Leseprobe Schatten der Freiheit

Kapitel 1

München, Sedantag 1899

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …“

Die Stimme erhob sich rein und klar über die Gitarrenakkorde. Die Geräusche, die eben noch das Café Noris erfüllt hatten, das allgegenwärtige Klirren der Gläser, das Lachen, das Husten und das Brummen der Gespräche, traten in den Hintergrund und verstummten schließlich.

„Ein Märchen aus uralten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn.“

Isolde spürte, wie sich Emilys kalte Finger um ihre schlossen und fest zudrückten.

„Die Luft ist kühl und es dunkelt und ruhig fließt der Rhein.“

Die Sängerin, eine schlanke Brünette mit funkelnden, braunen Augen, erhob sich und nahm die Pose einer Operndiva ein.

„Der Gipfel des Berges furu-unkelt im Abendsonnenschein.“

Es dauerte einen Augenblick, bis das erste Kichern die andächtige Stille durchbrach. Isolde schreckte hoch, als sich der neben ihr sitzende Maler Wengenroth, ein stattlicher Mann mit einem eindrucksvollen Schnurrbart, auf den feisten Schenkel klopfte und in ein brüllendes Lachen ausbrach. Gleich darauf stimmte der ganze Saal ein. Die Sängerin lächelte verschmitzt und verbeugte sich tief, während die Menge klatschte und johlte.

„Das nenne ich einen Auftritt!“, sagte Emily, die zwei Finger in ihren Mund steckte und einen lauten Pfiff ertönen ließ, der Isolde in den Ohren wehtat. Emilys Wangen waren gerötet und ihre Augen glänzten.

„Kennst du die Frau?“, fragte Isolde.

„Ja, das ist Franziska zu Reventlow. Die haben wir doch schon ein paar Mal getroffen.“

Isolde kniff die Augenbrauen zusammen. Sie konnte sich vage an das Gesicht der Sängerin erinnern, aber sie war sich sicher, dass sie noch nie mit ihr gesprochen hatte. „Ist sie eine Soubrette?“, fragte sie.

„Sie ist viel mehr als das“, mischte sich Wengenroth mit seinem Brummbass in das Gespräch ein. „Sie ist eine wahre Künstlerin. Ihr Leben ist Kunst. In ihr sind die Musen wieder geboren.“

„Alle auf einmal?“ Die Frage kam von der anderen Seite des Tisches und gestellt hatte sie ein spindeldürrer Mann, der damit beschäftigt war, eine Meerschaumpfeife zu stopfen, die beinahe halb so groß war wie sein Kopf.

„Nun, ganz sicher Euterpe, Melpomene, Erato, Thalia, Polyhymnia und Kalliope. Vielleicht auch Terpsichore, eher nicht Klio und Urania“, sagte Wengenroth.

Isolde spürte, wie Emily ihr den Ellbogen in die Seite drückte. „Urania, das wäre deine Muse, oder? Die Schirmherrin der Astronomie.“

„Ja, wenn mich eine Muse küssen würde, dann wohl am ehesten die. Oder Kalliope, die deckt die Wissenschaften ab“, sagte Isolde und lachte.

Emily zog sie zu sich heran und Isolde spürte, wie sich die weichen Lippen ihrer Freundin für einen Wimpernschlag auf die ihren legten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie das schmunzelnde Gesicht ihres Gegenübers hinter der Meerschaumpfeife verschwand.

„Dass das klar ist: Die einzige Muse, die dich küssen darf, bin ich“, sagte Emily.

„Wohl gesprochen“, erwiderte Wengenroth und nahm einen gewaltigen Zug aus seinem Maßkrug.

Isolde sah auf ihre Uhr. Es war kurz vor elf. „Ich muss bald aufbrechen“, sagte sie zu Emily. „Morgen muss ich früh raus.“

Ihre Freundin seufzte. „Ach, Isibella, das Leben ist zu kurz und zu süß, um es zu verschlafen.“

Isolde biss sich auf die Zunge, um die Antwort für sich zu behalten, die ihr über die Lippen kommen wollte. Natürlich hatte Emily leicht reden. Sie musste nicht in aller Frühe aufstehen und zur Arbeit ins Atelier Elvira eilen.

„Ich werde trotzdem gehen“, sagte Isolde und winkte der Kellnerin.

„Sei doch keine Spaßbremse“, entgegnete Emily naserümpfend.

