Leseprobe Tot im Eis

Prolog

Obwohl Nick selbst nicht in die Eisbox stieg, bildete sich eine Gänsehaut auf seinem Arm; er fröstelte. Wer tat so etwas? Und dann auch noch freiwillig!

»Alles klar, das Licht passt«, sagte ein junger Mann, der mit einem Sensor hin und her eilte.

»Das will ich hoffen, ich friere mir hier jetzt schon den Arsch ab.«

Die groben Worte passten gar nicht zu der hochgewachsenen Frau, die nicht mehr als einen knappen String-Bikini trug. Ihr Körper war makellos, die Haut schimmerte wie Seide. Dass sich Della DeLorain hierher begeben hatte, verortete Niederteerbach auf der Deutschlandkarte neu. Zumindest, was die Aufmerksamkeit anging.

Normalerweise mussten Personen, die die Cryobox betraten, dicke Handschuhe, Unterwäsche und Schuhe tragen. Doch damit Della den Livestream fast nackt bestreiten konnte, war abgesprochen worden, die Box lediglich ein paar Grad herunterzukühlen. Von außen würde es aussehen wie die normale Prozedur, in Wahrheit würde Della nur ein wenig frieren.

Nicks Smartphone vibrierte. Er warf einen Blick darauf und las über die Push-Funktion den Text, den seine neue Chefin – Bürgermeisterin Sabine Graefe persönlich – ihm geschickt hatte. Dort stand:

Graefchen: Und, klappt alles? Wieso ist sie noch nicht live?

Nick unterdrückte ein Aufseufzen. Er tippte:

Ist gleich so weit.

Damit er sich wieder auf den historischen Augenblick konzentrieren konnte, versetzte er das Smartphone in den Nicht-Stören-Modus und schob es in die Tasche. Wenigstens für ein paar Minuten. Er arbeitete erst seit kurzer Zeit als Assistent für die Bürgermeisterin, konnte sie aber schon gut einschätzen. Sie würde ihm ständig irgendwelche Anweisungen schicken.

Dellas Assistentin nahm die letzten Einstellungen vor und verkündete: »Alles bereit, wir können den Livestream starten.«

Die Stylistin bezog Position außerhalb des Aufnahmebereichs, ebenso Dellas persönlicher Sekretär. Alle anderen mussten sowieso vor der Tür warten, weil es in der kleinen Kammer sonst zu voll wurde.

Die Assistentin zählte den Countdown herunter: »Und 3 … 2 … 1 … live.«

»Hallo Freunde der Schönheit«, grüßte Della in das Aufnahmeobjektiv. »Heute beginnt für euch eine ganz besondere Tour. Die nächsten Tage bereise ich Niederteerbach und führe euch mit vorbereiteten Videos und Livestreams durch dieses«, ein Räuspern folgte, »ganz besondere Dorf. Hier im neu gebauten Zentrum der Schönheit werde ich mich in eine Eisbox begeben. Und Kenner wissen, was das bedeutet.« Sie berührte aufreizend ihre Haut.

Nick konnte nicht fassen, dass diese Frau bereits neununddreißig Jahre alt war. Sie sah nicht nur jünger aus, sie schien auch beständig jünger zu werden. Er hatte sich natürlich ihre alten Videos in den sozialen Medien angeschaut.

Della sagte noch ein paar Worte über irgendwelche Kosmetikprodukte und den generellen Vorteil von vaporisiertem Stickstoff auf der Haut.

Mit dem Satz »Jung für die Ewigkeit!« stieg sie in die Cryobox und zog die Tür hinter sich zu. Ein Klacken war zu vernehmen. Seltsam, Nick erinnerte sich nicht daran, dass dieses Geräusch auch bei der Generalprobe zu hören gewesen war.

