Leseprobe Savage Elite

Prolog: Das Endspiel

Elizabeth

Es tat weh zu sehen, wie meine Welt unterging. Stück für Stück, bis sie in dem Meer aus Dunkelheit und Schmerz versank, in dem ich zu ertrinken drohte. Unzählige Blicke starrten mich an. Jeder von ihnen fühlte sich an wie ein Dolch, der sich tief in meine Haut bohrte. Aber noch schlimmer war das Gelächter. Einige von ihnen machten sich die Mühe, ihr Grinsen zu verbergen, doch ich hörte das belustigte Getuschel dennoch. Ich wünschte, ich könnte es ausblenden oder ignorieren, aber die Stimmen waren viel zu laut in meinem Kopf. Nicht so laut wie mein schreiendes Herz, das wollte, dass ich mit gesenktem Kopf meine Sachen packte und aus dieser gottlosen Akademie verschwand, aber sie verursachten trotzdem ein dumpfes Pochen in meinen Schläfen. Sie alle wussten es. Wussten, was ich getan hatte. Was er mit mir hatte tun dürfen. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein? Ich hatte ihm vertraut, dabei hatte ich mir selbst geschworen, es nicht zu tun.

„Lizzy!“, rief er hinter mir. Ich hörte seine Schritte, fühlte, wie er näher kam und sah, wie die anderen Schüler sich an die Seite drängten, um uns den Weg frei zu machen. Die Menschenmasse vor mir teilte sich, aber nicht, damit ich schneller vor ihm fliehen konnte. Nein, jeder wollte nur einen Platz in der ersten Reihe, um live dabei sein zu können, wenn ich endlich unter dem Druck zusammenbrach. Aber diesen Gefallen würde ich ihnen nicht tun. Ich hatte es bisher geschafft, meinen Stolz zu behalten und ich würde nicht zulassen, dass er mir auch den noch wegnahm. „Lizzy, bleib stehen!“ Seine Stimme wurde lauter. Bestimmender. Es hatte eine Zeit gegeben, in der wäre ich nun auf der Stelle erstarrt, nur um ihn glücklich zu machen. Doch das war vorbei. Es war nicht mehr wichtig, was er empfand. Oder zumindest sollte er mir nicht mehr wichtig sein, denn wir waren keine Freunde mehr. Genau genommen waren wir das auch nie. Für ihn war alles nur ein Spiel gewesen. „Elizabeth!“ Wieder ertönte sein Schrei und hallte durch den Flur. Das Getuschel um uns erstarb. Stille senkte sich über die Menge. Alle hielten angespannt den Atem an. Sie freuten sich auf das, was unweigerlich kommen würde. Ich beschleunigte meine Schritte in der Hoffnung, dem nahenden Unglück entgehen zu können. Dabei sollte ich es inzwischen besser wissen. Ich konnte nicht davonlaufen. Nicht vor der schaulustigen Menge, vor meinen Gefühlen oder Vito Perez. Wie hatte er einst zu mir gesagt? Er bekam immer, was er wollte. Und er hatte recht behalten. Er hatte mein Herz gewollt und es bekommen, nur um es zu zerstören. „Bitte, ich muss mit dir reden. Lizzy, warte!“, befahl er erneut und eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. Augenblicklich zuckte ich zusammen. Mein Instinkt schrie mich an, seine Finger abzuschütteln und weiter zu rennen, doch stattdessen blieb ich stehen. So abrupt, dass ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte. Aber das war mir egal. Ich war es leid. Er hatte einen Fehler gemacht und nicht ich. Warum war ich es dann, die panisch davonrannte? Das war nicht richtig. Ich hatte nichts getan außer … mich in den falschen Mann zu verlieben.

„Wieso? Du hast bekommen, was du wolltest, oder nicht?“ Mit einer flüssigen Bewegung machte ich auf dem Absatz kehrt, sodass ich ihm Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Zum ersten Mal seit … Zum ersten Mal seit diesem Abend konnte ich ihm in die Augen sehen. Ich dachte, ich wäre darauf vorbereitet, aber sobald ich in das Grau sah, in dem ein Sturm zu toben schien, wusste ich es besser. Nichts und niemand hätte mich vor dem Schmerz warnen können, der in meiner Brust explodierte, als Vito mich ausdruckslos ansah. Seine Hand rutschte von meiner Schulter. Ich war froh, dass er mich nicht mehr anfasste. Gleichzeitig vermisste ich jedoch seine Berührungen. Er war mir nähergekommen als jeder Mensch vor ihm. Und er hatte mich verraten. Tränen schossen mir in die Augen. Ich hob das Kinn und stemmte die Hände in die Hüften, als würde mir die richtige Haltung mehr Stärke verleihen, doch sie konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich kurz davor war aufzugeben. „Du hast die Wette gewonnen, also herzlichen Glückwunsch! Ich hoffe, das war es wert.“ Das hoffte ich wirklich, denn dann hätte der Schmerz in meinem Inneren wenigstens einen Sinn für ihn gehabt und sein Verrat wäre nicht ganz umsonst gewesen. Ob er jetzt glücklich war? Hatten seine Freunde und er sich gut dabei amüsiert? War es lustig für ihn mit meinen Gefühlen zu spielen und mich wie eine Schachfigur hin und her zu schieben, bis er gewann?

Vito schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, funkelten sie hell auf. Nur für eine Sekunde. Als würde ein Blitz inmitten des Sturms einschlagen. „Elizabeth, ich …“

„Nein!“ Ich schluchzte und spürte zeitgleich, wie die Tränen immer mehr wurden. Angestrengt blinzelte ich sie weg, aber es wurden zu viele. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie über mein Lid quellen und meine Wangen benetzen würden. Ich konnte es nicht verhindern, egal, wie sehr ich es auch versuchte. „Ich will es nicht hören. Nie wieder! Halt dich einfach von mir fern, Vito Perez! Du hattest recht. Du bist der uneingeschränkte Frauenheld, der Stärkste, der Herrscher von Blackbury. Ich wünsche dir, dass du mit diesem Titel glücklich wirst.“ Ich drehte mich um und wollte flüchten. Jetzt doch. Ich ertrug das einfach nicht. Egal, wie sehr ich mich bemühte stark zu sein. Die Last, die auf meinen Oberkörper drückte und mir die Luft zum Atmen nahm, war zu schwer. Ich hätte niemals herkommen sollen, dann wäre mir all das hier erspart geblieben. Was hatte mir die Zeit an dieser Akademie gebracht? Gar nichts. Nur Herzschmerz und noch mehr Fragen, auf die ich keine Antwort wusste.

„Elizabeth, lass es mich erklären.“ Vitos Hand schoss nach vorn. Seine Finger legten sich wie ein Schraubstock um mein Handgelenk. Er hielt mich fest, sodass ich keine andere Wahl hatte, als stehen zu bleiben, obwohl die erste Träne sich einen Weg über mein Lid und meine Wange hinunter bahnte. Jetzt hatte er es geschafft. Er hatte mich vor allen zum Weinen gebracht.