„Hören Sie auf Fräulein Winter“, sagte das Männchen mit der Meerschaumpfeife. Seine Stimme drang durch einen dichten Schleier aus Tabakqualm. „Carpe noctem.“

„Müssen Sie morgen Früh arbeiten?“, fragte Isolde.

Er kicherte. „Ich arbeite hier und jetzt. Ich bin Dichter und wo, wenn nicht hier, sollte ich die Eindrücke für meine Werke finden.“

Die Kellnerin kam und Isolde bezahlte ihre und Emilys Getränke. Dann stand sie auf.

„Na gut“, knurrte ihre Freundin und erhob sich ebenfalls. Sie knickste vor den anwesenden Herren und ließ zu, dass Wengenroth ihr in den Mantel half. Trotzdem dauerte es noch eine gute Viertelstunde, bis sie sich von allen Freunden und Bekannten verabschiedet hatten. Als sie endlich auf der Leopoldstraße standen, atmete Isolde tief ein. Die frische, nach Spätsommer duftende Luft tat ihr wohl.

„Und nun?“, fragte Emily.

„Soll ich dich nach Hause begleiten?“

Ihre Freundin zuckte mit den Achseln. „Der Umweg wird dich mindestens zwanzig Minuten deines wertvollen Schlafes kosten“, sagte sie.

Isolde seufzte. „Das ist es mir wert.“

„So so“, erwiderte Emily. Sie hakte sich unter und gemeinsam schlenderten sie die Straße entlang. Die Sterne funkelten von einem wolkenlosen Himmel und die Stadt leuchtete.

„Hast du viel zu tun morgen?“, fragte Emily.

Isolde nickte. „Sophia ist auf einer Frauenkonferenz in Nürnberg und deshalb werde ich die nächsten Tage alleine fotografieren.“

„Es ist ein Jammer, dass sie und Anita sich getrennt haben“, sagte Emily.

„Ja, die beiden hatten so gut zusammengepasst.“

„Meinst du, wir passen besser zusammen?“

Isolde hielt inne und sah ihre Freundin an. Ihre Kehle wurde eng und sie spürte, wie ihr Mund auszutrocknen begann. „Ich denke … ich denke … natürlich.“

Emily lächelte. Sie löste ihre Hand aus Isoldes Griff und legte sie auf ihre Brust. „Du sollst nicht denken, Isibella“, flüsterte sie und Isolde lief ein wohliger Schauer den Rücken hinab, wie jedes Mal, wenn Emily sie bei dem Kosenamen nannte, den sie ihr zu Beginn ihrer Beziehung gegeben hatte. „Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Du sollst es fühlen.“

Sie beugte sich vor und küsste Isolde kurz und flüchtig auf die Lippen. Die beiden sahen sich um, aber keiner der Passanten schien Notiz von ihnen nehmen zu wollen. Emily lächelte. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einer Grimasse und sie wurde von einem jähen Hustenanfall geschüttelt.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Isolde besorgt.

Emily winkte ab. „Alles gut. Aber vielleicht war es doch keine schlechte Idee, nach Hause zu gehen. Bringst du mich ins Bett?“

Isolde grinste. „Aber gerne doch.“

***

 

Elsa beugte sich über das Bett und drückte ihre Lippen auf die Stirn des Jungen.

„Liest du mir eine Gute-Nacht-Geschichte vor?“, fragte Hermann.

Sie küsste ihn noch einmal.

„Ich fürchte, dafür bleibt keine Zeit mehr. Das muss wohl Eulalie übernehmen.“

Der Vierjährige verzog das Gesicht und seine blauen Augen füllten sich mit Tränen. Elsa schluckte.

„Was hältst du davon, wenn wir morgen in den Englischen Garten gehen? Nur du und ich?“, schlug sie vor.

Sofort änderte sich der Gesichtsausdruck ihres Sohnes. Seine Mundwinkel zuckten nach oben und entblößten ein noch unvollständiges Gebiss.

„Au, gerne, das wird fein.“

Sie küsste ihn erneut auf die Stirn, dann ging sie zur Tür. Ehe sie den Raum verließ, blickte sie zurück. Ihr Sohn hatte sich auf die Seite gedreht und die Augen geschlossen. Er sah aus wie ein Engel mit seinen blonden Haaren und der feinen, weißen Haut. Elsa lächelte und spürte, wie ein warmes Gefühl sie durchströmte. Sie ging in ihr Ankleidezimmer und drückte auf den Klingelknopf, der vor Kurzem als Ersatz für die schon etwas abgewetzte Schnur installiert worden war.

