Leseprobe Seelenkalt

Prolog – Oktober 2019

Sie schlug die Augen auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte, sich aufzusetzen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Nicht mal einen Finger konnte sie krümmen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie an Hand- und Fußgelenken auf einem Stahltisch fixiert war.

Sie befand sich in einem Raum, dessen Dimensionen sie nicht ermessen konnte. Das meiste lag im Dunkeln. Vor dem Stahltisch war eine Kamera aufgebaut. Ein blinkendes rotes Lämpchen signalisierte, dass sie aufzeichnete. Daneben stand ein Wagen mit Werkzeugen, Zangen, einem Skalpell und ein paar anderen Gegenständen, deren Zweck sie nur mit Grauen erahnen konnte.

Die Panik attackierte sie mit voller Wucht. Das kann nicht sein. Ich träume. Bitte, lieber Gott, mach, dass ich träume.

Sie versuchte zu schreien, aber ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Ihre Lippen fühlten sich taub an und die Worte kamen nur undeutlich heraus. „Finn?“

Niemand antwortete.

Sie suchte fieberhaft einen Ankerpunkt in ihrer Erinnerung, der ihre Situation erklären konnte. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Fernsehabend mit Finn. Danach Blackout. Vielleicht war das nur eins von seinen Spielchen. Sie hatte sich falsch verhalten auf dem Parkplatz vom Paradies, das wusste sie. Er war so sauer gewesen. War das jetzt ihre Strafe? „Tut mir leid“, wimmerte sie. „Bitte, hör auf damit.“

Niemand antwortete. Sie hörte nur ihr eigenes Herz, das gegen ihren Brustkorb hämmerte.

Die Minuten verstrichen und nichts geschah.

„Bitte“, flehte sie. „Bitte, ist da jemand?“

Statt einer Antwort wurde eine Tür geöffnet. Sie spürte den kalten Luftzug und hob den Kopf. Als ihr Verstand begriff, wer da hereingekommen war, gefror ihr das Blut in den Adern.

Kapitel 1

Das Klingeln des Handys riss Claire aus ihren Gedanken. Seit acht Tagen war sie im Dauereinsatz, ein Freier nach dem anderen. Dazwischen kaum Zeit für eine Verschnaufpause, zu wenig Schlaf, weil sie von den Drogen und dem ganzen Alkohol zu aufgeputscht war. Aber nüchtern war dieser Marathon nicht zu ertragen. Sie musste sich betäuben, um das durchstehen zu können. Sie brauchte das Geld.

Die letzten beiden Kunden hatten sich an Widerlichkeit übertroffen. Der eine war krankhaft übergewichtig, mit einem sehr kleinen Penis, der von einem monströsen Haufen Fett verdeckt wurde. Er verlangte, dass sie ihn mit der Hand befriedigte, wozu sie sich durch seine Fettschwarten wühlen musste. Der Gestank seiner Genitalien war ekelerregend und es hatte sie einiges an Mühe gekostet, den Brechreiz zu unterdrücken. Gott sei Dank hatte er keinen Blowjob gewollt und während er unter Stöhnen und Grunzen zum Höhepunkt kam, summte sie stumm eines der Kinderlieder, das ihre Mutter ihr früher vorgesungen hatte.

Der andere war ein Sadist, der einen Haufen Kohle springen ließ, um seine Vergewaltigungsfantasien an ihr auszuleben. Einzige Bedingung: keine sichtbaren Verletzungen. Sie hatte ihn schon öfter getroffen und jedes Mal wurde es schlimmer. Aber fünfhundert Euro für zwei Stunden waren ein schlagendes Argument. Und wenn der Kunde zufrieden war, steckte er ihr ein paar Scheine extra zu, die sie heimlich zur Seite legte für ihren großen Traum. Dana hatte ihr erklärt, dass niemand sie zwingen konnte, sich misshandeln zu lassen. Nicht einmal Nick. Aber Dana hatte gut reden. Sie war frei in ihren Entscheidungen. Claire hingegen musste tun, was ihr Zuhälter verlangte.

Die Prügel und die schmerzenden sexuellen Handlungen des Freiers bekam sie nur wie durch einen Schleier mit. Ihr Trick bestand darin, in Gedanken einen anderen, einen schönen und friedvollen Ort aufzusuchen. Sie nannte diesen Ort Elysium. Den Begriff hatte sie mal irgendwo aufgeschnappt und nachgeschlagen, weil ihr der Klang des Namens so gut gefiel. Die Insel der Glückseligen aus der griechischen Mythologie. Auf Claires Insel gab es dieses Tal, umringt von hohen Bergen. Auf den Wiesen blühten Sommerblumen, Hummeln summten, der Himmel war blau und in der Nähe gurgelte ein kleiner Bach. Dorthin zog sie sich in schwierigen Momenten zurück und tauchte erst wieder auf, wenn alles vorbei war.

