, das sich zu seiner Rechten in einer Höhe von rund zweieinhalb Metern befand.

Das Glas war so verschmutzt, dass man nur mit einiger Fantasie den blauen Himmel sehen konnte, und die Schmutzränder waren so verkrustet, dass man das Fenster bestimmt nur noch mit dem Einsatz massiver Gewalt öffnen konnte. Falls der Mechanismus überhaupt noch funktionierte, denn der verrostete Griff flößte Burgmeister nicht gerade ein Gefühl von Zuversicht ein. Die nackte Glühbirne, die in der Mitte des Raumes matt in ihrer Fassung leuchtete und immer wieder flackerte, half auch nicht, diesen Eindruck zu ändern. Aber er war schließlich nicht hier, um sich als Innenausstatter zu betätigen, sondern um ein Geschäft zum Abschluss zu bringen. Ein Geschäft, an dem er viele Monate gearbeitet hatte.

»Hast du das Geld?«, fragte sein Gegenüber, ein stämmiger Mann, der noch nicht einmal sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr erreicht hatte, wie Burgmeister wusste, dafür aber schon unter massivem Haarausfall litt. Der Mann saß hinter einem wackeligen Plastiktisch, während hinter ihm zwei muskulöse über zwei Meter große Männer mit Sonnenbrillen standen.

Solche Trottel, sagte Burgmeister zu sich selbst. Wollen gefährlich aussehen, aber wenn etwas passiert, checken die gar nicht, was los ist, so dämmerig, wie es hier ist.

»Klar«, antwortete er selbstbewusst und hielt zur Unterstreichung seiner Aussage einen schwarzen, unscheinbaren Reisekoffer hoch. »Hast du den Stoff?«

Der Mann, der sich selbst Jochen nannte, sagte nichts, sondern drehte demonstrativ den Kopf zur Seite und nickte kurz. Direkt zu seinen Füßen, befand sich eine Sporttasche.

»Zeig ihn mir«, forderte Burgmeister ihn auf.

Jochen, der in manchen Kreisen auch aufgrund seiner großen Hände Der Rochen genannt wurde, rührte sich nicht von der Stelle. »Erst das Geld«, sagte er.

Burgmeister zuckte mit den Schultern, legte den Koffer auf den Tisch, öffnete ihn und drehte ihn dann so, dass sein Gegenüber einen Blick hineinwerfen konnte.

»Wie viel ist das?«, wollte Jochen wissen.

»Exakt das, was wir vereinbart haben«, antwortete Burgmeister. »Hundert Euro pro Gramm. Jetzt du.«

Der stämmige Mann beugte sich zur Seite und hob die Sporttasche hoch, dann zog er den Reißverschluss auf und offenbarte ihm den Inhalt.

»Wie abgesprochen«, verkündete er. »Drei Kilo reinstes Kokain.«

Burgmeister sah kurz in die Tasche und begutachtete die zahlreichen, mit weißem Pulver gefüllten Päckchen. »Wer garantiert mir, dass du mich nicht verarschst?«

»Ich bin ein Ehrenmann«, antwortete Jochen und legte eine der massigen Hände auf die Brust. »Du kannst gerne probieren. Solltest du später eine Beschwerde haben, kannst du dich ja an den Kundendienst wenden. Die helfen immer gern weiter.«

Die beiden Gorillas hinter ihm kicherten leise wegen dieser humoristischen Darbietung.

Burgmeister, der die Aussage nicht im Mindesten witzig fand, setzte trotzdem ein Lächeln auf. »Guter Scherz. Okay, dann nehme ich die Tasche jetzt und gehe.«

»Willst du nicht noch auf einen Kaffee bleiben und ein wenig Small Talk machen?«

»Eigentlich nicht«, gab Burgmeister zurück. »Ich habe keine Lust, länger in diesem Loch zu verweilen als nötig.«

»Schade. Ich wollte dir nämlich einen Vorschlag machen«, sagte Jochen jetzt und lehnte sich zurück.

»Und der wäre?«, fragte Burgmeister, alle Sinne in Alarmbereitschaft.