Sie nahm vor dem Schminktisch Platz und gleich darauf hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde und sich rasche Schritte näherten. Im Spiegel sah sie, dass Edith, ihre Zofe, an das Frisierzeug gedacht hatte. Sie trug es in einem Korb mit sich, aus dem sie Bürsten, Spangen und den Ondulierstab hervor holte und auf den Tisch legte.

„Wie hätten es die gnädige Frau gerne?“, fragte das Mädchen.

„Simpel. Der Empfang des Grafen von Mexenstein ist kein allzu prächtiger Anlass. Kämmen Sie mich und stecken Sie mir das Haar hoch. Eine weiße Rose oder etwas in der Art könnten Sie noch hineinflechten.“

Die Zofe machte sich an die Arbeit. Elsa schloss die Augen und atmete tief durch. Der heutige Abend war eine Pflichtveranstaltung, keine Kür. Sie musste nicht glänzen und mit ein wenig Glück würde sie sich sogar amüsieren.

Als Edith die Frisur fertiggestellt hatte, begann Elsa damit, sich zu schminken. Sie trug Lippenstift auf, applizierte Rouge und einen Schönheitsfleck auf ihre linke Wange. Die Augen hob sie mit einem Kajal ein wenig hervor. Dann befahl sie der Zofe, ihr in das Kleid zu helfen, das sie am Nachmittag herausgesucht hatte. Es war pfirsichfarben und würde einen reizvollen Kontrast zu ihren dunklen Haaren bilden.

Als sie fertig angezogen war, betrachtete sie sich im Spiegel. Was sie sah, stellte sie mehr als zufrieden. Sie hatte sich gut gehalten. Nach Hermanns Geburt hatte sie ein wenig mit ihrem Gewicht zu kämpfen gehabt, aber inzwischen war sie so schlank wie zuvor. Ihr Teint war gesund und ihre Augen glänzten vor Unternehmungslust.

Es klopfte an der Tür und ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat ihr Ehemann ein. Eugen nickte ihr knapp zu. Edith knickste und eilte aus dem Raum.

„Guten Abend“, sagte Elsa.

Er antwortete nicht.

„Ich bin fertig, wollen wir dann los?“, fragte sie.

Eugen nickte. „Denk bitte daran, dass das heute ein wichtiger Abend für mich ist“, sagte Eugen. „Der Graf von Mexenstein ist einer der besten Kunden unserer Bank. Er sollte uns weiterhin gewogen bleiben.“

„Habe ich dich in dieser Hinsicht jemals enttäuscht?“, fragte Elsa.

Er blieb ihr eine Antwort schuldig. Nicht einmal einen Blick wollte er ihr gönnen. Sie kniff die Lippen zusammen und folgte ihm hinaus ins Treppenhaus, wo Edith mit dem leichten Mantel auf sie wartete. Nachdem sie ihn angelegt hatte, ging sie die Treppen hinab und trat ins Freie. Der Kutscher war bereits vorgefahren. Er half ihr in den Wagen. Ihr Mann stieg nach ihr ein.

Wie üblich verlief die Fahrt in bleiernem Schweigen. Eugen sah aus dem Fenster zu seiner Linken und Elsa beobachtete die vorüberziehenden Häuser auf der anderen Seite. Die Stille war nicht so schwer und schneidend wie am Anfang ihrer Ehe. Sie hatte sich daran gewöhnt und nun war es ihr gleichgültig. Es hätte sie eher überrascht, wenn ihr Mann etwas zu ihr gesagt hätte.

Nach einer knappen Viertelstunde hielt der Wagen vor einem hell erleuchteten Palais. Der Kutscher half ihr beim Aussteigen. Eugen trat neben sie und reichte ihr den Arm. Sie legte ihre Hand darauf und gemeinsam stiegen sie die Treppen zur Eingangstür hinauf. Ein Page führte sie in den Salon. Elsa ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die übliche Mischung aus uniformierten Offizieren, Herren in Fräcken und Damen in Abendkleidern.