Der letzte Job hatte ein paar Probleme gelöst. Sie konnte Nick ihren Mietanteil geben und die Schulden bei ihrem Dealer bezahlen. Aber Prügel blieb Prügel. Und nicht sichtbar hieß nicht, dass sie keine Verletzungen davontrug. Ihre Blutergüsse am Rücken und im Bauchbereich waren schmerzhaft und Claire wünschte sich nichts sehnlicher, als ein paar Tage einfach mal auszuspannen. Einmal hatte ein Freier sie überwältigt und missbraucht, ohne zu bezahlen. In dieser Nacht hatte sie sich wie ein nutzloses Stück Scheiße gefühlt und kurz darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Eine Vergewaltigung blieb eine Vergewaltigung, auch in ihrem Job.

Sie nahm das Gespräch trotzdem entgegen und nach wenigen Minuten war die Verabredung mit einem weiteren Kunden gesetzt. Angeblich handelte es sich um einen Teddybären. Das war der Code für den Typ Mann, der selten vögeln, sondern oft nur reden wollte. Über Probleme bei der Arbeit, mit der Ehefrau oder, was häufig vorkam, mit seiner Mutter. Die meisten Teddybären waren harmlos und ihnen war es egal, dass alles – Claires Verständnis, ihr Mitleid, ihre Orgasmen – gespielt und aufgesetzt war. Sie waren einsame Menschen, auf der Suche nach Intimität und emotionaler Wärme. Dafür gab es zwar keine fünfhundert Euro, aber es war leicht verdientes Geld.

Claire strich ihr Minikleid glatt, das mit den glitzernden Pailletten, überprüfte ihr Make-up und gönnte sich noch eine Nase Pep gegen die Müdigkeit. Vor dem Spiegel rückte sie ihre schwarze Perücke zurecht. Dann machte sie sich auf den Weg.

Die Adresse war die Hotelbar des Hotel Zeitlos in der Nähe vom Eigelstein, einem Viertel, das früher mal eins der bekanntesten Rotlichtviertel von Köln gewesen war. Davon übriggeblieben waren nur noch ein paar Anbahnungskneipen und schmuddelige Hinterzimmer. Das Hotel war allerdings High Class. Für viele Stars der Medienbranche war es die erste Adresse. Claire hatte dort schon öfter Kunden getroffen. Sie freute sich auf ein paar leckere Drinks.

Ein Mann mittleren Alters saß an der Bar und hatte die gelbe Rose als Erkennungszeichen neben sich liegen. Claires siebter Sinn schlug leise Alarm. Irgendwas stimmte nicht und sie dachte kurz darüber nach, ob sie wieder gehen sollte. Irgendwo hatten sie den Typen schon mal gesehen, aber ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wo. Sie ignorierte den Alarm in ihrem Kopf, zupfte sich das hautenge Kleid ein letztes Mal zurecht und begrüßte den Mann, der sich ihr als Richard vorstellte, was sicher nicht sein richtiger Name war.

Er war attraktiv, maskulin, mit einer tiefen, angenehmen Stimme. Alles an ihm wirkte selbstbewusst und cool. Sein blondes kurzgeschnittenes Haar, das an den Schläfen langsam grau wurde, der gepflegte Vollbart, der modern geschnittene braune Anzug, mit blauem Hemd und italienischen Schuhen. Seine Körpersprache und sein Auftreten hatten etwas von einem Wolf. Der Typ war kein Teddybär, so viel stand fest. Er bestellte Claire ihren Lieblingsdrink, einen Cosmopolitan, und sie sprachen über belanglose Dinge.

„Ich würde mit dir gerne woanders hingehen“, eröffnete ihr Richard nach wenigen Minuten. „Ich wohne gleich um die Ecke. Da sind wir ungestörter. Ich fühle mich hier, ehrlich gesagt, nicht so wohl. Zu viele Menschen.“

Als Claire nicht sofort antwortete, zog er dezent ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und legte sie ihr in die Hand.

„Das sind dreihundert mehr als vereinbart. Was sagst du? Wir sparen uns das teure Hotelzimmer. Du kannst die Kohle doch sicher gebrauchen.“

Diese Stimme. Wo hatte sie die bloß schon mal gehört? Claire kramte in ihren Erinnerungen. Sie sah dem Mann in die Augen, erkannte dort aber nichts Hinterhältiges oder Brutales.