Ich biss mir auf die Unterlippe und unterdrückte damit ein weiteres Schluchzen. Meine Zähne schnitten schmerzhaft in meine Haut und ich schmeckte einen leichten Hauch von Eisen. Ich blutete, dennoch biss ich noch nicht fest genug zu, um mir die nächsten Worte zu verkneifen. Bevor ich es verhindern konnte, bewegten sich meine Lippen wieder. Meine Stimme klang dünn, als würde sie jeden Moment brechen. Und ein Teil von mir wünschte sich das sogar. Ich wollte schweigen, damit nicht alle erfuhren, wie ich mich fühlte. Aber es war unmöglich. Ich musste ihm den Schmerz entgegenschreien, sonst würde ich daran zugrunde gehen.

„Erklären? Was gibt es da zu erklären? Du hast mich benutzt und ich war nicht intelligent genug, um es zu bemerken. Ich habe dir mein Herz zu Füßen gelegt und du bist darauf herumgetrampelt, bis davon nur noch ein blutiger Klumpen Fleisch übrig war.“ Ich warf Vito über die Schulter einen Blick zu, obwohl es qualvoll war, in sein Gesicht zu sehen. Er wirkte wie immer. Unverändert, als wäre nichts passiert. Und ich? Mir waren der seelische Schmerz und die Verzweiflung anzumerken. Das wusste ich auch ohne dass ich in einen Spiegel starrte. Meine Augen mussten von den Tränen gerötet sein. Das verriet das Brennen, das ich spürte. Ganz zu schweigen von meinen Wangen, die wahrscheinlich ebenfalls durch die Anstrengung vom Weinen rot angelaufen waren. Dazu kamen die großen Augenringe von den schlaflosen Nächten, die Gewichtsabnahme, die dafür gesorgt hatte, dass meine Kleidung nicht mehr passte, und meine blasse Haut, die zeigte, dass ich kaum noch mein Zimmer verlassen hatte. Eigentlich nie. Bis heute. Ich hatte gedacht, ich wäre bereit, mich der Welt zu stellen. Aber das war ich nicht. „Weißt du, was das Schlimmste an allem ist?“

„Was?“ Vitos Brustkorb hob und senkte sich rasch, als hätte er Probleme beim Atmen oder Herzrasen. Vielleicht auch beides. Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über seine Miene, doch er hielt sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor seine Züge wieder erstarrten. Er spielte seine Rolle perfekt. Warum war mir das früher nicht aufgefallen?

Nein, so war das nicht richtig. Es war mir aufgefallen. Ich hatte mich am Anfang sogar darüber aufgeregt, dass er ein Lügner war. Bis ich angefangen hatte, ihm zu glauben.

Ich schniefte und wollte mich aus der Umklammerung seiner Finger befreien. Es klappte nicht. Vito hielt mich weiter fest und überall, wo seine Haut auf meine traf, fühlte ich das vertraute Kribbeln, das seine Nähe immer in mir auslöste. „Obwohl von meinem Herz kaum noch etwas übrig ist, will es dennoch zu dir. Die ganze Zeit über kann ich nur daran denken, dass ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Denn ob du es glaubst oder nicht, Vito, ich hätte es verstanden. In jeder anderen Situation. Aber nicht, wenn du mich gerade an die Wand gedrückt und mir gesagt hast, dass ich das Wichtigste in deinem Leben bin. Am schlimmsten ist, dass ich dir geglaubt habe. Dabei hast du die ganze Zeit gelogen, um eine Wette zu gewinnen. Jedes Wort war eine Lüge und letztendlich wolltest du von mir das, hinter dem auch alle anderen her waren: meine Jungfräulichkeit. Das war alles. Es ging nie um mich. Die ganze Zeit über ging es nur darum.“ Mein Kinn zitterte. Mit der freien Hand wischte ich mir ein paar Tränenspuren aus dem Gesicht, als die Erinnerung mich wieder einholte. Es hatte sich so gut angefühlt. Vitos starke Arme, die mich festgehalten hatten, damit ich nicht fallen konnte. Seine Muskeln, die sich an meinen weichen Körper gedrängt hatten. Und seine Lippen, die jeden Zentimeter meiner Haut begierig geküsst hatten. Ich hatte ihm jede einzelne Sekunde abgekauft, dass er es genauso sehr wollte – es brauchte – wie ich. Bis der Zauber mit einem Schlag verflogen war. Die Blase, in der wir uns befunden hatten, war geplatzt und ich war mit dem Hintern voran hart auf den Boden der Realität geknallt. Seitdem versuchte ich mich irgendwie wieder hochzurappeln. Aber es war schwer. Unglaublich schwer. Und niemand reichte mir die Hand, um mir hoch zu helfen. Also musste ich es selbst tun. Ich musste mir den Staub abwischen und aufstehen.

„Elizabeth, ich …“ Vito riss die Augen auf. Er löste seine Finger um mein Handgelenk und stolperte zwei Schritte zurück, als hätte ich ihn geschlagen. „Du musst mir zuhören, ich …“

„Lass es, Vito! Spar dir den Atem! Du kannst diese Beziehung nicht mehr retten. Und mich auch nicht.“ Ich wischte mir erneut die Tränen von den Wangen, hob das Kinn ein Stück höher und atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Und dann ging ich, ohne mich noch einmal von Vito aufhalten zu lassen. Einfach so. Ohne darauf zu warten, dass er noch etwas sagte. Denn ich hatte die Hoffnung, mich zumindest selbst retten zu können. Ich musste nur die nächsten Stunden, dann Tage und dann Wochen überleben. Bis ein Monat vorbei war und dann noch einer. Ich würde es schaffen. Irgendwie. Ich musste es.