Ein kleiner Mann mit einem kugelrunden, kahlen Kopf trat auf sie zu. Eugen nahm Haltung an. Elsa hielt ihm ihre behandschuhte Rechte entgegen, die er küsste.

„Graf von Mexenstein“, sagte sie mit ihrer fröhlichsten Stimme. „Es ist mir eine große Freude, Sie zu sehen. Mein Mann und ich danken Ihnen von Herzen für Ihre Einladung.“

Der Gastgeber lächelte ihr zu, während er Eugen mechanisch die Hand schüttelte.

„Und mir ist es erst eine Freude, Sie bei mir begrüßen zu können. Sie beide sind das prächtigste Paar der Münchener Gesellschaft. Kommen Sie, ich möchte Sie meinen Geschäftspartnern vorstellen.“

Er führte sie zu einer Gruppe von befrackten Herren, in denen Elsas geübter Blick sofort die Unternehmer erkannte. Ein Mann stach besonders daraus hervor und bei seinem Anblick musste sie ein Schnauben unterdrücken.

„Herr von Berlitz“, sagte sie mit zuckersüßer Stimme, als er ihr die Hand schüttelte. „Sie habe ich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“

Der alte Rivale ihres verstorbenen Vaters musterte sie mit einem kühlen Blick. „Aber Sie haben mich gleich wiedererkannt.“

Sie lächelte ihm zu, nahm einen Champagnerkelch vom Tablett eines vorbeieilenden Pagen und sagte: „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, Ihnen zur Erhebung in den Adelsstand zu gratulieren.“

„Danke“, erwiderte der Unternehmer. „Ich sehe, dass es Ihnen prächtig geht. Nach dem Tod Ihres Vaters und der Pleite seiner Firma waren Ihre Aussichten nicht gerade rosig.“

Sie nahm einen Schluck und der perlende Alkohol schien ihr sofort die passende Erwiderung auf die Lippen zu legen. „Ja, prächtig ist das richtige Wort dafür. Sehen Sie uns an. Das glücklichste und strahlendste Paar in München.“

Er legte den Kopf schief und erwiderte mit kalter Stimme: „Nun, wenn dem so sein sollte, freut mich das für Sie.“

Von Berlitz nickte ihr zu und ging davon.

Sie sah ihm nach und spürte, wie eine alte Wut an ihrem Herzen nagte.

Kapitel 2

München, Montag, 4. September 1899

Isolde gähnte. Sie stieg die Treppe ins Erdgeschoss der windschiefen Villa ihres Onkels hinab. Das Ratschen der Kaffeemühle drang an ihr Ohr und gleich darauf zog ihr der verführerische Duft frisch gemahlener Bohnen in die Nase.

„Guten Morgen, Zenzi“, sagte sie, als sie die Küche betrat.

„Guten Morgen, Fräulein Isolde“, erwiderte die Haushälterin. Sie zog einen Stoffhandschuh über, griff nach dem kupfernen Wasserbehälter auf dem Herd und goss kochendes Wasser auf das Kaffeepulver in der Kanne.

„Den habe ich bitternötig“, sagte Isolde. Sie setzte sich an den Tisch. Zenzi stellte ihr eine Tasse hin und füllte einen Schwall des braunen Getränks hinein. Isolde nahm einen vorsichtigen Schluck und fühlte sich sofort belebt.

„Ist es gestern Abend wieder später geworden?“, fragte Zenzi in dem leicht vorwurfsvollen Ton, den Isolde nur allzu gut an der Haushälterin kannte.

„Ja, leider. Und heute bin ich allein im Studio.“

„Das dürfte doch kein Problem für dich darstellen“, hörte sie ihren Onkel sagen. Sie wandte sich um und sah ihn im Türrahmen stehen. Er rieb sich die rechte Hüfte und sein Gesicht war schmerzverzerrt.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Ja, das kein Problem. Eher eine willkommene Herausforderung. Sind die Schmerzen wieder schlimmer geworden?“

Er winkte ab.

„So ist es eben, wenn man alt wird. Das ist nicht der Rede wert.“

Er setzte sich ihr gegenüber und nahm einen Schluck aus der Tasse, die Zenzi ihm hinschob.