Ach, was soll’s, dachte sie, steckte das Geld in ihre Handtasche und nickte.

Im Stavenhof hieß die kleine Seitenstraße vom Eigelstein, und der Hauseingang befand sich versteckt in einem Hinterhof. Richard öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Claire hörte, wie hinter ihr die Tür wieder verriegelt wurde. Nicht gut, dachte sie, folgte ihrem Kunden aber dennoch durch einen schmalen Flur ins Wohnzimmer.

Mann und Ambiente passten überhaupt nicht zusammen. Das Zimmer sah aus wie aus einem Fünfzigerjahre-Film. Eine Rautentapete in Ocker- und Grüntönen, Holzvertäfelung an der Decke, ein braunes Sofa, Perserteppich, ein Nierentisch und zwei kleine Sessel, einer rot, einer grün. In einer Ecke stand sogar noch ein alter Fernsehschrank.

„Setz dich, bitte“, sagte Richard und deutete auf die Sessel.

Claire wählte den roten. Sie kramte ihr Handy aus der Tasche, um Dana die neue Adresse durchzugeben. Das war ihre Vereinbarung, damit sie stets voneinander wussten, wo die andere gerade war. Aber der Bildschirm blieb schwarz.

Scheiße. Sie hatte vergessen, es aufzuladen. Nicht zu ändern. Sie verfluchte sich für diese Nachlässigkeit und steckte das Handy wieder in ihre Handtasche.

„Nett hast du es hier“, sagte Claire, um das Schweigen zu brechen.

„Hm“, brummte Richard. „Gehörte meiner Mutter.“

Claire war aufgestanden und stand ihm jetzt direkt gegenüber.

„Sag mir einfach, was du gern magst.“ Sie lächelte verführerisch und streichelte seine Wange.

Richard schob sie weg. „Ich will nur mit dir reden.“

„Okay. Kein Problem.“ Lass mich raten. Du willst über deine verstorbene Mutter reden, die in dieser angestaubten Filmkulisse gewohnt hat.

„Ich brauche Informationen über das Paradies.“

Claire starrte den Mann an. Für einen Moment stand ihr die Überraschung ins Gesicht geschrieben.

Das Paradies war ein Bordell oder, eleganter ausgedrückt, ein Saunaclub, in dem sie hin und wieder arbeitete. Nick, ihr Zuhälter, hatte das arrangiert. Den Club gab es noch nicht lange, aber das Konzept hatte eingeschlagen wie eine Bombe. Todschick, alles neu und edel, teuer und sauber. Das Ambiente gefiel ihr. Besser als in den Laufhäusern oder Bordellen, in denen sie sonst arbeiten musste. Die Kunden waren wohlhabend und gepflegt, kein Abschaum von der Straße, der für fünf Euro einen Blowjob erwartete. Normale Typen aus der Mittel- und Oberschicht, die sich nach Feierabend oder an den Wochenenden eben mal was anderes gönnen wollten als die übliche Hausmannskost. Dagegen war nichts einzuwenden, fand Claire. Sie bekam Drinks spendiert und das Essen war fabelhaft. Außerdem hatte sie dort Dana kennengelernt.

Sie schüttelte den Gedanken an ihre Freundin ab und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. Ganz gleich, was dieser Richard von ihr wissen wollte, sie würde auf keinen Fall irgendwelche Interna aus dem Club ausquatschen. Es spielte keine Rolle, ob er ihr wehtun würde, um an Informationen zu kommen. DIE würden ihr noch viel mehr Schmerzen zufügen.

„Leute wie ich haben im Paradies keinen Zutritt. Unsereins ist eher für die unteren Etagen gebucht“, sagte sie daher ausweichend.

Statt einer Antwort schubste Richard sie in den Sessel zurück.

„Hey, was soll das?“, rief Claire überrascht. „Was ist denn mit dir los?“

„Bleib sitzen“, blaffte er. Er stand vor ihr und blickte auf sie herunter.

Irgendwas stimmte nicht und sie hatte es von Anfang an gewusst. Warum höre ich auch nicht auf meinen Instinkt. Sie schaute zum ihm hoch.

„Hör zu“, versuchte sie es in einem neuen Anlauf und zog sich die Jacke aus. Darunter trug sie nur das paillettenbesetzte kurze Schwarze mit dem tiefen Ausschnitt. „Sag mir einfach, worauf du stehst. Ich mach so ziemlich alles, nur keine Schläge ins Gesicht, bitte. Das ist schlecht fürs Geschäft.“ Sie lächelte ihn an. „Soll ich mich ausziehen? Oder ein bisschen für dich tanzen?“

„Ich suche jemanden und du wirst mir helfen, sie zu finden“, war die Antwort.