Die Kühlung begann. Auf die angekündigten -180 Grad Celsius wurde der Inhalt nicht heruntergekühlt, für den Zuschauer sah es aber so aus. In Wahrheit wirbelte einfach Stickstoff umher und Della fröstelte ein wenig. Für gerade mal sechs Minuten. Alles verlief nach Plan, bis ein lautes Zischen erklang. Anscheinend wurde noch mehr Stickstoff in die Kammer gesprüht, direkt auf die Influencerin.

Diese schrie und versuchte hektisch, die Tür zu öffnen, trommelte wild gegen das Glas. Sie hatte keine Chance. Innerhalb von Sekunden war Della DeLorain schockgefrostet.

Nick starrte auf die Eisbox, unfähig, sich zu rühren.

»Ist sie tot?«, erklang eine hysterische Stimme .

Nick blickte entsetzt auf die neu entstandene Skulptur und murmelte: »Jung für die Ewigkeit.«

1. Kapitel

Nicht einmal der Kaffee von Harald, den Gabi wie jeden Morgen vor Maike abgestellt hatte, wollte ihr so richtig schmecken. Nicht heute. Da der erwartungsvolle Blick der Kollegin jedoch einen gewissen Erwartungsdruck auslöste, nippte sie an dem Becher, schloss genießerisch die Augen und sagte: »So gut.«

Auf der Wache war es überraschend still, was wohl daran lag, dass Lukas damit beschäftigt war, Horst aus der Zelle zu lassen. Und da dieser seinen Rausch ausgeschlafen hatte, waren auch die ständigen Arien beendet, die er in betrunkenem Zustand gerne zum Besten gab.

»Das freut mich. So ein Kaffee ist schon was Besonderes«, sagte Gabi. »Stell dir folgendes Szenario vor …«

Nicht schon wieder! Maike setzte den Kaffeebecher ab und stöhnte auf. Wieso war sie nicht schon längst in ihr eigenes Büro geflüchtet? Da wollte man einmal gemütlich plauschen, seinen Kaffee genießen und dann wurde man verhört.

»… wenn du dich entscheiden müsstest zwischen dem Besuch einer Kaffeerösterei oder einer Wellnessbehandlung im Spa, was wäre dir lieber?«

Der unschuldige Blick, gepaart mit der typischen Euphorie eines Menschen, der seinen vierzigsten Geburtstag längst durchlebt hatte, machte es nicht besser. Morgen war es so weit. Maike würde die Dreißig endgültig hinter sich lassen. Sie sprang quasi mit beiden Beinen voraus ins Grab.

Gabi konnte sich an das Gefühl der Panik, vermengt mit dem unweigerlichen Herannahen von knackenden Gelenken, schmerzendem Kreuz und den Wechseljahren bestimmt gar nicht mehr erinnern. Bereits seit Tagen versuchte sie sich an ein Geschenk heranzutasten und bot Maike ›Szenarien‹ an. Es war so offensichtlich, dass es Maike schon fast rührte. Aber eben nur fast und deswegen antwortete sie patzig: »Die Kaffeerösterei.«

»Oh.« Ein enttäuschter Blick.

»Aber Spa wäre auch ganz toll. Da ich jedoch nicht feiern werde, erwarte ich gar keine Geschenke.«

»Natürlich nicht.« Gabi wandte sich wieder ihrer Tastatur zu und tippte eifrig.

Maike atmete tief durch, nahm pro forma noch einen Schluck Kaffee und wollte sich der Tür zuwenden. Ob es auffiel, wenn sie sich in ihrem Büro auf der anderen Seite der nachträglich eingezogenen Rigipswand einfach einschloss?

»Guten Morgen«, flötete eine sichtlich gut gelaunte Bürgermeisterin Graefe und betrat den Raum mit der ihr eigenen Wucht.

Maike erwiderte den Gruß. »Was führt Sie denn so früh in die Niederungen der hart arbeitenden Bürokratie?« Es blieb nur die Hoffnung, dass es nicht erneut um das digitale Archiv ging, dessen Einrichtung die Bürgermeisterin übereifrig vorantrieb.