„Ah, herrlich“, sagte er, lehnte sich zurück und schloss die Augen für einen Moment. „Wie läuft es denn im Atelier?“

„Blendend. Wir können uns vor Anfragen kaum retten. Der Neubau war die beste Reklame für das Elvira.“

Der Onkel zwinkerte ihr zu. „Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass nicht wenige Kunden von der Fassade abgeschreckt werden.“

Isolde zuckte mit den Achseln. „Das sind dann wahrscheinlich genau diejenigen, die wir ohnehin nicht fotografieren wollen.“

„Schön, dass ihr euch das aussuchen könnt“, sagte der Onkel und schmunzelte.

„Wie läuft es bei dir?“, fragte Isolde.

Er lächelte. „Ich habe gestern ein Bild verkauft und der Landwirtschaftsminister hat für sein Büro etwas Großformatiges in Auftrag gegeben.“

„Das ist schön zu hören.“

„Ja, ich scheine in meiner Nische überleben zu können. Die Kunst marschiert zwar mit Riesenschritten voran, aber wenn es so weitergeht, werde ich bis ans Ende meiner Tage meinen Lebensunterhalt mit Kühen verdienen. Vorausgesetzt, die Gicht lässt es zu.“

„Dann müssen der Herr Kunstmaler eben auf Vorrat malen“, warf Zenzi ein.

„Ach Zenzi, was würde ich nur ohne dich tun“, rief er und lachte.

„Verhungern“, sagte die Haushälterin trocken und stellte einen Teller mit Rührei vor ihn auf den Tisch.

„Ich muss los“, sagte Isolde. Sie nahm eine Scheibe Brot und eilte in den Flur, wo sie sich ihren Mantel überwarf. Es war ein herrlich warmer Morgen. Die Vögel sangen und die frische Luft weckte ihre Lebensgeister. Sie holte das Fahrrad aus dem Schuppen, schob es auf die Straße und schwang sich darauf.

Das Fahrradfahren hatte sie erst im Zuge ihrer Beziehung zu Emily für sich entdeckt. Gemeinsam hatten sie München und Umgebung erkundet. Der größere Bewegungsradius, den die Räder boten, hatte es ihnen erlaubt, verschwiegene Plätzchen in der Natur zu finden, an denen sie vor neugierigen Augen und Ohren sicher waren. Isolde wollte das Radeln nun nicht mehr missen. Zudem war sie so viel schneller bei der Arbeit.

Nach fünf Minuten hatte sie die Von-der-Tann-Straße erreicht. Schon von Weitem sah sie die Fassade des Atelierneubaus. Das Haus schmiegte sich in eine Lücke zwischen zwei größeren Gebäuden und doch stach es hervor. Dies lag vor allem an den auffällig geformten Fenstern, die aussahen wie kleine, von Ästen durchzogene Höhlungen, und den Stuck-Ornamenten, die an der Fassade angebracht worden waren. Dort prangte ein riesiges, fantastisches Tier, das Isolde an eine Mischung aus Seepferdchen und Drachen erinnerte. Es hatte große Debatten ausgelöst und jeder, mit dem sie darüber gesprochen hatte, schien es entweder zu lieben oder es zu hassen. Immerhin hatte es das Atelier Elvira im Gespräch gehalten.

Sie stellte das Fahrrad im Innenhof des Gebäudes ab und ging durch die Hintertür hinein. Auch der Empfangsbereich zeichnete sich durch Formen aus, die sie eher in einer Höhle vermutet hätte als in einem Neubau. Überall waren geschwungene Linien vertreten. Das Geländer der Treppe, die in den ersten Stock führte, war aus unbearbeitetem Holz gefertigt, der Tresen mit aufwendigen Schnitzereien verziert. Dahinter stand Auguste, das neue Lehrmädchen.

„Guten Morgen“, sagte Isolde.

„Grüß Gott. Die Frau Hoffmann ist schon da.“

Isolde schenkte ihr ein Lächeln. Sie mochte das schüchterne Mädchen, das zwar nur wenige Worte von sich gab, aber bei ihren ersten Fotografien bereits ein beachtenswertes Talent durchscheinen lassen hatte. Ein besonderes Händchen schien sie für Retuschierarbeiten zu haben.