Claire sah Richard an und ihr Puls beschleunigte sich. Das Verhalten des Mannes hatte sich auf gefährliche Weise verändert. Vorhin war er cool und überlegt gewesen, distanziert, jetzt war seine Körperhaltung bedrohlich, bereit zum Angriff. Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. So hatte ihr Vater ausgesehen, bevor er seinen Gürtel auszog.

„Wen suchst du denn?“, fragte sie eingeschüchtert und kauerte sich instinktiv tiefer in den Sessel.

„Meine Tochter, sie heißt Antonia oder Toni und sie arbeitet im Paradies. Oder hat dort gearbeitet.“

Also daher wehte der Wind. Scheiße.

„Ich weiß nicht, wer das ist“, antwortete Claire und sie hatte wirklich keinen blassen Schimmer, wovon der Mann redete. Sie kannte keine Antonia. Aber seine Stimme. Wo hatte sie die schon mal gehört? Es war keine angenehme Situation gewesen, das stand fest. Aber sie kam nicht drauf. Normalerweise vergaß sie nie ein Gesicht. Das war überlebenswichtig in ihrem Job. Und Stimmen konnte sie sich eigentlich auch gut merken. Es war zum Verrücktwerden.

„Kann ich was zu trinken haben?“, fragte sie ausweichend. „Ein Glas Sekt vielleicht?“

„Erst, wenn du mir gesagt hast, wo Toni ist.“

„Ich hab wirklich keine Ahnung.“ Claire versuchte, ihrer Stimme den entsprechenden Nachdruck zu verleihen. „Hör zu“, schlug sie vor. „Ich gebe dir die Kohle zurück und wir vergessen die ganze Sache.“ Sie machte Anstalten aufzustehen, aber Richard drückte sie wieder in den Sessel.

„Du gehst nirgendwo hin“, befahl er. „Erst will ich wissen, was mit meiner Tochter passiert ist.“

„Wieso fragst du ausgerechnet mich das?“, rief Claire. „Ich kenne deine Tochter nicht.“

„Du lügst“, schrie Richard in einem plötzlichen Gefühlsausbruch und er holte aus, um sie zu schlagen. Claire riss instinktiv die Arme hoch, um sich zu schützen, aber der Schlag blieb aus. Richard ließ den Arm wieder sinken. Er sah auf sie herunter.

„Ich muss wissen, wo sie ist und ob es ihr gut geht. Ich weiß, dass du sie kennst. Ich habe euch zusammen gesehen.“

Claire stutzte. „Wann denn?“

„Am 28. September, das war ein Samstag. Auf dem Parkplatz hinter dem Paradies.“

Mit einem Schlag war die Erinnerung an die Situation zurück, in der sie dem Mann schon einmal begegnet war. Sie hatte wieder alles klar vor Augen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Der Bart. Das war es. Er hatte damals keinen Bart getragen. Deswegen hatte sie ihn nicht wiedererkannt.

„Da gehe ich immer zum Rauchen hin“, erklärte sie, um Zeit zu gewinnen. „Ich steh da bestimmt zehnmal am Tag. Keine Ahnung. Ehrlich, ich kenne keine Antonia. Ist wahrscheinlich auch nicht der Name, den sie im Club benutzt.“

Richard packte sie und zog sie aus dem Sessel. „Du lügst“, knurrte er wütend. Sie standen sich jetzt ganz nah gegenüber. Sie konnte seinen Atem riechen. Er roch noch Lakritz. „Ich habe nichts mehr zu verlieren. Meine Tochter ist alles, was mir noch geblieben ist. Und wenn es sein muss, werde ich dir wehtun, um an Informationen zu kommen.“

Raus hier, hau ab. Claire zog panisch ihr rechtes Bein hoch und rammte dem Mann mit voller Wucht ihr Knie in die Eier. Er ließ sie los, krümmte sich und schnappte nach Luft. Dann schubste sie ihn zur Seite und rannte durch den Flur zur Haustür. Verzweifelt rüttelte sie an der Klinke, aber die Tür war ja verschlossen und er hatte den Schlüssel. Was für eine verdammte Scheiße. Sie sah sich um. Richard stand bereits wieder fest auf zwei Beinen. Nochmal würde er sich nicht überrumpeln lassen.