Die winzige Spitze wurde nicht einmal zur Kenntnis genommen. Stattdessen schwenkte die Graefe ein Tablet. »Gleich beginnt der Livestream, der Niederteerbach für immer verändern wird.«

»Ach?«, sagte Maike.

»Della DeLorain startet die Tour!«, sagte die Bürgermeisterin.

Maike hatte ihr Bestes gegeben, dem Tratsch auszuweichen, der überall durch den Ort schwappte. Seit Tagen war das Team der Influencerin unterwegs und führte Interviews, suchte Orte für Livestreams und legte Zeiten mit dem besten Licht fest.

»Na wunderbar.«

»Ein wenig Euphorie, meine liebe Frau Kriminalhauptkommissarin«, forderte Graefe. »Es war gar nicht so leicht, die Dame für uns zu gewinnen. Ich gehe jede Wette ein, dass der Willy … ich meine, Bürgermeister Herzog, sie ebenfalls wollte.«

Der Kleinkrieg zwischen Niederteerbach und Oberteerbach machte vor nichts Halt. Die Bürgermeisterin und der Bürgermeister der beiden Dörfer lächelten einander bei jeder Gelegenheit zu, doch hinter den Rücken wurden die Messer gewetzt.

»Es geht los«, rief die Graefe euphorisch.

»Hallo, Freunde der Schönheit …«, flötete es vom Tablet.

Maike sah das Bild dieser wunderschönen Frau, die – noch – genauso alt war wie sie. Wie hatte sie das nur geschafft? Ob Maike sich auch ein paar dieser Streams anschauen sollte? Jetzt, wo die Vierzig quasi vor der Haustür stand. Beim Anblick der strahlenden, lebendigen Della spürte Maike jede Falte.

»Guten Morgen Frau Bürg–«, begann Lukas, der mit Horst ins Zimmer kam.

»Schschschtttt!« Graefe fuchtelte nur mit der Hand und deutete auf das Tablet. »Das hier ist wichtig.« Sie schloss für einen Augenblick genießerisch die Augen. »Ich sehe landesweite Schlagzeilen. Touristen, die uns besuchen und voller Freude unseren Spa stürmen. Der Gemeinderat wird glücklich sein und damit natürlich auch ich.«

»Und wo werden diese Besucher schlafen?«, fragte Maike mit einem unschuldigen Blinzeln. »Beim Raibach?«

Sie hatte die plastikbezogenen Tische, den uralten Teppich und den armen Neffen des Inhabers noch gut in Erinnerung. Außerdem wusste sie von dem Dauerstreit: Der umtriebige Pensionswirt hatte nämlich die Mehrheit der Politiker des Gemeinderats auf seiner Seite und verhinderte mit schöner Regelmäßigkeit die Baugenehmigung eines neuen Hotels. Das brachte die Bürgermeisterin zur Weißglut, allerdings konnte sie nichts dagegen tun. Ständig hatte sie Angst, dass in Oberteerbach demnächst ein neues Hotel gebaut wurde und Bürgermeister Herzog ihr zuvorkam.

»Wir finden da schon eine Lösung«, sagte Graefe, obgleich ihre Fassade der Freude nun einen Riss aufwies. Deshalb ergänzte sie mantraartig: »Landesweite Schlagzeilen. Die Presse wird nur über uns sprechen. Und in den sozialen Medien erst …«

Maike überließ Gabi, die Bürgermeisterin und Horst dem Tablet. Alle drei starrten fasziniert auf Della, die gleich in die Eisbox steigen wollte.

»Haben wir heute was?«, fragte Maike Lukas.