„Danke“, sagte Isolde. „Wie viele Termine haben wir heute?“

„Siebzehn. Ich hoffe, das ist nicht zu viel.“

Isolde winkte ab. „An manchen Tagen hat Frau Goudstikker die doppelte Menge. Das sollte ich schaffen. Hat sie noch irgendwelche Nachrichten für mich hinterlassen?“

Auguste reichte ihr einen Briefumschlag, den Isolde rasch öffnete. Sie las die Zeilen und auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

Liebe Isolde,

danke, dass du mich vertrittst, während ich den Kampf für die Rechte unserer Geschlechtsgenossinnen ausfechte. Fühle dich wie zu Hause in unserem Studio und mach den Mädchen klar, dass du jetzt die Herrin im Hause bist. Vor allem aber: habe Spaß und Freude am Fotografieren.

Bis bald

Sophia.

Sie schob den Brief in die Tasche, legte ihren Mantel an der Garderobe ab und stieg die Treppe hinauf. Vor der Studiotür saß bereits die erste Kundin. Isolde begrüßte sie und bat sie um ein paar Minuten Geduld. Dann betrat sie das Studio, um alles für die Aufnahmen vorzubereiten. Sie zog die Vorhänge vom Oberlicht zurück, nahm die Schutzhaube der Kamera ab und holte Platten aus dem Lager. Schließlich bat sie die Kundin herein.

„Was kann ich heute für Sie tun?“, fragte sie.

Frau Hoffmann lächelte schüchtern. „Ein Porträt. Für meinen Mann.“

„Gut, dann wollen wir mal anfangen.“

***

 

Elsa drückte den Klingelknopf und Augenblicke später betrat Edith ihr Ankleidezimmer.

„Haben die Herrschaft gut geschlafen?“, fragte die Zofe.

„Ja, fast zu gut.“ Elsa sah aus dem Fenster. Die Sonne war schon vor einiger Zeit aufgegangen und stand nun golden am Horizont.

„Kämmen Sie mich und dann stecken Sie mir die Haare hoch. Einfach und schmucklos. Ich werde heute ausgehen und ein Hütchen tragen.“

Sie lehnte sich zurück und überließ sich den geschickten Fingern der Zofe. Währenddessen ließ sie den gestrigen Abend Revue passieren. Der Empfang war glanzvoll gewesen und zu aller Überraschung war kurz vor Mitternacht der Sohn des Prinzregenten erschienen. Viel wichtiger war aber, dass der Gastgeber kaum die Augen von Elsa hatte lassen können. Das schmeichelte ihrer Eitelkeit, weil es sie ihrer Wirkung bewusst werden ließ. Und sie hatte die Aufgabe erfüllt, die Eugen ihr gestellt hatte. Der Graf würde beim Gedanken an das Geldinstitut immer einen Hauch des Gefühls empfinden, das die Gattin des Bankiers in ihm hervorgerufen hatte.

Als Edith fertig war, wusch sich Elsa das Gesicht und kleidete sich an. Dann ging sie die Treppe hinab in den Speisesaal. Eugen saß bereits am Frühstückstisch. Er hatte die Zeitung aufgeschlagen. Das Sonnenlicht fiel auf seine Wange und ließ die Mensurnarbe glänzen. Elsa verspürte einen Anflug des Gefühls, das sie empfunden hatte, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Ihr wurde leicht ums Herz und ihr Mund trocknete aus. Sie spürte ein Kribbeln in der Magengrube und ein fast vergessenes Verlangen erwachte.

Eugen hob den Blick und musterte sie mit kalten Augen. Die Emotion erstarb wie eine Blume, die dem Nachtfrost ausgesetzt war. Er grüßte sie nicht, sondern vertiefte sich wieder in die Lektüre der Zeitung. Elsa verzichtete ebenfalls darauf, ihm einen guten Morgen zu wünschen. Sie wusste, dass es zwecklos war. Zu Beginn ihrer Ehe hatte sie noch versucht, ihn für sich zu gewinnen, aber an seiner kalten Fassade waren alle ihre Avancen abgeprallt. Sie schenkte sich Kaffee ein und nahm eine Scheibe Toast, die sie mit Butter und Orangenmarmelade bestrich.

Gedankenverloren biss sie ein Stück ab und überlegte, wie sie den Tag gestalten sollte. Eugen legte die Zeitung auf den Tisch, faltete sie zusammen und erhob sich. Ohne seine Frau eines Blickes zu würdigen, verließ er den Speisesaal. Ein Gefühl der Leere breitete sich im Raum und in Elsa aus. Sie sah ihm nach, wehmütig, traurig, in dem Wissen, ihn nie für sich gewinnen zu können.