»Es wäre eine kleine Abweichung von unserer Vereinbarung. Was hältst du davon, wenn ich das Geld und das Koks nehme, und du verbringst noch etwas Zeit mit meinen Freunden? Sie würden dich nämlich gern näher kennenlernen.«

»Vielen Dank, aber ich bin nicht schwul«, gab Burgmeister trocken zurück und griff nach der Tasche.

»Das war kein Angebot«, erklärte der stämmige Mann und legte eine Hand schwer auf die Reisetasche.

Das leichte Lächeln, das er bisher zur Schau getragen hatte, war nun einem grimmigen Gesichtsausdruck gewichen.

»Wenn ich es mir recht überlege, klingt dein Vorschlag ziemlich interessant«, erwiderte Burgmeister. »Aber nur, wenn meine Freunde auch dazukommen dürfen.«

Zwei Sekunden später wurde die rostige Metalltür am Eingang des Zimmers nach innen aufgestoßen, und vier weitere Sekunden später war es gefüllt mit fünf weiteren Männern, alle gekleidet in die Uniform der polizeilichen Eingreiftruppe.

»Darf ich mich vielleicht vorstellen?«, fragte Burgmeister und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Du kennst mich zwar unter dem Namen Max Gärner, aber mein richtiger Name ist Polizeioberkommissar Johannes Burgmeister. Mein Beruf ist es Leute wie dich und deine Kumpanen hinter Gitter zu bringen.«

Jochen verzog keine Miene und ließ seine Hand auf der Tasche liegen. Dann zog er die Mundwinkel nach oben und entblößte dabei eine Reihe blitzweißer Zähne, die so gerade standen, dass sie einer Truppe von Soldaten ähnelten. »Denkst du wirklich, dass ich nicht weiß, wer du bist?«, fragte er. Dann rief er laut: »JUNGS!«

Kurz darauf brach die Hölle los. Aus einem Nebenraum, dessen Tür von einem hohen Karton verdeckt gewesen war, stürmten plötzlich drei bewaffnete Männer herein und eröffneten umgehend das Feuer. Die fünf Polizisten sowie Burgmeister reagierten nur eine halbe Sekunde verzögert und begannen ebenfalls, ihre Waffen abzufeuern. Die Kugeln pfiffen durch die Luft und bohrten sich teilweise in den unverputzten Zement an den Wänden, teilweise aber auch in Fleisch. Die Luft war erfüllt von gebrüllten Befehlen, dem Widerhallen zahlreicher Schüsse und dem Geräusch, von sterbenden Menschen.

Das Feuergefecht dauerte nur zwanzig Sekunden, aber für Burgmeister fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Als alles vorbei war, war der Raum gefüllt mit Leichen.

Der Oberkommissar, der wie durch ein Wunder nicht getroffen worden war, betrachtete fassungslos das Blutbad.

»Scheiße«, entfuhr es ihm.

 

Es war kurz vor fünf Uhr morgens, und das Land lag friedlich da. Von den frisch abgeernteten Feldern stiegen dichte Nebelschwaden auf und vermischten sich mit den zarten Sonnenstrahlen der frühen Herbstsonne. Vor wenigen Tagen hatte offiziell die jährliche Elchjagd-Saison begonnen, und allerorten rückten die lokalen Vereine aus, um ihren Anteil an der staatlich festgelegten Beute zu erhalten. Die Elchjagd war seit vielen Jahren per Gesetz reguliert, da es in Finnland nicht viele Raubtiere gab, die diesen majestätischen Tieren gefährlich werden konnten und die Population auf diese Weise unter Kontrolle gehalten werden musste, um Verkehrsunfälle und von Elchen verursachte Forstwirtschaftsschäden so gut wie möglich zu begrenzen.

Rund zehn Kilometer außerhalb der in der nordkarelischen Provinz gelegenen Kleinstadt Nurmes befand sich eines der freigegebenen Jagdgebiete. Am Straßenrand der Kuhmontie, die sich von Süd nach Nord zog, standen zwanzig Pick-up-Trucks aufgereiht da. Die zugehörigen Eigentümer, allesamt Männer und Mitglieder des lokalen Jagdvereins, trafen gerade die letzten Vorbereitungen für die heutige Jagd und überprüften ihre Waffen und Ausrüstung auf vollständige Funktionstüchtigkeit. Natürlich hatten sie dies bereits zu Hause getan, aber es gehörte einfach dazu, direkt vor einer Pirsch noch einmal alles zu überprüfen.