Dieser schüttelte den Kopf. »Ein paar Beschwerden wegen des Blitzers.«

»Wen haben wir denn erwischt?«

»Niemanden. Aber Frau Kuschel bittet darum, sie doch rechtzeitig zu informieren, wenn wir ihn das nächste Mal woanders hinstellen. Ich glaube, sie war bei dem Anruf gerade mit ihren Pilzen beschäftigt.«

»Dass diese Frau ihren Führerschein überhaupt noch besitzt, ist ein Wunder.« Maike schnappte sich den zwischenzeitlich abgestellten Kaffeebecher. »Was hast du ihr denn gesagt?«

»Dass die Vorschriften es verbieten, eine Bekanntgabe zu machen.«

Maike lachte. »Ihre Antwort?«

»Dass das nicht nett sei und sie sich dann eben direkt an die Bürgermeisterin wenden wolle. Weil nächstes Jahr ja Wahlen anstehen …«

Die Graefe schrie bei dem Wort »Wahlen« auf.

»Ich dachte, Sie gewinnen sowieso jede davon haushoch«, sagte Maike verblüfft.

Erst dann bemerkte sie, dass auch Gabi entsetzt das Tablet anstarrte und Horst die Hand vor den Mund hielt.

»Ihr seht ja aus, als sei jemand gestorben …« Maike war mit einem Satz neben dem Trio und schloss sich dem Starren an.

Della DeLorain war in der Eisbox erstarrt, ein dünner Eisfilm überzog ihre Haut. Sie war die Inkarnation von schockgefrostet.

»Ist sie tot?«, schrie jemand außerhalb des Aufnahmefeldes der Kamera.

»Landesweite Schlagzeilen«, hauchte die Graefe, doch jede Freude war aus ihrer Stimme verschwunden.

»Lukas, informier einen Notarzt«, sagte Maike. »Ich glaube nicht, dass man da noch etwas machen kann, aber sicher ist sicher. Wir fahren hin.«

Das Smartphone der Bürgermeisterin klingelte. Sie zog es hervor und nahm den Anruf mit verärgertem Gesichtsausdruck entgegen, während Lukas zu seinem Schreibtischtelefon eilte.

»Ach Bienchen, das tut mir so leid«, erklang die Stimme von Bürgermeister Herzog aus dem aktivierten Lautsprecher. »Ich habe den Livestream gerade gesehen. Wenn wir Oberteerbacher – und ich ganz persönlich – irgendetwas für dich, ich meine euch, tun können, lass es uns wissen. Die Presse wird sich natürlich aller Wahrscheinlichkeit nach auf dich stürzen, du hast Della ja zu euch in den Ort geholt. Das tut mir so leid.«

Die Stimme triefte vor falschem Mitgefühl und Maike stand kurz davor, selbst in den Hörer zu brüllen.

Die Graefe wurde knallrot, beherrschte sich aber meisterlich. »Erstens sollst du mich nicht Bienchen nennen, ich bin Bürgermeisterin Graefe. Hast du das verstanden, Willy? Außerdem bist du auf Lautsprecher. Da gibt es eine Fehlfunktion mit meinem Smartphone.«

Maike trat neben die Bürgermeisterin und betätigte das Icon, das die Lautsprecherausgabe beendete.

Sofort zog diese das Gerät ans Ohr und begann, ebenfalls in falscher Freundlichkeit, mit Wilhelm Herzog zu sprechen.

Lukas hatte mittlerweile den Notarzt verständigt und kam herbeigeeilt. Gemeinsam verließen sie die Wache und hetzten die Stufen des Rathauses hinunter. Da das neue Spa-Center nicht weit entfernt lag, erreichten sie es zu Fuß innerhalb kürzester Zeit.

Bereits von Weitem waren die Fans von Della DeLorain zu erkennen. Sie wirkten still, geradezu schockgefrostet, wie ihr Idol. Einige starrten auf ihre Handydisplays, andere in Richtung des Spa-Zentrums.