Sie rief nach dem Butler und bat ihn, das Kindermädchen zu holen. Eulalie Grammont, eine junge Französin, kümmerte sich seit nunmehr einem halben Jahr um Hermann. Sie trat ein, knickste und sah Elsa fragend an.

„Richten Sie bitte Hermann her. Er soll für einen Ausflug in den Englischen Garten entsprechend angezogen sein“, sagte sie.

Eulalie nickte, knickste und zog sich zurück. Elsa sah ihr mit finsterer Laune nach. Sie war sich sicher, dass Eugen mit dem Mädchen schlief. Aber an Derartiges war sie inzwischen gewöhnt. Ironischerweise waren sie nie Mann und Frau in dem Sinn gewesen, der ursprünglich dazu geführt hatte, dass sie geheiratet hatten. Eugen hatte ihr Bett kein einziges Mal aufgesucht.

Eulalie kehrte mit Hermann zurück. Er trug einen blau-weiß gestreiften Matrosenanzug und eine passende, dunkelblaue Mütze, deren Rand golden eingefasst war.

„Gehen wir in den Park?“, fragte er.

Elsa erhob sich und trat ihm entgegen. „Aber natürlich, das habe ich dir doch versprochen.“

Er rannte auf sie zu und sie breitete die Arme aus. Sie spürte seinen warmen, kleinen Körper, der sich eng an sie schmiegte. Eine Welle der Liebe zu ihrem Kind überflutete sie und wusch alle Zweifel davon, ob es richtig gewesen war, den Weg einzuschlagen, der sie hierher geführt hatte.

Sie setzte Hermann wieder auf den Boden und nahm ihn bei der Hand.

„Soll ich die Kutsche anspannen lassen?“, fragte der Butler.

„Nein, Graham, wir gehen zu Fuß.“

„Wie gnädige Frau wünschen.“

Er öffnete die Tür zur Eingangshalle und Elsa trat mit ihrem Sohn hindurch. Hermann hüpfte an ihrer Hand die Stufen der Treppe vor dem Eingangsportal des Lampeck’schen Palais hinab und jauchzte dabei vor Freude.

Sie spazierten in Richtung des Englischen Gartens. Die Bäume waren noch grün, die Luft noch warm, das Licht noch hell. Elsa spürte, wie sich ein Gefühl der Freiheit in ihr ausbreitete. Und ein Gefühl des Stolzes. Sie ging mit ihrem Sohn, dem Erben des Titels und der Privatbank derer von Lampeck spazieren, präsentierte sich und ihre Familie vor aller Augen und war sich der Bewunderung der Passanten gewiss.

Als sie den Eingang des Parks erreichten, riss Hermann sich los und jagte auf eine Gruppe von Tauben zu, die auf dem Kiesweg saßen und irgendetwas vom Boden aufpickten. Die Vögel stoben auseinander und ihr Sohn lachte und kreischte. Elsa suchte sich eine Bank, von der aus sie das Spiel des Jungen beobachten konnte. Sie nahm Platz und ließ den Blick über die weiten Wiesenflächen und den alten Baumbestand des Englischen Gartens schweifen. In der Ferne ragte die Pagode auf. Überall waren Spaziergänger unterwegs. Teilweise alleine, meist jedoch paarweise.

Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Sie war seit nunmehr dreieinhalb Jahren verheiratet und doch hatte ihr Ehemann sie kein einziges Mal zu einer Promenade ausgeführt. Oft war sie an seinem Arm gegangen, aber ausschließlich bei offiziellen Gelegenheiten, bei denen er die Bank oder die Familie repräsentiert hatte.

Sie war noch nie mit ihm spazieren gewesen. Selbst in der Phase vor ihrer Hochzeit, als er alles daran gesetzt hatte, sie zu verführen, hatten sie sich bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen. Promeniert war sie nur mit Werner Müller, dem stocksteifen Reservelieutenant. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie es ihm wohl erging und was aus ihr geworden wäre, wenn sie sich nicht für Eugen, sondern für Müller entschieden hätte.

„Mama, schau mal!“

Hermanns Ruf riss sie aus ihren Überlegungen. Er deutete auf ein Eichhörnchen, das einen Baum hinauf eilte. Lachend klatschte er in beide Hände und der Anblick löste eine wilde Freude in Elsa aus. Wie gut, dass sie sich nicht für Müller entschieden hatte!