Kapitel 1: Die Eröffnung

Elizabeth

4 Monate zuvor …

„Herzlich Willkommen an der Blackbury Academy, Elizabeth Florres. Wir haben schon früher mit Ihnen gerechnet.“ Die Dame vor mir hätte mir an einem normalen Tag keine Angst eingejagt. Sie begrüßte mich freundlich und ihr mit dunkelrotem Lippenstift versehener Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Eine Reihe strahlend weißer Zähne kam zum Vorschein, die mich beinahe blendete. Sie war nett, dennoch verkrampfte sich mein Magen und Furcht stieg in mir hoch. Denn heute war alles, aber kein normaler Tag. Als ich vor ein paar Wochen den langersehnten Brief für mein Stipendium erhalten hatte, war ich für einen Moment voller Freude gewesen. Endlich hätte ich nicht nur die Chance, an der berühmt-berüchtigten Akademie zu studieren, die die Welt je gesehen hatte. Nein, ich würde auch die Möglichkeit bekommen, mehr über meine verstorbenen Eltern herauszufinden. Doch nun war ich mir nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, wirklich an diesen Ort zu kommen. Obwohl ich mir vorher dutzende Fotos von dem riesigen Gebäude angesehen hatte, war ich überrascht gewesen. Die Akademie wirkte in der Realität noch größer und einschüchternder. Ein pompöses, schwarzes Tor, über dem das Wappen der Blackbury Academy thronte, kennzeichnete den Zutritt zum Schulgelände, durch das ein mit Pflastersteinen versehener Weg zum Gebäude führte. Die graue Fassade, an der dunkler Efeu entlang wuchs, hatte im Schein des Mondlichts wie die Kulisse eines Horrorfilms ausgesehen. Dieser Eindruck verstärkte sich mit jedem Schritt, den ich tiefer ins Gebäude vordrang. Alles wirkte so … altertümlich, gruselig und dunkel. Von den großen Kronleuchtern an der Decke bis zu den Ölgemälden an den Wänden, die berühmte Persönlichkeiten verschiedenster Zeitepochen zeigten. Ich hatte Shakespeare, Nancy Cartwright, Charles Hodge und viele andere erkannt, aber es waren genauso viele Gesichter dabei, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Bis mein Blick auf einen Mann gefallen war, den ich unter Tausenden wiedererkannt hätte. Damon Perez. Der derzeitige CEO der größten Firma für die Verwaltung von Kryptowährungen. Er besaß mehr Aktien als irgendjemand sonst, deshalb war es wohl auch kein Wunder, dass sein Gemälde genau unter dem Wappen der Akademie hing, das parallel zur Eingangstür an der gegenüberliegenden Wand angebracht worden war. Wie ein König über sein Reich starrte das Porträt über die Halle, deren Boden mit dunkelrotem Teppich ausgelegt war. Ich hatte gar nicht schnell genug aus dem Blickfeld des Gemäldes verschwinden und die große Wendeltreppe hinaufrennen können, um zum Büro der Leitung zu kommen. Und nun war ich hier. Mit erhobener Hand hatte ich mich nicht getraut anzuklopfen, obwohl unter dem Schlitz der geschlossenen Tür noch Licht gebrannt hatte. Zum Glück hatte sich der Eingang irgendwann von selbst geöffnet. Wahrscheinlich war mein rasselnder Atem trotz der massiven Wände bis ins Innere des Zimmers zu hören gewesen. Verflucht, selbst die Türen sahen an diesem Ort teuer aus und dabei meinte ich nicht einmal die goldene Klinke, die nach unten gedrückt worden war, bevor die Tür nach innen aufschwang und den Blick auf eine hochgewachsene Frau in einem mintgrünen Kleid freigegeben hatte. Nein, auch das Holz, die Maserung und die Verzierungen, die wie kleine Bücher aussahen, zeigten, dass diese Tür bestimmt nicht in einem Baumarkt gekauft worden war. „Hatten Sie Schwierigkeiten mit der Anreise?“, wollte die Dame wissen und ein leichtes Stirnrunzeln breitete sich auf ihrer Miene aus, was mir zeigte, dass ich mir für eine Reaktion schon viel zu lange Zeit ließ.

„Es tut mir leid. Meine Tante hätte Bescheid geben sollen, dass es Probleme mit meinem Flug gab.“ Das war eine Untertreibung. Bisher war alles schiefgegangen, was hätte schiefgehen können. Mein erster Flug wurde wegen schlechter Wetterbedingungen abgesagt. Als sich der Sturm endlich legte, war kein freier Platz mehr im nächsten Flieger und als ich endlich in ein Flugzeug stieg, um nach Washington zu kommen, gab es technische Schwierigkeiten, sodass ich weitere 24 Stunden am Flughafen festgesessen hatte, bis die Maschine endlich startete. Dass Tante Grace mich zwar pünktlich zu meinem Flug gebracht, aber die ganze Fahrt geweint hatte, weil sie eigentlich dagegen war, dass ich nach Blackbury ging, machte es auch nicht besser. Müde und ausgelaugt war ich mitten in der Nacht in der Akademie angekommen. Ich hatte gehofft, meine Sorgen würden sich legen, doch stattdessen wurden sie immer stärker. Immer wieder hörte ich die Warnungen von Tante Grace in meinem Kopf widerhallen. Nein! Das musste aufhören. Ich würde sonst noch verrückt werden. Alles würde gut werden. Ganz bestimmt.

Die Dame nickte verstehend und ging einen Schritt zur Seite, sodass ich an ihr vorbei und in ihr Büro treten konnte. Aber sofort wünschte ich, ich hätte es nicht getan. War eigentlich die Einrichtung jedes Raumes in diesem Gebäude mehr wert als das Appartement, das Tante Grace und ich bewohnten? Offensichtlich. Dicke, rote Vorhänge verhinderten, dass das Mondlicht ins Zimmer strahlte. Stattdessen erhellte ein weiterer Kronleuchter den Raum, dessen weiße Wände mit mehreren gerahmten Urkunden zugepflastert waren. Die Rahmen sahen aus, als wären sie aus purem Gold und harmonierten unglaublich gut mit dem roten Haar der Frau, die hinter mir die Tür wieder schloss. Zögerlich setzte ich mich auf den gepolsterten Stuhl, der vor einem großen Schreibtisch stand. Meinen Koffer, den ich mühsam hinter mir hergeschleppt hatte, stellte ich dabei einfach neben mir ab. Er hatte einige Beulen, weil Grace ihn schon gebraucht gekauft und seit Jahren in Verwendung hatte. Bisher hatte mich das nie gestört, aber an diesem Ort wirkte er schrecklich fehl am Platz. Genau wie ich. Seit ich aus dem Flieger gestiegen war, hatte sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengrube breitgemacht. Es war lästig und ich bekam es einfach nicht weg. Dabei redete ich mir vieles nur ein. Sicher, in der Dunkelheit hatte das Gebäude gruselig ausgesehen und die vielen Porträts in der Eingangshalle waren nicht mein Geschmack, aber deshalb war noch lange nicht alles schlecht. Richtig? Richtig! Ich durfte mich nicht von Tante Grace’ Warnung beeindrucken lassen. Das war eine Schule wie jede andere auch. Na gut, vielleicht nicht wie jede andere. Blackbury genoss den Ruf, dass jeder, der hier studiert und seinen Abschluss gemacht hatte, eine strahlende Zukunft vor sich hatte. Jeder Einzelne. Ohne Ausnahme. Vielleicht lag es daran, dass nur die Besten der Besten hier als Professoren unterrichten durften, oder am System der Eliteschule, das sich gänzlich von anderen Universitäten unterschied. Hier wurden mehrere Studienrichtungen angeboten, doch statt die Studenten nach Fachbereichen zu trennen, waren sie alle in einem Gebäude, mussten auch in anderen Bereichen einzelne Kurse besuchen, um ihre Allgemeinbildung zu schulen, und sich zeitgleich auf außerschulische Aktivitäten konzentrieren. Wenigstens Letzteres würde mir erspart bleiben, bis ich mich in der Akademie zurechtgefunden hatte.