Maike parkte und betrat gemeinsam mit Lukas den Eingangsbereich. Hier waren Schilder aufgebaut, die darauf hinwiesen, wo welches Geschäft zu finden war. Sie hatte das Fitnessstudio noch in guter Erinnerung. Immerhin konnte sie im Falle des Kosmetiksalons davon ausgehen, dass hier kein Porno gedreht wurde.

Sie erreichten den Eingang und öffneten die Tür. Hinter dem Empfang stand eine junge Dame, das Haar in einem modischen Kurzhaarschnitt. Die unebene Haut wies darauf hin, dass sie das Kosmetik-Angebot selbst eher selten nutzte. Auf dem Schild an ihrer Brust stand Melanie, eingerahmt vom rechteckigen Logo der CryoYoung-Kette.

»Tut mir leid, aber wir haben heute geschlossen«, krächzte die junge Dame überfordert.

»Das will ich doch hoffen.« Maike zog ihren Dienstausweis. »Kriminalhauptkommissarin Maike Pech, das ist mein Kollege, Polizeikommissar Lukas Yilmaz. Wir kommen wegen Della DeLorain.«

Melanie deutete nach links.

Vom gemütlich eingerichteten Eingangsbereich, in dem ein schwarzes Ledersofa und ein ebensolcher Sessel um einen runden Zimmerspringbrunnen gruppiert waren, zweigte auf Höhe des Empfangs links und rechts jeweils ein Gang ab. Sie gingen durch den linken, vorbei an geschmackvoll ausgewählten Gemälden, die blau-weiße Häuser an griechischen Küsten zeigten. In der Luft lag der Geruch von Lavendel, sanfte Entspannungsklänge drangen aus den Lautsprechern.

»Was da wohl auf der anderen Seite noch zu finden ist?«, überlegte Maike laut.

»Da gibt es die Gesichtsbehandlung«, sagte Lukas. »Vaporisierter Stickstoff wird auf die Wangen und die Stirn aufgetragen. Das verbessert das Hauptbild.«

»Nicht dein Ernst? Du auch?«

»Ich wollte es mal ausprobieren.« Er deutete ein Grinsen an, das sofort wieder hinter der Fassade der Professionalität verschwand.

Sie erreichten einen weiteren Vorraum mit Ledersesseln, wo bereits einige Personen Platz genommen hatten. Maike stellte sich erneut vor, woraufhin eine kräftige Frau mit blondem Zopf aufsprang. »Na endlich sind Sie da! Ich bin die Britta. Britta Taft, mir gehört der Laden.«

»Frau Taft …«

»Sagen Sie ruhig Britta, wir nennen uns hier alle beim Vornamen.«

»Das freut mich. Wir aber eher nicht«, entgegnete Maike. »Es tut mir leid, was geschehen ist. Falls der Notarzt nichts mehr tun kann, werde ich mir das alles genau ansehen.«

»Der ist schon da«, sagte ein Mann in Chinohose und Hemd. Das dunkle Haar war perfekt gestylt. »Ich bin Nicholas von Marking, der Assistent von Bürgermeisterin Graefe. Als es passiert ist, war ich zugegen. Der Notarzt kann die Box leider nicht öffnen, es gibt da irgendeinen Verschluss.«

»Der standardmäßig nicht zu diesem Modell gehört«, warf Britta Taft ein.

»Das schauen wir uns an«, sagte Maike.

Sie ließ der Inhaberin den Vortritt. Es gab insgesamt fünf Räume mit Eisboxen darin. Sie wurden in den letzten, am Ende der Reihe geführt.

Della DeLorain war eindeutig tot. Sie stand noch immer aufrecht in der Box, das Gesicht in einem Schrei eingefroren. Schönheit, konserviert für die Ewigkeit.

Daneben stand ein dunkelhaariger Mann in den Vierzigern, der sich als Doktor Bintek vorstellte. »Ich kann den Tod bestätigen, aber mehr auch nicht. Da müssen die Kriminaltechniker ran, alles öffnen und Spuren sichern.«

Maike bedankte sich und sah Doktor Bintek hinterher, der bereits wieder davoneilte. Vermutlich zum nächsten Notfall.