Angeführt wurden sie von einem Mittsechziger namens Pekka Nevalainen, der schon so lange Vorsitzender des Vereins war, dass sich die jüngeren Mitglieder nicht mehr an seinen Vorgänger erinnern konnten. Nevalainen war ein Bär von einem Mann. Er war groß, breitschultrig, trug sein Haupthaar zu kurzen Borsten geschnitten und seinen Vollbart hingegen so lang, dass er ihm bis über die Brust reichte. Für die Jagd hatte er seine wallenden Barthaare zusammengebunden, damit sie ihn nicht bei der Pirsch behinderten.

Um die großen und durchaus scheuen Tiere im unwegsamen und von Menschen kaum berührten Nadel- und Laubwald zu finden, hatten die Jäger einige abgerichtete Hunde mitgebracht, denen man anmerkte, wie sehr sie sich danach sehnten, endlich loslegen zu dürfen. Die Männer – Frauen waren in diesem Verein nicht zur Jagd zugelassen – waren guter Dinge und freuten sich auf die Pirsch. Nicht etwa, weil sie besonders blutrünstig waren, sondern weil es sich um ein traditionelles Handwerk handelte, das einen nicht unwichtigen Teil der finnischen Kultur bildete.

Nevalainen blickte sich aus gelassenen, beinahe wasserblauen Augen um und zählte die Anwesenden, die er selbstverständlich alle mit Namen kannte. Nachdem er registriert hatte, dass alle Teilnehmer bereit waren, stieß er einen hohen Pfiff aus, um die Aufmerksamkeit der Jäger auf sich zu lenken.

»Huomenta«, sagte er auf Finnisch, was mit einem einfachen »Guten Morgen« übersetzt werden konnte.

Als sich alle Männer um ihn versammelt hatten, erklärte er, wie die heutige Jagd vor sich gehen würde. Die Teilnehmer würden in vier Gruppen zu je fünf Mann aufgeteilt werden. Drei der Trupps sollten von altgedienten Mitgliedern des Vereins angeführt werden, während Nevalainen ebenfalls eine Gruppe anführen und gleichzeitig die Hauptverantwortung tragen würde. Um sich nicht aus den Augen zu verlieren, aber dennoch ein weites Gebiet abdecken zu können, würden sich die einzelnen Trupp-Mitglieder in einem Abstand von zehn Metern zueinander positionieren, und jeder Zweite würde einen Hund bei sich haben. Zwischen den Gruppen würde wiederum ein Abstand von vierzig Metern bestehen. Als sich alle an ihre Position begeben hatten, pfiff der Vereinsvorsitzende erneut und gab damit das Signal zum Aufbruch.

Wie ein Mann gingen die Gruppen gleichzeitig los und traten in den dichten Wald hinein. Obwohl die Hunde ungeduldig waren, waren sie trainiert genug, dass sie weder an ihren Leinen zerrten noch laut bellten. Oftmals dauerte eine Jagd mehrere Stunden, denn die Elche in der Gegend schienen zu spüren, was ihnen bevorstand, und begaben sich oft tief in die Wälder hinein.

Nach einiger Zeit stand die Sonne hoch am Himmel und hatte die letzten Nebelschwaden schon lange vertrieben, als Nevalainen seiner eigenen Gruppe eine Rast befahl und die anderen Trupps über Funk ebenfalls davon in Kenntnis setzte. Die Männer setzten sich auf Steine, die man oft in den finnischen Wäldern als Überbleibsel der letzten Eiszeit fand, sowie auf umgestürzte und mit Moos bewachsene Bäume und packten ihre Brotboxen und Trinkflaschen aus. Bisher hatten die Hunde noch keine Witterung aufgenommen, was aber niemanden sonderlich zu beunruhigen schien. Obwohl die Jagdteilnehmer guter Dinge waren, sprachen sie nur das Nötigste miteinander und führten ihre Tätigkeiten präzise und leise aus, schließlich wollten sie die Elche nicht aufschrecken.