„Ja, das hat sie auch. Ich hatte lange nichts mehr von Grace gehört und war überrascht, dass sie angerufen und eine Nachricht für mich auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat.“ Das Lächeln der Frau wankte für einen Moment, bevor ihre Mundwinkel sich wieder ganz nach oben verzogen. Doch die Fröhlichkeit, die in ihren Zügen lag, erreichte ihre Augen nicht. Der Blick, mit dem sie mich musterte, bescherte mir eine Gänsehaut. Ihre grünen Augen, die denselben Farbton hatten wie ihr Kleid, sahen matt und farblos aus. Ein trauriger Schleier lag über ihnen und auch in ihrer Stimme war ein bedrückter Ton zu vernehmen, als sie weitersprach. „Wie geht es ihr inzwischen? Ich hoffe, sie hat sich gut von ihrem Verlust erholt.“

Ich schnappte nach Luft und war froh, dass ich bereits saß, weil meine Knie sofort anfingen zu zittern. Das Gefühl in meiner Magengegend verstärkte sich. Die Worte trafen mich absolut unvorbereitet. Ihr Verlust? Sprach sie gerade vom Tod meiner Eltern? Einfach so? Sicher, inzwischen war es zehn Jahre her, aber ich hatte einen großen Teil meines Lebens verloren. Genau wie Grace. Ich bezweifelte, dass man sich jemals davon erholen konnte. Bisher hatten das alle verstanden und nie hatte mich jemand darauf angesprochen. Alle hatten das Thema gemieden. Eine Fremde nun darüber reden zu hören, als würde es ums Wetter gehen, war hart für mich zu verdauen. Oder sprach sie gar nicht davon? Hatte Grace noch etwas verloren, von dem ich nichts wusste? Keine Ahnung. Wieder einmal wurde mir klar, wie wenig ich eigentlich über das Leben meiner Tante vor mir wusste. „Es geht ihr sehr … gut“, hauchte ich in Ermangelung einer Alternative und war froh, dass mein Gefühlsumschwung nicht in meiner Stimme zu hören war. Ich hatte mich heute schon genug blamiert. Nicht nur, dass ich zu spät dran war, waren meine Haare dank des Regens nass und meine Kleidung feucht. Ich musste ein erbärmliches Bild abgeben. Es war, als würde alles an mir danach schreien, dass die Blackbury Academy kein Ort für mich war. Dieses Wissen war fast schlimmer als die Kälte, die sich in meinem Inneren eingenistet hatte. Außerdem wollte ich nicht für meine Tante sprechen. Vermutlich ging es ihr furchtbar. Ihre Nichte war genau an dem Ort, vor dem sie damals geflohen war. Wieso auch immer.

„Das freut mich für sie.“ Langsam nickte die Frau, nahm hinter dem Schreibtisch auf dem großen Ledersessel Platz und sah mich für einen Augenblick nachdenklich an. Dass dabei immer noch ihr Lächeln perfekt auf ihren Lippen lag, als hätte es jemand dort festgenagelt, war gespenstisch. Fast, als würde sie sich nicht trauen, nicht zu lächeln. „Wirklich, das ist schön zu hören“, murmelte sie hinterher und blinzelte mehrfach, als ihre Augen feucht wurden. Unterdrückte sie aufkommende Tränen? Hatte sie meine Mum und meinen Dad gekannt und reagierte deshalb so? Mitleid keimte in mir auf. Ja, vermutlich hatte sie die beiden gekannt und nun saß ich vor ihr, holte alle Erinnerungen wieder an die Oberfläche und sie zwang sich dennoch professionell zu bleiben, weil ich eine Schülerin war wie jede andere, oder es zumindest sein sollte.

„Sie haben meine Tante gekannt?“ Noch während ich die Frage aussprach, bereute ich es. Ich war erst zehn Minuten an der Akademie und begann schon in die Privatsphäre von Grace einzudringen. Es hatte immerhin ganz sicher einen Grund, weshalb sie mir nicht gesagt hatte, dass es noch Menschen von ihrer Schulzeit in Blackbury gab. Doch ich sollte mich an die nagenden Schuldgefühle gewöhnen. Ich würde noch viel unangenehmere Fragen stellen und in der Scheiße rühren müssen, wenn ich erfahren wollte, was damals geschehen war und wieso meine Eltern vor zehn Jahren sterben mussten.

„Ja, ich war mit ihr an der Academy. Wir waren über die Jahre gut befreundet, bevor sie die Akademie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen hat.“

Was? Sie war wirklich geflohen? Ich dachte, das wäre nur eine unbedeutende Floskel gewesen und nicht, dass sie tatsächlich ihr Zeug gepackt und abgehauen war. Ein schmerzhafter Stich zog sich durch meine Brust. „Das hat Grace gar nicht erzählt“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und beschloss, Grace bei der nächsten Gelegenheit zu fragen, was es mit ihrer früheren Freundschaft zu McQueen auf sich hatte.

„Das glaube ich zu gern.“ Der Ton von Tante Grace’ früherer Zimmernachbarin wurde kühl. Ein verletzter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, bevor die lächelnde Maske wieder perfekt an Ort und Stelle saß. Dennoch sah ich die Enttäuschung, die sie verspüren musste. Sie hatte erwartet gehabt, dass ich sie zumindest aus Erzählungen kennen würde. Was sie wohl zusammen mit Grace erlebt hatte? Ich hoffte, ich würde es irgendwann erfahren. „Aber reden wir nicht über Ihre Tante. Wir sind wegen Ihnen hier. Unserer ersten Stipendiatin“, änderte mein Gegenüber das Thema und richtete sich in ihrem Stuhl auf, bis sie kerzengerade saß. Blind tastete sie mit ihrer Hand neben sich zu einer Schublade, die sie öffnete, und zog einen Zettel daraus hervor. „Es ist schon spät, also schlage ich vor, Sie machen sich auf den Weg in Ihr neues Zuhause und lernen erst mal Ihre Zimmergenossin kennen. Hier ist ein Lageplan des ganzen Gebäudes. Ich habe Ihnen den Pfad zu Ihrem Zimmer rot markiert. Alles Weitere erkläre ich Ihnen morgen beim Frühstück.“ Sie drückte mir den Zettel in die Hand.

„Vielen Dank, Professorin …“ Fragend sah ich sie an und erhob mich von meinem Stuhl. Die Polsterung gab ein Knirschen von sich, als mein Gewicht von der Sitzfläche verschwand.

„McQueen. Guinever McQueen.“ Sie betonte jeden Buchstaben, als hätte der Name eine Bedeutung, als müsste er mir etwas sagen, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Tante Grace sie je erwähnt hatte.

Andererseits hatte Grace nie über ihre Zeit an der Akademie gesprochen. Niemals. Ich hatte gedacht, es würde daran liegen, dass sie gemobbt und ausgegrenzt worden war, aber anscheinend hatte ich mich geirrt. Sie hatte eine Freundin gehabt. Was war passiert, dass sie einfach keinen Kontakt mehr zueinander hatten?