„Musste das sein?“, keuchte er. „Ich will doch nur ein paar Antworten.“

Claire schrie ihn an. „Ich habe keine Antworten für dich. Und ich will jetzt gehen.“

„Lass uns was trinken“, schlug Richard vor. „Bitte, setz dich wieder. Es tut mir leid.“

Claire sah sich um wie ein gehetztes Tier. Der Ausgang war versperrt also ging sie zurück ins Zimmer. Ihr Kunde verschwand in der Küche. Als er mit zwei Gläsern Sekt zurückkam, entspannte sie sich etwas und setzte sich wieder hin.

„Ich bin das Ganze falsch angegangen“, entschuldigte er sich. „Du hast vollkommen Recht. Antonia ist sicher nicht der Name, den sie verwendet, aber einen anderen kenne ich nicht. Vielleicht hilft dir das hier auf die Sprünge.“

Er zog eine Fotografie aus seiner Geldbörse und hielt sie ihr unter die Nase. Das Foto war ganz verknittert. Er trug es sicher schon länger mit sich rum. Claire warf einen Blick darauf und erkannte das Mädchen sofort. Das schmale Gesicht, die dunklen Augen, die braunen Korkenzieherlocken. Das war Momo. Eins von Finns Mädchen.

Sie schüttelte den Kopf. „Kenn ich nicht. Ehrlich.“ Sie sah Richard fest in die Augen und hoffte, dass ihr schauspielerisches Talent ausreichte, um ihn zu überzeugen.

„Das ist schade“, sagte Richard, aber in seiner Stimme schwang kein Ärger mehr mit. Es schien, als hätte er endlich eingesehen, dass er mit ihr nicht weiterkam.

Claire trank den Rest von ihrem Sekt aus. „Sorry, dass ich dir nicht helfen kann“, sagte sie. Sie hatte fast ein bisschen Mitleid mit dem Mann. Er hatte seine Tochter an Finn verloren und die Verzweiflung darüber stand ihm ins Gesicht geschrieben. Aber sie konnte nichts für ihn tun, nicht ohne sich selbst oder Dana in Lebensgefahr zu bringen. Finn war unberechenbar. Ein Zuhälter und Schläger, jemand, der bereit war, für Geld über Leichen zu gehen. Mit dem wollte sie sich wirklich nicht anlegen. Sie hatte die Kleine auch schon ewig nicht mehr im Paradies gesehen. Nicht seit dem Vorfall. Claire wusste nicht, wo sie jetzt war. Oder ob sie überhaupt noch lebte. Dana hatte ihr erzählt, dass Finn kalte Füße bekommen hatte, dass es da einen Typen gab, der Geld für sie bezahlt hat ... warum drehte sich das Zimmer ... Dana, war ihr letzter Gedanke. Dann verlor Claire das Bewusstsein.

Kapitel 2

Kriminalhauptkommissarin Franziska Frey saß am Frühstückstisch und hielt sich an einem heißen Glas Latte Macchiato fest. Sie hatte miserabel geschlafen, pochende Kopfschmerzen und fühlte sich matt und ausgelaugt. Toller Urlaub.

Sie beobachtete die Aspirin, die sich langsam in einem Wasserglas auflöste und wünschte sich, dass Tochter Jenny und Ehemann Heiner endlich ihre nervtötende Debatte über Recycling beendeten.

„Bei einer Glasflasche hängt die Ökobilanz nur von zwei Faktoren ab“, erklärte Jenny, „nämlich, wie oft du sie verwendest und über welche Strecke sie transportiert wird. Bei den Tretrapacks kommt zusätzlich hinzu, wie hoch der Plastik- und Aluanteil ist, ob das Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt und ob der Karton später sachgemäß entsorgt wird.“

„Das Institut für Energie- und Umweltforschung hat aber ermittelt, dass bei Milch die Tetrapacks besser sind, weil wir in Deutschland kaum Mehrwegsysteme für Milchflaschen ohne lange Transportwege haben.“ Heiner goss sich Orangensaft ein.

Jenny grinste ihren Vater an. „Das ist ein Test, oder? Diese Studie ist stark umstritten und ich bleibe dabei. Die Produktion von Kunststoff und Aluminium für die Kartons ist eine riesen Umweltsauerei.“

„Bitte, ihr beiden“, flehte Franziska. „Könnten wir heute mal über was anderes reden?“

Seit Jenny im letzten Schuljahr einen Pro- und Contra Aufsatz vergeigt hatte, übte Heiner mit ihr das Debattieren. Im Hause Frey wurden seitdem alle relevanten politischen Themen durch die Mangel gedreht. Über das Thema Recycling redeten die beiden jetzt schon fast vier Wochen. Manchmal wünschte Franziska sich insgeheim ihre alte Tochter zurück. Die Maulfaule, die auf ihr Handy starrend ihr Müsli verschlang und sich ohne ein Wort in ihr Zimmer zurückzog, um den Nachmittag im abgedunkelten Raum mit ihren Freundinnen zu chatten.