»Immerhin musste sie ihren Vierzigsten nicht mehr erleben«, erklang die Stimme einer Frau hinter ihr.

Erst jetzt bemerkte Maike, dass alle Personen aus dem Eingangsbereich ihr und Lukas gefolgt waren.

»Entschuldigung, aber das hat sie schon sehr mitgenommen, dass sie bald … Na ja, eben alt ist«, sagte die unbekannte Frau erneut.

»Vierzig ist doch kein Alter«, gab Maike zurück, was ihr eine hochgezogene Augenbraue von Lukas einbrachte. »Und Sie sind?«

»Laura Fein. Die Stylistin von Della.«

»Ich meinte Ihr Alter«, konnte Maike sich nicht verkneifen.

Fein wurde rot, gab aber schlagfertig zurück: »Jung.«

Was man ihr auch ansah. Auf dem Gesicht der Frau war keine Falte erkennbar, das blonde Haar glänzte so seidig wie ihre Haut.

»Della machte sich also Sorgen um ihr Alter?«, fragte Maike.

»In Ihrem Job ist es bestimmt egal, wie alt man ist, oder?« Laura Feins Blick maß Maike von oben bis unten. »Und was man trägt. Aber in unserem Metier spielt das eine große Rolle.«

Maike war versucht, ihr vorzuschlagen, doch eine der anderen Eisboxen auszuprobieren. Womöglich gab es weitere Vorrichtungen, die Menschen schockfrosteten.

Neben der Stylistin waren noch ein Mann und eine Frau eingetreten, die sich als Dellas persönlicher Sekretär und ihre Assistentin vorstellten. Maike registrierte, dass keiner der Anwesenden wirklich geschockt oder traurig wirkte.

Lukas schrieb bereits eifrig mit.

»Bitte nehmen Sie doch alle im Wartebereich Platz, wir befragen Sie dann einzeln«, bat Maike. »Herr Yilmaz geht mit Ihnen und nimmt schon mal Ihre Personalien auf.« Sie hielt Lukas kurz am Arm fest und flüsterte ihm zu: »Sag Pöller Bescheid, der soll sofort hierherkommen.«

»Sind wir etwa verdächtig?«, fragte Dellas persönlicher Sekretär.

»Das kann ich Ihnen in ein paar Minuten sagen. Bitte.« Sie deutete auf die Tür. »Frau Taft, bleiben Sie noch einen Augenblick.«

Erst als alle gegangen waren, widmete sich Maike wieder der Eisbox. Diese war so groß, dass ein Mensch bequem darin stehen konnte. Die Vordertür war aus Glas, eingefasst von einem schwarzen Rahmen, auf dem das Logo von CryoYoung prangte. Im Zentrum war die Nummer der Eisbox zu erkennen: 5.

Am oberen Ende erkannte Maike eine Konstruktion, die über den Scharnieren auf der Innenseite saß. Unten ebenfalls. Beide waren aufgrund der Unterschiede im Material sofort als Fremdobjekte erkennbar.

»Es tut mir so leid«, sagte Britta Taft.

»Wurden die Boxen nicht vor der Nutzung überprüft?«, fragte Maike.

»Natürlich! Gestern gab es eine Probe, bei der Della ein Testvideo gemacht hat. Sie stieg ein, spulte den vorgefertigten Text ab und kam wieder heraus. Als wir gingen, war alles in Ordnung.«

»Wir müssen also davon ausgehen, dass die Eisbox danach manipuliert wurde, und zwar von jemandem, der wusste, dass Della heute hier ist.«

»Nun ja, sie hat es extra angekündigt. Mit einem Bild.« Frau Taft kramte ihr Smartphone hervor und öffnete Dellas Instagram-Seite in der App. »Da, schauen Sie.«

Maike betrachtete das gepostete Foto. Darauf war die Influencerin vor der Eisbox zu sehen, inklusive der Boxnummer. Während Maike bisher davon ausgegangen war, dass der Täter oder die Täterin im direkten Umfeld zu suchen war, musste sie diese Theorie jetzt noch einmal überdenken. Durch den Post hatte die ganze Welt nicht nur gewusst, was Della vorhatte, auch die genaue Box war publik gewesen. Eine Manipulation hätte also jeder vornehmen können, der sich in der Nacht Zutritt verschafft hatte.