„Ich wünsche Ihnen eine Gute Nacht, Professorin McQueen“, murmelte ich, griff nach meinem Koffer und floh praktisch aus dem Büro. Wieso hatte Grace es hier so gehasst? Hatte sie ebenfalls das Gefühl gehabt, hier falsch zu sein? Oder lag es an etwas anderem? Immer mehr Fragen tauchten in meinem Kopf auf und mit keiner davon wollte ich mich noch heute Nacht auseinandersetzen. Ich war müde und wollte nur in mein Bett. Erst, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, merkte ich, dass ich darum hätte bitten sollen, in mein Zimmer gebracht zu werden. Stattdessen war ich nun dazu verdammt, durchs Gebäude zu irren, bis ich das richtige Zimmer fand. Perfekt. Konnte es noch schlimmer werden? Ja, konnte es definitiv, denn die nächsten Tage ließ mich das Gespräch mit Guinever McQueen nicht los. Wieso hatte Grace nicht mit ihr Kontakt gehalten, wenn sie offensichtlich Freundinnen gewesen waren?

Kapitel 2: Stellung

Elizabeth

Das Handtuch, das ich um meine Haare wickelte, war klatschnass und unangenehm kühl auf meiner erhitzten Haut. Dennoch fühlte ich mich schlagartig besser, als ich ein paar Minuten nach der Unterhaltung mit Professorin McQueen nur mit einem weiteren Handtuch um meinen Körper aus dem Badezimmer ging. Ich hatte die Dusche dringend nötig gehabt, sonst hätte ich vielleicht darauf verzichtet und wäre gleich ins Bett gegangen. Aber ich hatte mich dank der Warterei am Flughafen schmutzig gefühlt und wahnsinnig unwohl, wobei Letzteres eher den Frauen zu verdanken gewesen war, die auf dem Bett meiner Mitbewohnerin gesessen und mich angesehen haben, als wäre ich ein verschimmelter Käse, der schon wochenlang auf der Müllkippe gelegen hatte. Als ich nun mit nackten Füßen über den weichen Teppich ging, um zu meinem Koffer zu gelangen, der geschlossen auf dem Bett auf mich wartete, hatte ich die Hoffnung, sie würden sich diesmal vorstellen, statt nur ein angeekeltes Gesicht zu machen. Doch stattdessen ignorierten sie mich, ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen. Ich beschloss, dass Nichtachtung immer noch besser war, als beleidigt zu werden, und zog meinen Koffer auf. Irgendeine davon war offensichtlich meine Mitbewohnerin und so wie es aussah, würden wir in naher Zukunft keine Freundinnen werden. Ich wusste nicht, wieso mich das hart traf. Ich hatte geahnt, dass es so kommen könnte, immerhin war mir meine Mittellosigkeit anzusehen. Aber ich hatte mir gewünscht, es wäre anders und Geld würde doch keine so große Rolle spielen. Ich hatte jemanden gewollt, mit dem ich reden und bis tief in die Nacht aufbleiben konnte, um zu lernen. Stattdessen hatte ich jemanden erwischt, der sich nicht an die Schulregeln halten konnte und für den ich weniger wert war als eine Kakerlake, weil ich mir keine Gucci-Handtasche leisten konnte. Um diese Zeit sollten alle in ihren Zimmern sein, das bedeutete, dass zumindest zwei von ihnen gar nicht hier sein dürften. Doch ich sparte es mir, sie darauf hinzuweisen. Ich musste mir nicht schon am ersten Abend Feinde machen.

„Er hat dich mitten im Hörsaal geküsst. Seine Hand hat auf deinem Hintern gelegen und er hat dich so fest an sich gedrückt, als wollte er dich gleich auf dem Professorenpult vögeln. Wahrscheinlich hätte er es sogar getan, wenn Professorin Hopkins nicht plötzlich in den Hörsaal gestürmt wäre.“ Aufgeregt überschlug sich die Stimme des Cruella-Abklatsches. Ihre Haare waren auf einer Seite weiß und auf der anderen schwarz gefärbt. Der letzte Besuch beim Friseur musste schon eine Zeit lang vergangen sein, denn in die hellen Strähnen mischte sich ein gelber Stich und auch das Schwarz wirkte nicht kräftig genug, um einen starken Kontrast zu bilden. Ihre glatten Haare fielen ihr über die nackten Schultern, die von ihrem dunkelblauen Kleid ausgespart wurden. Der Stoff sah luftig und viel zu kühl für diese Jahreszeit aus, aber er harmonierte perfekt mit ihren hellblauen Augen, die freudestrahlend auf ihre Sitznachbarin gerichtet waren, die genau wie sie im Schneidersitz auf dem Bett saß.

„Und du hast dir tatsächlich Sorgen darüber gemacht, ob ihr nach den Ferien noch zusammen sein werdet, Destiny.“ Die dritte im Bunde lachte schallend und warf ihre braunen Locken zurück, die bis zur Hälfte ihres Rückens reichten, während sie ihre Freundin ansah, die offenbar Destiny sein musste. Dabei verfing sich eine Strähne an einem Kissen, das neben ihr lag und den gleichen Rosaton aufwies wie ihr Rock. Kerzengerade lehnte sie am Kopfende und schüttelte belustigt den Kopf, als wäre es undenkbar, dass – um wen es auch immer ging – nichts mehr von Destiny wollte. Etwas, das ich sogar verstehen könnte. Sie war hübsch. Wunderschön traf es wohl eher. Rote, lockige Haare fielen wie ein Wasserfall an ihrem kurvigen Körper hinab und umrahmten ihr herzförmiges Gesicht, in dem zwei helle, grüne Augen ruhten. Sommersprossen überzogen ihre Wangen. Nicht so viele, dass es wie ein Ausschlag aussah, aber genug, um sie von anderen Frauen abzuheben. Stolz hatte sie das Kinn erhoben. Immer ein Stück weiter als ihre zwei Freundinnen, sodass sogar mir sofort klar war, wer in dieser Gruppe das Sagen hatte.

„Ist das nicht eine berechtigte Annahme gewesen? Er hat sich die letzten Wochen nicht bei mir gemeldet“, murmelte Destiny leise und kurz schien die Fassade aus Arroganz und Macht zu bröckeln, die sie ausstrahlte. Ein eifersüchtiger Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. Doch so schnell er gekommen war, verschwand er auch wieder und sie thronte auf dem Bett, als würde nicht nur dieses Zimmer, sondern der gesamte Campus ihr gehören. Der Mann, um den es ging, musste ihr etwas bedeuten, aber ich bezweifelte, dass es wirklich Liebe war, die sie für ihn empfand. Sonst wäre sie erleichtert, oder nicht? Stattdessen klang ihre Stimme enttäuscht. Als ob sie fest erwartet hätte, er würde sich bei ihr melden, weil es seine Pflicht war.