„Du bist mich ja bald los, Mama“, ätzte Jenny und sah ihre Mutter wütend an. „Dann hast du deine Ruhe.“

Franziskas Herz verkrampfte sich. In ein paar Tagen würde ihre Kleine für ein Jahr nach Kanada fliegen. Schüleraustausch in ein abgelegenes Kaff in der Mitte von nirgendwo. Ihr graute vor diesem Tag, seit sie gemeinsam den Entschluss gefasst hatten.

„Ach Süße“, flüsterte sie und versuchte, die Hand ihrer Tochter zu greifen. „So war das doch nicht gemeint.“

Jenny zog die Hand zurück.

„Bitte“, flehte Franziska. „Lass uns nicht streiten. Ich habe etwas Kopfweh, das ist alles.“

„Dann sauf nicht so viel, wenn du es nicht verträgst.“ Jennys Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Was ist denn los mit dir? Es war so ein schöner Abend.“

Sie hatten eine kleine Abschiedsparty für Jenny gegeben. Nur die engsten Freunde und Familie. Es wurde mit Sekt auf Jennys bevorstehendes Abenteuer angestoßen und danach waren sie zu Rotwein übergegangen, den Heiners Vater mitgebracht hatte. Aus der Toskana, wie er immer wieder betonte.

„Du warst voll peinlich, Mama.“

Franziska war wie vor den Kopf geschlagen. „Wie meinst du das?“

„Du hast mich vor all meinen Freunden total blamiert.“

„Wie das denn?“

„Du hast dich volllaufen lassen. Und dann ständig das mit den Babyfotos. Mega ätzend.“ Jenny rollte mit den Augen.

Franziska wurde wütend. „Ich habe zwei Gläser Wein getrunken, Jenny. Das ist nicht volllaufen lassen. Ich verbitte mir diesen Ton.“

Jenny holte Luft für eine Erwiderung, aber Heiner ging dazwischen. „Es reicht“, befahl er. „Ich wünsche mir, dass ihr zwei euch die letzten Tage nicht ständig zankt. Reißt euch zusammen! Alle beide.“

Franziska konnte es nicht leiden, wenn ihr Mann sie wie eine seiner Schülerinnen maßregelte. Schon gar nicht vor ihrer Tochter. Was bildete er sich ein? Sie hatte das Bedürfnis aufzuspringen und irgendwas zu zerschlagen. Stattdessen atmete sie tief durch und nickte. Sie wollte vor dem Kind keinen Streit anzetteln. Für den Moment würde sie nachgeben und das Gespräch mit ihrem Mann vertagen. Auch Jenny lenkte ein. Wie immer, wenn ihr Vater ein Machtwort sprach.

Franziska betrachtete die beiden. Vater und Tochter. Ein Herz und eine Seele. Sie als Mutter war schon länger abgemeldet, was zum Teil auch ihre Schuld war. Wechselschicht- und Bereitschaftsdienste hatten in den vergangenen sechzehn Jahren den Besuch so mancher Schulaufführung oder Basketballspiele verhindert. Nur Heiner war immer da gewesen. Jenny himmelte ihren Vater an und er vergötterte seine Prinzessin. Nur, dass Baby Jen, wie er sie hin und wieder noch nannte, nicht mehr das kleine Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen war. Sie war ein Teenager und hatte es faustdick hinter den Ohren. Als Heiner vor ein paar Wochen auf Klassenfahrt war, war Jenny betrunken und bekifft nach Hause gekommen. Franziska hatte ihr beim Kotzen den Kopf gehalten und feierlich versprechen müssen, ihrem Vater nichts davon zu erzählen.

Sie hatte zugestimmt, denn er hätte Jenny an die kurze Leine genommen. Aber Franziska hatte Vertrauen zu ihrer Tochter und entschieden, dass fast siebzehn das Alter ist, in dem man sich ausprobieren muss. Es gab bisher keine Anzeichen von besorgniserregenden Veränderungen. Alles war normal und ein Auslandsjahr würde ihr guttun.

„Sorry, Mama“, lenkte Jenny ein und ergriff jetzt doch die Hand ihrer Mutter. „Es war ein schöner Abend gestern und es tut mir leid, dass es dir heute Morgen nicht gut geht.“ Sie lächelte ein falsches Lächeln, was Franziska mehr verletzte als die frechen Antworten. „Ich geh mal packen“, sagte sie und verschwand in ihrem Zimmer.