Maike gab Frau Taft das Smartphone zurück und ging zur Rückseite der Eisbox. Dort standen mehrere Flaschen Flüssigstickstoff in den vorgesehenen Halterungen, eine einzelne gehörte allerdings eindeutig nicht dazu. Sie stand ohne Halterung auf dem Boden und war mit einem Schlauch verbunden, der durch ein Loch in der Rückwand führte. Jemand hatte es nachträglich gebohrt. Hier war eindeutig manipuliert worden.

»Die gesamte Konstruktion wirkt gut durchdacht, sieht mir ganz nach einem Profi aus, der sich mit Technik auskennt«, sagte Maike nachdenklich. »

»Gott sei Dank«, entfuhr es Britta Taft. »Entschuldigung. Aber ich hätte mir das nie verziehen, wenn wir da einen Fehler gemacht hätten.«

»Wer ist denn für die Wartung der Boxen zuständig?«, wollte Maike wissen.

»Ein Techniker von CryoYoung, der war bei der Eröffnung hier und hat die Flaschen angeschlossen, die in den Halterungen stehen. Da wurden auch Bilder gemacht und jeder Schritt protokolliert. CryoYoung ist ja ’ne Kette und hat sehr strenge Richtlinien.« Frau Taft nickte gewichtig. »An die wir uns alle gehalten haben.«

Maike machte sich eine geistige Notiz, Gabi darum zu bitten, diese Unterlagen anzufordern. »Und heute Morgen haben Sie aufgeschlossen?«

»Ich bin kurz vor Della und ihrem Team angekommen und habe sie hereingelassen.« Frau Taft schlug die Hand vor den Mund. »Bin ich jetzt die Hauptverdächtige?«

»Haben Sie Physik studiert? Sind Sie Ingenieurin?«

»Auf keinen Fall!« Sie schüttelte vehement den Kopf.

»Na, dann haben Sie vielleicht noch mal Glück gehabt. Wir machen hier dicht und überlassen den Raum erst mal der Spurensicherung«, erklärte Maike. Oder, wie Doktor Bintek in Offiziellsprech gesagt hatte: den Kriminaltechnikern. »Mein Kollege und ich übernehmen die Befragung und danach sehen wir weiter.«

»Natürlich.« Britta Taft nickte.

Maikes Smartphone vibrierte. Auf dem Display erschien der Name von Sarah, ihrer Nichte. Kurz überlegte sie, ob sie ablehnen und später zurückrufen sollte.

»Machen Sie nur, ich gehe nach draußen. Der Anblick schlägt mir aufs Gemüt.«

Während Frau Taft den Raum verließ, nahm Maike Sarahs Anruf an. »Was kann ich für dich tun, Lieblingsnichte?«

»Ich habe genau gesehen, dass du gezögert hast«, kam es vorwurfsvoll zurück. »Und außerdem solltest du nicht immer so grimmig schauen, das gibt Falten. Das ist so schrecklich mit Della.«

»Ich … Falten … Moment, was?«

»Die Kamera von Dellas Smartphone ist noch eingeschaltet, Tantchen«, erklärte Sarah. »Du bist live. Und es schauen bisher sechstausend Menschen zu. Tendenz schnell steigend.«

›Schockgefrostet‹ traf Maikes Gefühlslage in diesem Augenblick ziemlich gut.