„Er liebt dich und er hat dich vermisst“, beharrte der Cruella-Abklatsch und grinste zuversichtlich in Destinys Richtung. Sie nickte aufgeregt, packte ihre Hand und sah ihre Königin an, als würde sie auf ein Lob warten, das niemals kommen würde. „Vielleicht hatte er einfach zu viel Stress. Ich habe gehört, dass er die letzten zwei Monate in der Firma seines Dads gearbeitet hat und sie nach seinem Abschluss übernehmen wird.“ Das freudige Strahlen, das sie umgab, wurde stärker, bis sie einer Glühbirne glich, die den ganzen Raum beleuchtete. „Das wäre so großartig. Dann müsstest du niemals arbeiten gehen und könntest bei den Kindern zu Hause bleiben, um die Nanny zu überwachen.“

Der amüsierte Ton kam schneller über meine Lippen, als ich es verhindern konnte. Ich bereute ihn sofort, als sich drei Augenpaare in meine Richtung wandten und mich mit dem gleichen Blick bedachten, den sie mir bereits bei meinem Eintritt ins Zimmer angedeihen ließen. Überheblich und selbstbewusst. Die drei hielten sich für etwas Besseres als mich und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatten sie damit vermutlich auch recht. Aber der fehlende goldene Löffel in meinem Mund bedeutete nicht, dass ich so mit mir umspringen lassen musste. Außerdem hatte ich doch recht, oder? Es war lächerlich. Glaubte nur eine von den dreien, worüber sie sich unterhielten? Wie konnten sie einem Typen ein ganzes Leben andichten, in dem er nicht nur eine Frau – die er offensichtlich nicht genug liebte, um sie anzurufen, egal, wie viel Stress er hat –, sondern obendrein noch Kinder hatte, die er eventuell nicht wollte?

„Hast du etwas zu sagen?“, fragte Destiny und ihre Stimme zeigte, dass sie nichts von mir hören wollte. Keinen Mucks, nicht einmal das Geräusch meiner Atmung. Sie verengte die Augen zu Schlitzen und verschränkte die Arme vor der Brust. Jeder andere hätte aus Bequemlichkeit den Rücken abgerundet, aber sie blieb aufrecht sitzen, als hätte ihr jemand ein Korsett umgeschnallt. Vielleicht trug sie wirklich eins. An diesem Ort würde es mich nicht mehr wundern und es würde ihre Wespentaille erklären.

„Nein.“ Ich wandte den Blick schnellstmöglich ab und versank mit dem Kopf tiefer in meinem geöffneten Koffer. So viel dazu, mir nicht schon am ersten Tag Feinde zu machen. Ich musste wirklich lernen, meinen Mund zu halten. Es war schließlich nicht mein Problem und ging mich nichts an. Destiny würde schon früh genug von ihrer Wolke gestoßen werden und mit dem Gesicht voran in eine dreckige Pfütze fallen, wenn sie erkannte, dass der Kerl kein wirkliches Interesse an ihr hatte und sie nicht heiraten würde. Oder vielleicht irrte ich mich auch. Vielleicht war es in diesen Kreisen so, dass Liebe keine Rolle spielte, solange man genug Geld hatte. Würde der Typ sie ehelichen, nur um an ihre Kohle zu kommen? Diese Frage wollte ich mir gar nicht beantworten.

„Dann sei gefälligst still!“ Destinys Stimme klang wie ein Zischen und brachte mich dazu, mich noch tiefer zu beugen, bis ich mit der Nasenspitze beinahe an dem Pullover ankam, der ganz oben in meinem Koffer lag. Er gehörte gar nicht mir, sondern Tante Grace. Keine Ahnung, warum ich ihn mitgenommen hatte. Sie wusste nicht einmal etwas davon. Aber es war mir ein Bedürfnis gewesen, zumindest ein Stück von ihr mitzunehmen. Schon jetzt fehlte sie mir. Hatte ich einen Fehler gemacht? Sollte ich wieder gehen? Der Gedanke war verlockend, aber so leicht wollte ich nicht aufgeben. Zum Teil, um Grace nicht zu zeigen, dass sie recht gehabt hatte, aber das ignorierte ich gekonnt.

„Wer ist die denn?“ Cruella – Nein, das war nicht richtig. Ich mochte die schräg gestylte Bösewichtin aus meinem liebsten Disneyfilm zu sehr, um ihren Namen einer von Destinys Freundinnen zu verpassen. Ella? Mella? Bella? Irgendwie schien nichts auf sie zu passen. Sollte ich nach dem Namen fragen? Ich hob den Kopf und sah genau in ihre hellen Augen. Nein, definitiv würde ich nicht fragen. Druella? Ja, das klang gut. So würde ich sie nennen. Druella zog eine perfekt gezupfte Augenbraue nach oben und obwohl klar war, dass sie nicht mit mir redete, starrte sie mich an.

„Niemand!“, antwortete Destiny und verdrehte die Augen. Nicht einmal das tat ihrer Schönheit einen Abbruch. Blind griff ich in meinen Koffer und packte die erste Hose und den Pullover, den ich erwischen konnte. Ihre Blicke waren mir unangenehm. Nicht nur wegen der Art wie sie mich ansahen, sondern weil sie es überhaupt taten. Verflucht, beim nächsten Mal würde ich mir Kleidung mit ins Badezimmer nehmen, um nicht halb nackt vor ihnen herumstolzieren zu müssen. Etwas, woran ich schon von Anfang an hätte denken können, aber ich hatte mir noch nie zuvor mit jemandem das Zimmer geteilt. Ich war ja nicht einmal eine einzige Nacht nicht zu Hause gewesen.

„Heutzutage darf schon jeder hier studieren, der genug Geld hat.“ Die Dritte – Daisy, zumindest nannte ich sie spontan so, weil sie in diesem Moment die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Durch den Lippenstift hafteten ihre Lippen jedoch nicht aneinander, sodass ihr Mund endete wie der Schnabel einer Ente. Weit nach vorn gezogen und seltsam verformt. Sie streckte den Hals unnatürlich, um mich besser sehen zu können. Vielleicht hätte eine Anspielung auf einen Pfau mehr Sinn gemacht, aber ich war ganz zufrieden mit meiner Auswahl. Druella, Daisy und Destiny. Die drei Ds des Grauens.

„Sie hat kein Geld. Habt ihr noch nicht von dem Charity-Projekt gehört?“ Destiny lachte, als wäre allein der Gedanke, mittellose Schüler an die Blackbury Academy aufzunehmen, unvorstellbar. Dabei gab es an allen anderen Schulen bereits seit Jahren Stipendien. Nicht jeder konnte in eine reiche Familie geboren werden. Ohne Geld aufzuwachsen war schon schwer genug. Warum sollte man mir dann noch den Zugang zu Bildung versperren? Außerdem waren wir nicht immer arm gewesen. Irgendwann musste meine Familie Geld besessen haben, sonst wären weder meine Tante noch meine Eltern an dieser Akademie gewesen. Wo genau der Reichtum hin verschwunden war, zählte zu einer der dutzenden Fragen, die in meinem Kopf herumschwirrten.