Heiner goss sich Kaffee ein und kaute schmatzend auf seinem Brötchen. „Dass ihr immer so aneinandergeraten müsst. Das ist wirklich anstrengend.“

„Es ist anstrengend für mich, Heiner. Nicht für dich. Dich vergöttert sie. Mich hasst sie.“

„Jetzt übertreibst du aber.“ Heiner legte sein Brötchen auf den Teller und nahm seine Vortragshaltung ein. Gerader Rücken, erhobener Zeigefinger. „Sie hasst dich nicht. Sie ist sechzehn und sehr verwirrt. In der Pubertät spielen die Hormone ...“

Franziska fiel ihm ins Wort. „Ich weiß, was Pubertät ist. Spar dir deinen Vortrag.“ Ihre Wut war zurück und sie hatte Lust, ihrem Mann den Zeigefinger zu brechen.

Heiner schüttelte den Kopf. „Gib mir nicht die Schuld für deinen Kater. Mach doch mal einen Spaziergang. Das wird dir guttun.“

Franziska starrte ihn an. Wann war er zu so einem Arschloch mutiert? Aber sie sagte nichts, stand auf, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Sie fuhr zum Präsidium. Auf ihrem Schreibtisch lagen haufenweise unerledigte Berichte. Wenn ihre Familie sie nicht dahaben wollte, konnte sie genauso gut etwas Nützliches tun. Sie parkte und blieb noch einen Moment im Wagen sitzen. Ihre Wut war so schnell verraucht, wie sie gekommen war. Sie dachte an die zugeknallte Tür. Was war nur mit ihr los? Ihre Emotionen fuhren in letzter Zeit in der gleichen Achterbahn wie die von Jenny. Vielleicht war das sowas wie Co-Pubertät. Eine Art Solidarität unter Frauen. So wie der parallele Zyklus, der für den Familienfrieden auch nicht gerade zuträglich war. Armer Heiner. Ihr Mann tat ihr fast ein bisschen leid. Eine Woge der Sympathie für ihren Ehemann spülte das letzte Körnchen Wut weg. Sie stieg aus dem Auto.

Vor der Eingangstür stand eine junge Frau mit Lammfellmütze, braunen langen Haaren und großer Sonnenbrille. Sie war elegant gekleidet. Beige Marlenehose, schwarzer Rollkragenpullover, teurer Wollmantel, Handtasche von Gucci, kirschrote manikürte Fingernägel. Sie rauchte und wirkte sehr nervös.

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte Franziska, der ein Veilchen am linken Auge auffiel, das von der Sonnenbrille nicht ganz verdeckt wurde.

Die Frau schüttelte den Kopf. „Sind Sie von der Polizei?“

Der Akzent war definitiv slawisch.

„Kriminalhauptkommissarin Frey“, stellte Franziska sich vor.

Die Frau trat ihre Zigarette aus, schaute sich um, als hätte sie Angst, beobachtet zu werden und atmete tief durch. „Ich suche meine Freundin. Sie ist verschwunden.“

Das war jetzt eigentlich ein Fall für die Vermisstenabteilung. Aber irgendwas am Verhalten der Frau hatte Franziskas Interesse geweckt.

„Kommen Sie mit“, sagte sie und ging voran in ihr Büro. Auf dem Weg dorthin begegneten sie keiner Menschenseele. Die Abteilung war wie ausgestorben. Nur Beimer hockte hinter seinem Schreibtisch in eine Akte vertieft. Er bemerkte sie nicht.

„Setzen Sie sich, bitte.“ Franziska bot ihrem Gast einen Stuhl an. „Möchten Sie etwas trinken?“

Die Frau nickte und Franziska stellte Gläser und Mineralwasser auf den Tisch.

„Haben Sie was Stärkeres?“

Franziska ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, zog eine Schreibtischschublade auf und förderte eine Flasche Rum zutage.

Die Frau legte Mütze, Mantel und Handtasche ab, setzte sich und nahm die Sonnenbrille ab. Franziska erschrak, als sie das große Veilchen sah. Da hatte jemand richtig zugeschlagen und das war noch nicht sehr lange her.

„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“

Die Frau versuchte ein Lächeln. „Sie meinen das hier?“ Sie zeigte auf ihr Auge. „Kein Problem. Ich habe zurückgeschlagen.“ Dann griff sie nach dem Rum, goss sich einen großen Schluck ein und leerte das Glas in einem Zug.