Der Wald lag still da, und nicht einmal die Vögel schienen Lust zu haben, ihr Lied zu singen.

Plötzlich krachte es, als ob ein Blitz eingeschlagen hätte.

Die Männer sahen sich verwirrt um und blickten dann zum Himmel, aber da war nicht einmal ein Wölkchen zu sehen. Schließlich dämmerte ihnen, dass es sich um einen Schuss gehandelt haben musste. Da die einzelnen Jagdgruppen inzwischen über ein Gebiet von mehreren Kilometern verteilt waren, waren die Truppführer über Funk miteinander verbunden und nahmen umgehend Kontakt zueinander auf. Einer nach dem anderen bestätigte, dass niemand von ihren Leuten geschossen hatte.

Schnell kam daher die Frage auf, ob es noch weitere Jagdgruppen geben könnte, von denen sie nichts wussten. Das war aber unwahrscheinlich, schließlich meldete sich jeder, der auf die Elchjagd gehen wollte, bei dem örtlichen Verein an, so verlangte es eine ungeschriebene Vereinbarung. Der Verdacht machte sich breit, dass es sich um Wilderer handeln könne. Davon gab es leider viel zu viele, und trotz eines Teams aus Sonderermittlern hatte es die Polizei bisher nicht geschafft, nennenswerte Erfolge vorzuweisen. Nach kurzer Beratung mit den anderen Truppführern fasste Nevalainen einen Entschluss und gebot den Hundeführern, die Tiere von der Leine zu lassen. Die Jagdhunde, endlich befreit, sprinteten sofort los und preschten in den unwegsamen Wald hinein. Ihre Herren folgten ihnen, so gut es ging, verloren die Tiere im dichten Gehölz aber bald aus den Augen. Nach einigen Minuten gaben es die Männer auf, über den unebenen Waldboden zu rennen, und gingen stattdessen im schnellen Schritt weiter, die Gewehre locker in der Armbeuge haltend. Es dauerte mehr als zwanzig Minuten, bis die Hunde endlich zu bellen anfingen, als Signal, dass sie etwas gefunden hatten. Die Männer traten auf eine kleine Lichtung und sahen, dass sich die Tiere im Halbkreis um ein am Boden liegendes Etwas versammelt hatten. Erst, als ihnen die Hundeführer per Handzeichen signalisierten, still zu sein, hörten sie mit dem Bellen auf, blieben aber immer noch in angespannter Haltung um ihren Fund herum stehen.

Der Vereinsvorsitzende trat ebenfalls hinzu und rechnete damit, ein totes Wild zu finden. Umso erstaunter war er, als er erkannte, um was es sich tatsächlich handelte. Vor ihm, rücklings auf dem Boden ausgestreckt, lag eine menschliche Leiche.

»Perkele!«, fluchte einer der Jäger, der gerade hinter dem Vereinsvorsitzenden aus dem Dickicht kam.

Als schließlich auch die anderen Gruppen angekommen waren, war Nevalainen bereits damit beschäftigt, sich den Toten genauer anzusehen. Er war männlich und schätzungsweise dreißig Jahre alt. Sein Gesicht war glattrasiert und zu einer merkwürdigen Fratze verzogen, so als sei er überraschend gestorben. Dem großen Einschussloch in seiner Brust nach zu urteilen, war er nicht auf natürlichem Wege umgekommen. Der Vereinsvorsitzende erkannte sofort, dass das Kaliber, mit dem der Mann erschossen worden war, von einem Jagdgewehr stammen musste, wie es sie in Finnland zuhauf gab. Er wollte gerade in die Knie gehen und die Leiche anfassen, hielt dann aber inne und besann sich eines Besseren. Über Funk kontaktierte er eines der jüngsten Mitglieder, das am Waldrand zurückgeblieben war, um auf die Autos und die mitgebrachte Ausrüstung aufzupassen. Er teilte ihm nur das Nötigste mit und wies ihn an, die Polizei zu rufen. Am Ende gab er noch seine Standortkoordinaten durch, die er von seinem am Gürtel befestigten GPS ablas.