„Die haben dich mit der Stipendiatin ins Zimmer gesteckt? Oh mein Gott! Das tut mir so leid, Destiny.“ Druella schlug sich die Hände vor den Mund. Ein entsetzter Ausdruck trat in ihr Gesicht und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich versuchte, mich nicht über ihre Reaktion zu ärgern, doch es gelang mir nicht. Und? Dann war ich eben Stipendiatin. Das bedeutete nicht, dass ich eine ansteckende Krankheit hatte oder anderweitig giftig war, sodass jeder, der mit mir in Berührung kam, ebenfalls sein Geld verlor.

„Elizabeth!“, verbesserte ich sie und drückte die Kleidung schützend an meine Brust. Währenddessen ließ ich meinen Blick überallhin schweifen – nur nicht zu den drei Grazien, damit sie mich nicht einschüchtern konnten. Leider war das Zimmer nicht weniger einschüchternd. Beim Hereinkommen hatte ich es mir kaum angesehen, weil ich schnellstmöglich ins Bad gewollt hatte, aber nun sah ich es in seiner vollen Pracht. An der Decke hing ein Kronleuchter, der dem in der Haupthalle nicht unähnlich war. Nur kleiner. Dennoch erhellte er das ganze Zimmer. Von der weißen Raufasertapete, auf der ein schnörkeliges Muster aufgedruckt war, bis zum hintersten Fleckchen des schwarzen Teppichs. Das Zimmer, das für vier Frauen gereicht hätte statt für zwei, war mit zwei Betten, Nachtkästen und Schränken ausgerüstet. Getrennt wurden die beiden Bereiche durch einen großen, runden Tisch in der Mitte des Raums, der mit vier Stühlen ausgestattet war. Wieso die drei sich trotzdem auf das Bett verschanzt hatten, war mir ein Rätsel.

„Wie bitte?“ Destinys Augen weiteten sich, als könnte sie nicht glauben, dass ich es wirklich gewagt hatte, etwas zu sagen. Ihr Verhalten schürte meinen Ärger weiter. Ja, ich wollte keine Probleme haben, aber ich würde mich auch nicht wie ein Mensch zweiter Klasse behandeln lassen. Ich hatte das Recht hier zu sein. Von meinen Noten konnten andere nur träumen und ich hatte an meiner alten Schule jeden Kurs freiwillig besucht, um so viel zu lernen wie möglich. Hatte das hier gar keinen Wert?

„Mein Name“, erklärte ich und war froh, dass meine Stimme stark klang, auch wenn ich am liebsten meinen Koffer vom Bett gezogen, mich auf die Matratze gelegt und die Decke über meinen Kopf gezogen hätte. „Er lautet Elizabeth und nicht die Stipendiatin. In eurer Welt mag sich alles um Geld und Einfluss drehen, aber in meiner regieren noch Höflichkeit und Anstand, als würde ich euch bitten, mich wenigstens bei meinem Namen zu nennen.“ Und euch vorzustellen …, hätte ich am liebsten hinzugefügt, doch ich ließ es lieber und griff stattdessen nach einem BH, der zum Glück nicht weit unten in meinem Koffer lag. Jetzt brauchte ich nur noch ein Höschen, um wieder im Badezimmer zu verschwinden und mich umzuziehen. Ich hoffte fast, die drei Grazien würden das Gespräch einfach fallen lassen und darauf warten, dass ich mich wieder ins Bad zurückzog. Aber so viel Glück hatte ich nicht.

Destiny erhob sich grazil vom Bett und stemmte ihre Hände in die Hüften. Dabei leckte sie sich angriffslustig über die Lippen. „Wir sind höflich. Wären wir es nicht, würdest du im hohen Bogen rausfliegen, Schmarotzerin.“

„Ich bin keine Schmarotzerin!“ Empört sog ich die Luft ein und starrte Destiny an. Wie konnte sie es wagen?! Ich hatte keine Almosen notwendig. Irgendwie hätte ich es auch ohne das Stipendium geschafft, mir eine Ausbildung zu ermöglichen. „Ich habe mir meinen Platz an dieser Akademie hart erarbeitet.“ Das war nicht einmal gelogen. Ich hatte gelernt und gelernt und gelernt. Ohne Pause. Wahrscheinlich war es deshalb auch kein Wunder, dass meine Anzahl von Freunden begrenzt war. Na gut, genau genommen lag sie bei null. Ich hatte wahrscheinlich mehr geopfert als jede Einzelne von ihnen und dann musste ich mich so behandeln lassen? Nein, auf keinen Fall!

„Ach, wirklich? Wie viele Schwänze musstest du lutschen, bis du hier gelandet bist? Fünf? Zehn? Zwanzig? Wahrscheinlich hast du noch jede Menge offener Stellen im Mund, die sich langsam entzünden.“ Daisy quakte belustigt wie eine Ente und stand ebenfalls vom Bett auf. Sie stellte sich neben Destiny und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. Durch ihre Arme wurden ihre Brüste ein Stück nach oben gedrückt und sahen somit noch riesiger aus. Fast als würden sie gleich aus dem knappen Kleid fallen.

Ich setzte zu einer Erwiderung an. Die Worte, dass sie sich ja mit Prostitution bestens auskennen musste, lagen mir bereits auf der Zunge, aber ich schluckte sie hinunter. Ich wollte nicht mit ihnen streiten. Erstens war ich allein nun einmal in der Unterzahl und zweitens würden wir uns irgendwie zusammenraufen müssen, immerhin bezweifelte ich, dass ich schnell ein neues Zimmer zugewiesen bekommen würde. „Hör zu, das ist jetzt auch mein Zuhause. Ich will keinen Ärger, aber ich muss mich nicht in meinen vier Wänden beleidigen lassen. Wir haben alle dasselbe Ziel: einen guten Abschluss. Wenn euch etwas nicht passt, könnt ihr jederzeit gehen. Es ist sowieso schon spät. Morgen können wir gerne noch einmal in Ruhe über alles reden“, schlug ich vor, kramte in meinem Koffer, bis ich einen Slip fand und wollte mich mit meinen Kleidern bewaffnet schon in Richtung Bad aufmachen. Doch Daisy ging ein paar Schritte zur Seite und versperrte mir den Weg, sodass ich nicht zur Tür kam. Frustriert seufzte ich auf.

„Lass es gut sein, Camille! Sieh dir die kleine Nonne doch an. Sie war bestimmt noch nicht einmal in der Nähe eines Schwanzes und wenn, hat ihn der arme Kerl bestimmt nicht hochbekommen.“ Destiny war von ihrem eigenen Witz amüsiert und gluckste leise. Das Geräusch fraß sich in mein Trommelfell und ließ die Wut in meinem Magen stärker brodeln. Das war … das war … absolut widerlich. Als würde die Anzahl meiner Sexualpartner etwas darüber aussagen, ob ich würdig war, um an der Akademie zu sein oder nicht. „Richtig, Camille?“

Camille? Nein, das passte definitiv nicht. Dann blieb ich lieber bei Daisy. Die quakende Ente stimmte in das Gelächter ihrer Freundin ein und wenig später – nach einem wütenden Blick von Destiny – begann auch Druella zu kichern.