„Gut“, sagte sie und lächelte. „Nicht so gut wie Wodka, aber gut.“

„Sie können Anzeige erstatten. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie wollen.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Mein Name ist Dana Markow. Ich suche meine Freundin. Sie ist seit ein paar Tagen verschwunden.“

Franziska notierte mechanisch die Informationen, die sie erhielt. „Wie alt ist ihre Freundin?“

„Dreiundzwanzig. Ihr Name ist Clarissa Müller, aber alle nennen sie Claire.“

„Und wann haben Sie Claire zum letzten Mal gesehen?“

„Am Montag. Sie hatte einen Kunden im Hotel Zeitlos und seitdem habe ich nichts mehr gehört.“

„Einen Kunden im Zeitlos?“, fragte Franziska.

„Ja, wir arbeiten als Escort.“ Dana Markow sah Franziska direkt in die Augen. Selbstbewusst und auffordernd. Diese Frau stand zu dem, womit sie ihr Geld verdiente.

„Warum kommen Sie erst jetzt? Eine Woche ist lang.“

„Zuerst habe ich gedacht, sie ist bei einem ... Bekannten. Aber seit vorgestern weiß ich, dass sie da nicht ist.“ Sie lächelte schief und zeigte auf ihr Auge. „Dann habe ich im Zeitlos gefragt, aber die wissen nichts. Dann musste ich nachdenken und jetzt bin ich hier.“

Wahrscheinlich musste sie entscheiden, ob sie den Schritt wagen sollte, zur Polizei zu gehen, überlegte Franziska.

„Wer ist dieser Bekannte? Hat er einen Namen?“

„Der Name ist nicht wichtig. Er weiß nicht, wo sie ist, und ich glaube ihm.“

„Ist er euer Zuhälter?“

„Ich arbeite auf eigene Rechnung“, erklärte Dana Markow mit Stolz in der Stimme.

„Haben Sie ein Foto von Claire?“

Dana kramte in ihrer Handtasche und zog eine Fotografie heraus. Darauf war eine schmale junge Frau mit kurzen blonden Haaren und einem sympathischen Lächeln zu sehen. Sie wirkte etwas verloren, aber glücklich.

„Das war vor zwei Monaten an ihrem Geburtstag. War schöner Tag.“

„Wenn eine erwachsene Person verschwindet, ist das oft geplant“, erklärte Franziska. „Vielleicht braucht Claire eine Auszeit oder versteckt sich vor ihrem ... Bekannten.“

Dana schüttelte energisch den Kopf. „Niemals. Wenn sie abgehauen wäre, hätte sie sich gemeldet.“

„In Ordnung“, sagte Franziska. „Ich nehme die Daten Ihrer Freundin jetzt auf. Sie werden dann in ein europaweites Computersystem eingespeist. Wir können auch versuchen, ihr Handy zu orten. Sie hat doch eins?“

Dana nickte. „Ist ausgeschaltet. Hab’ ich schon versucht.“

„Geben Sie mir einfach die Nummer“, bat Franziska. „Vielleicht haben wir ein paar mehr Möglichkeiten. Und Ihre Kontaktdaten lassen Sie mir bitte auch da.“ Sie schob der Frau einen Block und einen Stift hin.

„Ich danke Ihnen vielmals“, sagte Dana und notierte alles. „Ich bin sehr in Sorge. Ihr ist etwas zugestoßen. Das weiß ich.“

„Machen Sie sich nicht verrückt. Die meisten Vermissten tauchen nach kurzer Zeit wieder auf. Hier“, Franziska gab Dana ihre Karte. „Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch was einfällt. Ihre Telefonnummer haben wir ja jetzt. Wir melden uns.“

Dana stand auf und zog ihren Mantel an. Dann sah sie Franziska an. „Sie sind eine sehr nette Frau“, sagte sie. „Ich war in Sorge, dass niemand sich kümmern wird um Claire. Aber Sie sind anders. Ich hatte Glück, Sie zu treffen.“

Du hast Glück, dass ich überhaupt hier bin, dachte Franziska, nachdem Dana Markow gegangen war, und nahm sich vor, sich für das Türenknallen zu Hause zu entschuldigen. Vielleicht konnte sie Heiner und Jenny ja mit einem Besuch im Sushi Restaurant bestechen. Dem guten und teuren am Zülpicher Platz. Sie entschied, die beiden einfach damit zu überraschen, und griff zum Hörer, um einen Tisch zu reservieren. Anschließend machte sie eine Personenabfrage in POLAS, dem Polizei Auskunftssystem. Eine Clarissa Müller oder Claire Müller war zwar als Sexarbeiterin offiziell gemeldet, aber es lag nichts gegen sie vor. Sie schloss das Programm und wendete sich ihren Berichten zu.