Erschöpft seufzte ich. Toll, das ging definitiv nach hinten los. „Könntet ihr euch an einem anderen Ort treffen? Ich würde mich gern in Ruhe anziehen.“ Auffordernd sah ich Daisy an in der Hoffnung, sie würde mir Platz machen, aber sie blieb felsenfest vor mir stehen und rührte sich keinen Millimeter. Dabei lag ihr Blick die ganze Zeit auf Destiny, als würde sie nur auf einen Befehl warten, um mich durchzulassen. Doch so viel Glück hatte ich nicht.

„Ich wüsste etwas Besseres.“ Ein unheilvolles Grinsen legte sich auf Destinys Lippen. Es wurde breiter und breiter, bis ihre Mundwinkel beinahe den Ansatz ihres Ohres berührten. „Wir bleiben hier und du ziehst deine Sachen draußen an“, schlug sie vor und Daisy reagierte sofort. Sie griff nach der Kleidung, die ich fest umschlungen hielt und riss sie mir aus den Händen. Es passierte so schnell, dass ich es erst realisierte, als meine Sachen auf den Boden fielen. Ich bückte mich, um sie wieder aufzuheben, aber Daisy war schneller. Sie kickte meine Kleidung mit dem Fuß zu Destiny, die lachend meine Sachen hochhob. Ich wollte sie ihr wieder abnehmen, doch durch die hastigen Bewegungen löste sich der Knoten, der das Handtuch um meinen Körper zusammenhielt und ich musste die Enden des Stoffes festhalten, um nicht splitterfasernackt vor ihnen zu stehen. Blut schoss mir in die Wangen. Beschämt umklammerte ich das Handtuch. Hilflos sah ich zu, wie Destiny meinen BH herumdrehte und angeekelt das Gesicht verzog, als sie merkte, wie ausgewaschen er war. Die strahlende weiße Farbe war schon lange einem ausgeblichenen Grau gewichen, aber der Büstenhalter erfüllte weiterhin seinen Zweck, weshalb ich ihn noch behalten hatte.

„Vielleicht sollten wir ein wenig netter zu ihr sein. Heute ist ihr erster Tag und …“ Druella verstummte augenblicklich, als Daisy und Destiny die Köpfe ruckartig in ihre Richtung drehten. Sie zog die Schultern ein und biss sich auf die Unterlippe. Es sah aus, als wollte sie noch mehr sagen und ich wünschte, ich wüsste, was. Doch sie tat es nicht. „Es tut mir leid!“, flüsterte sie stattdessen leise und ich war mir nicht sicher, ob die Entschuldigung ihren Freundinnen oder mir galt. Schlussendlich war es auch egal. Sie blieb auf dem Bett sitzen, während Destiny auf die Tür zutrat, sie öffnete und meine Kleidung auf den Flur hinauswarf.

„Na los, hol das Stöckchen!“, forderte sie und nickte mit dem Kopf nach draußen. Das Licht, das durch einen Bewegungssensor ausgelöst wurde, ging auf dem Gang an, sodass sich meine hellen Sachen noch besser von dem dunklen Teppich abhoben, der anscheinend im ganzen Gebäude zu finden war.

„Sehr erwachsen.“ Ich schnaubte, verdrehte genervt die Augen und trat an Destiny vorbei, um schnell meine Kleidung zu holen und wieder ins Zimmer zu verschwinden. Doch als ich wieder eintreten wollte, platzierte Destiny sich so im Türrahmen, dass ich keinen Platz hatte, um durchzugehen. „Können wir das nicht wie zivilisierte Menschen klären?“

„Lass mich überlegen.“ Destiny tippte sich gegen das Kinn, doch ihre belustigte Miene machte klar, dass sie keinen einzigen Gedanken daran verschwendete, wirklich mit mir eine höfliche Unterhaltung zu führen. Sie hatte einen ganz anderen Plan. Doch das wurde mir erst klar, als sich ihre Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen und ihre Augen zeitgleich zu Schlitzen wurden. „Nein. Wie wäre es stattdessen, wenn du dir für heute Nacht eine andere Übernachtungsmöglichkeit suchst? Und für alle folgenden ebenfalls.“ Destiny machte einen Schritt rückwärts, warf die Tür zu und sperrte mich damit aus dem Zimmer aus. Es knallte, als die Tür gewaltsam ins Schloss gedrückt wurde. Dann umgab mich Stille. Für eine Sekunde und noch eine, bis mir klar wurde, was gerade passiert war. Sie hatte mich ausgesperrt. Aus meinem eigenen Zimmer. Mit nichts anderem als einem Handtuch auf dem Kopf und um den Körper.

„Was soll das? Destiny? Destiny, mach die Tür auf!“, befahl ich, ballte die Hand, mit der ich nicht das Handtuch festhielt, zu einer Faust und schlug damit gegen das Holz. Aber niemand öffnete mir. Ich hämmerte fester gegen die Tür in der Hoffnung, die drei würden sich davon so gestört fühlen, dass sie mich wieder hineinließen, aber das passierte nicht. Die Tür blieb zu und mir wurde kalt. Im Zimmer war es doch um einiges wärmer gewesen als hier. Kühle Luft strömte an die Stellen, die vom Handtuch ausgespart wurden. Ich fröstelte. Kurz überlegte ich, mich mitten auf dem Flur umzuziehen, aber das Risiko, dass mich jemand dabei sehen könnte, war mir zu groß. Stattdessen zog ich das feuchte Handtuch von meinen Haaren und wickelte es ebenfalls um meinen Körper. Durch die weitere Lage fühlte ich mich sicherer, auch wenn mir dafür nun die nassen Strähnen auf die ungeschützten Schultern fielen. „Nein, bitte! Lass mich wieder rein! Das ist nicht lustig.“ Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Zeitgleich erwärmten sich meine Wangen, bis sie knallrot sein mussten. Was sollte ich denn jetzt machen? Zurück zu Professorin McQueen gehen und halb nackt durch die ganze Schule spazieren? Nein, das war keine Option, aber es musste bestimmt irgendwo Toiletten oder Waschräume auf dem Gang geben, in denen ich warten konnte, bis die Nacht vorbei war und jemand vorbeikam. Die Reinigungskräfte oder Professoren beispielsweise. Aber, verflucht, ich hatte mich schon auf dem Weg zu meinem Zimmer mit der Karte dreimal verlaufen. Ohne würde ich herumirren, bis ich zufällig jemanden fand, der mir helfen konnte. Ging es noch beschämender? „Verdammt, bitte! Destiny!“ Verzweifelt klopfte ich ein letztes Mal gegen die Tür und konnte die aufsteigenden Tränen nicht mehr unterdrücken. Meine Sicht verschwamm und ein einziger Gedanke dominierte meinen Verstand: Tante Grace hatte recht. Sie wollte nicht, dass ich an die Akademie komme und nun wusste ich auch, warum. Ich gehörte nicht hierher und würde es auch niemals.